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Programm Bildungsforschung - Baden-Württemberg Stiftung

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Arbeitspapier der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

Bildung: Nr. 9<br />

<strong>Programm</strong> <strong>Bildungsforschung</strong><br />

Projektergebnisse<br />

Alexander Renkl, Anne Berkemeier, Jeanette Roos, Hermann Schöler, Günter Dörr,<br />

Diemut Kucharz, Reinhold Nickolaus, Katharina Maag Merki, Jens Holger Lorenz,<br />

Andrea Einig, Heinz Schüpbach u. a.


Impressum<br />

<strong>Programm</strong> <strong>Bildungsforschung</strong><br />

Projektergebnisse<br />

Herausgeberin:<br />

<strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> gGmbH<br />

Im Kaisemer 1, 70191 Stuttgart<br />

www.bwstiftung.de<br />

Verantwortlich:<br />

Dr. Andreas Weber, <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

Für die Inhalte sind die jeweiligen Autoren verantwortlich<br />

Redaktion:<br />

Frank Pfänder, Landesinstitut für Schulentwicklung<br />

© März 2011, Stuttgart<br />

Arbeitspapier der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

Bildung, Nr. 9<br />

Dieses Arbeitspapier steht zum Herunterladen bereit unter:<br />

www.bwstiftung.de


Vorwort der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> 5<br />

Grußwort des Ministerialdirektors im Ministerium für Wissenschaft, 7<br />

Forschung und Kunst <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> Klaus Tappeser<br />

Inhalt<br />

Einleitung des wissenschaftlichen Vorstandes des Landes- 9<br />

institutes für Schulentwicklung Prof. Dr. Matthias Rath<br />

Projektergebnisse<br />

I. Das Lerntagebuch als Mittel zur formativen Diagnostik von schulischen 13<br />

Lernstrategien<br />

Prof. Dr. Alexander Renkl u. a. / Universität Freiburg<br />

II. Sprachliche Heterogenität in der Sprachheilschule und in der Regelschule 31<br />

(Sprachheterogenität)<br />

Prof. Dr. Anne Berkemeier u. a. / PH Heidelberg<br />

III. PRISE - Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich. 55<br />

Einflüsse der Entwicklung im Grundschulalter auf die Entwicklung in den ersten<br />

zwei Jahren der Sekundarschulzeit.<br />

Längsschnittliche Beobachtungen an zwei Einschulungskohorten<br />

Prof. Dr. Jeanette Roos, Prof. Dr. Hermann Schöler u. a. / PH Heidelberg<br />

IV. Wirksamkeit (innovativer) offener Lehr- Lernformen (WOLLF) 81<br />

Prof. Dr. Günter Dörr, Prof. Dr. Diemut Kucharz u. a. / PH Weingarten<br />

V. Förderung schwächerer Auszubildender des Handwerks in der schulischen 107<br />

Berufsausbildung<br />

Prof. Dr. Reinhold Nickolaus u. a. / Universität Stuttgart<br />

VI. Selbstreflexives Lernen im schulischen Kontext (Serelisk) 153<br />

Prof. Dr. Katharina Maag Merki u. a. / PH Freiburg<br />

VII. Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter - eine Fallstudie zur 175<br />

Entwicklung des mathematischen Denkens bei 3- bis 4-jährigen Kindern<br />

Prof. Dr. Jens Holger Lorenz, Dipl. Päd. Andrea Einig / PH Heidelberg<br />

VIII. Sind innovative Lehr- und Lernformen für Schüler wie auch für Lehrkräfte 197<br />

vorteilhaft? Internationale Vergleichsstudie zum Zusammenhang von<br />

Lehr-/Lernformen, Unterrichtsqualität und psychischen Belastungen<br />

der Lehrkräfte<br />

Prof. Dr. Heinz Schüpbach u. a. / Universität Freiburg<br />

3


Vorwort<br />

<strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

Der Erfolg <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>s liegt in der Qualifikation seiner Menschen. Die <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> setzt sich für eine möglichst breite Teilhabe aller am Wachstum des Wissens<br />

und am gesellschaftlichen Zusammenleben ein. Getreu dem Motto „Wir stiften Zukunft“<br />

ebnet sie den Weg für Spitzenforschung, vielfältige Bildungsmaßnahmen und den verantwortungsbewussten<br />

Umgang mit unseren Mitmenschen in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>. Die <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> hilft, individuelle Lebenschancen der Menschen konkret zu verbessern.<br />

Der Aufsichtsrat der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> hat im Jahr 2004 eine <strong>Programm</strong>linie „<strong>Bildungsforschung</strong>“<br />

beschlossen und dafür 1,5 Mio. Euro bereitgestellt. Auf unsere landesweite<br />

Ausschreibung im Jahr 2005 haben sich insgesamt 24 Forschungsinstitute aus <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong> mit 74 Projektvorhaben und einem Gesamtvolumen von ca. 15,5 Mio. Euro für<br />

eine Teilnahme am <strong>Programm</strong> beworben. Daraus wurden acht Forschungsprojekte ausgewählt<br />

und umgesetzt, die ein unabhängiger Gutachterkreis der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> empfohlen<br />

hat. Am <strong>Programm</strong> <strong>Bildungsforschung</strong> waren die Pädagogischen Hochschulen Freiburg,<br />

Heidelberg und Weingarten sowie die beiden Universitäten Freiburg und Stuttgart beteiligt. Die<br />

Forschungsarbeiten werden 2011 abgeschlossen sein. Das Landesinstitut für Schulentwicklung<br />

ist von der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> mit der <strong>Programm</strong>trägerschaft beauftragt.<br />

Die Forschung orientiert sich dabei an der aktuellen internationalen Forschung, vor allem an der<br />

international vergleichenden Forschung zu Bildungsthemen und deren Standards.<br />

In unseren Projekten werden beispielsweise Fragen bearbeitet, wie: „Ermöglicht der Einsatz von<br />

Lerntagebüchern die Diagnose und Förderung von Lernstrategien im schulischen Kontext?“<br />

oder „Welche Faktoren bestimmen den Übergang vom Primar- in den Sekundarbereich und wie<br />

gehen Schüler/-innen mit den Veränderungen um?“, „Wie entwickeln sich mathematische Kompetenzen<br />

und speziell der Zahlbegriff bei Drei- bis Vierjährigen?“ oder „Was genau zeichnet<br />

‚offenen Unterricht’ aus? Wie lässt er sich beobachten und kategorisieren?“<br />

Auf einer Fachtagung am 8. Oktober 2009 wurden die Forschungsergebnisse aus den acht<br />

Projekten vorgestellt und diskutiert. Zahlreiche Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher,<br />

Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, Mitglieder der Schul- und Kultusverwaltung sowie Vertreterinnen<br />

und Vertreter der an den Forschungsprojekten beteiligten Schulen sind unserer Einladung<br />

nach Stuttgart gefolgt.<br />

Bei der Podiumsdiskussion der Veranstaltung wurde die hohe Bedeutung der <strong>Bildungsforschung</strong><br />

für die aktuellen Entwicklungen in der Bildungslandschaft betont. Es wurde festgestellt,<br />

dass wie jede andere Forschung, die <strong>Bildungsforschung</strong> Zeit braucht, um Kompetenzen aufzubauen<br />

und ein Profil zu entwickeln. Hierzu ist insbesondere die Vernetzung und der Austausch<br />

von Forschenden zu diesem Thema wichtig. Die <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> nimmt diese Anregungen<br />

aus der Tagung auf. Sie wird weiter in die <strong>Bildungsforschung</strong> investieren, dafür hat<br />

der Aufsichtsrat der <strong>Stiftung</strong> im Dezember 2010 weitere Mittel zur Verfügung gestellt.<br />

5


Vorwort<br />

Wir danken allen Beteiligten an den Forschungsprojekten für ihre engagierte Arbeit. Unser besonderer<br />

Dank gilt dem Landesinstitut für Schulentwicklung, das uns zuverlässig und mit hoher<br />

Fachkompetenz bei der Umsetzung des <strong>Programm</strong>s als Projektträger unterstützt.<br />

Wir freuen uns, mit dem vorliegenden Arbeitspapier die dort präsentierten Projektergebnisse<br />

veröffentlichen und Interessierten zur Verfügung stellen zu können.<br />

Christoph Dahl Dr. Andreas Weber<br />

Geschäftsführer Abteilungsleiter Bildung<br />

<strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

6


Grußwort<br />

Ministerialdirektor Klaus Tappeser<br />

„Das höchste Gut und allein nützliche ist die Bildung.“ Dieser Satz stammt von Friedrich von<br />

