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Sherlock Holmes und der Golem von Prag

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Klaus-Peter Walter<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Golem</strong> <strong>von</strong> <strong>Prag</strong>


Klaus-Peter Walter … Dr. phil., geboren 1955 in Michelstadt<br />

im Odenwald, studierte Slawistik, Philososophie<br />

<strong>und</strong> osteuropäische Geschichte in Mainz <strong>und</strong> promovierte<br />

1983. Er lebt als freier Autor in Bitburg in <strong>der</strong><br />

Eifel. Von 1993 bis 2014 war er Herausgeber des Lexikons<br />

<strong>der</strong> Kriminalliteratur LKL <strong>und</strong> schrieb neben zahlreichen<br />

Kurzgeschichten in diversen Anthologien auch für<br />

FAZ, Kindler <strong>und</strong> Reclam. Seit 2008 schreibt er <strong>Sherlock</strong>-<br />

<strong>Holmes</strong>-Romane, -Erzählungen <strong>und</strong> -Hörbücher.


Klaus-Peter Walter<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Golem</strong> <strong>von</strong> <strong>Prag</strong>


Originalausgabe<br />

© 2016 KBV Verlags- <strong>und</strong> Mediengesellschaft mbH, Hillesheim<br />

www.kbv-verlag.de<br />

E-Mail: info@kbv-verlag.de<br />

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0<br />

Fax: 0 65 93 - 998 96-20<br />

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp<br />

unter Verwendung <strong>von</strong>:<br />

Hugo Steiner-<strong>Prag</strong> »Der Student Charousek«,<br />

Illustration zu Gustav Meyrinks »Der <strong>Golem</strong>« (1915)<br />

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln<br />

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-95441-287-7


Heinrich Wimmer,<br />

meinem treuen Verleger<br />

<strong>von</strong> 1992 bis 2014<br />

Ich glaubte zum erstenmal in meinem Leben in<br />

dieser leichten Weise aus dem Fenster einen mich nahe betreffenden<br />

Vorgang unten auf <strong>der</strong> Gasse beobachtet zu haben. An <strong>und</strong> für sich<br />

ist mir solches Beobachten aus <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> bekannt.<br />

Franz Kafka


Der landarme Idiot<br />

Es ist möglich, dass einige Menschen mit Hans<br />

Wanka Mitleid empf<strong>und</strong>en hätten, hätten sie<br />

<strong>von</strong> seinem Schicksal erfahren. Das ist jedoch<br />

wenig wahrscheinlich. Hans arbeitete als<br />

Maschinist in einer <strong>der</strong> Spinnereien <strong>der</strong> hageren<br />

Baronin. Er hatte <strong>der</strong>en Missfallen erregt, als<br />

sie ihm entschieden zu nahe trat – <strong>und</strong> damit war<br />

sein Schicksal besiegelt. Nicht zu Unrecht argwöhnte<br />

die Baronin, dass Hansens offen zutage<br />

getretene Abscheu beim Anblick ihres halb entblößten<br />

Leibes, <strong>und</strong> das anschließende Versagen<br />

seiner Männlichkeit, als sie ihn wie eine Spinne<br />

ihre Beute zu packen versuchte, an ihrem<br />

Alter liege. Sie hatte bereits vor einigen Jahren<br />

ihren siebzigsten Geburtstag begangen, <strong>und</strong><br />

das waren sicherlich fünfzig Jahre zu viel für<br />

den verzagten Jüngling.<br />

Hans war noch ein Knabe gewesen, als seine<br />

Mutter starb. Sein Vater Hermann, <strong>der</strong> als Einbeiniger<br />

aus einem Krieg in einem fernen Land<br />

7


zurückgekehrt war, nahm daraufhin das Waisenmädchen<br />

Fanny in seine Dienste, das sich um das<br />

Wohlergehen des Sohnes zu kümmern hatte. Gleichermaßen<br />

kümmerte sich Fanny auch um das leibliche<br />

Wohlergehen des Vaters. Hans wusste das,<br />

denn er hatte das blonde, bei aller Schönheit<br />

aber einfältige Mädchen schon mehrfach heimlich<br />

beim Waschen durch die beschlagenen Scheiben<br />

ihrer Kammer beobachtet <strong>und</strong> gesehen, wie sie<br />

hernach in das Schlafgemach des Vaters<br />

geschlichen war. Obwohl sie sich dabei immer<br />

sorgfältig im Flur umzublicken pflegte, ob<br />

jemand anwesend sei, <strong>der</strong> sie hätte sehen können,<br />

hatte sie Hans nie bemerkt.<br />

Eines Nachts belauschte er einen Streit zwischen<br />

dem Vater <strong>und</strong> Fanny. Ohne einzelne Worte<br />

zu verstehen, hörte er Fanny schluchzen <strong>und</strong> die<br />

barsche Stimme des Vaters. Kurz darauf kam Fanny<br />

in Hanses Kammer, sagte »Pscht« <strong>und</strong> legte sich<br />

zu ihm unter die Bettdecke. Mit heißen Fingern<br />

umfasste sie seinen klammen Körper. Hans wusste<br />

nicht, wie ihm geschah. So schnell, wie Fanny<br />

<strong>von</strong> ihm Besitz nahm, so schnell hatte sich das<br />

Mädchen seines Leibes bedient <strong>und</strong> war wie<strong>der</strong><br />

verschw<strong>und</strong>en.<br />

Einige Tage später war <strong>der</strong> Vater wie<strong>der</strong> sehr<br />

zornig. Er schrie Hans an, <strong>der</strong> nicht verstand,<br />

was geschehen war. Welche Schande<br />

meinte <strong>der</strong> Vater? Nach <strong>und</strong> nach wurde aber<br />

sogar ihm klar, dass Fanny ein Kind erwartete.<br />

Der Vater beschuldigte Hans, dieses Kind<br />

8


gezeugt zu haben. Obwohl Hans genau wusste,<br />

dass Fanny schon vor dem kurzen Besuch bei ihm<br />

im verwaisten Bett <strong>der</strong> Mutter neben dem Vater<br />

gelegen hatte, wagte er keinen Wi<strong>der</strong>spruch zu<br />

erheben <strong>und</strong> verteidigte sich nicht. Selbst<br />

dann noch schwieg er mit fest zusammengekniffenen<br />

Lippen, als Fanny weinend mit dem Finger<br />

auf ihn wies. »Er war so wild, ich konnte<br />

mich nicht wehren!«, rief sie. Hans ahnte<br />

in seiner Arglosigkeit gar nicht, dass Fanny<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Vater sich abgesprochen hatten, um<br />

