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Papierjunge

Ein Skandinavien-Thriller von Kristin Ohlsson

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Kristina Ohlsson<br />

<strong>Papierjunge</strong>


Kristina Ohlsson<br />

<strong>Papierjunge</strong><br />

Thril ler<br />

Deutsch von Su san ne Dah mann


Die Originalausgabe erschien 2013<br />

unter dem Titel »Davidsstjärnor«<br />

bei Piratförlaget, Stockholm.<br />

Ver lags grup pe Ran dom House FSC ® N001967<br />

Das FSC ® -zer tifi zier te Pa pier EOS für dieses Buch<br />

lie fert Salzer Papier, St. Pölten, Austria.<br />

1. Auflage<br />

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Kristina Ohlsson<br />

Published by agreement with Salomonsson Agency<br />

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015<br />

by Limes Verlag, München,<br />

in der Verlagsgruppe Random House GmbH<br />

Redaktion: Leena Flegler<br />

Satz: Buch-Werk statt GmbH, Bad Aib ling<br />

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-8090-2640-2<br />

www.li mes-ver lag.de


DIE ANGST KAM MIT DER Dun kel heit. Er hass te die Nächte.<br />

Die Ent fer nung zwi schen sei nem Zim mer und der Ge borgen<br />

heit, die das Schlaf zim mer der El tern ver sprach, fühl te sich<br />

je des Mal un end lich groß an. Oft ver steck te er sich so gar lie ber<br />

un ter der De cke, als sich auf den dunk len Flur vor sei ner Zimmer<br />

tür hi naus zu wa gen.<br />

Er merk te sei ner Mut ter an, dass sei ne Angst vor der Nacht<br />

ihr Sor gen be rei te te. Manch mal schrie er laut, wenn er ei nen<br />

Alb traum hat te, und dann kam sie im mer, strich ihm über die<br />

Stirn und flüs ter te, al les sei gut, mach te die Nacht tisch lam pe<br />

an und zog das Rol lo vor sei nem Fens ter hoch.<br />

»Da ist nichts, Da vid. Nichts, was dir scha den könn te. Sieh<br />

nur.«<br />

Und dann woll te sie das, was alle El tern wol len: Er soll te<br />

selbst nach se hen. Se hen, dass dort drau ßen kei ne Ge fah ren<br />

lau er ten.<br />

Aber Da vid hat te kei ne Angst vor dem, was man mit bloßem<br />

Auge er ken nen konn te. Er fürch te te sich vor dem, was<br />

man erst dann be merk te, wenn es schon zu spät war. Vor Gefah<br />

ren, die sich in der schüt zen den Dun kel heit und in völ li ger<br />

Stil le um her be weg ten. Da vid fürch te te et was, wo vor man sich<br />

nicht schüt zen konn te.<br />

Avi tal hat te sie ihm er zählt, die Ge schich te des Jun gen, der<br />

Kin der hass te und ih nen in der kar gen Land schaft auflau er te,<br />

die sich um ihr Dorf he rum er streck te. Avi tal hat te ihn »Pa pierjun<br />

ge« ge nannt.<br />

»Tags ü ber schläft er, und wenn die Son ne un ter geht, dann<br />

steht er auf«, hat te er ihm ei nes Ta ges zu ge flüs tert, als sie sich in<br />