Schlegel, ist rund 200 Jahre alt, aber aktueller denn je. Ohne gute Bildung gibt es in unserer<br />

Gesellschaft kein gelingendes Zusammenleben. Und ohne gute Bildung hat unsere Wirtschaft<br />

keine Chance, im weltweiten Wettbewerb zu bestehen.<br />

Wenn Bildung also eine Schlüsselressource ist, dann ist die <strong>Bildungsforschung</strong> ein Forschungsfeld<br />

von besonderer Wichtigkeit. Die empirische <strong>Bildungsforschung</strong> gibt Antworten auf die Frage,<br />

unter welchen Bedingungen Bildungsprozesse gelingen. Sie liefert Hilfestellung für die Bildungspraxis<br />

und für eine moderne Bildungspolitik.<br />

Die Bildungspolitik hat ja im zurückliegenden Jahrzehnt, ausgelöst durch PISA 2000, eine „empirische<br />

Wende“ vollzogen. Die Stichworte dazu lauten: Bildungsstandards, Leistungsvergleiche,<br />

externe Evaluation von Schulen, Bildungsberichterstattung. Auch auf der Forschungsseite<br />

hat sich viel verändert. Es gibt in der Erziehungswissenschaft einen Trend hin zu empirischer<br />

Forschung, weg von einer rein historischen und normativen Ausrichtung. Dieser Prozess<br />

braucht Zeit, auch deshalb, weil empirische <strong>Bildungsforschung</strong> kein einfaches Forschungsfeld<br />

ist. Vielmehr stellt sie hohe Ansprüche an die Qualität von Forschungsmethoden und Untersuchungsdesigns,<br />

und fast immer zwingt sie zur interdisziplinären Zusammenarbeit.<br />

Vor diesem Hintergrund bin ich der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> dankbar dafür, dass sie<br />

seit rund zwei Jahren der <strong>Bildungsforschung</strong> im Land mit ihrem Förderprogramm, dessen Ergebnisse<br />

dieser Band dokumentiert, Schub verleiht. Mein Dank gilt auch dem Landesinstitut für<br />

Schulentwicklung für seine Arbeit als „Projektdienstleister“. Auf Bundesebene gebühren „Credits“<br />

für die Förderung der empirischen <strong>Bildungsforschung</strong> dem Bundesministerium für Bildung<br />

und Forschung.<br />

Es ist der Landesregierung ein Anliegen, das Forschungsfeld der empirischen <strong>Bildungsforschung</strong><br />

in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> zu stärken. Das Kultusministerium und das Wissenschaftsministerium<br />

unternehmen dafür gemeinsame Anstrengungen.<br />

Auf dem Weg dorthin ist Zentrenbildung ein wichtiger Schritt. So wächst an der Universität Tübingen<br />

mit erheblicher finanzieller Unterstützung des Landes ein leistungsfähiger Schwerpunkt<br />

in der empirischen <strong>Bildungsforschung</strong> heran. Teil des Schwerpunkts an der Eberhard-Karls-<br />

Universität ist ein neues Promotionskolleg. Die Nachwuchsförderung ist ausgesprochen wichtig,<br />

weil es leider keinen Überfluss an gut ausgebildeten, jungen empirischen Bildungsforscherinnen<br />

und -forschern gibt. Auch vor diesem Hintergrund muss man sagen: Die Stärkung dieses Forschungsfeldes<br />

ist eine Langzeitaufgabe!<br />

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Gründung des „Wissenschaftscampus Bildung in Informationsumwelten“,<br />

die wir im April gefeiert haben. Der vom Land über drei Jahre mit jeweils<br />

200.000 Euro geförderte „Wissenschaftscampus“ verbindet die Universität Tübingen mit dem<br />

benachbarten Institut für Wissensmedien, einer Einrichtung der Wissenschaftsgemeinschaft<br />

Gottfried Wilhelm Leibniz.<br />

7


Grußwort<br />

Der „Wissenschaftscampus“ führt Forscherinnen und Forscher ganz verschiedener Fachrichtungen<br />

zur Arbeit an gemeinsamen Fragestellungen zusammen. Mit seinem Fokus auf neue<br />

Informationsumwelten wie das Internet und die damit verbundenen neuen Formen des Lernens<br />

ist er auch inhaltlich innovativ ausgerichtet.<br />

Selbstverständlich ist Tübingen nicht der einzige Ort in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>, wo hervorragende<br />

und vielversprechende empirische <strong>Bildungsforschung</strong> geleistet wird. Ich denke zum Beispiel<br />

auch an die Universität Freiburg. Unter anderem ist dort im Rahmen der Exzellenzinitiative eine<br />

Forschergruppe zu ökonomischen und verhaltenswissenschaftlichen Perspektiven der empirischen<br />

<strong>Bildungsforschung</strong> eingerichtet worden. Ich denke an einschlägige Forschungsgruppen in<br />

Mannheim, Heidelberg, Stuttgart und an weiteren Universitäten. Ich denke natürlich an die große<br />

Breite bildungswissenschaftlicher Arbeit an den Pädagogischen Hochschulen. Ich denke<br />

schließlich an die spannende bildungsökonomische Forschung am Zentrum für Europäische<br />

Wirtschaftsforschung in Mannheim.<br />

Noch gibt es ungenutztes Potenzial zur Zusammenarbeit zwischen den empirischen Bildungsforschern<br />

an den verschiedenen Einrichtungen und Standorten im Land. Eine engere Vernetzung<br />

wird zu einer Stärkung des gesamten Forschungsfeldes beitragen. Diese Chance der<br />

Vernetzung gilt es, in der Zukunft noch stärker zu nutzen.<br />

Ihnen, den Leserinnen und Lesern dieses Buches, wünsche ich eine gewinnbringende Lektüre<br />

und viele Anregungen für Ihre eigenen Tätigkeiten.<br />

Ministerialdirektor Klaus Tappeser<br />

Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

8


Vom Wiegen und Füttern<br />

<strong>Bildungsforschung</strong> in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

<strong>Bildungsforschung</strong> hat seit dem Jahr 2000 besondere öffentliche und politische Aufmerksamkeit<br />

erhalten. Die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie hat ins breite Bewusstsein gebracht, was<br />

die wissenschaftliche Forschung schon seit Jahren wusste: Die Bildungssituation der deutschen<br />

Schülerinnen und Schüler ist keineswegs zufriedenstellend und im Vergleich mit anderen teilnehmenden<br />

Ländern der OECD-Studie unterdurchschnittlich. Und auch im bundesdeutschen<br />

Ländervergleich haben sich z.T. beträchtliche Unterschiede gezeigt.<br />

Seit 2000 ist viel geschehen, wurden bildungspolitische Weichen in allen Bundesländern neu<br />

gestellt, wenn auch mit teilweise unterschiedlichen Schwerpunkten und für unterschiedliche<br />

Problemanzeigen. Die Dramatik der Bildung in Deutschland führte außerdem zu einem Schub in<br />

der <strong>Bildungsforschung</strong>, die bis in die 1990erJahre hinein wenig akzeptiert schien. Die Zentren<br />

dieser <strong>Bildungsforschung</strong> lagen naturgemäß zunächst in den Institutionen, die für die großen<br />

internationalen Forschungsprojekte wie PISA oder IGLU verantwortlich zeichneten, und in dem<br />

im Zuge der Bildungsreformen 2004 von den Bundesländern gemeinsam gegründeten Institut<br />

zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen IQB in Berlin. <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> war weniger<br />

vertreten.<br />

Die damalige Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>, die heute <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> heißt,<br />

griff diese Herausforderung auf, <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> im Bereich <strong>Bildungsforschung</strong> weiter voran<br />

zu bringen, und lobte 2005 die <strong>Programm</strong>linie <strong>Bildungsforschung</strong> aus, deren Ergebnisse wir<br />

in diesem Band vorstellen.<br />

Das ebenfalls 2005 neu errichtete Landesinstitut für Schulentwicklung hatte dabei die Aufgabe<br />

übernommen, die Auswahl der zu fördernden Projekte zu organisieren, die Auswahljury bei ihrer<br />

Arbeit zu unterstützen und schließlich die Projektteams über den Förderzeitraum zu betreuen.<br />

Die von der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> damals ausgelobte Summe von ca. einer Million Euro<br />

ist eine große und kleine Summe zugleich. Nicht nur sind die genannten großen internationalen<br />

und nationalen Leistungsvergleichsstudien wie PiSA, IGLU und VERA mit beträchtlich größeren<br />