ihn ins Ver<strong>der</strong>ben zu führen.<br />

Der Vater schimpfte <strong>von</strong> Unmoral <strong>und</strong> kündigte<br />

strengste Bestrafung an. Wie<strong>der</strong>um ein paar Tage<br />

später eröffnete er Hans, dass dieser in die<br />

Dienste <strong>der</strong> Baronin gegeben würde, die, seit<br />

Langem Witwe, wegen ihrer Härte <strong>von</strong> je<strong>der</strong>mann<br />

halb ehrfürchtig, halb hasserfüllt »die eiserne<br />

Baronin« genannt wurde. »Du bist deiner Herrin<br />

Gehorsam schuldig, so wie du mir Gehorsam schuldig<br />

bist!« Das war <strong>der</strong> Leitspruch, den <strong>der</strong> Vater<br />

seinem Sohn mit auf den Weg gab. Auf eine herzliche<br />

Umarmung verzichtete er zur Erleichterung<br />

des Sohnes.<br />

Zwei Jahre mochten ins Land gezogen sein, als<br />

Hans einmal überraschend seine Heimatstadt<br />

besuchte. Vom Bahnhof aus ging er durch die<br />

Straßen, die zu seinem Elternhaus führten. Als<br />

er dort den Klingelzug betätigte <strong>und</strong> dem vertrauten<br />

Klang <strong>der</strong> Hausglocke lauschte, öffnete<br />

zu seiner großen Verw<strong>und</strong>erung niemand an<strong>der</strong>es<br />

9


als Fanny die Haustür, ihren Sohn, den kleinen<br />

Gebhart, auf dem Arm.<br />

»Gu- guten Tag, Fanny«, stotterte Hans.<br />

»Ich heiße jetzt Frau Hermann Wanka, junger<br />

Mann, <strong>und</strong> mein Gatte Hermann ist nicht zu Hause.<br />

Ich darf Sie nicht einlassen. Danke für Ihren<br />

Besuch <strong>und</strong> auf Wie<strong>der</strong>sehen!«<br />

Dann schlug sie energisch die Tür vor Hans zu.<br />

Stumm, ohne Wi<strong>der</strong>spruch kehrte Hans an seinen<br />

Arbeitsplatz zurück. Weitere zwei Jahre später<br />

erhielt er einen Brief Fannys, <strong>der</strong> ihn vom Tod<br />

seines einbeinigen Vaters unterrichtete. In<br />

einem Jahr, so die junge Witwe, wolle sie ihren<br />

Cousin heiraten, <strong>der</strong> Gebhart ein guter Vater zu<br />

sein versprochen habe.<br />

Nun war Hans, <strong>der</strong> keinerlei Trauer über den<br />

Verlust des Vaters verspürte, allein auf <strong>der</strong><br />

Welt, doch er hatte ein knappes Auskommen.<br />

Was er freilich konnte <strong>und</strong> tat, tat er, ohne<br />

es erlernt zu haben. In den altertümlichen,<br />

hochempfindlichen Selfaktor-Spinnmaschinen, die<br />

nur <strong>von</strong> den geschicktesten Arbeitern fehlerfrei<br />

bedient werden konnten, fand er jenen mechanischen<br />

Takt <strong>und</strong> jene automatische Regelmäßigkeit<br />

vor, die er im wirklichen Leben so sehr vermiss -<br />

te. Auf Anhieb vermochte er den Gr<strong>und</strong> zu erkennen,<br />

aus dem die Rädchen, Hebel, Getriebe <strong>und</strong><br />

Spindeln einer Spinnmaschine den Dienst versagten.<br />

Mit geschickten Fingern behob er dann rasch<br />

den Schaden. Niemandem jedoch hätte er erklären<br />

können, was er da gerade gemacht hatte. Er war<br />

10


wie ein seiner selbst nicht bewusster Bestandteil<br />

<strong>der</strong> Maschine, ein Zahnrädchen ohne eigenen<br />

Willen.<br />

Das kalte Auge <strong>der</strong> Baronin fiel eines Tages<br />

bei einer Inspektion auf den wohl gebauten, jungen<br />

Mechaniker, <strong>und</strong> sie schickte ihren Diener in<br />

die Spinnerei, ihn nach <strong>der</strong> Arbeit abzuholen.<br />

Hans wurde <strong>von</strong> einer kessen, blonden Zofe, die<br />

sich mit dem Namen Marie vorstellte, ihn aber<br />

auf fatale Weise an die verräterische Fanny<br />

erinnerte, in die gräfliche Wohnung <strong>und</strong> dort<br />

sogleich ins Badezimmer geführt, das bis hoch<br />

über seinen Kopf mit blau-weißen Kacheln ausgeschlagen<br />

war. Die Familie Wanka hatte über kein<br />

Badezimmer verfügt. Hier wurde samstags immer in<br />

<strong>der</strong> Küche gebadet. Zuerst <strong>der</strong> Vater, dann die<br />

Mutter <strong>und</strong> schließlich <strong>der</strong> Sohn. In einem hölzernen<br />

Badezuber, den <strong>der</strong> Vater schimpfend <strong>und</strong><br />

fluchend aus dem Keller heraufzuschleppen<br />

pflegte.<br />

»Na, was ist?«, fragte Marie. »Hast du noch<br />

nie eine Badewanne gesehen? Du musst ordentlich<br />

gewaschen sein, bevor du zur Baronin vorgelassen<br />

wirst. Nun zieh dich schon aus!«<br />

»Ganz?«, fragte Hans, unsicher was zu tun sei.<br />

Vor einem Fräulein o<strong>der</strong> auch nur einer Bediensteten<br />

die Klei<strong>der</strong> abzulegen, das war ihm so<br />

unvorstellbar wie eine Reise an den Nordpol.<br />

»Ja, alles! Nun mach schon! Ich habe nicht<br />

st<strong>und</strong>enlang Zeit. Die Baronin wartet schon.«<br />

Langsam drehte er sich um <strong>und</strong> begann, seine<br />

11


Weste <strong>und</strong> die schmutzigen Arbeitshosen auszuziehen.<br />

»Leg deine Klei<strong>der</strong> auf den Schemel«, befahl<br />

Marie. »Mein Gott, bist du genant! Da!«<br />

Sie warf ihm ein weiches, weißes Handtuch über<br />

die Schulter, das er sich sofort vor den Unterleib<br />

presste.<br />

»Na, was ist?«, fragte Marie. »Nun steig schon<br />

in die Wanne.«<br />

Immer bemüht, <strong>der</strong> Zofe den Rücken zuzuwenden,<br />

tat Hans wie Marie ihm geheißen. Weil ihn, <strong>von</strong><br />

seiner Mutter abgesehen, noch keine Frau je ohne<br />

Klei<strong>der</strong> gesehen hatte, setzte er sich rasch in<br />

die Wanne, sprang aber sofort wie<strong>der</strong> auf <strong>und</strong><br />