sei nem Baum haus ver steckt hat ten, weil Da vid nicht nach Hau se<br />

ge hen woll te. »Dann sucht er sich ein Kind aus und holt es sich.«<br />

5


Da vid spür te, wie sich sei ne Ein ge wei de zu sam men zo gen.<br />

»Und wie sucht er es sich aus?«, flüs ter te er.<br />

»Das kann man nie wis sen. Si cher ist nur, dass kei ner si cher<br />

sein kann.«<br />

Da vid ver such te, sei ne Angst he run terzu schlu cken. »Das<br />

hast du dir bloß aus ge dacht.«<br />

Der Bo den des Baum hau ses war hart und der Wind viel zu<br />

kühl. Er hat te nur Shorts und ei nen kurz är me li gen Pul lo ver an<br />

und merk te, dass er all mäh lich an fing zu frie ren.<br />

»Gar nicht!«<br />

Avi tal war schon im mer der Drauf gän ge ri sche von ih nen<br />

bei den ge we sen. Nie mals ängst lich und im mer be reit, für das,<br />

was er mein te oder was er ha ben woll te, zu strei ten. Aber er<br />

war auch ein gu ter Freund. Das hat te Da vids Papa schon mehrmals<br />

ge sagt: dass aus Avi tal spä ter ein mal ein gu ter Mann und<br />

ein tap fe rer Sol dat wer den wür de. Ei ner, der das Rich ti ge tat<br />

und nicht das Fal sche und der sich für sei ne Freun de und für<br />

sein Volk ein setz te. Was er von Da vid dach te, hat te er nicht erwähnt,<br />

aber Da vid mein te zu wis sen, dass er ihn an ders einschätz<br />

te als Avi tal.<br />

»Nachts, wenn wir schla fen, dann kommt er. Er war tet draußen<br />

vor dem Fens ter, und wenn wir am al ler we nigs ten da mit<br />

rech nen, kommt er und holt sich uns. Du schläfst also bes ser<br />

nicht bei of fe nem Fens ter«, warn te Avi tal ihn.<br />

Die Wor te dran gen in Da vids Kopf wie Pfeil spit zen, die man<br />

nicht wie der he raus zie hen konn te.<br />

Von die sem Tag an muss te das Fens ter ge schlos sen bleiben.<br />

Doch als der Som mer kam und die tro cke ne Hit ze übers<br />

Land wälz te, hat te sei ne Mut ter ge nug.<br />

»Man kann vor Hit ze auch krank wer den, Da vid. Du musst<br />

die küh le Nacht luft rein las sen.«<br />

Er ließ zu, dass sie das Fens ter öff ne te, und dann war te te<br />

er, bis sie selbst schla fen ging. So bald das Haus still war, stand<br />

6


er auf und mach te das Fens ter wie der zu. Dann erst konn te er<br />

ein schla fen.<br />

Aber rich tig si cher konn te er sich trotz dem nie mals sein.<br />

Das er klär te Avi tal ihm eine Wei le spä ter.<br />

»Wenn er wü tend wird, dann ist er to tal stark«, sag te er zu<br />

Da vid. »Da kön nen ihn kei ne Tü ren, kei ne Wän de und kei ne<br />

Fens ter auf hal ten. Da kann man nur noch hof fen.«<br />

»Wo rauf hof fen?«<br />

»Dass er sich ei nen an de ren holt.«<br />

Das gab letzt lich den Aus schlag. Da nach war Da vids Angst,<br />

al lein schla fen zu müs sen, grö ßer als die Furcht vor dem Flur<br />

zum Schlaf zim mer der El tern. Nacht für Nacht schlich er zu ihnen,<br />

und er wur de nur ab ge wie sen, wenn sei ne klei ne Schwester<br />

ihm zu vor ge kom men war.<br />

»Komm, mein Klei ner«, flüs ter te sei ne Mut ter, und dann<br />

durf te er un ter ihre Bett de cke krie chen.<br />

Aber er schlief nicht, je den falls nicht mehr als ein paar Stunden<br />

in der Mor gen däm me rung, und das brach te neue Proble<br />

me mit sich. Er war ge ra de in die Schu le ge kom men und<br />

schlief wäh rend des Un ter richts ein. Die Leh rer mach ten sich<br />

Sor gen und rie fen sei ne El tern an, die da rauf hin mit ihm zum<br />

Arzt gin gen.<br />

»Der Jun ge ist er schöpft«, sag te der Arzt. »Las sen Sie ihn<br />

ein paar Tage aus ru hen, dann wird er wie aus ge wech selt sein.«<br />

Da vid durf te zu Hau se blei ben, und Avi tal kam mit den<br />

Haus auf ga ben und er zähl te ihm, was sie in der Schu le ge macht<br />

hat ten. Ins ge heim wünsch te Da vid sich, die Leh re rin hät te einen<br />

an de ren ge schickt. Er hat te ver sucht, Avi tal aus dem Weg<br />

zu ge hen, da mit der ihm nicht noch mehr schlim me Ge schichten<br />

er zähl te. Doch es war, als soll te er ihm nicht ent kom men.<br />

Avi tal hat te ge ra de den Reiß ver schluss sei nes Ruck sacks zu gezo<br />

gen und stand von Da vids Bett kan te auf, um nach Hau se zu<br />

ge hen, da sag te er: »Hast du ihn schon ge se hen? Ich mei ne,<br />

nachts?«<br />

7


Da vid schüt tel te hef tig mit dem Kopf.<br />

»Ich glau be, er wird bald kom men«, sag te Avi tal.<br />

Es soll te noch ei ni ge Zeit dau ern, bis es so weit wäre.<br />

Jahr zehn te.<br />

Da vid und Avi tal ver lie ßen das Dorf, in dem sie auf ge wachsen<br />

wa ren, und lan de ten zu fäl lig im sel ben Kib buz.<br />

Und dann kam er. Der Pa pier jun ge. Aus dem Kib buz verschwand<br />

ein Kind. Zehn Tage und zehn Näch te lang such ten<br />

die Er wach se nen ge mein sam mit der Po li zei und dem Mi li tär<br />

nach ihm. Schließ lich fand man sei ne Lei che, und sie war so<br />

übel zu ge rich tet, dass man den an de ren Kin dern nicht er zählen<br />

woll te, was ihm wi der fah ren war.<br />

Sie wuss ten es trotz dem.<br />

Da vid und Avi tal, zu je ner Zeit be reits er wach se ne Män ner,<br />

sa hen ei nan der in schwei gen dem Ein ver ständ nis an. Sie wussten,<br />

was dem Jun gen zu ge sto ßen war.<br />

Der Pa pier jun ge hat te ihn sich ge holt.<br />

Und es war nur eine Fra ge der Zeit, bis er zu rück kom men<br />

wür de.<br />

8


Schluss<br />

Fragment I


DIE FRAU, DIE NOCH NICHT weiß, dass an der nächs ten<br />

Straßenecke bereits die Hölle auf sie wartet, geht entschlossenen<br />

Schrit tes den Bür ger steig ent lang. Vom dunk len Him mel fällt<br />

Schnee und legt sich wie ge fro re ne En gels trä nen auf ihre Schultern<br />

und auf ih ren Kopf. In der Hand hält sie ei nen Gei gen kasten.<br />

Der Tag war lang, und sie will nur noch nach Hau se.<br />

Heim zu ih rer Fa mi lie.<br />

Zu den schla fen den Kin dern und zu ih rem Ehe mann, der<br />

mit Wein und Piz za auf sie war tet.<br />

Viel leicht emp fin det sie so gar ein Ge fühl des Frie dens. Eine<br />

Ge schich te, die sie lan ge um ge trie ben hat, scheint zu Ende gegan<br />

gen zu sein. Sie merkt erst jetzt, was für eine Be las tung dies<br />

al les für sie ge we sen ist. Es nun hin ter sich ge bracht zu ha ben<br />

wird vie les ver än dern.<br />

Je nä her sie ih rem Wohn vier tel kommt, umso län ger werden<br />

ihre Schrit te. End lich wird sie sich die Zeit neh men, um<br />

zur Ruhe zu kom men. Um sich zu er ho len. Um wie der Kraft<br />

zu schöp fen.<br />

Sie hat Sehn sucht, geht noch schnel ler.<br />

Da hört sie es. Das Ge räusch, das die win ter li che Stil le durchschnei<br />

det, trifft sie wie ein Ham mer schlag.<br />

Lau te Si re nen.<br />

Über all Blau licht.<br />

Au tos über ho len sie mit laut heu len den Mar tins hör nern und<br />

ra sen an ihr vor bei.<br />

Sie weiß in tu i tiv, wo hin sie un ter wegs sind.<br />

Zu ihr nach Hau se.<br />

Sie rennt schnel ler, als sie je ge rannt ist. Sie läuft um ihr Leben<br />

und doch di rekt in die Arme des To des. Das Ge räusch ihrer<br />

Schrit te wird vom Schnee ge dämpft, und ihr Atem wird zu<br />

11


dich ten Wol ken. Als sie um die letz te Ecke ge bo gen ist, sieht<br />

sie das Blau licht über die Fas sa den fla ckern. Über all Men schen.<br />

Män ner und Frau en in Uni form, auf den Bür ger stei gen und<br />

auf der Stra ße. Lau te Stim men. Auf ge reg te Ge sich ter. Je mand<br />

weint un ge hemmt, ein an de rer schreit ei nen Au to fah rer an, er<br />

soll ver dammt noch mal wo an ders par ken.<br />

Dann be mer ken die an de ren sie.<br />

Sie ist wie ein Gü ter zug auf of fe ner Stre cke, un mög lich aufzu<br />

hal ten. Ir gend je mand un ter nimmt trotz dem den Ver such,<br />

greift aber um ei nen win zi gen Mo ment da ne ben. Sie wirft sich<br />

durch die of fe ne Haus tür und stürzt die Trep pe hi nauf.<br />

Und dort ist erst mal Schluss.<br />

Mit vol ler Wucht kracht sie mit dem Kör per ei nes an de ren<br />

zu sam men und stürzt. Ver sucht, sich wie der auf zu rap peln,<br />

wird aber nie der ge drückt von je man dem, der sich ein bil det,<br />

stär ker zu sein als der Wil le ei ner ra sen den Mut ter.<br />

»Sie kön nen da jetzt nicht rein ge hen. War ten Sie …«<br />

Aber sie war tet nicht. Ohne selbst zu be grei fen, wie ihr geschieht,<br />

hat sie ihn mit ei nem ein zi gen Hieb in den Schritt<br />

dazu ge bracht, sie los zu las sen. Sie steht auf, läuft wei ter. Hört<br />

sei ne Stim me im Trep pen haus wi der hal len: »Ich hab sie nicht<br />

ge kriegt! Hal tet sie auf!«<br />

End lich hat sie es die Trep pe hi nauf ge schafft. Und steht vor<br />

ih rer Woh nungs tür.<br />

Gleich wird sie er fah ren, was ge sche hen ist.<br />

Dass ihr Mann und ihre Kin der tot sind.<br />

Dass kei ner mehr üb rig ist.<br />

Schwei gend wird sie auf der Schwel le zu dem Zim mer stehen,<br />

in dem sie alle lie gen, wird die fie ber haf te Ak ti vi tät wahrneh<br />

men, die um sie he rum herrscht, in dem Ver such, et was zu<br />

ret ten, ob wohl oh ne hin al les zu spät ist. Und so wer den sich<br />

alle, die dort sind, an die se Sze ne er in nern.<br />

Dass sie schwei gend in der Tür stand, mit Schnee auf dem<br />

Man tel und ei nem Gei gen kas ten in der Hand.<br />

12


Vorher


DER ERS TE TAG<br />

Mitt woch, 25. Ja nu ar 2012


EF RAIM KIEL WAR MIT ZWEI Auf trä gen ge kom men. Der<br />

ers te lau te te, ei nen neu en Si cher heit schef für die Sa lo mon gemein<br />

de, eine der bei den jü di schen Ge mein den Stock holms, zu<br />

fin den und ein zu stel len. Über den zwei ten woll te er am liebsten<br />

gar nicht nach den ken. Wenn bei de aus ge führt wä ren, würde<br />

er nach Is ra el zu rück rei sen. Oder wo an ders hin. Er wuss te<br />

nur sel ten im Vo raus, wie lan ge er blei ben muss te.<br />

Ei gent lich hät te es nicht so schwer sein dür fen. Je den falls<br />

war es das nor ma ler wei se nicht. Wie oft war er nicht schon<br />

mit ver gleich ba ren Auf trä gen los ge schickt wor den? Un zäh li ge<br />

Male. Aber wie oft war er schon ver gleich ba ren Schwie rig keiten<br />

be geg net? Nicht ein ein zi ges Mal.<br />

Die Sa lo mon ge mein de in Stock holm hat te von sich aus Kontakt<br />

zu Je ru sa lem auf ge nom men. Im ver gan ge nen Jahr hat te<br />

es eine Rei he be sorg nis er re gen der Vor fäl le ge ge ben. Die Gemein<br />

de war wie der holt Ziel von An schlä gen ge we sen. In mehre<br />

ren Fäl len hat te es sich re gel recht um At ten ta te gehan delt,<br />

die so gar ge gen die Schu le der Ge mein de ge rich tet ge we sen<br />

wa ren. Kei ner hat te eine Er klä rung da für, wa rum sich die Sicher<br />

heits la ge in Stock holm ur plötz lich so ver än dert hat te, aber<br />

das spiel te im Grun de auch gar kei ne Rol le. Ent schei dend war<br />

le dig lich, da für zu sor gen, dass die Si cher heit ver bes sert wür de.<br />

Ein Teil der Lö sung, so hat te der Be schluss zu min dest gelau<br />

tet, soll te da rin be ste hen, ei nen bes ser qua li fi zier ten Si cherheit<br />