Summen ausgestattet, die <strong>Programm</strong>linie <strong>Bildungsforschung</strong> sollte auch noch auf mehrere Projekte<br />

verteilt, und das heißt: aufgeteilt werden. War das nicht nur ein Tropfen auf den heißen<br />

Stein?<br />

Man muss zwei wichtige Punkte nochmals in Erinnerung rufen, um die vorliegenden Forschungsprojekte<br />

der <strong>Programm</strong>linie in ihrer Tragweite richtig einordnen zu können. <strong>Bildungsforschung</strong><br />

im Stile der internationalen Vergleichsstudien ist zwar in besonderer Weise in das öffentliche<br />

Bewusstsein gedrungen, diese internationalen Anstrengungen stellen aber nicht unbedingt<br />

die einzige oder auch nur maßgebende Form der <strong>Bildungsforschung</strong> dar. Glaubt man<br />

einer alten Bauernweisheit, dann wird vom Wiegen die Sau nicht fett. Das mag stimmen, aber<br />

ohne Wiegen kann man auch wenig über den Zustand der Sau sagen. Ohne den Vergleich<br />

9


Einleitung<br />

überstrapazieren zu wollen, sollte man immer daran denken, dass dieses Objekt bäuerlichen<br />

Bemühens ein sehr konkretes ist. Mit anderen Worten: Wir bekommen von Forschungen wie<br />

der OECD-Studie zwar einen wichtigen Überblick über die bildungspolitische Großwetterlage –<br />

gestaltet, verändert und reformiert wird Bildung aber vor Ort, in den Schulen, in den Klassen,<br />

mit den Schülerinnen und Schüler, den Lehrkräften und in Kooperation mit den Eltern.<br />

Deutlich wird diese Ausrichtung, wenn wir uns die beiden Themenfelder der <strong>Programm</strong>linie<br />

<strong>Bildungsforschung</strong> nochmals vor Augen führen. Zum einen sollten die Qualitätssicherung in der<br />

Bildung und die Grundlagen von Bildungsprozessen untersucht werden, und zwar in der unterrichtlichen<br />

Situation, nämlich in Bezug auf die Wirksamkeit innovativer Lehr- und Lernformen<br />

und in Bezug auf den Umgang mit Heterogenität. Ebenso konkret stellte sich der zweite Themenkomplex<br />

dar, der die kritischen Übergänge in der Bildungsbiographie in den Blick nahm.<br />

Beide Themenfelder machen deutlich, dass sich <strong>Bildungsforschung</strong> nicht nur für Makrostrukturen,<br />

sondern ebenso für die konkrete soziale Situation in der Klasse und den individuellen Lebensweg<br />

mit seinen konkreten Weggabelungen und oft auch Sackgassen interessieren muss.<br />

Doch verstehen wir uns nicht falsch: konkret heißt nicht konkretistisch. Das explizite Förderziel,<br />

nach dem die prominente Jury die Projekte auszuwählen hatte, lautete Grundlagenforschung zu<br />

Bildungsfragen, Bildungsprozessen und Bildungsergebnissen. Vor diesem Hintergrund wurden<br />

Vorhaben, die sich überwiegend der Entwicklung von didaktischen Konzepten, Materialien, usw.<br />

widmen wollten, nicht ausgewählt. Was aber heißt dann konkret?<br />

Diese Frage betrifft den zweiten Punkt, den ich erinnern möchte: Wiegen ist das Eine, Füttern<br />

das Andere. Wenn wir die individuellen Bildungschancen verbessern wollen, müssen wir in die<br />

Klassen schauen, die individuelle Bildungsbiographie in den Blick nehmen, nach den sinnvollen<br />

und sinnvollsten Maßnahmen fragen, die junge Menschen weiter bringen, Leistung ebenso<br />

ermöglichen wie Mut machen, den eigenen Weg zu gehen und nicht einer Mainstream-<br />

Erwartung. Und das heißt: <strong>Bildungsforschung</strong> in diesem Sinne muss den engagierten Weg der<br />

Interventionsforschung gehen, die zwar nicht mit den Kopfzahlen wir PISA aufwarten kann, aber<br />

dafür den Wandel, die Effizienz schulischer, didaktischer und pädagogischer Maßnahmen erfasst.<br />

Konkret und effizient, diese beiden Charakteristika sollten die geförderten Projekte der <strong>Programm</strong>linie<br />

<strong>Bildungsforschung</strong> erfüllen, <strong>Bildungsforschung</strong> als Prozessforschung vor Ort, sich<br />

gerade und vor allem auch die mit PISA allzu häufig abgeschriebene „Risikogruppe“ konzentrieren.<br />

Sehen wir uns die <strong>Programm</strong>linie <strong>Bildungsforschung</strong> genauer an, dann zeigt sich in der<br />

Vielfalt und Breite der Projekte und der involvierten Forschungsinstitutionen genau diese Zielsetzung.<br />

Universitäten ebenso wie Pädagogische Hochschulen, Fachwissenschaften, Fachdidaktiken,<br />

Pädagogik und Psychologie konkretisierten <strong>Bildungsforschung</strong> in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

als Unterrichts- und Schulforschung, bei der nicht nur die Leistung der Schülerinnen und Schüler,<br />

sondern auch die Kooperationen und Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer auf den<br />

Prüfstand kamen.<br />

10


Einleitung<br />

Prof. Dr. Matthias Rath<br />

<strong>Bildungsforschung</strong> in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> stellt sich vor und steht mit den Ergebnissen der<br />

ersten <strong>Programm</strong>linie <strong>Bildungsforschung</strong> der <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> nicht schlecht da. Die<br />

Fördersumme darf, wie immer in der wissenschaftlichen Forschung, auch höher sein, aber die<br />

hier vorgestellten Projekte zeigen, was schon mit auf den ersten Blick bescheidenen Mitteln<br />

möglich ist, wo konkrete Forschung über sich selbst hinausweist, neue Sichtweisen ermöglicht,<br />

neue, fruchtbare Forschungsfragen evoziert und Impulse setzt für eine bessere Praxis in Schule<br />

und Lehrerbildung.<br />

Prof. Dr. Matthias Rath<br />

Wissenschaftlicher Vorstand des Landesinstituts für Schulentwicklung<br />

11


I Das Lerntagebuch als Mittel zur formativen Diagnostik von<br />

schulischen Lernstrategien<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Prof. Dr. Alexander Renkl<br />

Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie<br />

Universität Freiburg, Institut für Psychologie, Abteilung Pädagogische Psychologie und<br />

Entwicklungspsychologie<br />

Prof. Dr. Matthias Nückles<br />

Professor für Unterrichtsforschung und Weiterbildung<br />

Universität Freiburg, Institut für Erziehungswissenschaft<br />

Dr. Rolf Schwonke<br />

Wissenschaftlicher Assistent<br />

Universität Freiburg, Institut für Psychologie, Abteilung Pädagogische Psychologie und<br />

Entwicklungspsychologie<br />

Dr. phil. Lars Holzäpfel, Dipl.-Päd.<br />

Akademischer Mitarbeiter<br />

Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Mathematik und Informatik und ihre<br />

Didaktiken<br />

Dipl.-Psych. Inga Glogger<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

Universität Freiburg, Institut für Psychologie, Abteilung Pädagogische Psychologie und<br />

Entwicklungspsychologie<br />

Ein Epitom<br />

Interviewer: (…) was hast du gemacht, um das mit den dreistufigen Zufallsversuchen zu VER-<br />

STEHEN?<br />

Schülerin: (…) also ich weiß net, wir mussten des ja ins Lerntagebuch eintragen und dann hab ich<br />

mir des nochmal durchgelesen und hab halt geguckt, haja, des, ich hab au mit ner Mitschülerin,<br />

also mit meiner Freundin getauscht und dann hab ich des durchgelesen und die hats dann au<br />

ganz anders geschrieben als ich und dann isch mir des eigentlich au klarer geworden (…)<br />

-----------------------<br />

Die Äußerung der Schülerin macht deutlich, dass das Schreiben von Lerntagebüchern das Verstehen<br />

von Unterrichtsinhalten unterstützen kann und dass Lerntagebücher individuell sehr unterschiedlich<br />

sein können. Die niedergeschriebenen individuellen Lernwege der Schülerinnen und<br />

Schüler geben einen Einblick in ihre Denk- und Lernstrategien. Das vorliegende Projekt nimmt<br />

erstens das Potential des Lerntagebuchs zur Diagnose von schulischen Lernprozessen genauer<br />

unter die Lupe und untersucht zweitens, wie Lehrkräfte unterstützt werden können, um dieses<br />