hielt sich wie<strong>der</strong> das Handtuch vor den Leib.<br />

»Au« zu rufen, wagte er nicht.<br />

»Ist es zu heiß?«, fragte Marie mit einem<br />

spöttischen Grinsen. Hans nickte, ohne ihr ins<br />

Gesicht zu sehen.<br />

»Aus dem Hahn mit dem blauen Punkt kann man<br />

kaltes Wasser zufließen lassen, aus dem Hahn mit<br />

dem roten Punkt heißes. Versuch es selbst.«<br />

Weil Hans, ratlos, keine Anstalten machte, die<br />

Wassertemperatur selbst einzustellen, drehte<br />

Marie an dem Porzellanstern mit dem blauen Punkt<br />

in <strong>der</strong> Mitte. »Wird es besser?«, fragte sie.<br />

Hans nickte, einen scheuen Blick in ihre Richtung<br />

werfend. Aus einer Kristallkaraffe mit silbernem<br />

Stopfen goss Marie nun eine blumig duftende,<br />

blaue Flüssigkeit in die Wanne. Ohne<br />

Scheu vor dem noch immer starr im Wasser ste-<br />

12


henden Hans begann sie, mit <strong>der</strong> Hand im Wasser<br />

zu rühren. Sofort bildete sich ein dicker, weißer<br />

Schaum auf <strong>der</strong> Wasseroberfläche. Marie drehte<br />

den Hahn wie<strong>der</strong> zu.<br />

»Jetzt kannst du dich setzen, du genanter,<br />

junger Mann!«<br />

Das Handtuch noch immer an sich gepresst, ließ<br />

sich Hans zurück ins Wasser fallen.<br />

»Na, na, du kleiner Spritzer!«, lachte Marie,<br />

<strong>der</strong>en schwarzes Kleid bei Hansens hastigem Hinsetzen<br />

einige Tropfen abbekommen hatte. »Seife<br />

liegt in <strong>der</strong> Muschel.« Als sich Hans suchend<br />

umsah, deutete sie mit dem Finger auf eine<br />

muschelförmige Porzellanschale, die an den<br />

blau-weißen Kacheln <strong>der</strong> Wand befestigt war.<br />

»Vergiss die Haare nicht. Wenn du fertig bist,<br />

zieh die Pantoffeln <strong>und</strong> den Morgenmantel an.<br />

Sonst nichts. Hier hängt er. An <strong>der</strong> Tür, du Dummerjan!<br />

Ich bin in einer Viertelst<strong>und</strong>e wie<strong>der</strong> da<br />

<strong>und</strong> bringe dich dann zur Baronin.«<br />

Als Marie wie<strong>der</strong>kam, hatte sich Hans schon ab -<br />

getrocknet <strong>und</strong> den Morgenmantel angelegt. Seine<br />

nackten Beine waren ihm ebenso peinlich wie die<br />

Tatsache, dass er keinen Kamm gef<strong>und</strong>en hatte.<br />

»Na, prachtvoll!«, begrüßte ihn Marie, nachdem<br />

sie ihn kritisch in Augenschein genommen hatte.<br />

»Komm mit!«<br />

Marie führte ihn in einen kalten Flur, den<br />

Gemälde <strong>von</strong> Soldaten mit vielen Orden an <strong>der</strong><br />

Brust <strong>und</strong> tief dekolletierte Damen mit Perücken<br />

auf dem Kopf zierten.<br />

13


Vor einer schweren Tür blieb Marie stehen, um<br />

anzuklopfen.<br />

»Entrez!«, ertönte es <strong>von</strong> drinnen.<br />

Marie öffnete die Tür, knickste <strong>und</strong> schob<br />

Hans hinein. Er fand sich in einem Schlafzimmer<br />

wie<strong>der</strong>, das die Baronin später mehrmals<br />

»Boudoir« nennen sollte. Sie lag auf einer<br />

Récamiere <strong>und</strong> trug rote Pantöffelchen mit<br />

goldenen Bordüren an den nackten Füßen. Ihr<br />

Morgenmantel war nachlässig geschlossen. Hans<br />

konnte die Beine <strong>der</strong> Baronin <strong>und</strong> ihr faltenreiches<br />

Dekolleté sehen.<br />

»Ich brauche dich nicht mehr, Marie!«, sagte<br />

die Baronin herablassend.<br />

Marie knickste <strong>und</strong> schloss die Tür <strong>von</strong> draußen.<br />

Die Baronin erhob sich, um Hans einer sehr<br />

strengen Inaugenscheinnahme zu unterziehen. Was<br />

sie sah, schien ihr zu gefallen, denn auf ihre<br />

Züge trat etwas, das man als Lächeln hätte<br />

bezeichnen können, hätten ihre Augen nicht an<br />

die Augen einer Schlange erinnert, die ein<br />

Kaninchen fixiert, bevor sie es verschlingt.<br />

Auf einem Tischchen neben <strong>der</strong> Récamiere stand<br />

ein golden glänzendes Tablett mit zwei kristallenen<br />

Gläsern <strong>und</strong> einer ebensolchen Karaffe darauf.<br />

Die Baronin schenkte beide Gläser voll <strong>und</strong><br />

drückte eines da<strong>von</strong> Hans in die Hand. Das an<strong>der</strong>e<br />

nahm sie selbst.<br />

»Santé, mon chéri!«, sagte sie. Dabei stieß<br />

sie mit ihrem Glas gegen seines.<br />

14


Fast hätte Hans es vor Schreck fallen lassen.<br />

Die Baronin trank den Wein in einem Zug aus.<br />

»Trink, mon petit!«, for<strong>der</strong>te sie auf.<br />

Hans verstand kein Französisch.<br />

Er hatte nur weilchenweise einmal einen Krug<br />

Bier getrunken, aber noch niemals roten Wein.<br />

Weil <strong>der</strong> ihm gut schmeckte, tat er es <strong>der</strong> Baronin<br />

