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gangart 6

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Als Flüchtlinge waren sie Abtrünnige und so wurden sie auch behandelt. Gefangen<br />

genommen, geschlagen, gefoltert. Über seinen Bruder konnten sie sich schließlich<br />

freikaufen. Und dann begann die Suche nach jemandem, der sie nach Italien bringen<br />

konnte. „Eine abenteuerliche Suche. Schließlich fanden wir jemanden, gaben ihm unser<br />

restliches Geld und wurden in ein Zimmer ohne Fenster gepfercht. Dort warteten wir<br />

weitere 28 Tage, wir hatten kaum Platz zum Sitzen, aber wir wussten, es war unsere<br />

letzte Station. Rettung oder Tod. Wir waren der Entscheidung nahe. Das gab uns Kraft.<br />

Bis irgendwann in der Nacht die Tür aufging. Es ging los. Wir wurden durch ein Spalier<br />

von Kalaschnikows auf ein Boot getrieben, das nicht größer war als 10x4 Meter. Ein altes<br />

Holzboot mit zwei Ebenen. Wir waren 217 Menschen, das weiß ich, weil uns die italienische<br />

Polizei am Ende durchgezählt hat.“<br />

BRUTALE FAKTEN<br />

2015 sind elf Millionen Syrer auf der Flucht<br />

vor dem Krieg. Vier Millionen suchen außerhalb<br />

ihres Landes Schutz. Mehr als die<br />

Hälfte davon, also ca. 2,5 Millionen, sind 17<br />

Jahre oder jünger. Im Jahr 2015 kommen<br />

insgesamt 3.770 Menschen beim Versuch,<br />

Europa über das Mittelmeer zu erreichen,<br />

ums Leben.<br />

FLÜCHTLINGSSTRÖME NACH EUROPA:<br />

Als Sheikho meinen ungläubigen und entsetzten Blick sieht, setzt er sich auf den<br />

Boden, mit gespreizten, angezogenen Beinen, und deutet mir, mich in der gleichen<br />

Haltung vor ihm hinzusetzen. Irgendwie wird mir alles zu viel. Diese Geschichte,<br />

ein Alptraum. Und der, der ihn erlebt hat, lächelt. Wie hat das alles Platz in einem<br />

Menschen? „Ich bettelte, dass mein Freund mit seiner Prothese oben bleiben darf und<br />

ließ mich freiwillig ins Unterdeck stoßen. Es dauerte zwei Stunden, bis unsere Fracht<br />

fertig geschlichtet war. Dann ging es los. Es war gespenstisch. Nur das Weinen der Kinder<br />

unterbrach die Stille der Nacht. Nach 12 Stunden drang langsam Wasser ins Boot,<br />

ich spürte, wie es meine Unterschenkel entlang nach oben kroch und dachte: „Ok, das<br />

war's!“ Niemand sagte ein Wort. Wir waren eingesperrt in einem schwimmenden Sarg;<br />

und waren bereit, unterzugehen. Plötzlich nach einer Stunde hörten wir Flugzeuglärm.<br />

Und dann wurde unser leckes Boot buchstäblich im letzten Moment an einen Frachter<br />

gebunden. Dann wieder warten. Auf die Erlaubnis der italienischen Polizei, dass man<br />

uns helfen darf. Ein paar Stunden später landen wir in Syrakus, Sizilien. Wir sind gerettet.“<br />

Aber es war noch nicht vorbei. Sie wollten ja nach Österreich. Und nicht in Italien<br />

bleiben. Der schlimme Zustand des Freundes mit seiner Prothese erwies sich im<br />

Nachhinein als Glücksfall. Sie wurden den „Familien“ zugeteilt. Es gab eine Dusche,<br />

etwas zu essen. Neapel. Mailand. Wien. Traiskirchen. Voglau. Das alles innerhalb<br />

einer Woche. Etwas beginnt. Aber was? Sechs Monate warten und dann der Bescheid.<br />

Zuerst negativ, dann doch noch positiv. Für beide. Heute arbeitet Sheikho beim Roten<br />

Kreuz. Und sein Freund Fayad, der ihm ein Bruder ist, versucht sich als Karikaturist.<br />

Welchen Traum er hat, frage ich ihn. „Das hier, in Abtenau, dass ich Arbeit gefunden<br />

habe und ein paar Freunde – das ist mein Traum!“<br />

Je mehr ich diesen Geschichten lausche, die von Migration und Flucht handeln, umso<br />

größer wird in mir die Gewissheit, dass das Leben – egal, wie es ist – eine Reise ist.<br />

Dass unsere Sesshaftigkeit etwas kaschiert, das existenziell ist und in diesen Momenten<br />

durchleuchtet. Oder wie Christoph Ransmayr, der Literat, anmerkt: „Heimat<br />

ist immer nur ein schmaler Landstrich, der durch die Kindheit und durch die Herzen<br />

führt. Jenseits davon ist jeder fremd, ist jeder Ausländer oder Flüchtling und auf Hilfe<br />

und Beistand von Eingeborenen angewiesen.“<br />

http://data.unhcr.org/mediterranean/country.php?id=83<br />

http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php<br />

WEITERE LINKS:<br />

www.fluechtlingsforschung.net/<br />

www.refugee.tv<br />

Karim El-Gawhary, Mathilde Schwabeneder:<br />

Auf der Flucht; Reportagen von beiden Seiten des<br />

Mittelmeers.<br />

http://www.amazon.de/Auf-Flucht-Reportagen-beiden-<br />

Mittelmeers-ebook/dp/B014FNYKP8<br />

Bilder gegen Bürgerängste<br />

http://bildkorrektur.tumblr.com/<br />

Das Schicksal der Familie Kurdi<br />

www.zeit.de/zeit-magazin/2016/03/alan-kurdi-fluechtlingsjunge-strand-familie<br />

ANMERKUNG:<br />

*„Ich“ ist in diesem Fall Simon Hadler, der in Traiskirchen diese Situation erlebte. Ich<br />

übernehme die Ich-Form, weil ich mich von dieser Geschichte nicht distanzieren kann.<br />

BUCHTIPP<br />

Simon Hadler: Die Angst vor dem Ansturm.<br />

Faktencheck Asyl. Basiswissen für die laufende Asyl-Debatte – eine Momentaufnahme,<br />

die bleibt. eBook – Download für 2,99 EURO<br />

http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-angst-vor-dem-ansturm/978-3-446-25104-5/<br />

Eine von vielen Karikaturen<br />

von Fayad Mulla Khalil<br />

<strong>gangart</strong> 15

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