Nr. 12 (IV-2015) - Osnabrücker Wissen

Nr. 12 (IV-2015) - Osnabrücker Wissen Wir beantworten Fragen rund um die Osnabrücker Region. Alle drei Monate als Printausgabe. Kostenlos! Und online unter www.osnabruecker-wissen.de Nr. 12 (IV-2015) - Osnabrücker Wissen

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09.12.2015 Aufrufe

STADT- & LANDGESCHICHTEN Wo wurde im Mittelalter eines der modernsten Kanalsysteme gebaut? „Was fließt unter Osnabrück?“ hieß das Titelthema unserer letzten Ausgabe, in der wir einen Blick in das moderne Kanalsystem warfen. Nun drehen wir das Rad der Zeit zurück und fahnden nach den ersten unterirdischen Gängen, die in Osnabrück angelegt wurden. Wo verlaufen die geheimnisvollen unterirdischen Gänge in Osnabrück? 1960 veröffentlichte der Osnabrücker Verkehrsverein eine kleine Schrift mit dem Titel „Das unterirdische Osnabrück“. Dort findet sich eine übersichtsartige Darstellung aller bis dahin bekannten und vermuteten mittelalterlichen (oder älteren?) Höhlen- und Gangsysteme im Bereich des Getrudenbergs und der Osnabrücker Altstadt. Während die Beschreibung der Höhlen unter dem Getrudenberg heute weitgehend bestätigt wurde und sie als überregional einzigartige Anlage zu den herausragenden Denkmalen der Stadt Osnabrück gehören, liegen zum angeblichen Verlauf der unterirdischen Gänge in der Altstadt eine Vielzahl an neuen archäologischen Erkenntnissen vor, die das Bild von 1960 deutlich in Frage stellen. Damals bediente man sich der Hilfe eines Wünschelrutengängers, um den mutmaßlichen Verlauf dieser Gänge zu erkunden. Dieses Vorhaben führte zu der Auffassung, dass im Mittelalter alle vier Hauptkirchen sowie alle Klöster und Steinwerke im Stadtkern miteinander verbunden gewesen sein müssten und dass der größte Teil dieser Verbindungsgänge noch erhalten sei. Unabhängig davon solle es weit über das Stadtgebiet hinausreichende unterirdische Fernverbindungen (unter anderem bis zum Kloster Rulle) gegeben haben. Insgesamt wurden diese Gänge als Teil eines im Mittelalter entstandenen städtischen Flucht- und Versorgungswegesystems interpretiert. Doch seit damals sind auch erhebliche Zweifel an der Korrektheit dieser Darstellung geäußert worden. Welche Ergebnisse ergaben sich bei den archäologischen Untersuchungen? Zur Klärung der ursprünglichen Funktion der Getrudenberghöhlen fand dort im April 1984 erstmals eine archäologische Untersuchung durch die Stadt- und Kreisarchäologie statt. Dabei bestätigte sich, dass es sich bei diesem Gangsystem um die Stollen eines unterirdischen Steinbruchs handelt. Der dort abgebaute Kalkstein wurde seit dem Mittelalter zur Gewinnung von Kalkmörtel für Großbauprojekte wie Stadtmauer, Kirchen u.ä. genutzt. Wesentlich spannender war die Frage nach den unterirdischen Gängen in der Altstadt. 1983 kam es bei Bauarbeiten neben dem historischen Rathaus auf der Durchfahrt zum Markt erstmals zur Freilegung von Mauerresten, bei denen eine gewisse Ähnlichkeit mit den 1960 beschriebenen Anlagen erkennbar war. 1987 folgte eine weitere vergleichbare Entdeckung vor dem Turm der Katharinenkirche. 1991 konnte bei Bauarbeiten im Gebäude Krahnstraße 49 (= Krahnstraße/Ecke Lortzingstraße) von der Stadtarchäologie ein unversehrt erhaltener längerer Abschnitt dieses gangartiges Gewölbes erfasst und gründlich untersucht werden. Der „Gang“ hatte hier eine Breite von 1,85 m und war bis zum Gewölbescheitelpunkt über 1 m hoch. Er war fast vollständig mit Ablagerungen verfüllt, so dass eine Nutzung als Fluchtweg oder ähnliches überhaupt nicht möglich war. Anhand der Art dieser Verfüllschichten und der darin enthaltenen Fundstücke ließ sich eine Nutzung als Abwasserkanal vom späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert erkennen. Fotos aus dem Jahre 1959 von der Baugrube für den Neubau der Stadtbibliothek zeigten, dass dieser Kanal ursprünglich auch hier vorhanden war und parallel zur Krahnstraße in Richtung Rathaus verlief. Er wird in historischen Quellen als „Hauptkanal“ bezeichnet. 1994 führten Bauarbeiten auf der Johannisstraße zur Freilegung des Unterbaus vom ehemal i g e n 30