schef ein zu stel len. Und nun war es Ef raims Auf ga be, ei nen<br />

zu fin den.<br />

Ef raim wuss te ge nau, wo nach er such te.<br />

Nach ei ner gu ten Füh rungs kraft.<br />

Ein Team funk ti o nier te nur, wenn der Team lei ter eine an erkann<br />

te, durch set zungs fä hi ge Per son war, je mand mit In teg ri tät<br />

17


und ei nem Ge fühl für Pri o ri tä ten und stra te gi sche Ent scheidun<br />

gen. Doch vor al lem muss te die Füh rungs kraft res pek tiert<br />

wer den. Kei ne Be lo bi gun gen der Welt konn ten es wett machen,<br />

wenn der Teamleiter Ei gen schaf ten hatte, die bei den jeni gen<br />

Res pekt lo sig keit er zeug ten, die ei gent lich an ge lei tet und zusam<br />

men ge hal ten wer den soll ten.<br />

Bis her war es ih nen schwer ge fal len, eine Per son zu fin den,<br />

die der ar ti ge Qua li tä ten be saß. Im mer hat te ir gend was gefehlt<br />

– meist die In teg ri tät oder hin rei chen de Er fah rung auf<br />

ope ra ti vem Ge biet. Ein Be wer ber nach dem an de ren war ausge<br />

schie den, und nun lief Ef raim Kiel all mäh lich die Zeit da von.<br />

»Wir ha ben doch ei nen Kan di da ten, der für den Auf trag der<br />

ide a le Mann wäre. Wa rum kön nen wir den nicht neh men?«,<br />

frag te der Ge ne ral sek re tär der Sa lo mon ge mein de, der Ef raim<br />

ge gen über saß.<br />

»Weil er sei nen Dienst nicht vor dem Som mer an tre ten<br />

kann«, ant wor te te Ef raim. »Das ist zu spät. Die Ge mein de<br />

kann kein hal bes Jahr auf ei nen Si cher heit schef ver zich ten, das<br />

geht ein fach nicht.«<br />

Er wand te den Blick zum Fens ter und sah auf den Schnee<br />

hi naus, der aus den dunk len Wol ken am Him mel fiel und den<br />

Bo den weiß pu der te. Stock holm im Ja nu ar war so an ders als<br />

Tel Aviv. Dort hatte er nur we ni ge Aben de zu vor noch draußen<br />

ge ses sen und Wein ge trun ken. Na tür lich pfleg ten auch die<br />

Schwe den ihre Tra di ti o nen und Ri tu a le. Ef raim hat te ge hört,<br />

dass sie al len Erns tes ab und zu im Schnee sa ßen, Würst chen<br />

grill ten und hei ße Scho ko la de tran ken. Selbst wenn man da von<br />

ab sah, dass er kein Fleisch aß und dass er es ge ne rell nie fer tigbrin<br />

gen wür de, Milch und Fleisch zu ver mi schen, hielt er das<br />

doch für eine lä cher li che Sit te.<br />

»Wir müs sen ei nen an de ren fin den«, fuhr er fort und bemüh<br />

te sich um ei nen dip lo ma ti schen Ton fall. »Je man den mit<br />

brei ter Er fah rung, der so fort an fan gen kann.«<br />

Der Ge ne ral sek re tär blät ter te in den Be wer bun gen, die vor<br />

18


ihm la gen. Es wa ren nicht un be dingt vie le ein ge gan gen, doch<br />

rein zah len mä ßig hät te es aus rei chen müs sen, um je man den zu<br />

fin den. Ef raim wuss te, dass der Ge ne ral sek re tär in den ver gange<br />

nen Mo na ten ei ni ges hat te be wäl ti gen müs sen: So wohl die<br />

Ge mein de als auch die Sa lo mon schu le hat ten neue Räu me bezo<br />

gen, die in zwei un ter schied li chen Ge bäu den ei nan der di rekt<br />

ge gen ü ber la gen. Es war kein wei ter Um zug ge we sen – schließlich<br />

hat ten sie auch zu vor schon an der Ar tille ri ga tan re si diert.<br />

Trotz dem hat te das Gan ze Zeit und Ner ven ge kos tet. Es wäre<br />

für alle Be tei lig ten am bes ten, wenn sie end lich zur Ruhe kämen.<br />

Wenn doch nur ihr Lieb lings kan di dat frü her an fan gen<br />

könn te!<br />

Nicht ein mal für die Lö sung, den Pos ten ü ber gangs wei se bis<br />

zum Som mer zu be set zen, konn te Ef raim sich er wär men. Außer<br />

dem wür den sie selbst da für ei nen so li den In te rims kan dida<br />

ten brau chen. Eine Ge mein de ohne Si cher heit schef war einfach<br />

zu ver wund bar und nackt.<br />

Ohne es er klä ren zu kön nen, hat te Ef raim das be stimm te<br />

Ge fühl, dass aus ge rech net die se Ge mein de es al lein nicht lange<br />

schaf fen wür de. Ru he los streck te er die Hand nach den Bewer<br />

bun gen aus, die er in zwi schen bei na he aus wen dig kann te.<br />

»Heu te ist üb ri gens noch eine wei te re Be wer bung ein gegan<br />

gen«, sag te der Ge ne ral sek re tär zö ger lich. »Oder viel mehr<br />

meh re re … und zwar von ei ner Be ra ter fir ma, die sich auf strate<br />

gi sche Si cher heits ar beit spe zi a li siert hat.«<br />

Ef raim zog die Au gen brau en hoch. »Ach ja?«<br />

»Mei ner Mei nung nach kommt nur ei ner der Kan di da ten infra<br />

ge. Aber ei ner seits ist die Be wer bung zu spät ein ge trof fen.<br />

An de rer seits weiß ich nicht recht, ob die be tref fen de Per son<br />

wirk lich so pas send wäre.«<br />

Dass die Be wer bung nach dem Be wer bungs schluss ge kommen<br />

war, fand Ef raim un er heb lich. Die Fra ge der Eig nung war<br />

na tür lich et was ganz an de res.<br />

19


»Wa rum soll te er nicht pas sen? Oder sie?«<br />

»Er. Es ist ein Mann. Und er ist kei ner von uns.«<br />

»Sie mei nen, er ist ein Goi?«<br />

»Ja.«<br />

Also ein nicht jü di scher Kan di dat für den Pos ten als Si cherheit<br />

schef ei ner jü di schen Ge mein de.<br />

»Wa rum er wäh nen Sie sei ne Be wer bung, wenn er doch nicht<br />

zu uns passt?«<br />

Der Ge ne ral sek re tär stand wort los auf und ver ließ den<br />

Raum, um kurz da rauf mit ei nem Papp ord ner in der Hand<br />

wie der zu kom men. »Weil er ge wis se Qua li tä ten und Er fah rungen<br />

be sitzt, die mich neu gie rig ge macht ha ben, vor al lem im<br />

Hin blick auf eine vo rü ber ge hen de Be set zung der Stel le. Und<br />

das ist ja be kann ter ma ßen un se re der zei ti ge Si tu a ti on. Ich habe<br />