nach <strong>und</strong> trank das Glas ohne Innehalten aus.<br />

Sofort stieg eine angenehme Wärme in ihm auf.<br />

Seine Ängste flohen, <strong>und</strong> er fühlte sich nicht<br />

mehr ganz so wie ein Schaf, das <strong>der</strong> Schlachtbank<br />

des Metzgers entgegengetrieben wird. Das<br />

ungewohnte Getränk schien ihn willfährig <strong>und</strong><br />

fügsam zu machen.<br />

Staunend beobachtete er die Baronin, wie sie<br />

ihren Morgenmantel ablegte, unter dem sie nichts<br />

als ein Fischbein-Korsett, Strümpfe <strong>und</strong><br />

Strumpfhalter trug. Er wehrte sich auch nicht,<br />

als sie den Gürtel seines Bademantels aufzog <strong>und</strong><br />

ihm sein einziges Kleidungsstück <strong>von</strong> den Schultern<br />

streifte. Der in Fischbein eingeschnürte<br />

Körper <strong>der</strong> Baronin vermochte jedoch sein Verlangen<br />

nicht zu wecken, denn mehr noch als alles<br />

an<strong>der</strong>e auf <strong>der</strong> Welt verabscheute Hans die Berührung<br />

durch fremde Menschen. Die Baronin, <strong>der</strong>en<br />

trockene, kalte Hände über seine Brust <strong>und</strong><br />

Schultern strichen, versuchte auf jede nur<br />

erdenkliche Weise, seine Lust zu wecken. Als ihr<br />

Bemühen nichts fruchtete, schickte sie ihn fort.<br />

»Quel dommage! Du bist ein durch <strong>und</strong> durch<br />

unfähiger, junger Mann«, schimpfte sie.<br />

15


Hans verstand nicht, was sie damit meinte.<br />

Noch auf dem Nachhauseweg beschloss er, Einladungen<br />

<strong>der</strong> Baronin nie wie<strong>der</strong> Folge zu leisten.<br />

Wenn <strong>der</strong> Diener ihn abzuholen käme, sagte er<br />

entschlossen zu sich selbst, wollte er sich weigern<br />

mitzugehen.<br />

Allein, es kam kein Diener mehr.<br />

Die eiserne Baronin war keine Frau, die sich<br />

Insubordination <strong>und</strong> Kränkungen auch nur ein einziges<br />

Mal hätte gefallen lassen.<br />

»Wir brauchen dich hier nicht mehr«, beschied<br />

ihm zwei Tage später vor Beginn <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong><br />

Vorarbeiter. Hans durfte nicht einmal mehr an<br />

die geliebten Selfaktor-Maschinen treten, die<br />

er bis dahin einzurichten <strong>und</strong> zu pflegen hatte.<br />

»Geh nach Hause <strong>und</strong> komm nie wie<strong>der</strong> hierher!«<br />

Als er in seinem möblierten Mansardenzimmer<br />

ankam, wartete schon <strong>der</strong> Hauswirt auf ihn. Der<br />

Diener <strong>der</strong> Baronin hatte ihn längst aufgesucht<br />

<strong>und</strong> ihm aufgetragen, was er zu tun hatte.<br />

»Pack deine Sachen <strong>und</strong> geh! Die Miete für den<br />

Rest des Monats behalte ich. Ich muss ja die<br />

Schweinerei beseitigen, die du mir hinterlassen<br />

hast!«<br />

Hans fand bei einer mitleidigen Witwe für ein<br />

paar Tage ein kostenloses Unterkommen in einer<br />

Rumpelkammer unter einer Stiege. In allen Fabriken,<br />

die er zu Fuß erreichen konnte, fragte er<br />

nach Arbeit. Er vergaß auch nicht sein technisches<br />

Geschick zu erwähnen, doch da alle Fabriken<br />

im Umkreis <strong>der</strong> Baronin gehörten, schickte man<br />

16


ihn überall gleich wie<strong>der</strong> fort o<strong>der</strong> ließ ihn gar<br />

nicht erst vor einen wichtigen Herren treten.<br />

Die Baronin ließ sich voller Rachedurst <strong>von</strong><br />

ihren Untergebenen über die vergebliche<br />

Arbeitssuche des Jungen berichten. Als ihr das<br />

langweilig wurde, benachrichtigte sie den<br />

Sanitäts-Inspektor Schloemann. Dieser bescheinigte,<br />

ohne Hans auch nur <strong>von</strong> Ferne je gesehen<br />

zu haben, was die rachsüchtige Baronin bescheinigt<br />

zu haben wünschte. Der Sanitäts-Inspektor<br />

hatte durch Nachforschungen <strong>von</strong> Fanny <strong>und</strong> dem<br />

kleinen Gebhart erfahren <strong>und</strong> beurk<strong>und</strong>ete etwas,<br />

was er »sexuelle Depravation« <strong>und</strong> »chronische<br />

Unmoralität« nannte.<br />

Nun stand Hans, <strong>der</strong> keinerlei Vorstellung vom<br />

Sinn dieser Worte <strong>und</strong> ihrer Konsequenz für sein<br />

zukünftiges Leben hatte, mit Inspektor Schloemanns<br />

Bescheinigung in <strong>der</strong> Hand am Schalter des<br />

Bahnhofes <strong>von</strong> Höxter. Ausweis zur Erlangung<br />

einer Eisenbahn-Fahrpreisermäßigung war auf das<br />

Papier gedruckt. Auf die punktierte Linie darunter<br />

hatte <strong>der</strong> Secretarius des Inspektors in<br />

seiner klaren Schrift die Worte für den landarmen<br />

Idioten H. Wanka gesetzt. Der Ausweis be -<br />

rechtige, so stand da weiter zu lesen, zu einer<br />

einmaligen Fahrt dritter Klasse nach Ö. Als<br />

Zweck <strong>der</strong> Reise wurde die Unterbringung in <strong>der</strong><br />

