EINER VON EINER MILLION
Liberal-02_2016
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FLÜCHTLINGE INTERVIEW<br />
nismus der kurzfristigen Nothilfe, des Hochziehens<br />
von Stacheldraht und Grenzzäunen<br />
und der überstürzten Staatsbesuche — beispielsweise<br />
in die Türkei – per Definition das<br />
Gegenteil einer langfristig geplanten Strategie<br />
aus einem Guss.<br />
Die kurzfristige Nothilfe funktioniert auf der<br />
lokalen Ebene ja tatsächlich sensationell gut<br />
– besonders im Süden der Republik und<br />
dank einer couragierten Zivilgesellschaft.<br />
Aber wenn Andrea Nahles auf die Idee<br />
kommt, 35 Prozent der Neuankömmlinge<br />
wären binnen einem Jahr in den Arbeitsmarkt<br />
vermittelbar, zweifelt man schon an<br />
der Qualität von Hauruck-Politik …<br />
Sicher wollen die Verantwortlichen sinnvolle<br />
und sachgerechte Lösungen entwickeln.<br />
Politiker sind weder dumm noch so arrogant,<br />
dass sie ausschließlich ihre eigenen ideologischen<br />
Interessen verfolgten. Unter dieser<br />
Prämisse ist es natürlich erschreckend,<br />
solche realitätsfernen Einschätzungen zu<br />
hören, wenn gleichzeitig politisch nichts für<br />
die konkrete Umsetzung getan wird. Was uns<br />
Liberale aber bestärken kann und soll: Die<br />
Bevölkerung folgt im Alltag ganz pragmatisch<br />
dem gesunden Menschenverstand. Menschen<br />
agieren, bewerten und entscheiden in<br />
der alltäglichen Praxis weit vernünftiger und<br />
sachgerechter, als es die große, vermeintlich<br />
intelligente Politik tut. Sie waren und sind —<br />
auch in Deutschland — ihren ausländischen<br />
Nachbarn durchaus zugetan, auch wenn<br />
diese aus einer anderen Kultur stammen. Im<br />
alltäglichen Leben läuft das Miteinander in<br />
der Regel gut bis sehr gut. Aber die Leute<br />
haben jetzt und heute das Gefühl, dass die<br />
Politik die Kontrolle über Zuwanderung und<br />
Integration verloren hat. Das macht den<br />
gesunden Menschenverstand der Bevölkerung<br />
misstrauisch und führt zu Verunsicherung<br />
– auch ganz allgemein gegenüber<br />
Migration und Menschen mit Migrationshintergrund,<br />
die nun verstärkt unter einen<br />
Kollektivverdacht geraten. Frau Nahles<br />
widerspricht sich selbst, wenn sie einerseits<br />
sagt, sie möchte möglichst schnell möglichst<br />
viele Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt<br />
bringen – was ja ein völlig richtiges und<br />
„Es ist naiv zu glauben,<br />
dass die Masse der<br />
Flüchtlinge kurzfristig dem<br />
deutschen Arbeitsmarkt<br />
zur Verfügung stünde.“<br />
unterstützenswertes Ziel ist – sie sich aber<br />
andererseits weigert, die gesetzlichen Voraussetzungen<br />
zu schaffen, dass Flüchtlinge<br />
ohne bürokratischen Aufwand rasch die<br />
Erlaubnis erhalten, arbeiten zu können.<br />
Allerdings ist es naiv zu glauben, dass die<br />
Masse der Flüchtlinge kurzfristig dem deutschen<br />
Arbeitsmarkt zur Verfügung stünde.<br />
Man muss es nüchtern sagen: Es gibt gewaltige<br />
Unterschiede zwischen dem Arbeitsalltag<br />
in Syrien oder Nordafrika und dem, was<br />
hierzulande von einer Arbeitskraft erwartet<br />
wird. Um auf das Produktivitätsniveau der<br />
Alteingesessenen zu kommen, benötigen<br />
Flüchtlinge viel Zeit. Deshalb sind alle temporären<br />
Sonderregelungen zu begrüßen,<br />
wie beispielsweise Kombilohnmodelle, bei<br />
denen der Staat für die Beschäftigung von<br />
Flüchtlingen den Arbeitgebern einen Zuschuss<br />
zahlt und damit ausgleicht, dass die<br />
Leistungsfähigkeit am Anfang der Beschäftigung<br />
noch nicht so hoch sein kann, wie es<br />
beispielsweise der Mindestlohn erwartet.<br />
Der Zuschuss könnte auch an die lokalen<br />
Kommunen gehen, um als Sachhilfe erwerbstätige<br />
Flüchtlinge bei Miete, Bildung<br />
und Gesundheit zu unterstützen. Mit solchen<br />
Maßnahmen böten wir eine Chance<br />
zur Integration.<br />
Eine andere Illusion, auf der aktuelle Politik<br />
aufbaut, scheint die viel beschworene Verteilung<br />
der Flüchtlinge auf andere europäische<br />
Länder zu sein. Sofern es keine Grenzkontrollen<br />
gibt, ist es doch utopisch zu glauben,<br />
irgendjemand würde freiwillig eher legal in<br />
Ungarn bleiben, als in Deutschland illegal in<br />
der Schattenwirtschaft tätig zu werden …<br />
Man kann nicht gleichzeitig die Freizügigkeit<br />
innerhalb des Schengenraums und andererseits<br />
eine Asylpolitik auf nationaler Grundlage<br />
aufrechterhalten. Sonst haben Sie Anreize<br />
für starke Transitbewegungen: Asylsuchende<br />
überqueren die Grenze zu Europa an<br />
ihrer schwächsten Stelle und wandern dann<br />
schnellstmöglich ins attraktivste Land weiter.<br />
Wenn wir Freizügigkeit und Schengen<br />
haben wollen, können sich auch die Flüchtlinge<br />
frei bewegen. Deshalb gibt es das<br />
Dublin-Abkommen. Es verlangt, die Asylverfahren<br />
an den Außengrenzen der EU abzuwickeln,<br />
und verhindert die Transitwanderung<br />
von Asylsuchenden. Es gibt keinen<br />
Grund, nicht auf die Einhaltung und Durchsetzung<br />
des Dublin-Abkommens zu insistieren.<br />
Allerdings müssten die entsprechenden<br />
EU-Staaten mit Außengrenzen zum Nahen<br />
Osten und Nordafrika finanziell, personell<br />
und technisch entsprechend ausgestattet<br />
werden. Das kann nur mittels einer zentralen<br />
europäischen Politik erfolgreich geschehen.<br />
Wird einem Asylantrag an der EU-<br />
Außengrenze dann stattgegeben, sollte der<br />
Flüchtling sich aussuchen können, wohin er<br />
gehen will. Daher wäre es sinnvoll, wenn die<br />
EU ihm personengebunden eine fixe Fördersumme<br />
zuteilt, die dann lokal von der<br />
Gemeinde, in der er sich niederlassen will,<br />
aus Brüssel abgerufen werden kann.<br />
Fotos: SZ Photo/Marco Urban<br />
16 2.2016 liberal