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gangart 6

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auch, dass wir so eine Wahrnehmungsverschiebung nicht<br />

zulassen. Eines ist klar: Es gibt sicher unterhaltsamere<br />

Gesprächspartner als traumatisierte Menschen, die ihre<br />

Heimat verloren haben. Aber darum geht es nicht. Und natürlich<br />

sind große Fluchtbewegungen wie diese immer eine<br />

Nagelprobe für den Zusammenhalt der aufnehmenden Gesellschaft.<br />

Gleichzeitig ist klar und durch zahlreiche historische<br />

Beispiele bewiesen, was mit gutem Willen möglich ist.<br />

Als im September Flüchtlinge am Salzburger Hauptbahnhof<br />

mit Applaus empfangen wurden und die Medien das Loblied<br />

der Willkommenskultur mitintonierten, war das schon<br />

ein wenig gespenstisch; weil die Dissonanzen vor der Tür<br />

standen. So finden sich am Ende die Hassposter, die Brandleger<br />

und die Harmoniker auf der gleichen Seite wieder. Und<br />

sehen es ob ihrer Scheuklappen nicht. So viel zu links und<br />

rechts. So viel zur Differenzierung.<br />

Viel ist in diesem Zusammenhang von unserer Kultur die<br />

Rede, die gefährdet ist. Frau Andrea Brehm-Lebesmühlbacher<br />

aus Anthering bei Salzburg, die gemeinsam mit ihrem<br />

Mann ihr Haus seit wenigen Monaten mit zwei syrischen<br />

Flüchtlingen teilt, kann diesem Geschwafel, wie sie es im<br />

Refugee-TV nennt, wenig abgewinnen: „Goethe, Mozart und<br />

Beethoven werden zitiert, um zu zeigen, wie toll diese Kultur<br />

ist, aber die Leute lesen nicht Goethe, sie lesen die Kronenzeitung<br />

und sie hören nicht Mozart oder Beethoven, sondern<br />

Helene Fischer.“<br />

Schizophrenie als Daseinsform<br />

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ein Gutteil der Kultur,<br />