sei nen Hin ter grund über prüft und ein paar wich ti ge De tails in<br />

Er fah rung ge bracht.«<br />

Der stei fe Papp ord ner wech sel te den Be sit zer, und eine neue<br />

Idee nahm Ge stalt an.<br />

»Ein frü he rer Po li zist, an die vier zig Jah re alt. Frau und zwei<br />

klei ne Kin der. Wohnt drau ßen in Spånga. Als er sei nen Job verlo<br />

ren hat, sind sie raus ge zo gen. Wehr pflicht bei der Ma ri ne,<br />

scheint dann mit dem Ge dan ken ge lieb äu gelt zu ha ben, Offi<br />

zier zu wer den, denn er ist beim Mi li tär ge blie ben. Da nach<br />

ist er an der Po li zei hoch schu le an ge nom men wor den und inner<br />

halb der Be hör de schnell auf ge stie gen. Wur de sehr jung<br />

zum Kri mi nal ins pek tor be för dert und muss te nur we ni ge Jahre<br />

Strei fe fah ren, bis er für ein be son de res Er mitt ler team der<br />

Stock hol mer Po li zei rek ru tiert wur de, das von ei nem Kri mi nalkom<br />

mis sar na mens Alex Recht ge lei tet wur de.«<br />

Ef raim sah von den Pa pie ren auf. »Alex Recht. Wo her ken ne<br />

ich den Na men?«<br />

»Weil er im Herbst im Zu sam men hang mit der Flug zeugent<br />

füh rung in den Zei tun gen er wähnt wur de. Sein Sohn war<br />

der Ko pi lot.«<br />

20


»Ah, rich tig.«<br />

Ef raim nick te. Die Flug zeug ent füh rung war so gar in der isra<br />

e li schen Pres se er wähnt wor den.<br />

Er kon zent rier te sich wie der auf die Un ter la gen. Was der<br />

Ge ne ral sek re tär auf ge zählt hat te, stimm te mit dem über ein,<br />

was der Mann selbst in sei ner Be wer bung ge schrie ben hat te.<br />

Nur eine In for ma ti on fehl te.<br />

»Sie ha ben er wähnt, dass er bei der Po li zei ent las sen wur de.«<br />

»Ja.«<br />

»Und trotz dem könn ten Sie sich vor stel len, ihn ein zu stel len?<br />

Ist Ih nen nicht klar, dass man sich in ei nem Land wie Schweden<br />

rich tig da ne ben be neh men muss, um den Dienst quit tie ren<br />

zu müs sen?«<br />

Doch, das war dem Ge ne ral sek re tär klar.<br />

»Ich wür de be haup ten, dass in die sem Fall mil dern de Umstän<br />

de vor lie gen.«<br />

»Und die wä ren?«<br />

Der Ge ne ral sek re tär mach te eine Kunst pau se. »Er ist aus<br />

dem Dienst ent las sen wor den, weil er wäh rend ei nes Ein sat zes<br />

den Mör der sei nes Bru ders er schos sen hat.«<br />

Ef raim sah den Ge ne ral sek re tär lan ge an, ehe er den Blick<br />

wie der auf die Be wer bung des Man nes rich te te.<br />

Peder Rydh.<br />

Könn te er der Mann sein, den die Ge mein de so drin gend<br />

brauch te?<br />

Im sel ben Mo ment wur den sie von der As sis ten tin des Ge neral<br />

sek re tärs un ter bro chen, die an klopf te und he rein kam. »Bitte,<br />

kom men Sie, et was Schreck li ches ist pas siert. Die Schu le hat<br />

ge ra de an ge ru fen – eine der Er zie he rin nen aus der Ta ges stät te<br />

ist er schos sen wor den!«<br />

21


DER NOT RUF AUS DER SA LO MON SCHU LE auf Östermalm<br />

war erst gar nicht zu ver ste hen ge we sen. Eine Er ziehe<br />

rin war er schos sen wor den. Vor den Au gen ei ni ger Kin der<br />

und di ver ser El tern. Wahr schein lich von ei nem He cken schützen,<br />

der sich ge gen über auf ei nem Dach be fun den ha ben<br />

muss te.<br />

Un be greiflich.<br />

Für Kri mi nal kom mis sar Alex Recht war die Sa lo mon gemein<br />

de eine frem de Welt. Er wuss te nur, dass es eine der jüdi<br />

schen Ge mein den Stock holms war. Au ßer dem ver stand er<br />

nicht, wa rum der Fall die ser er schos se nen Er zie he rin auf seinem<br />

Schreib tisch ge lan det war. Wenn das Ver bre chen an ti se miti<br />

scher Na tur war, dann muss te es ei gent lich von der be son deren<br />

Ab tei lung der Kri mi nal po li zei un ter sucht wer den, die auf<br />

so ge nann te Hate Cri mes spe zi a li siert war. Wo mög lich muss te<br />

so gar die Säpo, die schwe di sche Si cher heits po li zei, ein ge schaltet<br />