Idiotenanstalt zu V. angeben. Diese Idiotenanstalt<br />

war <strong>der</strong> 1887 gegründete Wittekindshof, wo<br />

wohlmeinende Menschen mit Blöden <strong>und</strong> Schwachsinnigen<br />

arbeiteten.<br />

17


Warum wehrte Hans sich nicht? Warum floh er<br />

nicht? Warum zerriss er nicht die Bescheinigung<br />

des Inspektors <strong>und</strong> wan<strong>der</strong>te zu Fuß irgendwohin,<br />

wo ihn niemand kannte? Hätte man ihn befragt, er<br />

hätte keine Antwort darauf gewusst. Demütig fuhr<br />

er dritter Klasse seinem Unglück entgegen …<br />

* * *<br />

Hans Wanka lebte drei lange Jahre in <strong>der</strong> Anstalt<br />

Wittekindshof. Drei Jahre lang bekam er täglich<br />

Sturzgüsse mit eiskaltem Wasser <strong>und</strong> wurde auf<br />

Cox’ Schaukel gezwungen, ein beson<strong>der</strong>es Folterinstrument.<br />

Es handelte sich um einen geneigt<br />

aufgehängten Stuhl, auf dem <strong>der</strong> Patient festgeschnallt<br />

wurde. Dann wurde <strong>der</strong> Stuhl in eine<br />

schnelle Drehung versetzt, bis Nase <strong>und</strong> Ohren zu<br />

bluten begannen, dem Patienten übel wurde <strong>und</strong> er<br />

in Ohnmacht fiel. Der Anstaltsleiter Professor<br />

Hüttler war ein überzeugter Anhänger dieses Verfahrens,<br />

obwohl es keineswegs wissenschaftlich<br />

erwiesen war, dass es irgendeinen Nutzen brächte.<br />

Er verteidigte sein Methode mit scharfer<br />

Zunge <strong>und</strong> spitzer Fe<strong>der</strong> gegen alle, die es wagten,<br />

Zweifel zu äußern. Er war ein ausgesprochener<br />

Tyrann, herablassend gegenüber je<strong>der</strong>mann<br />

<strong>und</strong> je<strong>der</strong>zeit bereit, drakonische Strafen für<br />

mangelnden Respekt seiner hohen Person gegen -<br />

über zu verhängen.<br />

Hans Wanka beobachtete das alles, ohne viele<br />

Worte zu verlieren. Er litt schweigend, ohne<br />

18


Hoffnung, schickte aber jeden Abend seine verzweifelten<br />

Gebete gen Himmel.<br />

»Lieber Gott«, betete Hans, »hol mich zu Dir!«<br />

Es kommt nicht oft vor, aber manchmal werden<br />

Gebete erhört. Nein, Hans Wanka starb nicht.<br />

Stattdessen beging Professor Hüttler einen Fehler.<br />

Den schwersten Fehler, den ein Arzt begehen<br />

kann. Er setzte nämlich eine junge Patientin<br />

auf Coxens Schaukel, befahl den Stuhl so<br />

lange zu drehen, bis die Patientin völlig die<br />

Orientierung verloren hatte, <strong>und</strong> befriedigte<br />

hernach seine Lust an ihr. Zu seinem Pech beobachtete<br />

das sein Stellvertreter Oberarzt Huld -<br />

rich, <strong>der</strong> zusammen mit <strong>der</strong> Schwester Oberin Carmilla<br />

in einem Nebenraum Akten bearbeitet hatte.<br />

Da auch Oberarzt Huldrich Gr<strong>und</strong> hatte, Professor<br />

Hüttler nicht nur zu fürchten, son<strong>der</strong>n auch<br />

zu hassen, war nun das Schicksal des Anstaltsleiters<br />

besiegelt. Huldrich holte aus seinem<br />

Schreibtisch den Revolver, den er dort für alle<br />

Fälle deponiert hatte, <strong>und</strong> stellte, <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

empörter Schwester Oberin begleitet, Professor<br />

Hüttler noch am Orte des Geschehens in actu.<br />

Huldrich ließ ihm Zeit, seine Kleidung zu ordnen,<br />

<strong>und</strong> diktierte ihm die Kündigung. Als Gr<strong>und</strong><br />

befahl er, ges<strong>und</strong>heitliche Gründe zu nennen,<br />

denn Ausdruck einer Krankheit war es ohne Zweifel,<br />

was Hüttler <strong>der</strong> Patientin angetan hatte.<br />

Zwar wollte <strong>der</strong> Professor die Unterschrift verweigern,<br />

doch als Huldrich drohend den Hahn<br />

spannte, erkannte er, dass ihm zum Verhandeln<br />

19


kein Raum mehr blieb, <strong>und</strong> setzte seinen Namen<br />

mitsamt allen akademischen Titeln unter das<br />

Schriftstück.<br />

Wer nun denkt, Doktor Huldrich wäre für sein<br />

mutiges Eintreten für die gesch<strong>und</strong>ene <strong>und</strong><br />

missbrauchte Patientin belohnt worden, <strong>der</strong><br />

irrt. Ein Arzt, <strong>der</strong> dafür sorgt, dass sein<br />

Vorgesetzter unter Zwang ein Abschiedsgesuch<br />

unterschreibt – so berechtigt dieses auch<br />

sein mochte – wird <strong>von</strong> seinen Standesgenossen<br />

gnadenlos bestraft. Es war Dr. Huldrichs<br />

Bleiben nicht mehr in <strong>der</strong> Anstalt. Er wurde<br />

gezwungen, ebenfalls seinen Abschied zu nehmen<br />

<strong>und</strong> musste eine abgelegene Landarztpraxis<br />

mit Patienten übernehmen, die jegliche Arztbesuche<br />

mieden.<br />

Und dennoch hatte Hans Wanka Glück, denn Dr.<br />

Huldrich nahm seinen Groll in seine neue Landarztpraxis<br />

mit. Ihm war bereits während seiner<br />

Arbeit im Wittekindshof aufgefallen, wie viele<br />

Patienten eingewiesen wurden, denen allen <strong>der</strong><br />

Sanitäts-Inspektor Schloemann Geisteskrankheiten,<br />

Monomanie o<strong>der</strong> Schwachsinn bescheinigt<br />

hatte, die er, Dr. Huldrich, an ihnen nicht<br />

fest stellen konnte – ganz im Gegensatz zum Professor,<br />

für den <strong>der</strong> pathologische Bef<strong>und</strong> immer<br />

zweifellos war. Huldrich, <strong>der</strong> sein Schicksal<br />

hatte kommen sehen, hatte die verdächtigen Akten<br />

<strong>der</strong> Patienten abgeschrieben, diese Abschriften<br />

aufbewahrt <strong>und</strong> bei seinem schmählichen Abgang<br />

mitgenommen.<br />

20


Dann fuhr er nach M., <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>täufer.<br />