Potential zu nutzen.<br />

13


Universität Freiburg<br />

2 Darstellung des Forschungsprojekts<br />

Das geplante Projekt untersucht, inwieweit die Verwendung von Lerntagebüchern und eines<br />

entsprechenden computerunterstützten Werkzeugs für Lehrer einen sinnvollen Ansatzpunkt<br />

bildet, um die Lernstrategien von Schülern und Schülerinnen valide zu diagnostizieren und darauf<br />

aufbauend individualisierte Maßnahmen zu treffen. Lerntagebücher bestehen aus einer<br />

kontinuierlichen schriftlichen Reflexion der Lernenden über das zu Erlernende und die eigenen<br />

Lernprozesse. Relevante Befunde aus der Forschung zur Lernstrategiediagnose werden im<br />

folgenden Abschnitt 2.1 dargelegt.<br />

2.1 Stand der Forschung<br />

Seit Mitte der 1970er Jahre entwickelten sich unter den Stichwörtern Lernstrategien und selbstgesteuertes<br />

Lernen eine Vielzahl an Forschungslinien, die sich mit der Beschreibung und Erklärung<br />

bedeutungshaltigen Lernens befassen (für einen Überblick siehe Friedrich & Mandl, 1997;<br />

Wild, 2006; Zimmerman, 2008). Als Lernstrategien können all jene Verhaltensweisen und Kognitionen<br />

verstanden werden, die von Lernenden aktiv zum Zweck des Wissenserwerbs eingesetzt<br />

werden. Oftmals werden dabei Primärstrategien und Sekundärstrategien bzw. Stützstrategien<br />

unterschieden (Friedrich & Mandl, 1997). Als "primär" werden kognitive Strategien bezeichnet,<br />

die direkt zur Wissenskonstruktion beitragen (z. B. Elaboration, indem eine Analogie<br />

zu Bekanntem hergestellt wird). Sekundärstrategien stützen derartige Lernprozesse, indem sie<br />

günstige Kontextbedingungen schaffen (z. B. Zeitplanung, Zielsetzungen). Metakognitive Strategien<br />

(insbesondere der Verständnisüberwachung) werden dabei unterschiedlich zugeordnet,<br />

stehen aber in jedem Fall sehr eng mit Wissenskonstruktionsprozessen in Verbindung.<br />

Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Forschungslinien in der Lernstrategieforschung<br />

wurden entsprechend auch unterschiedliche Methoden zur Diagnose von Lernstrategien vorgeschlagen.<br />

Die größte Verbreitung haben dabei – vermutlich aufgrund ihrer großen Ökonomie<br />

und leichten Handhabbarkeit – Fragebogenverfahren gefunden. Ungeachtet der jeweils zugrunde<br />

gelegten Taxonomie und des theoretischen Ansatzes verlangen Fragebogenverfahren von<br />

den Lernenden typischerweise Einschätzungen, wie häufig sie bestimmte lernbezogene Verhaltensweisen<br />

beim Lernen einsetzen. Um solche Einschätzungen vorzunehmen, müssen die Lernenden<br />

quasi über verschiedene konkrete Lernsituationen hinweg eine Art "subjektiven Mittelwert"<br />

bilden. Diese Notwendigkeit zur Abstraktion von der konkreten Lernsituation und die handlungsferne<br />

Erfassung dürften wesentliche Gründe dafür sein, weshalb die Methode der Lernstrategiefragebögen<br />

sich insgesamt gesehen als gering valide erwiesen hat (z. B. Artelt, 2000).<br />

Zudem wird die Qualität des Strategieeinsatzes nicht erfasst (z. B. Leutner & Leopold, 2006).<br />

Die Selbstauskünfte der Schüler und Schülerinnen korrespondieren in der Regel kaum mit dem,<br />

was sie tatsächlich tun. Sie korrelieren daher, wenn überhaupt, nur sehr gering mit Lernerfolgmaßen<br />

(z. B. Artelt & Schellhas, 1996; Jamieson-Noel & Winne, 2003).<br />

Vor diesem Hintergrund beschreibt auch Zimmerman (2008) die mit Fragebögen arbeitende<br />

Forschung als einer ersten Phase zugehörig. Die aktuelle zweite Phase nimmt das Lernhandeln<br />

"näher" unter die Lupe und versucht auf der "Ereignisebene" Lernstrategien bzw. Elemente des<br />

14


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

selbstregulierten Lernens zu erfassen. Dazu lassen sich etliche Alternativen verwenden (vgl.<br />

Zimmerman, 2008), so etwa die Methode der stimulierten Erinnerung ("Stimulated Recall", vgl.<br />

Ericsson & Simon, 1993; McCrindle & Christensen, 1995), Laut-Denken-Protokolle (Ericsson &<br />

Simon, 1993; Pressley & Afflerbach, 1995) sowie Logfile-Analysen, die auf den Eingaben von<br />

Lernenden in computerbasierten Lernumgebungen basieren (Jamieson-Noel & Winne, 2003).<br />

Von diesen ermöglichen die Laut-Denken-Methode und die Methode der stimulierten Erinnerung<br />

wohl am besten eine Erfassung der Qualität der eingesetzten Lernstrategien. Ein Nachteil<br />

von Laut-Denken-Protokollen ebenso wie der Methode der stimulierten Erinnerung ist jedoch<br />

der hohe Aufwand bei der Datenerhebung und -auswertung. Obgleich beide Verfahren sowohl<br />

eine handlungsnahe als auch qualitative Erfassung von Lernstrategien ermöglichen, ist ihre<br />

Praktikabilität im schulischen Alltag aufgrund ihrer geringen Ökonomie limitiert.<br />

Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Vor- und Nachteile der verschiedenen Verfahren<br />

zur Diagnose von Lernstrategien erscheint die Methode des Lerntagebuchs als besonders aussichtsreich<br />

(vgl. auch Zimmerman, 2008). Dabei kann man Lerntagebücher danach unterscheiden,<br />

ob sie eher auf primäre Lernstrategien oder sekundäre Lernstrategien sowie weitere wichtige<br />

Variablen des selbstgesteuerten Lernens (z. B. Motivation) abzielen. Ein Lerntagebuch der<br />

letztgenannten Art verwenden z. B. Schmitz und Wiese (2006), die in strukturierter Weise Zielsetzungen,<br />

Affekt, Motivation und die Planung des Lernstrategieneinsatzes abfragen. In unserer<br />

Konzeption stehen hingegen eher die primären Lernstrategien und die damit verbundenen metakognitiven<br />

Überwachungsstrategien im Zentrum. Die Lernenden sollen elaborieren (Anbinden<br />

ans eigene Vorwissen), organisieren (Zusammenhänge im Stoff identifizieren) und metakognitiv<br />

ihr Verständnis überwachen.<br />

Ähnlich wie die Laut-Denken-Methode erlauben Lerntagebücher eine handlungs- und situationsnahe<br />

Erfassung, weil die Lernenden gebeten werden, im Lerntagebuch ihre Lernprozesse<br />

und Lernstrategien direkt schriftlich zu dokumentieren, während sie sich mit einem bestimmten<br />

Lernstoff auseinandersetzen. Zugleich wird im Lerntagebuch im Unterschied zu Fragebogenverfahren<br />

und Logfile-Analysen ebenso wie bei der Laut-Denken-Methode die Qualität des Strategieeinsatzes<br />

deutlich (Leutner & Leopold, 2006). Dementsprechend fand unsere Arbeitsgruppe<br />

bei Studierenden mit Lerntagebuchdaten einen stabilen und hohen Zusammenhang zwischen<br />

den spontan eingesetzten oder experimentell induzierten Strategien und dem Lernerfolg (z. B.<br />

Berthold, Nückles & Renkl, 2007; Nückles, Schwonke, Berthold & Renkl, 2004). Im Unterschied<br />

zur Laut-Denken-Methode sind Lerntagebücher zumindest im Hinblick auf die Erhebung von<br />

Lernstrategiedaten relativ ökonomisch und damit im Unterrichtsalltag sehr praktikabel, insofern<br />

man sie als Lernmethode sowieso einsetzt; letzteres ist aus didaktischer Perspektive sinnvoll<br />

(vgl. z. B. McCrindle & Christensen, 1995). Indem die Lehrkraft die Schüler und Schülerinnen<br />

regelmäßig Einträge in das Lerntagebuch vornehmen lässt, fallen die Daten über angewendete<br />

Strategien quasi nebenbei an. Die Auswertung bzw. Diagnose durch den Lehrenden ist allerdings<br />

weniger ökonomisch und bedarf außerdem der gezielten Anleitung. Zu den Hauptzielen<br />

dieses Projekt zählt deshalb neben der Validierung der Lerntagebuchmethode die Entwicklung<br />

eines computerbasierten Werkzeugs, welches Lehrkräfte bei der Lernstrategiediagnose auf der<br />