wer den. Wa rum also aus ge rech net Alex’ Ar beits grup pe, die<br />

ge ra de erst frisch zu sam men ge stellt wur de und im mer noch<br />

nicht zur Gän ze auf grö ße re He raus for de run gen ein ge stellt<br />

war? Und trotz dem – wer hat te ei nen Grund ge habt, am helllich<br />

ten Tag vor ei ner gan zen An samm lung Er wach se ner und<br />

Schul kin der eine Er zie he rin zu er schie ßen?<br />

»Ihr neu er Typ«, sag te Alex’ Chef und ließ ei nen Com puter<br />

aus druck auf des sen Schreib tisch fal len. »Das ist kein Hate<br />

Crime, auch wenn es be reits so in den Abend aus ga ben der Zeitun<br />

gen steht. Das hier steht in Ver bin dung zum or ga ni sier ten<br />

Ver bre chen, und ich bin mir ganz si cher. Wenn du da ein paar<br />

Stei ne um drehst, wirst du he raus fin den, dass die Wes te die ses<br />

ar men Fräu leins nicht halb so blü ten weiß war wie der Schnee,<br />

in dem sie jetzt liegt.«<br />

22


Alex griff sich den Aus druck, ei nen Aus zug aus dem Straf regis<br />

ter. »Ist das ihr Le bens ge fähr te?«<br />

»Yes.«<br />

All zu be kann te Wör ter drän gel ten sich auf dem Pa pier: Verstoß<br />

ge gen das Be täu bungs mit tel ge setz, Nö ti gung, Be drohung<br />

von Be am ten, Wi der stand ge gen die Staats ge walt, schwerer<br />

Dieb stahl, be waff ne ter Raub ü ber fall, Kup pe lei.<br />

»Ha ben wir denn über die Frau selbst auch et was ge funden?«<br />

»Nicht das Ge rings te. Sie kommt nicht mal im Ver dachts regis<br />

ter vor.«<br />

»Dann kann sie trotz al lem eine rein wei ße Wes te und ein fach<br />

nur ei nen aus neh mend schlech ten Män ner ge schmack ge habt<br />

ha ben. Und Pech.«<br />

»Das wirst du si cher he raus fin den. Ich bin ge spannt, ob es<br />

um sie oder um ih ren Ty pen ge gan gen ist. Mög li cher wei se ja<br />

auch um bei de. Ach, und be eil dich ein biss chen.«<br />

Alex hob den Blick vom Pa pier. »Ha ben wir es ei lig?«<br />

»Die Sa lo mon ge mein de ist in Si cher heits fra gen ziem lich enga<br />

giert. Die wer den nicht auf un se re Ant wort war ten, wenn<br />

wir nicht schnell ge nug sind, son dern ei ge ne Er mitt lungen<br />

star ten. Wie auch im mer, wer den sie po li ti sche Maß nah men<br />

ein for dern und das in al ler Öf fent lich keit.«<br />

Alex strich sich übers Kinn. »Aber doch nicht, wenn wir publik<br />

ma chen, dass ihr Fräu lein mit ei nem kri mi nel len Schwerge<br />

wicht zu sam men leb te, oder?«, frag te er. »Das wür de doch<br />

eher so aus se hen, als wür den sie po ten zi ell ge fähr li che Per sonen<br />

ein stel len. Das kann ja kei ne gute Wer bung für sie sein.«<br />

Sein Chef war schon wie der auf dem Weg aus dem Zim mer.<br />

»Wie recht du hast. Sieh zu, dass du so schnell wie mög lich<br />

Kon takt zu ih nen auf nimmst. Fahr rü ber und quatsch mit ihnen.<br />

Und nimm Fredr ika mit.«<br />

»Die hat heu te Nach mit tag frei«, sag te Alex. »Aber ich rufe<br />

sie heu te Abend an und set ze sie ins Bild.«<br />

23


Der Chef run zel te die Stirn. »Das ist na tür lich dei ne Sa che.<br />

Aber ist das hier nicht Grund ge nug, sie an zu ru fen und zu fragen,<br />

ob sie kom men kann? Ich mei ne, wenn sie denn in der<br />

Stadt ist?«<br />

»Na tür lich ist sie in der Stadt«, er wi der te Alex. »Und na türlich<br />

kann ich sie an ru fen. Aber sie wird nicht ran ge hen.«<br />

»Ist ir gend was pas siert?«<br />

»Sie hat Or ches ter pro be.«<br />

»Or ches ter? Was spielt sie denn?«<br />

»Gei ge. Und ich weiß, dass ihr das gut tut. Des halb wer de<br />

ich da auch ga ran tiert nicht rein fun ken.«<br />

Fredr ika Berg man war zwei Jah re lang weg ge we sen. Jetzt<br />

end lich war sie wie der zu rück. Bei der Po li zei auf Kungs holmen.<br />

Bei Alex. Wo sie sei ner Mei nung nach die gan ze Zeit über<br />

hin ge hört hät te. Da wür de er nicht we gen ir gend wel cher Proben<br />

zei ten ei nen Streit vom Zaun bre chen.<br />

Er muss te mit der Sa che al lein an fan gen. Die Er zie he rin hatte<br />

mit ei nem Mann zu sam men ge lebt, der in ge fähr li chen Fahrwas<br />

sern un ter wegs ge we sen war – ge ra de zu eine Ein la dung für<br />

je den Er mitt ler.<br />

»Er klär mir bit te noch, wa rum das hier bei mir ge lan det ist«,<br />

sag te Alex. »Or ga ni sier tes Ver bre chen ge hört nicht zu mei nem<br />

Auf ga ben ge biet.«<br />

»Die Po li zei Öster malm hat um Ver stär kung auf Er mitt lersei<br />

te ge be ten«, er wi der te sein Chef. »Ich habe ih nen zu ge sichert,<br />

dass du ih nen un ter die Arme greifst. Wenn sich die Verbin<br />

dung zum or ga ni sier ten Ver bre chen als be last bar er weist,<br />

kannst du die Sa che an die Kri po über ge ben.«<br />

Wie ein fach das klang. Den Fall nur wei ter schie ben. Aber<br />

das wür de ver dammt noch mal nicht leicht wer den. Alex er inner<br />

te sich noch gut an das Er mitt ler team, das er frü her ge lei tet<br />

hat te. Es war wie eine Qual le zwi schen Reichs- und Lan des kripo<br />

und der Stock hol mer Po li zei he rum ge trie ben. Auf dem Papier<br />

hat te es zur Stock hol mer Be hör de ge hört, aber in Wirk-<br />

24


lich keit hat ten sie gleich meh re ren Her ren ge dient, was Alex<br />

ins ge heim ge fal len hat te, und wenn er hät te ent schei den dürfen,<br />

dann hät te die neue Grup pe nicht we sent lich an ders ausge<br />

se hen.<br />

»Ich schi cke eine Strei fe raus, um ih ren Le bens ge fähr ten<br />

ein zu sam meln, so fern er denn zu Hau se ist«, kün dig te Alex<br />

an. »Ich will hö ren, was er sagt, und ihn als Ver däch ti gen ausschlie<br />

ßen.«<br />

»Ich glau be nicht, dass er es selbst ge macht hat«, gab sein<br />

Chef zu be den ken. »Das wäre zu sim pel.«<br />

»Den ke ich auch. Das stinkt nach Ra che oder ir gend ei nem<br />

an de ren Scheiß. Trotz dem müs sen wir mit dem Kerl re den,<br />

ver dammt. Wenn ei ner weiß, wes sen Ku gel sie da ab be kommen<br />

hat, dann er.«<br />

25


NUR EINE STUN DE WAR ES her, seit sie das Po li zei ge bäude<br />

auf Kungs hol men ver las sen hat te, um zur Or ches ter pro be<br />

zu ge hen. Nur eine Stun de – und schon gab es kei nen Job<br />

mehr, kei ne Fa mi lie oder Freun de. Zu min dest nicht hier. Nicht<br />

in dem lee ren Raum, der um sie he rum ent stand, so bald sie die<br />

Gei ge auf der Schul ter zu recht leg te und un ters Kinn klemm te.<br />

Die Mu sik trug sie fort, als wür den ihr Flü gel wach sen. Sie<br />

schweb te über al len an de ren und tat so, als wäre sie al lein im<br />

Uni ver sum. Ein ge fähr li cher Ge dan ke. So lis ten mach ten sich in<br />

grö ße ren En semb les meist nicht gut. Doch für ei nen Au genblick<br />

– ei nen ver damm ten Au gen blick – woll te Fredr ika Bergman<br />

den Ge schmack des Le bens ver spü ren, das sie nie hat te leben<br />

dür fen, und ei nen Sche men je ner Frau ent de cken, die sie<br />

nie ge wor den war.<br />

Die drit te Wo che der neu-al ten Ära. Ihr gan zes er wach se nes<br />

Le ben lang hat te Fredr ika um die Lauf bahn als Gei ge rin getrau<br />

ert, die sie nie mals hat te ein schla gen kön nen. Und sie hatte<br />

nicht nur ge trau ert, son dern viel mehr re gel recht mit dem<br />

Schein wer fer nach ei ner Al ter na ti ve ge sucht. War in den Ru i-<br />

nen all des sen, was ein mal ih res ge we sen war, ei ner ver lo re nen<br />

See le gleich he rum ge wan dert und hat te sich ge fragt, wo hin sie<br />

auf bre chen soll te.<br />

Als Kind, als Ju gend li che hat te sie ein zig und al lein für die<br />

Mu sik ge lebt. Die Mu sik war ihre Be stim mung, ohne sie war<br />

das Le ben nicht viel wert ge we sen.<br />

Es kommt im mer an ders, als man denkt.<br />

Es kann bes ser wer den, doch meist wird es schlech ter.<br />

Manch mal wur de sie von Er in ne run gen über wäl tigt, die<br />

eben so un will kom men wa ren wie Re gen an ei nem Som mertag.<br />

Die Er in ne run gen an ein Auto, das ins Schleu dern ge rät,<br />

26


auf die Ge gen fahr bahn rutscht, kol li diert und sich dann überschlägt.<br />

Mit Kin dern auf dem Rück sitz, El tern vorn und Skiern<br />

auf dem Dach. Sie konn te sich noch gut an die ge walt täti<br />

gen Se kun den er in nern, als al les aus ei nan der ge ris sen wor den<br />

war – und an die Stil le, die da rauf ge folgt war. Die Nar ben hatte<br />

sie im mer noch. Je den Tag sicht bar auf ih rem Arm. Wei ße<br />

Li ni en, die be zeug ten, wa rum sie nicht mehr im stan de war, die<br />

not wen di ge An zahl Stun den pro Tag zu üben. In ei nem verzwei<br />

fel ten Af fekt hat te sie da mals die Gei ge auf den Fried hof<br />

der Ver gan gen heit ge wor fen und war zu je mand an de rem gewor<br />

den.<br />

Doch mitt ler wei le spiel te sie wie der. Ihre Mut ter war es gewe<br />

sen, die das Streich quar tett ge fun den hat te. Die ge sagt hatte:<br />

»Hier, Fredr ika, das ist dei ne Chan ce.« Als hät te Fredr ika,<br />

die mit ei nem fünf und zwan zig Jah re äl te ren Mann ver hei ra tet<br />

war und zwei klei ne Kin der hat te, jede Men ge Zeit üb rig, die<br />

ge nutzt wer den woll te.<br />

Doch wer sucht, der fin det, und nun gab es seit drei Wo chen<br />

wie der die Mu sik in ih rem Le ben. Zum ers ten Mal seit zwan zig<br />

Jah ren emp fand Fredr ika et was, was an Har mo nie er in ner te.<br />

Der Mann und die Kin der ta ten das ihre, da mit sich ihr Herz<br />

ganz fühl te. Bei der Ar beit lief es gut, und auch das war nicht<br />

im mer so ge we sen. Es war ein sto cken der Pro zess ge we sen, bis<br />

es end lich so weit ge we sen war. Der Fall mit dem ent führ ten<br />

Flug zeug vor ei ni gen Mo na ten war al ler dings ein Wen de punkt<br />

ge we sen. Fredr ika war von ih rem da ma li gen Ar beit ge ber, dem<br />

Jus tiz mi nis te ri um, vo rü ber ge hend zur Po li zei zu rück ge schickt<br />