Er wollte einen Spezialisten aufsuchen. In<br />

M. gab es Dr. Heyms. Er war ein solcher Spezia -<br />

list. Er war kein Arzt, son<strong>der</strong>n Musikwissenschaftler.<br />

Dr. Huldrich meldete sich telegraphisch<br />

bei ihm an.<br />

»Sie sind Mediziner«, sagte Dr. Heyms, kaum<br />

dass Huldrich in sein Studierzimmer eingetreten<br />

war. »Und Sie ha ben Ihre Stellung verloren. Aber<br />

Sie wollen die Stellung nicht wie<strong>der</strong> zurückerlangen.<br />

Sie sind wegen etwas an<strong>der</strong>em hier.«<br />

»Das stimmt genau«, antwortete Dr. Huldrich.<br />

»Woher wissen Sie das?«<br />

»Dass Sie Mediziner sind, erkenne ich an zwei<br />

Dingen. Erstens an dem Aeskulapstab, <strong>der</strong> in den<br />

Deckel Ihrer Uhr eingraviert ist. Sie steckten<br />

sie gerade wie<strong>der</strong> ein, als Sie diesen Raum<br />

betraten. Sie hatten sich wohl noch einmal <strong>der</strong><br />

Uhrzeit vergewissert, die wir vereinbart hatten.<br />

»Und das zweite?«, wollte Huldrich wissen.<br />

»Ihr Arztkoffer wurde lange nicht benutzt, das<br />

Le<strong>der</strong> ist rissig, das Messing <strong>der</strong> Beschläge ist<br />

angelaufen. Sie haben ihn lange nicht benutzt,<br />

ihn aber nun wie<strong>der</strong> hervorgeholt <strong>und</strong> das Le<strong>der</strong><br />

großzügig frisch eingefettet. Das Fett hat Ihren<br />

Mantel verschmutzt. Was darauf schließen lässt,<br />

dass Sie eine Weile, sagen wir in einem Hospital<br />

arbeiteten, diese Stelle aber aus irgendeinem<br />

Gr<strong>und</strong> verloren <strong>und</strong> nun wie<strong>der</strong> als praktischer<br />

Arzt prak tizieren.«<br />

21


»Aber wieso will ich nicht wie<strong>der</strong> auf meine<br />

verlorene Stelle zurück?«<br />

»Sie sind zufrieden mit Ihrem neuen Leben.<br />

Sonst hätten Sie wohl kaum ein Liedlein gepfiffen,<br />

während Sie die Treppen zu mir hinaufstiegen.<br />

Außerdem tragen Sie einen Verlobungsring.<br />

Das spricht nicht gerade <strong>von</strong> Unzufriedenheit mit<br />

Ihrer gegenwärtigen Situation.«<br />

»Sie haben in allem recht, Doktor Heyms.«<br />

»Und was kann ich für Sie tun?«<br />

Huldrich schil<strong>der</strong>te ihm den Eifer, mit dem <strong>der</strong><br />

Sanitäts-Inspektor Schloemann Menschen in die<br />

Anstalt einwies, die selbst bei wenig wohlwollen<strong>der</strong><br />

Einschätzung keineswegs geistig o<strong>der</strong><br />

seelisch krank waren.<br />

»Ich selbst kann Ihnen nicht helfen«, erklärte<br />

Heyms. »Aber ich kann Ihnen jemanden empfehlen,<br />

<strong>der</strong> Ihnen sicher wird helfen können. In<br />

diesem Fall kommt ein Detektiv nicht weiter,<br />

selbst wenn er einen Doktortitel führen darf.<br />

Zwar ist es Ausdruck <strong>von</strong> verbrecherischer Energie,<br />

was da den Patienten angetan wurde, aber<br />

wie wollen Sie den Sanitäts-Inspektor Schloemann<br />

zur Verantwortung ziehen? Man müsste herausfinden,<br />

ob er Geld für seine falschen Attes -<br />

tate bekommen hat. O<strong>der</strong> ob er in einem Abhängigkeitsverhältnis<br />

zu den Personen steht, die<br />

ein Interesse an einer falschen Diagnose haben.<br />

Das sind alles nicht mehr als bloße Verdächtigungen,<br />

für die handfeste Beweise zu erbringen<br />

nicht einfach ist. Für einen Gerichtsprozess<br />

22


dürfte das wohl kaum ausreichen. Je<strong>der</strong> Jurist<br />

wird Ihnen meine Ansicht sicherlich bestätigen.<br />

Ich empfehle Ihnen daher einen an<strong>der</strong>en Spezialisten.<br />

Mein Rat wird Sie auch nichts kosten.<br />

Hier!«<br />

Dr. Huldrich hörte auf den Rat <strong>und</strong> begab sich<br />

zu dem Manne, den Dr. Heyms genannt hatte. Es<br />

war Dr. H<strong>und</strong>geburth, Redakteur bei <strong>der</strong> M.schen<br />

Zeitung. Dr. H<strong>und</strong>geburth hörte sich alles an,<br />

ließ sich das <strong>von</strong> Dr. Huldrich gesammelte Material<br />

geben, prüfte alles auf das Sorgfältigs te<br />

<strong>und</strong> gelangte zu dem Schluss, dass dem Treiben<br />

des Sanitäts-Inspektors Schloemann ein Ende<br />

gesetzt werden müsse.<br />

Kurz darauf machte ein umfangreicher Artikel<br />

in <strong>der</strong> M.schen Zeitung die fragwürdigen Diag -<br />

nosen des Sanitäts-Inspektors Schloemann<br />

öffentlich. Zahlreiche Leser meldeten sich<br />

daraufhin bei dem Redakteur Dr. H<strong>und</strong>geburth,<br />

um zu berichten, dass auch ihre Angehörigen<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Expertisen Schloemanns in irgendwelchen<br />

Irren- <strong>und</strong> Idiotenanstalten verschw<strong>und</strong>en<br />

seien. »Ja«, meinte eine Leserin,<br />

»genauso erging es meiner Schwester Klara, die<br />

nach <strong>der</strong> Geburt ihres vierten Kindes gemütskrank<br />

wurde. Auch sie wurde auf einer Coxschen<br />

Schaukel gequält <strong>und</strong> fand nie wie<strong>der</strong> zu sich!«<br />