Grundlage von Lerntagebüchern unterstützt. Damit wird auch ein Beitrag zur Entwicklung dia-<br />

15


Universität Freiburg<br />

gnostischer Kompetenz von Lehrkräften geleistet (vgl. Borko & Putnam, 1996; Bromme, 1997;<br />

Helmke, 2003).<br />

Es dürfte klar geworden sein, dass mit dem Schreiben eines Lerntagebuchs einerseits der Wissenserwerb<br />

über die Lernstrategien der Elaboration (Anbindung an das Vorwissen der Lernenden),<br />

der Organisation (Ordnen von neuen Lernstoffen, Identifikation von Hauptpunkten) sowie<br />

der Metakognition (Überwachung und Regulierung des eigenen Lernens) gefördert werden soll<br />

(Weinstein & Mayer, 1986). Andererseits kommt in den Lerntagebüchern eben auch zum Ausdruck,<br />

inwiefern einzelne Lernende diese Lernstrategien auch tatsächlich zeigen (z. B. Anzahl<br />

der eigenen Beispiele) und in welcher Qualität dies geschieht (z. B. Passung der Beispiele).<br />

Lerntagebücher bieten Lehrkräften damit wertvolle diagnostische Informationen über einzelne<br />

Schüler und Schülerinnen, so dass maßgeschneiderte, individualisierte Maßnahmen eingesetzt<br />

werden können.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Lerntagebuchmethode vielversprechend<br />

ist, der effektive Einsatz im Unterricht – vor allem im Hinblick auf die Diagnose von Lernstrategien<br />

– aber erst in Ansätzen untersucht wurde. Insbesondere in Hinblick auf die bislang<br />

nicht befriedigenden Möglichkeiten der Lernstrategiediagnose im Unterricht sollten Ansätze<br />

entwickelt und empirisch fundiert werden, welche die Diagnose und Förderung von Lernstrategien<br />

erlauben und damit auch den Erwerb fachlichen Wissens unterstützen.<br />

2.2 Projektarbeiten<br />

In den folgenden Abschnitten werden empirische Studien, einschließlich Pilotstudien, und Entwicklungsarbeiten<br />

an einem computerbasierten Lern- und Diagnosewerkzeug beschrieben. In<br />

einer ersten Studie wurde ein angemessenes Ausmaß an Strategieanregung für Schüler und<br />

Schülerinnen der Realschule bestimmt, damit einerseits Lernstrategien in Lerntagebüchern<br />

(hier „Lernprotokollen“) Ausdruck finden können und andererseits sie nicht "erzwungen" werden,<br />

was eine Diagnose des individuellen Lernstrategieeinsatzes unmöglich machen würde<br />

(Abschnitt 2.2.1). Darauf aufbauend wurden zwei sehr umfangreiche Teilstudien – in Mathematik<br />

und in Biologie – durchgeführt, die vor allem einen zentralen Aspekt der Validität unter die<br />

Lupe nahmen (Abschnitt 2.2.2): Sagen die mit dem Lerntagebuch erfassten Strategien den<br />

Lernerfolg vorher?<br />

Die nächste Erhebung war eine Pilotstudie dazu, welchen Bedarf bzgl. eines computerbasierten<br />

Lern- und Diagnosewerkzeugs Lehrkräfte sehen (Abschnitt 2.2.3). Darauf aufbauend wurde ein<br />

entsprechendes Werkzeug konzipiert und inzwischen umgesetzt (Abschnitt 2.2.4). Erste Prototypen<br />

wurden durch Experten und durch Lehramtstudierende vor allem auf ihre Benutzerfreundlichkeit<br />

hin untersucht (Abschnitt 2.2.5). Schließlich wurde eine Studie mit Lehramtsstudierenden<br />

durchgeführt, die exemplarisch an einem Lernmodul Motivation und Lernerfolg sowie die<br />

Effekte unterschiedlicher Einführungen zum Modul untersuchte (Abschnitt 2.2.6). Schließlich<br />

werden das Erreichte und noch anstehende Aufgaben resümiert (Abschnitt 2.2.7).<br />

16


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

2.2.1 Prompts zur Aktivierung von Lernstrategien beim Schreiben von<br />

Lernprotokollen – wie spezifisch müssen sie für Schüler und Schü<br />

lerinnen sein? (Kalibrierungsstudie)<br />

Fragestellung<br />

Um (individuelle Unterschiede im Gebrauch von) Lernstrategien erfassen zu können, muss ein<br />

angemessener situativer Stimulus vorgegeben werden. Einerseits muss er zum Strategieeinsatz<br />

"einladen" – damit überhaupt Strategien sichtbar werden. Andererseits darf er den Strategieeinsatz<br />

nicht erzwingen – ansonsten spielten individuelle Ausprägungen keine Rolle. Ganz<br />

ohne Anleitung zeigen selbst Studierende in Lernprotokollen kaum Lernstrategien (Nückles et<br />

al., 2004). Als für Studierende geeignete Maßnahme, um kognitive und metakognitive Lernaktivitäten<br />

beim Schreiben anzuregen, haben sich Prompts (Leitfragen) erwiesen. Eine Pilotstudie<br />

mit Schülern und Schülerinnen der neunten Klasse (Fach Mathematik) zeigte jedoch, dass die<br />

Art von Prompts, die bei Studierenden gute Wirkung zeigte, bei Schülern und Schülerinnen<br />

keinen Einfluss auf die Lernprotokolle hatten. Daraus ergab sich die Frage, ob bei den Schülern<br />

und Schülerinnen mehr als nur ein Produktionsdefizit vorliegt (mangelndes spontanes Zeigen<br />

der Strategie) oder ob die Prompts lediglich spezifischer sein müssen. Spezifische Prompts<br />

haben den Vorteil klarer zu explizieren, was erwartet wird (Hinweisreize auf die gewünschten<br />

Aktivitäten); andererseits ergibt sich die Gefahr, dass die Schüler in ihren Strategien zu weit<br />

eingeengt werden, dass somit die Vielfalt der eingesetzten Lernstrategien leidet und dass die<br />

Prompts ohne weitergehendes Nachdenken "mechanisch abgearbeitet" werden. Wie bereits<br />

erwähnt, müssen Lerntagebücher Lernstrategien evozieren, sie dürften sie aber nicht "erzwingen",<br />

damit sie als Diagnoseinstrument sinnvoll genutzt werden können; es muss ein "mittleres<br />

Ausmaß" an Lernstrategien sichtbar werden. Um zu überprüfen, welches Maß an Anleitung<br />

(Spezifität der Prompts) und Selbststeuerung beim Lerntagebuchschreiben sinnvoll ist (Kalibrieren<br />

der Anleitung), untersuchten wir die Wirkungen unterschiedlich spezifischer Prompts zur<br />

Lernstrategieaktivierung beim Schreiben.<br />

Methode<br />

Wir ließen Realschüler von zwei neunten Klassen (N=52) nach einer kurzen Einführung in die<br />

Lerntagebuchmethode im Fach Mathematik Lernprotokolle verfassen. In zwei aufeinander folgenden<br />

Wochen wurde beiden Klassen – jeweils in unterschiedlicher Reihenfolge – einmal unspezifische<br />

Prompts und einmal spezifischere Prompts vorgegeben ("within"-Design). Unspezifische<br />

Prompts sollten dabei ganz allgemein Prozesse der Organisation, Elaboration und Metakognition<br />

anregen (z. B. zur Elaboration: "Versuche Verbindungen herzustellen zwischen dem,<br />

was du letzte Woche gelernt hast und dem, was du schon wusstest."). Sie entsprechen denjenigen<br />

Prompts, die sich bei Studierenden als förderlich erwiesen haben. Spezifische Prompts<br />

enthielten zusätzliche Hinweise für die Umsetzung der Lernstrategien beim Schreiben. Die<br />

Lerntagebücher wurden nach Quantität und Qualität der enthaltenen Lernstrategien ausgewertet.<br />

Die Anzahl verschiedener Lernstrategien, die in einem Lerntagebuch gezeigt wurden, diente<br />

als Maß der Vielfalt.<br />

17


Universität Freiburg<br />

Ergebnisse<br />

Die Ergebnisse zeigten, dass Schüler mit spezifischen Prompts längere Lerntagebücher schrieben<br />

und mehr kognitive Lernstrategien zeigten (Elaboration und Organisation). Die Anzahl metakognitiver<br />