wor den. Und da erst hat te sie er kannt, dass sie dort hin ge hör te<br />

und dort blei ben woll te.<br />

Bei der Po li zei. Seit dem ers ten Ja nu ar war sie wie der da. Bei<br />

Alex Recht in ei nem neu for mier ten Er mitt ler team, das in weiten<br />

Tei len an das je ni ge er in ner te, dem sie vor ei ni gen Jah ren<br />

an ge hört hat te.<br />

So viel war gleich und doch so vie les an ders.<br />

27


Har mo nie. Ein Wort, das ihr noch vor we ni gen Jah ren Übelkeit<br />

ver ur sacht hät te. Doch jetzt nicht mehr. Nun hat te das<br />

Wort eine neue Be deu tung be kom men, leg te sich wie Wat te<br />

um ihre See le und brach te ih ren Blick zum Glü hen. Fredr ika<br />

Berg man hat te ih ren Frie den ge fun den.<br />

Zu min dest fürs Ers te.<br />

28


ES HAT TE TAT SÄCH LICH EIN MAL EINE jü di sche Linie<br />

in Alex’ Fa mi lie ge ge ben, doch die war schon vor mehre<br />

ren Ge ne ra ti o nen durch bro chen wor den. Seit her be kann te<br />

sich nie mand aus sei ner Ver wandt schaft mehr zum Ju den tum,<br />

und der ein zi ge Hin weis, den es noch gab, war der Nach name.<br />

Recht.<br />

Nichts des to trotz hat te er jetzt, da er sich zur Sa lo mongemein<br />

de auf Öster malm be gab, das Ge fühl, der Name wür de<br />

ihm ge wis se Vor tei le ver schaf fen, als wür den sei ne jü di schen<br />

Wur zeln aus rei chen, um ihn Men schen nä her zu brin gen, de nen<br />

er sich zu vor nie zu ge hö rig ge fühlt hat te.<br />

Die Luft war kalt und feucht, als er an der Nyb roga tan aus<br />

dem Auto stieg. Ver damm tes Scheiß wet ter. Ja nu ar, wie er<br />

schlim mer nicht sein konn te.<br />

Die Po li zei Öster malm hat te das Are al rund um die er schosse<br />

ne Frau weit räu mig ab ge sperrt. Trau ben von Men schen hingen<br />

neu gie rig über dem Plas tik band. Dass Blut und Tod je des<br />

Mal so viel Auf merk sam keit auf sich zo gen! Dass es so vie le<br />

Men schen scham los zum Elend dräng te, nur da mit sie ein Gefühl<br />

von Si cher heit ver spür ten, selbst nicht be trof fen zu sein.<br />

Schnell be gab er sich zu der Ab sper rung, wo jün ge re uni formier<br />

te Kol le gen stan den, die wahr schein lich zur Po li zei Östermalm<br />

ge hör ten. Einst war auch er so ge we sen wie sie. Jung<br />

und be gie rig, im mer be reit, die Uni form über zu strei fen und<br />

los zu zie hen, um die Stra ßen si che rer zu ma chen. Wie sehr war<br />

er seit je ner Zeit des il lu si o niert wor den.<br />

Sie grüß ten ei nan der, und die Kol le gen stell ten ihn dem Gene<br />

ral sek re tär der Ge mein de vor. Der Mann schien un ter der<br />

Last der kaum eine Stun de al ten Tra gö die schwer ge beugt zu<br />

sein, und sei ne Stim me trug kaum, als er sprach.<br />

29


»Kei ner der Zeu gen darf den Ort ver las sen«, sag te Alex und<br />

be ton te das ers te Wort mit al ler Kraft, die ihm zur Ver fü gung<br />

stand. »Wie ich ge hört habe, ha ben so wohl Kin der als auch Eltern<br />

mit an ge se hen, was pas siert ist. Nie mand darf nach Hau se<br />

ge hen, ehe wir ihn be fragt oder zu min dest sei ne Kon takt daten<br />

auf ge nom men ha ben.«<br />

»Das ist be reits ge re gelt«, warf ei ner der Kol le gen aus Östermalm<br />

ein. Er klang kurz an ge bun den, und Alex wuss te in tu i tiv,<br />

dass er sich da ne ben be nom men hat te. Wer war er, dass er hier<br />

ein fach so he rein stie fel te und Be feh le er teil te? Sie hat ten um<br />

sei ne Hil fe, nicht um sein Kom man do ge be ten.<br />

»Um wie vie le Zeu gen han delt es sich?«, frag te er und hoffte,<br />

dass sei ne Stim me jetzt mil der klang.<br />

»Drei El tern und vier Kin der im Al ter zwi schen eins und<br />

vier. Und dann na tür lich eine Rei he von Men schen, die im<br />

Mo ment des Gesch ehens zu fäl lig auf der Stra ße vor bei ge gangen<br />

sind. Ich habe die je ni gen, die sich selbst ge mel det ha ben,<br />

ge be ten hier zu blei ben, kann aber na tür lich nicht ga ran tie ren,<br />

dass das alle wa ren.«<br />

Das wür de leicht zu klä ren sein. Alex hat te be reits ge hört,<br />

dass der Ein gang zur Sa lo mon schu le per Vi deo über wacht<br />

wur de. So wür den sie sich schnell ei nen Über blick ver schaf fen<br />

kön nen, wie vie le Leu te sich zum Zeit punkt des Ver bre chens<br />

rund um den Ein gang be fun den hat ten.<br />

»Wer ist Ihr Si cher heit schef?«, wand te Alex sich an den Gene<br />

ral sek re tär.<br />

»Im Mo ment ha ben wir kei nen … Das Si cher heit steam verwal<br />

tet sich im Au gen blick selbst, bis wir die Va kanz wie der besetzt<br />

ha ben.«<br />

Alex sah zu der To ten. Der fal len de Schnee schien sein Bestes<br />

tun zu wol len, um den Tat ort zu be de cken – ver geb lich. In<br />

dem war men Blut, das aus ih rem Kör per ge si ckert war, schmolzen<br />

die Schnee flo cken im mer noch so schnell, als wä ren sie auf<br />

ei nem Heiz kör per ge lan det. Die Frau lag auf dem Bauch, mit<br />

30


dem Ge sicht zum Bo den. Der Schuss hat te sie in den Rü cken<br />

ge trof fen, als sie sich zum ge öff ne ten Schul ein gang um ge dreht<br />

hat te, um ei nes der Kin der her aus zu ru fen. Alex schick te ei nen<br />

stum men Dank gen Him mel, dass die Ku gel kei nes der Kleinen<br />

er wischt hat te.<br />

»Die El tern ha ben aus ge sagt, dass nur ein ein zi ger Schuss<br />

ge fal len sei«, sag te der Kol le ge von der Po li zei Öster malm.<br />

Alex sah er neut zur Lei che. Of fen sicht lich war nicht mehr als<br />

ein Schuss nö tig ge we sen.<br />

»Las sen Sie uns rein ge hen und im War men wei ter spre chen«,<br />

schlug der Ge ne ral sek re tär vor und schritt von Alex gefolgt<br />

durch die Tür zum Ge mein de haus.<br />

Ein wei te rer Mann tauch te auf und stell te sich als der Rek tor<br />

der Sa lo mon schu le vor.<br />

»Ich muss wohl kaum be to nen, dass wir über die se Tat in<br />

höchs tem Maße be stürzt sind und dass wir er war ten, dass dem<br />

Fall von sei ten der Po li zei die al ler höchs te Pri o ri tät ein ge räumt<br />