Ein an<strong>der</strong>er berichtete <strong>von</strong> einem Vater, <strong>der</strong><br />

mit zunehmendem Alter merkwürdig geworden <strong>und</strong><br />

ebenfalls dem Sanitäts-Inspektor Schloemann<br />

in die Hände gefallen war.<br />

23


Weitere Artikel folgten, auch in an<strong>der</strong>en Zeitungen,<br />

sodass schließlich eine ärztliche Kommission<br />

aus <strong>der</strong> Landeshauptstadt zu einer Untersuchung<br />

ausgeschickt wurde. Zwei Herren<br />

erschienen unangemeldet im Wittekindshof, prüften<br />

die Krankenunterlagen <strong>und</strong> nahmen die inkriminierten<br />

Patienten persönlich in Augenschein.<br />

Auch Hans Wanka wurde aus seiner Zelle geholt,<br />

musste sich entkleiden <strong>und</strong> wurde nackt, wie Gott<br />

ihn geschaffen hatte, vor zwei weißbärtige Herren<br />

geführt, die ihn untersuchten <strong>und</strong> einem jungen<br />

Secretarius ihre Erkenntnisse diktierten.<br />

Hans Wankas Herz wurde abgehört, seine Lungen<br />

abgeklopft <strong>und</strong> in seine Augen <strong>und</strong> Ohren geleuchtet.<br />

Dann durfte er sich auf einen Holzschemel<br />

vor dem Tisch setzen, <strong>der</strong> den beiden Herren als<br />

Schreibtisch diente, <strong>und</strong> seine Geschichte<br />

erzählen. In den drei Jahren im Wittekindshof<br />

hatte er sie sich selbst an langen Tagen <strong>und</strong> in<br />

schlaflosen Nächten, unhörbar murmelnd, wie<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> wie<strong>der</strong> selber erzählt, sich die Worte<br />

zurechtgelegt <strong>und</strong> sie passend geschliffen. Nun<br />

musste er gar nicht mehr über sie nachdenken.<br />

Wie Wasser flossen sie aus seinem grindigen<br />

M<strong>und</strong>, <strong>und</strong> er schämte sich ihrer nicht. Und so<br />

berichtete er den weißbärtigen, mit ungerührten<br />

Mienen lauschenden Herren <strong>von</strong> dem verräterischen<br />

Vater, <strong>der</strong> nicht min<strong>der</strong> verräterischen<br />

Fanny, <strong>von</strong> <strong>der</strong> strengen Baronin, die ihn vergeb -<br />

lich zu verführen versucht hatte, <strong>und</strong> <strong>von</strong> ihrer<br />

Rache <strong>und</strong> wie er, sich demütig ins vermeintlich<br />

24


Unvermeidliche schickend, mit dem »Ausweis zur<br />

Erlangung einer Eisenbahn-Fahrpreisermäßigung«<br />

dritter Klasse ohne Rückfahrmöglichkeit nach Ö.<br />

gereist war, womit sein Unglück begonnen hatte.<br />

Die beiden weißbärtigen Herren blickten einan<strong>der</strong><br />

kurz an.<br />

»Ist zu entlassen«, diktierte dann <strong>der</strong> Ältere<br />

<strong>der</strong> beiden, <strong>der</strong> offenbar auch <strong>der</strong> Ranghöhere<br />

war, dem Schreiber.<br />

Am nächsten Morgen wurde Hans Wanka in seinen<br />

abgerissenen Klei<strong>der</strong>n, die ihm viel zu groß<br />

geworden waren, durch das große Tor geführt in<br />

eine Welt, die er nicht verstand. Was hatte er<br />

gewonnen? Wohin sollte er gehen? Er hatte sich<br />

keine Worte zurechtlegen können für all das<br />

Neue, das ihm zu begegnen drohte <strong>und</strong> in dem er<br />

sich nicht zurechtfinden würde. Die kalte Hand<br />

<strong>der</strong> Angst legte sich um sein Herz. Er wandte<br />

sich um, um in die Anstalt zurückzukehren, wo er<br />

Zuflucht finden würde vor <strong>der</strong> Welt. Da aber war<br />

das große Tor bereits zugeschlagen.<br />

25


26


Aus den Aufzeichnungen <strong>von</strong> Dr. Watson, ca. 1912/13<br />

I.<br />

Die kurze Erzählung in deutscher Sprache, die mit<br />

diesen Zeilen begann, zeugt sicherlich nicht <strong>von</strong><br />

früher Meisterschaft. Sie war nicht mit <strong>der</strong> Hand, son<strong>der</strong>n<br />

auf einer Schreibmaschine geschrieben, welche<br />

man damals »Schreibklavier« nannte, <strong>und</strong> mittels eines<br />

Verfahrens vervielfältigt worden, welches um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

auf dem Kontinent als »Glasdruck«<br />

bekannt gewesen war. Der Glasdruck erlaubte die Herstellung<br />

einer sehr beschränkten Anzahl <strong>von</strong> Kopien,<br />

die sich vor allem durch ihre geringe Haltbarkeit auszeichneten.<br />

Das verwendete Papier war nämlich noch<br />

dünner als dasjenige, das man zum Druck <strong>von</strong> Bibeln<br />

zu verwenden pflegt. Wenn es <strong>von</strong> selbst zu zerfallen<br />

begann, waren in <strong>der</strong> Regel die Buchstaben bereits fast<br />

bis zur vollständigen Unleserlichkeit verblasst. Als ich<br />

das gute Dutzend Seiten brüchigen Papiers zufällig<br />

wie<strong>der</strong> zur Hand nahm, konnte ich lediglich noch<br />

meine eigene Schrift zwischen den verblassten maschinenschriftlichen<br />

Zeilen erkennen.<br />

Mithilfe meines deutsch-englischen Diktionärs <strong>und</strong><br />

meines Fre<strong>und</strong>es <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>, <strong>der</strong> fließend Deutsch<br />

27


sprach, hatte ich damals bereits im Zug begonnen, eine<br />

Rohübersetzung zwischen die Zeilen zu schreiben.<br />

Beson<strong>der</strong>s das seltsame Wort »landarm« hatte mir, wie<br />

mehrere durchgestrichene Versuche zeigten, einiges<br />

Kopfzerbrechen bereitet. Später aber hatte ich herausgef<strong>und</strong>en,<br />

dass man damit mittellose Menschen bezeichnete,<br />

<strong>der</strong>en Unterhalt <strong>der</strong> Allgemeinheit oblag.<br />

Längst hatte ich meine Bemühungen als Übersetzer<br />

aus <strong>der</strong> Sprache Goethes <strong>und</strong> Kants vergessen. Man<br />

wird eben alt! Und als hätte ich meine zukünftige Vergesslichkeit<br />

vorausgeahnt, hatte ich zur Sicherheit seitlich<br />

an den Rand <strong>der</strong> ersten Seite den Namen des Verfassers<br />

gekritzelt. Er hieß Kafka. Dr. Franz Kafka, <strong>und</strong><br />

er hatte mir damals, nachdem mein Fre<strong>und</strong> <strong>Sherlock</strong><br />