Lernstrategien, wie das Überwachen des Lernprozesses, unterschied sich nicht<br />

bedeutsam in den beiden Versuchsbedingungen. Die Vielfalt der Lernstrategien wurde durch<br />

spezifische Prompts nicht eingeschränkt. Vielmehr stieg die Vielfalt elaborativer Strategien sogar<br />

an. Bezüglich der Qualität der Lernstrategien hatten spezifische Prompts weniger Wirkung.<br />

Obwohl die Qualität deskriptiv anstieg, wurden die Unterschiede bei keiner der Lernstrategiedimensionen<br />

(Elaboration, Organisation, Metakognition) signifikant. Zusätzlich testeten wir die<br />

Effekte der Reihenfolge der Prompts. Wurde zuerst mit spezifischen Prompts gearbeitet, könnte<br />

man erwarten, dass die unspezifischen Prompts in der darauffolgenden Woche schon ausreichen,<br />

weil die Anwendung der Strategien bereits gelernt wurde. Die Reihenfolge, mit der die<br />

Prompts gegeben wurden, wirkte sich jedoch nicht systematisch auf den Lernstrategieeinsatz<br />

aus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass spezifische Prompts mehr Lernstrategien bei<br />

Schülern beim Schreiben von Lerntagebüchern in Mathematik aktivieren können. Bei der Anwendung<br />

qualitativ hochwertiger Lernstrategien bestehen offensichtlich grundsätzliche Defizite,<br />

so dass sie durch spezifische Prompts kaum stärker aktiviert werden konnten.<br />

Schlussfolgerungen für die weitere Projektarbeit<br />

Für die Umsetzung der Lerntagebuchmethode in der Validierungsstudie wurden die folgenden<br />

Erkenntnisse genutzt:<br />

(a) Die Prompts müssen spezifischer sein, als ursprünglich geplant, d.h. sie müssen expliziter<br />

ausweisen, was gefordert wird.<br />

(b) Die Befürchtung, die Vielfalt der eingesetzten Lernstrategien werde durch spezifische<br />

Prompts beschränkt, erwies sich als unbegründet. Zum Teil setzten die Schüler mehr unterschiedliche<br />

Strategien ein, wenn sie spezifische Prompts bekamen. (c) Die Anzahl metakognitiver<br />

Lernstrategien ist auch bei spezifischen Prompts sehr gering. Die Prompts für metakognitive<br />

Lernstrategien wurden in folgenden Studien nun an den Anfang der Prompts gesetzt, damit die<br />

Schüler ihre wahrgenommenen Verstehenslücken als Ausgangspunkt für die weitere strategische<br />

Auseinandersetzung mit dem Lernstoff nehmen. Zudem wurden metakognitive Prompts<br />

am Ende nochmals vorgegeben, damit die Schüler abschließend ihr Verständnisniveau beurteilen<br />

und ggf. "nacharbeiten".<br />

2.2.2 Validierung des Lerntagebuchs als Mittel zur Diagnose von Lern<br />

strategien (Validierungsstudien)<br />

In experimentellen Studien zur Wirksamkeit der Lerntagebuchmethode bei Studierenden konnten<br />

starke und stabile Zusammenhänge zwischen den im Lerntagebuch eingesetzten Strategien<br />

und dem Lernerfolg gefunden werden (z. B. Berthold et al., 2007; Nückles, et al., 2004). Dies<br />

deutet auf die Eignung des Lerntagebuchs als Diagnoseinstrument für Lernstrategien hin. In<br />

zwei Studien – jeweils in Mathematik und Biologie – sollte die Validität im Schulkontext untersucht<br />

werden.<br />

18


2.2.2.1 Validierungsstudie Mathematik<br />

Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

Fragestellung<br />

In dieser Validierungsstudie wurden insbesondere die folgenden Forschungsfragen bearbeitet:<br />

(a) Sind die mit dem Lerntagebuch erfassten Lernstrategien indikativ für den Lernstrategieeinsatz<br />

beim schulischen Lernen – auch in anderen Situationen? (b) Können die im Lerntagebuch<br />

erfassten Lernstrategien den Lernerfolg vorhersagen? (c) Inwieweit hängt der Lernstrategieeinsatz<br />

im Lerntagebuch von individuellen – insbesondere motivationalen und vorwissensbezogenen<br />

– Lernvoraussetzungen ab?<br />

Methode<br />

Zur Beantwortung dieser Fragen ließen wir Realschüler von zehn neunten Klassen (N=270) im<br />

Fach Mathematik während sechs Wochen Lerntagebücher verfassen (Thema: Zufall und Wahrscheinlichkeit).<br />

Zu Beginn wurde das themenspezifische Vorwissen und die Lern- und Leistungsmotivation<br />

erfasst. Anschließend wurden die Schüler in die Lerntagebuchmethode eingeführt.<br />

In der fünften Woche wurden je zwei Schüler aus jeder Klasse zu den in der vorangehenden<br />

Mathematikstunde eingesetzten Lernstrategien interviewt (verwertbare Interviews: N = 18).<br />

Nach Abschluss der Lerntagebuchphase wurde ein verständnisorientierter Nachtest durchgeführt.<br />

Die Lerntagebücher und Interviews wurden nach Quantität und Qualität der enthaltenen<br />

Lernstrategien ausgewertet. Die statistischen Auswertungen erfolgten zunächst mit Standardverfahren<br />

(z. B. Korrelationen, Partialkorrelationen, multiple Regressionen). Um der Tatsache<br />

Rechnung zu tragen, dass beim vorliegenden Design die Schüler in Schulklassen geschachtelt<br />

waren, wurden zudem HLM-Analysen gerechnet (Hierarchical Linear Modeling). Die beiden<br />

Arten der Analyse ergaben aber keine unterschiedlichen Ergebnismuster.<br />

Ergebnisse<br />

Es zeigten sich folgende Hauptbefunde: (a) Im Lerntagebuch können anders als mit Fragebögen<br />

die Quantität und Qualität von Lernstrategien differenziert erfasst werden. Allerdings ergibt<br />

sich nur eine eingeschränkte Konvergenz mit der Erfassung von Lernstrategien per Interview.<br />

Mit Lerntagebuch und Interview werden also unterschiedliche Aspekte lernstrategischen Verhaltens<br />

erfasst. (b) Beide Verfahren der Lernstrategieerfassung prädizieren unterschiedliche Varianzanteile<br />

im Lernerfolg. Sie liefern also sich ergänzende Informationen. Dabei ist sowohl die<br />

Quantität als auch die Qualität der Lernstrategien von Belang. (c) Ein günstiger Lernstrategieeinsatz<br />

hängt dabei von motivationalen Variablen, aber nur in geringem Ausmaß vom Vorwissen<br />

ab.<br />

2.2.2.2 Validierungsstudie Biologie<br />

Fragestellung<br />

Es wurden dieselben Fragenstellungen wie in der Mathematikstudie untersucht: (a) Sind die mit<br />

dem Lerntagebuch erfassten Lernstrategien indikativ für den Lernstrategieeinsatz auch in anderen<br />

Situationen? (b) Sagen die im Lerntagebuch erfassten Lernstrategien den Lernerfolg vorher?<br />

(c) Welche Bedeutung haben motivationale und vorwissensbezogene Lernvoraussetzungen?<br />

19


Universität Freiburg<br />

Methode<br />

Es wurde die gleiche Methodik, wie in der Validierungsstudie Mathematik eingesetzt. Als Stichprobe<br />

dienten acht neunte Klassen (140 Schüler mit weitgehend vollständigem Datensatz). Das<br />

Thema, zu dem Lerntagebücher geschrieben wurden, war Vererbung.<br />

Ergebnisse<br />

Es zeigten sich folgende Hauptbefunde: (a) Die Qualität der im Lerntagebuch erfassten Wiederholungsstrategien<br />

ist indikativ für den Einsatz derselben im Unterricht, gemessen durch das<br />

Interview. Dies traf jedoch nicht für die übrigen kognitiven Strategien zu. (b) Quantität und Qualität<br />

kognitiver Lernstrategien (Wiederholung, Organisation und Elaboration) im Lerntagebuch<br />

stehen in statistisch bedeutsamen und substantiellen Zusammenhang mit den Nachtestwerten<br />

(Lernerfolg), die der metakognitiven Strategien dagegen nicht. (c) Wiederum zeigte sich, dass<br />

der Lernstrategieeinsatz relativ unabhängig vom Vorwissen war. Motivationale Variablen spielten<br />

hingegen eine stärkere Rolle.<br />

2.2.2.3 Schlussfolgerungen aus den Validierungsstudien<br />

Zusammenfassend liefern die Ergebnisse Hinweise darauf, dass das Lerntagebuch als Mittel<br />

zur Diagnose von Lernstrategien in der Schule valide einsetzbar ist. Im Gegensatz zu Fragenbogenmaßen<br />

kann der Lernerfolg – vor allem durch den Einsatz kognitiver Strategien – in substantiellem<br />