Bilder © Stadt- und Kreisarchäologie // Spaten © ; Helm © boltenkoff ; Leiter © sunnychicka , fotolia.com Johannistor. Auch hier existierte im Mittelalter ein überwölbter Kanal, vermutlich der sog. Prinzengraben, der anhand der Holzteile der Toranlage auf das Jahr 1249 (+5/-4) datiert werden konnte. Zuletzt haben die Archäologen im Jahre 2002 bei den Ausgrabungen im Bereich der heutigen „Altstadtgarage“ weitere Abschnitte dieser mehrteiligen Kanalanlage, u. a. den sogenannten Marktgraben, ausgegraben und untersucht. Wie entstanden diese unterirdischen Kanäle? Anhand der zahlreichen Fundstücke aus den untersten Füllschichten und einiger historischer Dokumente ließen sich die näheren Umstände, die zum Bau dieser Kanäle geführt haben, und deren Entstehungszeit recht genau bestimmen. Ausgangspunkt war die schwierige städtebauliche Situation im 12. Jahrhundert. Osnabrück war in seiner räumlichen Entwicklung an einen Punkt gekommen, bei dem die als Baugrund nutzbaren Flächen nicht mehr ausreichten, den Bedarf für Neubauprojekte zu decken. Die entscheidende Wende kam 1171, als Kaiser Friedrich I. der Stadt das Privileg zusprach, eine Stadtmauer bauen zu dürfen. Die damals noch junge Stadt begann schon wenige Jahre später mit der Umsetzung dieses Vorhabens und nutzte es, um zugleich eine umfassende Stadtsanierung durchzuführen. Dabei sind viele Straßenverläufe verändert und alle weiträumigen Bachniederungen innerhalb der Stadt verfüllt worden, was zu einer enormen Zunahme der für eine Bebauung geeigneten Grundstücke führte. Die natürlich vorhandenen Fließgewässer wurden dabei kanalisiert, d. h. in künstlichen Wasserläufen durch die Stadt geführt, und konnten so auch perfekt zur Abwasserbeseitigung genutzt werden. Wahrscheinlich ist dieses Kanalsystem bereits gleich zu Beginn im frühen 13. Jahrhundert an einigen Stellen als gemauertes Gewölbe angelegt worden. Überwiegend waren es aber wohl offene oder mit Holzbohlen abgedeckte Wasserläufe. Sowohl über die überwölbten als auch über die mit Bohlen abgedeckten Kanäle sind noch im Mittelalter Wohnhäuser gebaut worden.Mit dem Bau dieses Kanalsystems gehörte Osnabrück im frühen 13. Jahrhundert zu den in dieser Hinsicht fortschrittlichsten Städten im nördlichen Mitteleuropa. Wo kann dieser Kanal heute noch besichtigt werden? Es gibt nur eine einzige Stelle im Stadtgebiet, wo heute die Möglichkeit besteht, sich persönlich einen Eindruck vom Aussehen dieser Kanäle zu verschaffen: im am tiefsten gelegenen Kellerbereich des historischen Rathauses. Hier existiert noch ein Teilstück des Hauptkanals, das beim Bau des Rathauses zwischen 1489 und 1512 nicht zerstört, sondern als Latrinenanlage für die Ratsherren in das Gesamtgebäude mit einbezogen wurde. Es war lange Zeit verschüttet und wurde erst 1938 wieder freigeräumt, als die Bauarbeiten für das damals entstandene Lokal „Ratskeller“ durchgeführt wurden. Seitdem haben sich keine weiteren baulichen Veränderungen mehr ergeben und der Kanal ist immer noch gut zugänglich, ein Zutritt allerdings nur nach Rücksprache mit dem heutigen Gastronomiebetreiber zulässig. Wann wurde dieses mittelalterliche Kanalsystem aufgegeben? Noch im Mittelalter dürfte die Nutzung dieser Kanäle zur Abwasserentsorgung zu äußerst unangenehmen Begleiterscheinungen geführt haben. Da die Durchflussgeschwindigkeit des natürlich vorhandenen Wassers sehr gering war, ist von einer hohen Geruchsbelästigung auszugehen – insbesondere in den Sommermonaten, wenn wochenlang kein Regen gefallen war und die Fäkalien nicht abfließen konnten. Bei Starkregen dagegen liefen diese Kanäle über und hinterließen auf den angrenzenden Flächen eine breiige, stinkende Masse aus vorwiegend organischen Stoffen. Vermutlich ist dadurch auch die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten sehr be günstigt worden. Erst 1859, als es innerhalb der Stadt zum Ausbruch einer Choleraepidemie kam, befassten sich die Verwaltungsverantwortlichen erstmals offiziell mit einer vollständigen Erneuerung dieses inzwischen über 600 Jahre alten Abwassersystems. 1861/63 wurde mit der Umsetzung dieser Neubauplanungen begonnen und damit ein entscheidender Schritt zur Beseitigung von unerträglich gewordenen hygienischen Verhältnissen in der Altstadt von Osnabrück eingeleitet. | BZ 31

STADT- & LANDGESCHICHTEN<br />

Wo wurde im Mittelalter eines der<br />

modernsten Kanalsysteme gebaut?<br />

„Was fließt unter Osnabrück?“ hieß das Titelthema unserer letzten Ausgabe, in der wir einen Blick in das moderne<br />