<strong>Holmes</strong> <strong>und</strong> ich ihm 1912 in <strong>Prag</strong> begegnet waren,<br />

seine in aller Eile vervielfältigte Erzählung beim<br />

Abschied auf dem Bahnsteig noch rasch zum Geschenk<br />

gemacht. Damals war er kaum dreißig Jahre alt gewesen<br />

<strong>und</strong> hatte noch keine einzige Zeile o<strong>der</strong> zumindest<br />

kaum eine Zeile veröffentlicht. Er war ein schlanker,<br />

sehr gut aussehen<strong>der</strong> Deutschjude mit den dunklen<br />

Augen eines verschreckten Kindes gewesen. Sein Brotberuf<br />

– er diente als Sachbearbeiter bei einer italienischen<br />

Versicherung in <strong>Prag</strong> – zwang den studierten<br />

Juristen, ausschließlich nachts zu schreiben. Was ihm<br />

wenig ausmachte, da er, wie er behauptete, sowieso<br />

nachtsichtig war.<br />

Der landarme Idiot war als Privatdruck womöglich gar<br />

nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Ich fand<br />

die Geschichte in einem Koffer, den mein Fre<strong>und</strong> bei<br />

mir untergestellt hatte.<br />

28


»Oh, bitte behalten Sie den Krempel«, hatte mir <strong>Holmes</strong><br />

später auf meine Anfrage hin beschieden, »o<strong>der</strong><br />

werfen Sie ihn weg. Ich brauche ihn nicht mehr!«<br />

Warum er sie aufgehoben hatte, war mir bis zum<br />

Wie<strong>der</strong>lesen nicht so recht erfindlich. Nach dem<br />

Wie<strong>der</strong>lesen aber <strong>und</strong> nachdem ich mir die Begegnung<br />

mit Kafka wie<strong>der</strong> in Erinnerung gerufen hatte, erkannte<br />

ich den Gr<strong>und</strong> für <strong>Holmes</strong>’ anfängliche Anhänglichkeit<br />

an dieses seltsame Souvenir. Kafka war mir seinerzeit<br />

nur wie ein weltfrem<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>ling vorgekommen.<br />

Jetzt wurde mir bewusst, dass <strong>Holmes</strong> wohl eine<br />

gewisse Seelenverwandtschaft zu dem böhmischen<br />

Schriftsteller empf<strong>und</strong>en haben musste.<br />

Dieser erläuterte mir brieflich die Entstehungsgeschichte<br />

seines kleinen Werkes. Er habe die Bescheinigung<br />

zur Erlangung eines Freifahrtscheines in einem<br />

Aktenstück gef<strong>und</strong>en, welches den Casus Hans Wankas<br />

<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e, ähnlich gelagerte Fälle betraf. Kafkas<br />

Vorgänger im Amt habe damals tätig werden müssen,<br />

weil auffällig vielen Arbeitern aus den Werkstätten <strong>der</strong><br />

allzu gerne gekränkten Baronin, die bei seiner Versicherung<br />

versichert waren, plötzlich Wahnsinn bescheinigt<br />

worden sei – allen <strong>von</strong> demselben Seelenarzt, <strong>der</strong><br />

sich nicht dem Wohl seiner Patienten, son<strong>der</strong>n dem<br />

Wollen beziehungsweise dem Wohlwollen <strong>der</strong> Baronin<br />

verpflichtet gefühlt habe.<br />

Das Schicksal dieses Unglücklichen, <strong>der</strong> <strong>von</strong> seiner<br />

eitlen Herrin so schändlich als Geistesschwacher verleumdet<br />

worden war, habe ihn nicht nur persönlich<br />

erschüttert, son<strong>der</strong>n auch zu seiner kleinen Erzählung<br />

inspiriert. Möglicherweise – aber vielleicht spielt mir<br />

29


die Erinnerung hier einen bösen Streich – schrieb er mir<br />

bei dieser Gelegenheit sogar, er habe sein eigenes<br />

Schicksal in dem des Hans Wanka gespiegelt gesehen.<br />

Hatte nicht Kafkas Vater ebenfalls auf den Vornamen<br />

Hermann gehört wie Hans Wankas Vater? Ich weiß es<br />

nicht mehr!<br />

Von frühester Jugend, schrieb mir Kafka weiter, war ich<br />

ein großer Verehrer Ihrer Erzählkunst <strong>und</strong> des Meisterdetektivs<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>. Ich wünschte mir – <strong>und</strong> wünsche es<br />

mir noch heute – so klug, so hellsichtig, so souverän zu sein<br />

wie Ihr Fre<strong>und</strong>! Und als mir die Ehre zuteilwurde, mein Idol<br />

<strong>der</strong> frühen Lektürejahre persönlich kennenzulernen, versuchte<br />

ich, aus meiner fertigen Geschichte vom landarmen Idioten<br />

eine Detektivgeschichte zu machen. Wahrscheinlich ist es<br />

mir lei<strong>der</strong> nicht gelungen. Ich bitte Sie aber, sehr verehrter<br />

Herr Dr. Watson, meinen guten Willen für die Tat zu nehmen.<br />

In diesem Stil ging das noch einige Seiten weiter.<br />

Doktor Kafka hatte lei<strong>der</strong> recht! Sein »Spezialist« imitiert<br />

recht genau <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>’ Methoden, <strong>und</strong> wie<br />

ich mithilfe meines Diktionärs herausfand, auch seinen<br />

Nachnamen, denn Kafka nannte diesen ›Spezialisten‹<br />

Heyms. <strong>Holmes</strong> ist im Englischen ein homophones<br />

Wort zu homes, <strong>und</strong> Heims <strong>der</strong> Genitiv Singular <strong>der</strong><br />

deutschen Entsprechung zu homes: Heim, des Heimes.<br />

Heyms soll also, mit an<strong>der</strong>en Worten, <strong>Holmes</strong> sein.<br />

Schade nur, dass dieser den interessanten Fall des Hans<br />

Wanka so schnell aus <strong>der</strong> Hand legt <strong>und</strong> seine Lösung<br />

einem Journalisten anvertraut! Wobei die Macht <strong>der</strong><br />

Presse unter Umständen mehr bewirken kann als <strong>der</strong><br />

beste beratende Detektiv. Man denke an den Fall Drey-<br />

30


fus! Kafka hat das schon sehr richtig erkannt, wie er<br />

überhaupt bei aller Verschrobenheit einen sehr klaren<br />

Blick für die Wirklichkeit besaß. Aber beginnen wir<br />

<strong>von</strong> vorn!<br />

31

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