Ausmaß vorhergesagt werden. Dabei ist zu beachten, dass mit Lerntagebüchern der<br />

Strategieeinsatz in einer individuellen Lernsituation, in der Schreiben gefordert war, erfasst wird.<br />

Die Interviews bezogen sich auf Unterricht, der in aller Regel eine "Gruppenlernsituation" darstellt.<br />

Offenbar korrespondierte der Strategieeinsatz in beiden Situationsklassen nicht in starkem<br />

Ausmaß. Vor diesem Hintergrund sollte der Lernstrategieeinsatz in unterschiedlichen<br />

Lernsituationen und mit verschiedenen Instrumenten erfasst werden. In jedem Fall bietet das<br />

Lerntagebuch für die Praxis einen geeigneten Einstieg, damit Lehrkräfte Information über den<br />

Strategieeinsatz ihrer Schüler gewinnen und darüber Rückmeldung geben können.<br />

2.2.3 Pilotstudie zur Gestaltung des computerbasierten Lern- und<br />

Diagnosewerkzeug zu Lernstrategien in Lerntagebüchern<br />

Um das computerbasierte Lern- und Diagnosewerkzeug zu Lernstrategien in Lerntagebüchern<br />

nicht "am Bedarf von Lehrkräften vorbei" zu entwickeln, wurde eine Pilotstudie als Bedarfsanalyse<br />

durchgeführt. Fünf Lehrkräfte wurden interviewt, welchen Bedarf sie an einem Lern- und<br />

Unterstützungstool zur Diagnose von Lernstrategien im Allgemeinen, und im Speziellen welchen<br />

Bedarf sie an bestimmten Funktionen des Werkzeugs haben.<br />

Das Werkzeug soll nach Angabe von Lehrkräften zunächst kurz und bündig in den Einsatz von<br />

Lerntagebüchern und die Kategorisierung von Lernstrategien einführen. Eine Materialsammlung<br />

zum Einsatz der Methode Lerntagebuch soll zur Verfügung stehen, um die Schüler effektiv in<br />

die Methode einzuführen und die Verwendung von Lernstrategien beim Schreiben der Lerntagebücher<br />

anzuregen. Um die geschriebenen Lerntagebücher auswerten zu können, müssen die<br />

20


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

Lehrkräfte lernen, Lernstrategien zu diagnostizieren, d.h. diese zu erkennen (kategorisieren)<br />

und sie in ihrer Qualität zu bewerten. Dazu wurde von den Lehrkräften ein Lernmodul mit Lern-<br />

tagebuchbeispielen gewünscht. Dafür sollte ein für Lehrkräfte vereinfachtes Kategoriensystem,<br />

dessen Verwendung anhand von Aufgaben mit Beispielen eingeübt werden kann, integriert<br />

werden. Möglichst in einer Bearbeitungszeit von 10-15 Minuten soll für jedes vorliegende Lerntagebuch<br />

ein Beurteilungsschema bearbeitet werden können. Die direkt am Bildschirm oder in<br />

eine ausgedruckte Tabelle eingetragenen Werte können pro Schüler und Klasse verwaltet werden.<br />

Auswertungsdiagramme können angezeigt und Rückmeldevorschläge zur Strategieförderung<br />

angefordert werden. Eine Funktion, die Lehrkräfte weniger nutzen würden, wäre die Möglichkeit,<br />

sich online über Diagnosen oder die Verwendung des <strong>Programm</strong>s auszutauschen. Zudem<br />

wurde klar, dass es eine installierbare Version des <strong>Programm</strong>s geben sollte, da nicht alle<br />

Lehrkräfte online in dem <strong>Programm</strong> arbeiten könnten. Ein ursprünglicher Plan, automatisierte<br />

multidimensionale Textanalyse einzubeziehen, wurde zugunsten der Praxistauglichkeit des<br />

Werkzeugs gestrichen. Es ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dass die Schülerinnen und<br />

Schüler einer gesamten Klasse ihr Lerntagebuch auf dem Computer schreiben und der Lehrkraft<br />

in digitaler Form zukommen lassen. Zudem sind bestimmte Lernaktivitäten für die Schüler<br />

und Schülerinnen schwer am Computer zu realisieren, z. B. Formeln und Rechnungen schreiben,<br />

Zeichnungen oder Visualisierungen von Prozessen. Entsprechend dieser Ergebnisse wurden<br />

das Lerntool und das Konzept des Diagnose-Werkzeugs entwickelt. Die Materialien der<br />

vorigen Studien (Lerntagebücher, Kategoriensystem, Einführung der Schüler und Schülerinnen)<br />

konnten für die Nutzung im Lern- und Diagnosetool aufbereitet werden.<br />

Es wurde zudem gefragt, wie viel Zeit die Lehrkräfte bereit wären, in eine Fortbildung zu investieren.<br />

Die Angaben schwankten stark (von null bis acht Stunden). Im Mittel würden die befragten<br />

Lehrkräfte deskriptiv mehr Zeit in die Bearbeitung des Lernwerkzeugs als in eine Fortbildung<br />

investieren (5.9 versus 4.6 Stunden). Dennoch wurden die Möglichkeit des Austauschs<br />

mit Kollegen und das interaktive Lernen in einer Fortbildung als vorteilhaft gesehen und gewünscht.<br />

2.2.4 Erstellung des computerbasierten Lern- und Diagnosetools<br />

Das Lern- und Diagnosetool – umgesetzt in Flash – besteht aus vier aufeinander aufbauenden<br />

Teilen (siehe Startseite des Tools, Abb. 1). In einer Einführung (erster Schritt) können die Lehrkräfte<br />

Grundsätzliches zum Konzept des Lerntagebuchs als Diagnoseinstrument für Lernstrategien<br />

nachlesen und hören. In einem zweiten Schritt "Einführen Ihrer Schüler" werden Materialien<br />

und Anleitungen bereitgestellt. Damit wird aufgezeigt, wie Lehrkräfte ihre Schülerinnen und<br />

Schüler innerhalb von zwei Schulstunden in das Schreiben von Lerntagebüchern einführen<br />

können. Im dritten und vierten Schritt steckt die Hauptarbeit dieses Projektteils. Lehrkräfte lernen<br />

im dritten Schritt ("Lerntool") anhand von Schülerbeispielen das Kategorisieren und Bewerten<br />

von Lernstrategien in Lerntagebüchern. Diese gründlich ausgearbeiteten Lernmodule sollen<br />

Lehrkräfte befähigen, das Diagnosetool so zu nutzen, dass sie Lerntagebücher schnell und<br />

dennoch fundiert auswerten können. Das "Diagnosetool" (vierter Schritt) stellt erstens eine Art<br />

Checkliste zum Anklicken zur Bewertung von Lerntagebüchern bereit. Zweitens sollen die ein-<br />

21


Universität Freiburg<br />

gegebenen Bewertungen in Klassenlisten abgespeichert werden können. So können pro Schüler<br />

bzw. Schülerin oder pro Klasse Auswertungen ausgegeben werden, die als anschauliche<br />

Grundlage für eine Rückmeldung an die Schüler und Schülerinnen dienen kann.<br />

Abb. 1: Startseite des Lern- und Diagnosetools<br />

Im Folgenden wird exemplarisch näher auf die Konzeption des Lerntools eingegangen. Anhand<br />

von vier Modulen lernen Lehrkräfte wichtige Lernaktivitäten kennen, die von Schülern und<br />

Schülerinnen beim Schreiben von Lerntagebüchern realisiert werden können: Wiederholung,<br />

Organisation, Elaboration und metakognitive Lernstrategien (siehe Abb. 2) Die Teilmodule sind<br />

dabei nach dem "transition principle of instructional support" (Hilbert, Schworm & Renkl, 2004)<br />

gestaltet, bei dem auf instruktionale Erklärungen erklärte Beispiele folgen und zuletzt Selbsterklärungen<br />

angeregt werden.<br />

In jedem Teilmodul der vier Lernmodule erklärt eine "Expertin" dem Lernenden zunächst, um<br />

welche Art von Lernstrategien es im Folgenden gehen wird (direkte Instruktion). Anschließend<br />

verdeutlicht sie, welche Beispielausschnitte aus Lerntagebüchern den erklärten Lernstrategien<br />

zugeordnet werden können. So erlernt der Nutzer die Klassifikation von Lernstrategien. Jedes<br />

dieser Teilmodule schließt mit Aufgaben ab, in denen der Lernende sein neu erworbenes Wissen<br />

anwenden kann: Hier erklärt der Lernende selbst die Zuordnung von Schülerbeispielen zu<br />