auf die wir uns in diesem Zusammenhang berufen, im Zweistromland<br />

der Sumerer ihren Ursprung hat. In den Kriegsgebieten<br />

von Syrien und dem Irak. Europa mag zwar nicht<br />

die Wiege der Menschheit sein, aber die Wiege des Kapitalismus<br />

ist es allemal, wie Bundesrichter Thomas Fischer in<br />

der „Zeit“ schreibt: „Von ihm ging eine unvorstellbare Gewalt<br />

aus, die über 500 Jahre hinweg den größten Teil des gesamten<br />

Planeten unterworfen und unter das Joch einer Verwertungskultur<br />

gezwungen hat, die bis heute 80 Prozent des Reichtums<br />

und der Ressourcen der ganzen Welt auf 10 Prozent ihrer<br />

Bewohner lenkt. Diese 10 Prozent sind ebenfalls nicht gleich:<br />

Ein Prozent von ihnen – also ein Promille der Weltbevölkerung<br />

– kontrolliert wiederum 80 Prozent des Reichtums. Fast jeder<br />

Deutsche hat ein Automobil, ein oder zwei Fernseh-Empfänger,<br />

eine Grundversorgung der gesetzlichen Krankenkasse und<br />

einen Sparvertrag (mit Rücklagen zwischen 200 Euro und 200<br />

Millionen Euro). Immerhin: Selbst der arme Europäer kriegt so<br />

viel ab, dass er dem armen Afrikaner aus der Ferne wie ein<br />

König erscheint.“<br />

Europa hat nicht nur ein Zentrum, in dem wir sitzen. Europa<br />

hat auch einen Rand – zu Lande und zu Wasser. Das heißt,<br />

es kann einfach nicht – auch wenn es wollte – wie Gullivers<br />

Fliegende Insel von der Erde abheben und in den Wolken<br />

schweben, derweil unten die Hungerleider der Welt die<br />

Körbe mit Leckerbissen vollpacken, die an Seilen nach oben<br />

gezogen werden.<br />

Die Lage ist komplex. Das muss man immer wieder betonen.<br />

Wer da versucht, in linearen Kausalketten zu denken, argumentiert<br />

an der Situation vorbei. Genauso wenig hilfreich<br />

sind Hauruckaktionen, denen es nur darum geht, politisches<br />

Kleingeld daraus zu schlagen. Sie machen aus der komplexen Sache<br />

ein Pulverfass. Humanismus und Struktur sind keine Widersprüche.<br />

Was wir brauchen, ist eine Soforthilfe für Menschen in Not und<br />

ein Bündel von Maßnahmen, die langfristig greifen und auf Werten<br />

basieren, die uns auch morgen noch in den Spiegel blicken lassen.<br />

Dazu gehört im Übrigen auch, dass wir unsere Waffenexporte in<br />

diese Länder stoppen.<br />

Globalisierung fordert von uns auch, dass wir offen sind für indirekte<br />

Effekte, und bereit sind, Verantwortung neu zu denken, wie<br />

der streitbare Regisseur Claus Peymann anführt: „Man kann nicht<br />

die Schuld und das Versagen von hunderten Jahren Kolonialismus auf<br />

einen Ruck lösen. So, wie wir's jetzt machen, jedenfalls bestimmt nicht.<br />

Ich habe mich selten in einer solchen Ratlosigkeit befunden. Ich darf<br />

mir diese apokalyptischen, blutigen Bilder gar nicht vorstellen von<br />

Menschen, die hin- und hergeschoben werden. Natürlich werden sie<br />

die Grenzen stürmen. Was sollten sie sonst machen? Zurückschwimmen?<br />

Das Flüchtlingsproblem ist kein Schlepperproblem, sondern<br />

ein ganz globales Problem von Arm und Reich, von Ausbeutung und<br />

Kolonialismus.“<br />

Was das bedeutet? Wir brauchen eine andere Art des Denkens und<br />

der Politik. So zu tun, als ob, wird uns nicht weiterbringen. Wir<br />

müssen den Problemen in die Augen sehen. Wir wissen seit langer<br />

Zeit, dass in jedem Jahr Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken.<br />

Wir haben ganz genau gewusst, dass der Krieg im Irak nicht<br />

dem Frieden diente, sondern der imperialistischen Sicherung von<br />

Öl. Und jetzt wundern wir uns, dass unsere Geostrategien zurückschlagen.<br />

Beziehungsweise, wir tun so, als ob wir überrascht wären.<br />

Kopf in den Sand. Warten. Wir wissen, dass man so keine Probleme<br />

löst und doch versuchen wir es. Und so gerät uns unter der Hand<br />

die Schizophrenie zur Daseinsform. Wir machen Urlaub in Griechenland<br />

und Italien, wollen aber nicht belästigt werden von den<br />

Vorgängen auf Lampedusa oder Lesbos. Die Grenze geht durch uns<br />

hindurch. Vor diesem Hintergrund hat die Rede vom Dominospiel<br />

durchaus aufklärerisches Potenzial. Weil wir alle durch Dominoeffekte<br />

verbunden sind. Es gibt keine isolierten Steine. Keine<br />

isolierten Aktionen. Lesbos ist vor unserer Haustür. Genauso wie<br />

Lampedusa. Und hinter unserem Gartenzaun kommen Menschen zu<br />

Tode.<br />

Fluchtgeschichten<br />

Flucht beginnt dort, wo Menschen fliehen. Hals über Kopf. In<br />

der Nacht, weil sie um ihr Leben fürchten; weil sie verfolgt werden;<br />

weil es kein Wasser mehr gibt, das sie trinken können; weil<br />

sie Kinder haben, die seit Monaten keine Schule mehr besuchen<br />

konnten; weil Existenzen auseinanderbrechen und die Hoffnung<br />

verschwunden ist.<br />

Deshalb beginnen wir unsere Reise in Aleppo. Bei der Familie Ibrahim.<br />

Vater Ahmed, 35 Jahre alt; Mutter Fatima, 33, schwanger; der<br />

älteste Sohn Mohammed, 15; Tochter Tagred, 14; Assad, 11; Hassan<br />

10; Arif, 5, der mit dem Lockenkopf. Ahmed, der Vater, hat dort im<br />

Büro einer Firma gearbeitet, die Maschinen herstellt. Zum Haus der<br />

Familie gehörte ein kleiner Garten. „Wir hatten ein gutes Leben“,<br />

sagt Ahmed. Dann kam der Krieg immer näher. Der IS und die<br />

Al-Nusra-Front standen vor den Toren, während die von der Türkei<br />

unterstützen Rebellen und die Regierungstruppen um die Stadt<br />

kämpften. Dann gab es kein Entkommen mehr, von einem Moment<br />

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<strong>gangart</strong> 13

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