wird«, sag te der Ge ne ral sek re tär.<br />

»Na tür lich«, ver si cher te Alex, und es war ihm ernst da mit.<br />

Ein ge plan ter Mord am hell lich ten Tage mit ten in der Innen<br />

stadt war schließ lich nichts All täg li ches.<br />

Im Ar beits zim mer des Ge ne ral sek re tärs lie ßen sie sich nieder.<br />

Die Wän de wa ren in gleich mä ßi gen Rei hen mit Bil dern<br />

aus un ter schied li chen is ra e li schen Städ ten ge schmückt – Jeru<br />

sa lem, Tel Aviv, Hai fa, Na za reth. Alex war meh re re Male<br />

in Is ra el ge we sen und er kann te prak tisch je des Mo tiv wie der.<br />

Im Fens ter thron te eine gro ße Me no ra und brei te te ihre sieben<br />

Arme aus. Ei nes der klas si schen Sym bo le des Ju den tums.<br />

Alex frag te sich un will kür lich, ob er selbst auch eine be saß.<br />

Die wür de dann wohl in ei nem der Kar tons auf dem Dach boden<br />

lie gen.<br />

»Was kön nen Sie mir über das Op fer er zäh len?«, frag te Alex<br />

und ver such te, sich wie der an den Na men der Frau zu er innern.<br />

»Jo sep hine Fridh. Wie lan ge war sie schon bei Ih nen<br />

31


an ge stellt?« Er hat te sich an den Rek tor ge wandt, um eine Antwort<br />

zu er hal ten.<br />

»Zwei Jah re.«<br />

»Und mit wel cher Al ters grup pe hat sie ge ar bei tet?«<br />

Alex wuss te so gut wie nichts da rü ber, wie Ta ges stät ten orga<br />

ni siert wa ren, ging aber da von aus, dass die Kin der nach wie<br />

vor dem Al ter nach in Grup pen ein ge teilt wa ren. Sei ne ei genen<br />

Kin der wa ren längst er wach sen und selbst El tern. Manchmal,<br />

wenn er sich ihre Ge sprä che über Kitas und Schu len und<br />

das Ab ho len und Hin brin gen an hör te, frag te er sich, wo er<br />

selbst ge we sen war, als sie klein ge we sen wa ren. Denn er war<br />

ver dammt noch mal nicht bei ih nen ge we sen, so viel war klar.<br />

»Mit der Klein kind grup pe. Ein bis drei Jah re. Zu sam men<br />

mit zwei Kol le gin nen war sie für zehn Kin der ver ant wort lich.«<br />

»Ist sie oder die Schu le frü her schon mal be droht wor den?«<br />

Der Rek tor warf dem Ge ne ral sek re tär ei nen he raus for dernden<br />

Blick zu.<br />

»Wie Sie sich wahr schein lich den ken kön nen, be steht für jüdi<br />

sche Ein rich tun gen, ganz gleich wann oder wo, im mer eine<br />

ge wis se Ge fahr. Aber nein, wir ha ben in der letz ten Zeit kei ne<br />

konk re ten Dro hun gen er hal ten, so fern man den Van da lis mus,<br />

den wir hier stän dig er le ben, nicht als Be dro hung an se hen will,<br />

ver steht sich. Was wir al ler dings tun – auch wenn sich das nicht<br />

ge gen konk re te Per so nen rich tet.«<br />

»Ich weiß, dass Sie den Be reich vor Ih ren Ein rich tun gen genau<br />

über wa chen. Ha ben Sie dort et was Be son de res be ob achtet,<br />

was Sie uns gern mit tei len wür den?«<br />

Die Ant wort lau te te wie der Nein. Al les war ru hig ge we sen.<br />

»Und Sie?«, frag te der Ge ne ral sek re tär und beug te sich über<br />

den Schreib tisch. »Na tür lich be fin den sich die Er mitt lun gen<br />

ge ra de erst am An fang, aber ha ben Sie trotz dem viel leicht<br />

schon Hin wei se er hal ten, die in te res sant sein könn ten?«<br />

Ir gend et was im Ton fall des Man nes ließ Alex auf hor chen.<br />

Er be schloss, mit ei ner Ge gen fra ge zu kon tern, die er so-<br />

32


wohl an den Rek tor als auch an den Ge ne ral sek re tär rich te te.<br />

»Was wis sen Sie über Jo seph ines pri va te Si tu a ti on?«<br />

Ein fah les Lä cheln wan der te über die Mie ne des Rek tors.<br />

»Sie war acht und zwan zig Jah re alt. Die Toch ter zwei er Gemein<br />

de mit glie der. Ich bin seit vie len Jah ren mit den El tern befreun<br />

det, und ich ken ne Jo sep hine, seit sie klein war. Ein prima<br />

Mäd chen.«<br />

Aber. Es gab im mer ein Aber.<br />

»Aber?«<br />

»Sie wirk te ein we nig ver lo ren … Es hat ein biss chen ge dauert,<br />

bis sie ih ren Weg im Le ben ge fun den hat te. Aber ich habe<br />

kei ne Se kun de ge zö gert, ihr den Job an zu ver trau en. Sie war<br />

fan tas tisch mit den Kin dern.«<br />

Ein we nig ver lo ren? Das konn te al les sein, von »Sie hat eine<br />

Bank über fal len, es aber nicht böse ge meint« bis »Sie ist zweimal<br />

auf di ver sen Schif fen um die Erde ge reist, ehe ihr klar wurde,<br />

was sie mal ma chen will, wenn sie groß ist«. Alex konn te<br />

Wor te wie »ver lo ren« nicht recht ein ord nen. Das war eine neue<br />

Idee, er fun den von ei ner Ge ne ra ti on mit zu vie len Wahl möglich<br />

kei ten und ver schro be nen Er war tun gen an das Le ben.<br />

»Das glau be ich gern«, er wi der te Alex. »Da Sie ihre El tern<br />

so gut ken nen, neh me ich an, dass Sie auch wis sen, dass sie mit<br />

ei nem Mann zu sam men ge lebt hat, der fünf zehn Jah re äl ter war<br />

als sie und we gen ei ner Rei he schwe rer Ver bre chen ver ur teilt<br />

wur de?«<br />

Die Re ak ti on über rasch te Alex.<br />

Da von hat ten sie kei ne Ah nung ge habt. Oder doch?<br />

Alex be trach te te den je ni gen der bei den, der am we nigs ten<br />

er staunt aus sah. Den Ge ne ral sek re tär. Doch er war auch derje<br />

ni ge, der am meis ten zu ver lie ren hat te, so bald er den Eindruck<br />

er weck te, nicht zu wis sen, was in sei ner Ge mein de vor<br />

sich ging.<br />

»Das muss ein Miss ver ständ nis sein«, sag te der Rek tor. »Wir<br />

wuss ten nicht ein mal, dass sie mit je man dem zu sam men leb te.«<br />

33


Dem Mel de re gis ter zu fol ge hat ten die bei den tat säch lich<br />

erst we ni ge Mo na te zu sam men ge wohnt.<br />

»Ihre El tern wer den aber doch ge wusst ha ben, mit wem ihre<br />

Toch ter die Woh nung teil te, oder?«, frag te er den Rek tor.<br />

»Da von gehe ich aus. Aber ich weiß nicht recht, wie oft sie<br />

ei nan der sa hen …«<br />

Alex ent schied au gen blick lich, dass er auch die El tern sprechen<br />

woll te. »Wo kann ich ihre El tern er rei chen?«<br />

»Sie woh nen in der Si byl le ga tan. Aber ich weiß, dass sie zum<br />

Kran ken haus fah ren wol len, so bald sie dort ist. Sie wol len sie<br />

se hen, oder was im mer man da macht …«<br />

Man sah. Man fühl te. Man ver such te zu be grei fen.<br />

Man ging un ter und ka putt.<br />

»Ge schwis ter?«<br />

»Ein Bru der. Er wohnt in New York.«<br />

Dann hat ten die El tern also noch ein Kind, das leb te. So etwas<br />

trös te te ihn im mer ein we nig. Nicht weil er auf ir gend eine<br />

Wei se glaub te, dass ein Kind durch ein an de res er setzt werden<br />

konn te. Erst we ni ge Mo na te zu vor war er selbst nah dran<br />

ge we sen, sei nen Sohn zu ver lie ren. Nichts hät te ei nen sol chen<br />

Ver lust wie der gut ma chen kön nen.<br />

Nichts.<br />

Alex hass te es, sich an jene Stun den zu er in nern, als al les<br />

un si cher ge we sen war und nie mand ge wusst hat te, wie es enden<br />

wür de. Und fast noch mehr hass te er die Er in ne rung an<br />

das Nach spiel, das sie alle so viel Kraft ge kos tet hat te. All die<br />

Wo chen der Frust ra ti on, die Klein ar beit, die er for der lich gewe<br />

sen war, um den Sohn wie der nach Hau se zu ho len. Endlo<br />

se Kon fe ren zen in der Re gie rungs kanz lei und er mü den de<br />

Ma ra thon rei sen in die USA, wo man ihn kaum ins Land lassen<br />

woll te.<br />

Kaum merk lich schüt tel te er den Kopf. All das lag end lich<br />

hin ter ihm.<br />

»Ich er war te, dass Sie mit al lem, was Sie von mir ge hört ha-<br />

34


en, dis kret um ge hen«, sag te er und er hob sich, um zu zei gen,<br />

dass die Be spre chung be en det war.<br />

»Selbst ver ständ lich. Ge ben Sie Be scheid, wenn wir Ihre Arbeit<br />

auf ir gend ei ne Wei se un ter stüt zen kön nen«, sag te der Gene<br />

ral sek re tär und reich te ihm die Hand.<br />

Alex er griff sie. »Ich mel de mich bei Ih nen.«<br />

»Das wer den wir eben falls tun«, er wi der te der Ge ne ral sekretär.<br />

»Wie ge sagt, sind wir da bei, ei nen neu en Si cher heit schef<br />

ein zu stel len, und da ist in ei ner der Be wer bun gen Ihr Name als<br />

Re fe renz auf ge taucht.«<br />

»Ach ja?« Alex war er staunt.<br />

Der Ge ne ral sek re tär nick te. »Peder Rydh. Aber wie ge sagt –<br />

wir las sen von uns hö ren.«<br />

Peder Rydh.<br />

Ein Name, der im mer noch schmerz te.<br />

Ein Kol le ge, den er im mer noch ver miss te.<br />

Als Alex kurz da rauf auf der Nyb roga tan stand, frag te er sich,<br />

wa rum er so be sorgt war.<br />

Es war, als wür den ihm die Schnee flo cken zu flüs tern: Dies<br />

ist erst der An fang. Du hast ja kei ne Ah nung, was dir noch bevor<br />

steht.<br />

35


DER FAL LEN DE SCHNEE ER IN NER TE AN Kon fet ti aus<br />

Glas. Si mon un ter drück te den Im puls, die Zun ge raus zu strecken,<br />

um ein paar Kris tal le da rauf lan den zu las sen. Die Käl te<br />

zwang ihn, auf der Stel le zu tre ten. Dass Ab ra ham aber auch<br />

im mer zu spät kom men muss te! Er glaub te of fen sicht lich, er<br />

könn te sich al les er lau ben. Wie oft hat te Si mon nicht schon<br />

al lei n da ge stan den und auf ihn ge war tet: an Bus hal te stel len,<br />

vor der Schu le, vor der Ten nis hal le und an ei ner Mil li on an derer<br />

Orte. Wenn er das zu sam men rech ne te – wo rin er ziem lich<br />

gut war –, dann wür de si cher lich ein gan zer Tag da raus werden,<br />

den er in zwi schen schon da mit ver bracht hat te, auf sei nen<br />

Freund sau er zu sein, nur weil der nie mals pünkt lich kom men<br />

konn te.<br />

Und der sich nie ent schul dig te.<br />

Ein fach im mer nur lä chel te, wenn er dann end lich auftauchte.<br />

»Wie lan ge stehst du denn schon hier?«, sag te er dann ger ne<br />

mal, wenn sie sich tra fen.<br />

Als hät te er kei nen Schim mer, wann sie sich hat ten tref fen<br />

wol len oder dass sie eine be stimm te Uhr zeit aus ge macht hatten.<br />

Die ses Ge fühl der Er nied ri gung be las te te Si mon öf ter, als er<br />

sich ein ge ste hen woll te. Er wuss te nicht mal mehr, wa rum es<br />

so selbst ver ständ lich sein soll te, dass Ab ra ham und er Freun de<br />

wa ren. Nicht ein mal ihre El tern hat ten mehr so viel mit ei nander<br />

zu tun wie frü her. Und in der Schu le ge hör ten sie un terschied<br />

li chen Cli quen an. Wenn er es sich recht über leg te, hatten<br />

sie ei gent lich nur mehr das Ten nis spie len ge mein sam, und<br />

auch das hat te sich in letz ter Zeit ver än dert. Zwar gin gen sie<br />

noch zu sam men hin, aber seit der Trai ner Si mon bei sei te ge-<br />

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nom men und ihm ge sagt hat te, er sol le zu sätz li che Trai ningsstun<br />

den be kom men, um sich wei ter zu ent wi ckeln, hat te Ab raham<br />

sich zu se hends zu rück ge zo gen. Und so spiel ten sie nicht<br />

mehr mit ei nan der, son dern mit den an de ren Jun gen.<br />

Si mon ver mied ei nen of fe nen Kon flikt mit Ab ra ham, und<br />

dies haupt säch lich aus ei nem Grund: weil der Freund, ganz<br />

gleich ob in der Schu le oder auf dem Ten nis platz, nicht ver lieren<br />

konn te. Ab ra ham muss te im mer recht be hal ten.<br />

Um je den Preis.<br />

Und so stand Si mon wie der ein mal he rum und war te te auf<br />

ihn. An der Bus hal te stel le am Kar la vä gen, mit dem Ten nisschlä<br />

ger auf dem Rü cken.<br />

Fünf Mi nu ten, dach te er. Wenn er in fünf Mi nu ten nicht da<br />

ist, haue ich ab.<br />

Und zu sei nem Er stau nen merk te er, dass er es dies mal wirklich<br />

ernst mein te.<br />

Das Maß war voll. Er hat te schon zu oft auf Ab ra ham ge wartet.<br />

So gar sein Va ter hat te ihm schon ge sagt, dass er Ab ra ham<br />

Gren zen set zen müs se.<br />

Die Mi nu ten schli chen da hin, und der Schnee fiel im mer<br />

dich ter. Und dann noch der Wind. Es war kalt, rich tig kalt.<br />

»Ent schul di gung, wie spät ist es?«<br />

Die Stim me war von der Sei te ge kom men und ge hör te einer<br />

äl te ren Frau mit ei ner gro ßen li la far be nen Müt ze auf dem<br />

Kopf. Sie sah freund lich aus.<br />

Si mon schob Ja cken är mel und Hand schuh zur Sei te und<br />

warf ei nen Blick auf sei ne Arm band uhr. »Fünf nach vier.«<br />

»Dan ke. Dann kommt der Bus si cher je den Au gen blick«,<br />

sag te die Frau.<br />

Das wür de er ganz si cher tun – und dann wür de Si mon zu sehen,<br />

dass er mit fuhr. Er rich te te sich ge ra de auf und ver such te,<br />

ru hi ger zu at men. Dies mal wür de er es schaf fen. Ein fach in den<br />

Bus stei gen und los fah ren. Ab ra ham mit der glei chen Läs sigkeit<br />

in die Au gen se hen, mit der er ihm selbst so oft be geg net<br />

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war, und dann ir gend was sa gen in der Art wie: »Ach so, hast du<br />

