T i t e l t h e m a Vertrauen ist lebensfördernd Dr. med. Klaus Mohr Wem – und worauf – kann man derzeit noch vertrauen? Welcher Politik, gar welcher Polemik, welcher Behauptung, welcher Maßnahme, welcher Medizin, welchem Mittel? Stets wird uns Kontrolle geboten, für die wir – oder andere – bezahlen müssen. Zum Ausgleich dafür werden wir versorgt und überwacht. 12
<strong>Ausgabe</strong> 2 | 2016 <strong>Nr</strong>. 7 Ist Vertrauen noch sinnvoll? Oder ist es gefährlich geworden zu vertrauen? Ist es sicherer, stets misstrauisch zu sein? Von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, ist dessen Credo überliefert: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«. Lenin war anscheinend kein vertrauender, sondern ein extrem misstrauischer Mensch. Mit Brutalität und Terror etablierte er nach Jahren im Untergrund (und Exil in der Schweiz) von 1917 an die Herrschaft der kommunistischen Partei, deren Vorsitz er hatte, in Russland. Da war aber Lenin, in seinem siebenundvierzigsten Lebensjahr, schon krank. Er litt an Zwangsvorstellungen. Fünf Jahre später wurde Lenin von einem Schlaganfall betroffen und rechtsseitig gelähmt, an dessen Folgen er 1924 starb, in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahr. Zweifellos hilft Misstrauen und Kontrollieren dabei, zu bekommen. Heute ist in Staaten und Konzernen, vor allem im Finanzwesen, das Controlling, zuerst in den USA etabliert, unverzichtbar geworden. Wird nun Lenins Denken in dieser Weise auch vom Kapitalismus bestätigt? Gewiss bedürfen große und komplexe Projekte, die von fehlbaren Menschen betrieben werden, stringenter Kontrollen. Das Befolgen von Gesetzen, Rechtsnormen und Auflagen muss überwacht werden. Wenn die Vertrauenswürdigkeit der Menschen, ob Leistungserbringer oder Leistungsempfänger, ob Produzenten oder Konsumenten schwindet, muss immer mehr kontrolliert werden. Kontrollen aller Art zu fordern und zu betreiben ist politisch opportun, obgleich es je nach Parteiideologie da unterschiedliche Schwerpunkte gibt. Im Zweifelsfall wird immer mehr kontrolliert. Das Kontrollwesen wächst unaufhaltsam. Allerdings verändert das Kontrollwesen nicht nur die Dinge, sondern auch die Menschen. Und das mehr als ihnen anfangs bewusst ist. Während die Dinge perfekter und sicherer werden, werden die Menschen selbst unsicherer und abhängiger. Sie verlieren ihre einstmalige Selbstverantwortung, ihre Selbstbestimmung und ihr Selbstvertrauen. Auch in demokratischen Staaten werden die Bürgerinnen und Bürger nicht nur behütet, sondern auch getrieben – einer Schafsherde vergleichbar, die vor Wölfen beschützt werden muss. Anscheinend wollen die meisten Wählerinnen und Wähler das so. Die einzige liberale Partei, die sich für Selbstverantwortung einsetzt, wird nur noch selten gewählt. Kontrollen werden immer wichtiger, aber ohne Vertrauen kann unser System nicht bestehen. Meine persönliche Alternative zu Lenins Doktrin ist: Kontrollen werden immer wichtiger, aber ohne Vertrauen kann unser System nicht bestehen. Misstrauen schafft wenig und zerstört mehr. Vertrauen wirkt gemeinschaftsbildend und lebensfördernd. In seiner letzten Rede zur Lage der Nation als Präsident der USA hat Barack Obama am 12. Januar 2016 bekannt: die Demokratie bedarf eines Grundvertrauens zwischen ihren Bürgern. Anderenfalls kann sie nicht bestehen. Demokratien sind auf Vertrauen und auf Vertrauenswürdigkeit gegründet. Ohne Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit kann auch der einzelne Mensch nicht gut leben. Der Mensch lebt nicht vom Brot (oder gar vom Geld) allein. Dazu brauchen Menschen Vertrauen: Gottvertrauen und Naturvertrauen sowie Selbstvertrauen. Lenin bezog seine Macht aus Misstrauen und Kontrollen. Von Schlaganfällen gelähmt starb dieser Mächtige früh. 13