Kanalsystem warfen. Nun drehen wir das Rad der Zeit zurück und fahnden nach den ersten unterirdischen Gängen,<br />

die in Osnabrück angelegt wurden.<br />

Wo verlaufen die geheimnisvollen<br />

unterirdischen Gänge in<br />

Osnabrück?<br />

1960 veröffentlichte der <strong>Osnabrücker</strong> Verkehrsverein<br />

eine kleine Schrift mit dem<br />

Titel „Das unterirdische Osnabrück“. Dort<br />

findet sich eine übersichtsartige Darstellung<br />

aller bis dahin bekannten und vermuteten<br />

mittelalterlichen (oder älteren?)<br />

Höhlen- und Gangsysteme im Bereich<br />

des Getrudenbergs und der <strong>Osnabrücker</strong><br />

Altstadt. Während die Beschreibung der<br />

Höhlen unter dem Getrudenberg heute<br />

weitgehend bestätigt wurde und sie als<br />

überregional einzigartige Anlage zu den<br />

herausragenden Denkmalen der Stadt Osnabrück<br />

gehören, liegen zum angeblichen<br />

Verlauf der unterirdischen Gänge in der<br />

Altstadt eine Vielzahl an neuen archäologischen<br />

Erkenntnissen vor, die das Bild<br />

von 1960 deutlich in Frage stellen.<br />

Damals bediente man sich der Hilfe eines<br />

Wünschelrutengängers, um den mutmaßlichen<br />

Verlauf dieser Gänge zu erkunden.<br />

Dieses Vorhaben führte zu der Auffassung,<br />

dass im Mittelalter alle vier Hauptkirchen<br />

sowie alle Klöster und Steinwerke im<br />

Stadtkern miteinander verbunden gewesen<br />

sein müssten und dass der größte Teil<br />

dieser Verbindungsgänge noch erhalten<br />

sei. Unabhängig davon solle es weit über<br />

das Stadtgebiet hinausreichende unterirdische<br />

Fernverbindungen (unter anderem bis<br />

zum Kloster Rulle) gegeben haben.<br />

Insgesamt wurden diese Gänge als Teil<br />

eines im Mittelalter entstandenen städtischen<br />

Flucht- und Versorgungswegesystems<br />

interpretiert. Doch seit damals sind<br />

auch erhebliche Zweifel an der Korrektheit<br />

dieser Darstellung geäußert worden.<br />

Welche Ergebnisse ergaben<br />

sich bei den archäologischen<br />

Untersuchungen?<br />

Zur Klärung der ursprünglichen Funktion<br />

der Getrudenberghöhlen fand dort im<br />

April 1984 erstmals eine archäologische<br />

Untersuchung durch die Stadt- und Kreisarchäologie<br />

statt. Dabei bestätigte sich,<br />

dass es sich bei diesem Gangsystem um die<br />

Stollen eines unterirdischen Steinbruchs<br />

handelt. Der dort abgebaute Kalkstein<br />

wurde seit dem Mittelalter zur Gewinnung<br />

von Kalkmörtel für Großbauprojekte<br />

wie Stadtmauer, Kirchen u.ä. genutzt.<br />

Wesentlich spannender war die Frage<br />

nach den unterirdischen Gängen in der<br />

Altstadt. 1983 kam es bei Bauarbeiten<br />

neben dem historischen Rathaus auf der<br />

Durchfahrt zum Markt erstmals zur<br />

Freilegung von Mauerresten,<br />

bei denen eine<br />

gewisse Ähnlichkeit<br />

mit den 1960<br />

beschriebenen<br />

Anlagen erkennbar<br />

war.<br />

1987 folgte eine weitere vergleichbare Entdeckung<br />

vor dem Turm der Katharinenkirche.<br />

1991 konnte bei Bauarbeiten im Gebäude<br />

Krahnstraße 49 (= Krahnstraße/Ecke<br />

Lortzingstraße) von der Stadtarchäologie<br />

ein unversehrt erhaltener längerer Abschnitt<br />

dieses gangartiges Gewölbes erfasst<br />

und gründlich untersucht werden. Der<br />

„Gang“ hatte hier eine Breite von 1,85 m<br />

und war bis zum Gewölbescheitelpunkt<br />

über 1 m hoch. Er war fast vollständig mit<br />

Ablagerungen verfüllt, so dass eine Nutzung<br />

als Fluchtweg oder ähnliches überhaupt<br />

nicht möglich war.<br />

Anhand der Art dieser Verfüllschichten<br />

und der darin enthaltenen Fundstücke ließ<br />

sich eine Nutzung als Abwasserkanal vom<br />

späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert<br />

erkennen. Fotos aus dem Jahre 1959 von der<br />

Baugrube für den Neubau der Stadtbibliothek<br />

zeigten, dass dieser Kanal ursprünglich<br />

auch hier vorhanden war und parallel<br />

zur Krahnstraße in Richtung Rathaus<br />

verlief. Er wird in historischen Quellen<br />

als „Hauptkanal“ bezeichnet. 1994<br />

führten Bauarbeiten auf der<br />

Johannisstraße zur Freilegung<br />

des Unterbaus<br />

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