ge meint, wir wür den zu sam men fah ren?«<br />

Ein paar Mi nu ten spä ter sah er den Bus kom men. Die Frau<br />

mit der Müt ze sah er leich tert aus und mach te ei nen Schritt vor<br />

bis zur Bord stein kan te. Doch Si mon folg te ihr nicht.<br />

Die Ent schlos sen heit fiel von ihm ab und lan de te im Schnee<br />

un ter sei nen Stie feln.<br />

Ein paar Mi nu ten hin oder her – war es denn wirk lich wert,<br />

des halb zu strei ten?<br />

Sei ne Wan gen brann ten vor Scham und Selbst ver ach tung,<br />

als der Bus hielt und die Tü ren auf glit ten. Er rühr te sich nicht<br />

vom Fleck, son dern blieb wie fest ge fro ren auf dem Bür ger steig<br />

ste hen.<br />

Wie schwach er war.<br />

Kein Wun der, dass Ab ra ham ihn ver ach te te.<br />

Wü tend stampf te er mit dem Fuß auf.<br />

Der Bus ver schwand in ei ner Wol ke aus Schnee.<br />

Und Si mon stand müde im mer noch an der Hal te stel le.<br />

Im sel ben Mo ment sah er das Auto. Es fuhr so lang sam, dass<br />

es fast he ranzu schwe ben schien. Ir gend wer saß auf dem Beifah<br />

rer sitz und wink te. Zö gernd, mit ei ner vor sich ti gen Handbe<br />

we gung.<br />

Er staunt sah er sich um, doch au ßer ihm stand an der Hal testel<br />

le nie mand mehr. Er war es und nie mand an de rs, dem diese<br />

Hand zu wink te.<br />

Erst als der Wa gen vor ihm an hielt, sah er, wer auf dem Beifah<br />

rer sitz saß.<br />

Ab ra ham.<br />

Die Schei be glitt he run ter.<br />

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sag te er. »Wir wer den gefah<br />

ren, spring ein fach hin ten rein.«<br />

Si mon brach te kein Wort he raus. Er konn te nicht se hen, wer<br />

am Steu er saß.<br />

»Spring rein!«, sag te Ab ra ham noch ein mal.<br />

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Oder bat er ihn so gar?<br />

Si mon war ver un si chert. Die Stim me des Freun des war<br />

merk wür dig schrill, sein Ge sicht wie er starrt.<br />

»Jetzt komm schon.«<br />

Die Schei be glitt wie der hoch. Ein paar Hun dert Me ter hinter<br />

dem Auto zeich ne te sich ein wei te rer Bus ab.<br />

Si mon spür te das Ge wicht der Ta sche auf der Schul ter. Es<br />

wäre wirk lich an ge nehm, ge fah ren zu wer den. Aber vor allen<br />

Din gen ahn te er in tu i tiv, dass Ab ra ham ganz of fen sicht lich<br />

nicht al lein in die sem Auto sit zen woll te. Also öff ne te er die<br />

Tür und setz te sich auf den Rück sitz.<br />

Erst als der Wa gen los roll te, be griff er, was so e ben ge schehen<br />

war.<br />

Ab ra ham hat te ge sagt: »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«<br />

Tut mir leid.<br />

Ein Satz, den Si mon noch nie von ihm ge hört hat te.<br />

In ihm er wach te ein Ge fühl, das so stark war, dass er es fast<br />

mit Hän den grei fen konn te.<br />

Raus aus dem Auto. Sie muss ten raus aus dem Auto.<br />

39


DIE NYB ROGA TAN, KURZ NACH SECHS Uhr abends.<br />

Dun kel und fast men schen leer. Der An ruf war vor we ni ger als<br />

ei ner Stun de ein ge gan gen. Ein Mann, der Eng lisch sprach,<br />

hat te sich als Ver ant wort li cher für die Stel len be set zung in der<br />

Sa lo mon ge mein de auf Öster malm vor ge stellt. Es gehe um die<br />

Stel le als Si cher heit schef. Ob Peder wo mög lich noch am sel ben<br />

Abend zu ei nem Ge spräch kom men kön ne?<br />

Na tür lich konn te er. Peder Rydh war zu ei nem Mann gewor<br />

den, der nicht Nein sag te.<br />

Einst hat te er al les be ses sen, jetzt fast gar nichts mehr.<br />

It was all that I wan ted, now I’m liv ing with out.<br />

Je den falls, wenn man die Jun gen und Ylva nicht mit ein rechne<br />

te. Aber das tat er na tür lich. Kein Tag ver ging, an dem Peder<br />

nicht sei nem Un glücks stern dank te, dass er zu min dest sei ne<br />

Fa mi lie hat te be hal ten dür fen. Ob wohl er nahe dran ge we sen<br />

war, auch sie zu ver lie ren.<br />

Seit er aus dem Po li zei dienst ent las sen war, war al les aus dem<br />

Ru der ge lau fen, und zwar ra send schnell.<br />

Er war in ei nen Ab grund ge stürzt, so tief, dass er nicht einmal<br />

ge ahnt hat te, dass es so et was gab. Hat te sich im Dreck gewälzt,<br />

dem sich nicht ein mal ein Schwein ge nä hert hät te. War um<br />

vier Uhr mor gens be sof fen nach Hau se ge kom men und hat te im<br />

Flur die Schu he der Kin der vollge kotzt. War in Yl vas Schoß zusam<br />

men ge bro chen und hat te ge weint, bis nichts mehr üb rig war.<br />

Sie hat te sich vor ge beugt und ihm ins Ohr ge flüs tert: »Du<br />

kannst ver su chen, was du willst, Peder, aber ich ver las se dich<br />

nicht. Nicht noch ein mal.«<br />

Die The ra pie war gut, aber teu er. Sie war Be stand teil des Abschieds<br />

pa kets ge we sen. Zum Glück. We nigs tens war fen sie ihn<br />

nicht ohne Fall schirm aus zehn tau send Me ter Höhe ab.<br />

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Er hat te im mer noch Schlaf stö run gen. Nur manch mal gelang<br />

es ihm, eine gan ze Nacht durch zu schla fen. End los lan ge<br />

Stun den hat te er schon hell wach in sei nem Bett ge le gen und<br />

an die De cke ge starrt.<br />

Hät te er et was an ders ma chen kön nen?<br />

Hat te er wirk lich eine Wahl ge habt?<br />

Stets kam er zu dem sel ben Schluss. Nein, er hät te nichts anders<br />

ma chen kön nen. Nein, er hat te kei ne Wahl ge habt. Und<br />

des halb gab es auch kei nen Raum für Reue und ein schlech tes<br />

Ge wis sen.<br />

»Wa rum emp fin de ich kei ne Schuld?«, hat te er sei nen The rapeu<br />

ten ge fragt. »Ich habe ei nen Mann vor sätz lich er schos sen.<br />

Mit drei Schüs sen. Zwei da von ins Herz.«<br />

»Na tür lich emp fin den Sie et was«, hat te der The ra peut er widert.<br />

»Das un ter schei det Sie von dem Mann, den Sie er schossen<br />

ha ben. Sie emp fin den et was und wis sen, dass Sie falsch gehan<br />

delt ha ben.«<br />

Nie mand, den Peder kann te, be trach te te ihn als ei nen Mörder.<br />

Er war ver wirrt ge we sen und hat te nicht für sei ne Ta ten<br />

ver ant wort lich ge macht wer den kön nen. So hat te es zu mindest<br />

das Ge richt ent schie den. Der Mann, der er mor det wor den<br />

war, hat te selbst ei nen gro ßen Teil der Schuld da ran ge tra gen,<br />

wie al les ge kom men war. Doch der Staats an walt war da mit<br />

nicht zu frie den ge we sen. Er war fest ent schlos sen ge we sen, Peder<br />

we gen Tot schlags oder vor sätz li chen Mor des ver ur tei len<br />

zu las sen, und hat te das Ur teil des Land ge richts an ge foch ten.<br />

Doch auch in der nächs ten Ins tanz war Peder frei ge spro chen<br />

wor den.<br />

Bei der Po li zei war es an ders ge we sen. Dort hat ten sie nicht<br />

da rü ber hin weg se hen kön nen, dass er sich ei gen mäch tig in<br />

die Si tu a ti on be ge ben hat te, die letzt lich dazu ge führt hatte,<br />

dass er ei nen Ver däch ti gen er schoss. Sein Ver hal ten hat te<br />

von man geln dem Ur teils ver mö gen ge zeugt, das wie de rum –<br />

zu sam men mit ei nem gan zen Hau fen al tem Mist – aus reich te,<br />

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