Lernstrategien (Aktivierung zur Selbsterklärung). Anschließend folgt bei den vier Modulen jeweils<br />

ein Teilmodul zum Beurteilen der Qualität vorgestellter Lernstrategien. Am Ende steht<br />

22


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

eine etwas anspruchsvollere Card-Sort-Aufgabe, bei der der Lernende Lerntagebuchausschnit-<br />

te verschiedener Qualität per Drag-and-Drop der entsprechenden Qualitätsstufe zuordnen soll.<br />

Abb. 2: Überblicksseite des Lerntools<br />

Die Navigation und Orientierung im Lerntool wird durch die Figur des "Lotsen" unterstützt. Er<br />

erläutert jeweils zu Beginn eines neuen Teilmoduls, welche Aufgaben dem Lernenden darin<br />

zukommen und erklärt gegebenenfalls, wie einzelne Funktionen des <strong>Programm</strong>s verwendet<br />

werden können. Über den Lotsenbutton (in den Abbildungen 2 und 3 jeweils links) können jederzeit<br />

Hinweise zu dem jeweiligen Teilmodul aufgerufen werden. Die Texte, die der Lernende<br />

hört, kann er sich auch zum Lesen anzeigen lassen ("Audio als Text anzeigen" z. B. unter der in<br />

Abb. 2 und 3 angezeigten Expertin). Zudem können die Lernenden in jedem Teilmodul über den<br />

Expertenbutton nochmals grundlegende Erklärungen zu den Lernstrategien Wiederholung, Elaboration,<br />

Organisation oder Metakognition aufrufen.<br />

23


Universität Freiburg<br />

Abb. 3: Beispiel für das "Modality Principle": Expertin spricht (rechts unten), dazu bauen sich<br />

passende Bildelemente auf (Mitte)<br />

Bei der Entwicklung des Lerntools wurden einschlägige Gestaltungsprinzipien für das multimediale<br />

Lernen berücksichtigt (Mayer, 2001; Mayer & Moreno, 2003; Schnotz, 2005):<br />

• "Modality Principle": Gesprochener Text wurde mit bildhaften Informationen kombiniert (siehe<br />

Abb. 3: während die Expertin spricht, bauen sich Bildelemente auf).<br />

• "Control-of-Processing Principle": Immer wenn Text gesprochen wird, können die Lernenden<br />

den Ton stoppen und/oder neu starten. Sie können also die Geschwindigkeit, mit der<br />

sie Informationen verarbeiten müssen, selbst steuern. Die Lernenden können sich außerdem<br />

das Gesprochene als Text anzeigen lassen. Damit wird die Flüchtigkeit von Gesprochenem<br />

vermieden.<br />

• "Contiguity Principle": Bilder und zugehöriger Text wurden räumlich und zeitlich möglichst<br />

nah beieinander angeordnet.<br />

• "Coherence Principle": Irrelevante Information wurden vermieden. Es wurde möglichst auf<br />

rein dekorative Bilder und Randinformationen in Texten verzichtet.<br />

• "Redundancy Principle": Simultane Präsentation redundanter Information wurde vermieden.<br />

• "Personalization Principle": Der Sprachstil wurde so gewählt, dass sich die Lernenden direkt<br />

angesprochen fühlten.<br />

24


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

2.2.5 Formative Evaluationen des computerbasierten Lern- und Diagnosetools<br />

Die ersten Prototypen wurden hinsichtlich der Benutzerfreundlichkeit und der erwähnten Gestal-<br />

tungsprinzipien formativ evaluiert. Insgesamt sechs Experten arbeiteten mit dem Prototyp für<br />

Organisationsstrategien und gaben schriftliche und mündliche Rückmeldung (frei sowie zu vorgestellten<br />

Kriterien). Diese Rückmeldungen wurden eingearbeitet und eine weitere Version des<br />

Lerntools mit einer Gruppe von neun Lehramtstudierenden evaluiert. Fragen zur Motivation und<br />

Zufriedenheit wurden insgesamt positiv beantwortet. Anhand von offenen Fragen wurde schriftliche<br />

und anschließend ergänzend mündliche Rückmeldung zu Benutzerfreundlichkeit, Verständlichkeit<br />

der Inhalte und ausgewählten multimedialen Gestaltungsprinzipien eingeholt.<br />

Selbstverständlich wurden innerhalb des Projektteams fortlaufend Prototypen aller Lernmodule<br />

im Sinne eines "cognitive walkthrough" durchlaufen, Rückmeldungen dokumentiert und systematisch<br />

umgesetzt. Diese Evaluationen dienten auch der Erstellung der <strong>Programm</strong>version, die<br />

in der im nächsten Abschnitt beschriebenen Studie eingesetzt wurde.<br />

2.2.6 Studie zur Akzeptanz und zu Varianten der Einbettung eines Lernmoduls<br />

Fragestellung<br />

Diese Studie hatte eine zweifache Fragestellung. Erstens sollte bei Lehramtsstudierenden überprüft<br />

werden, wie Motivation und Akzeptanz (im weiteren Sinne) hinsichtlich des Lernmoduls<br />

(hier des Untermoduls zu Organisationsstrategien) ausfallen. Zudem sollte die "Usability" (Benutzerfreundlichkeit)<br />

des <strong>Programm</strong>s getestet werden. Schließlich galt es den Lernerfolg zu<br />

überprüfen. Zweitens sollten unterschiedliche Einführungen, die vor dem Lernprogramm in die<br />

Thematik einweisen, getestet werden. In einer Gruppe sollte die Motivation für die Bearbeitung<br />

des Lernprogramms und darüber vermittelt der Lernerfolg sichergestellt werden, indem eine<br />

"problemorientierte Vorwissensaktivierung" realisiert wurde (in Anlehnung an die "inventing"-<br />

Prozedur von Schwarz & Martin, 2004). Die Lehramtstudierenden in dieser Gruppe sollten überlegen,<br />

was wichtige Lernstrategien in ihrem Fach sind, welche Möglichkeiten Lehrkräfte haben,<br />

diese zu beurteilen und welche Lernstrategien sie in welcher Güte in vorgegebenen Lerntagebüchern<br />

entdecken können. Die Kontrollgruppe erhielt auf diese Fragen sogleich typische Antworten<br />

von Lehramtstudierenden (ermittelt über eine Vorstudie). Es wurde erwartet, dass Motivation<br />

und Lernerfolg durch die problemorientierte Vorwissensaktivierung gefördert wird.<br />

Methode<br />

Es nahmen 44 Lehramtsstudierende mit unterschiedlichen Fächerkombinationen an dieser Studie<br />

teil: n = 23 in der Gruppe mit problemorientierter Vorwissensaktivierung und n = 21 in der<br />

Kontrollgruppe. Der Ablauf war wie folgt. In beiden Gruppen gab es eine Einführung zum Konzept<br />

des Lerntagebuchs und dessen Funktionen. Nur in der folgenden Phase unterschieden<br />

sich die Gruppen: Problemorientierte Vorwissenaktivierung (siehe oben) versus Vorgabe entsprechender<br />

Information. In Anschluss daran wurde ein Motivationsfragebogen zur Thematik<br />

des angekündigten Lernprogramms vorgegeben. Nach der folgenden Bearbeitung des Lernprogramms<br />

wurde wiederum ein Motivationsfragebogen vorgegeben, und es wurde die Akzeptanz<br />

sowie die Usability erfasst. Der Lernerfolg wurde schließlich mittels eines Nachtests ermittelt.<br />

25


Universität Freiburg<br />

Ergebnisse<br />

In Hinblick auf die Akzeptanz des Lernprogramms fanden wir, dass nach beiden Varianten der<br />

Einführung die Motivation, das folgende Lernprogramm zu bearbeiten, sehr hoch war. Beispielsweise<br />

hatte das Item "Ich finde es nun wichtig, ein Schema zur Beurteilung von Lernstrategien<br />

kennen zu lernen" auf einer Skala von 1 bis 7 (7: trifft völlig zu) einen Mittelwert von 6.11<br />

(SD = 1.06); damit beurteilten die Lehramtstudierenden die im Lernprogramm in Aussicht gestellten<br />

Inhalte als sehr wichtig. Auch nach Bearbeitung des vorgegebenen Moduls gaben die<br />

Lehramtsstudierenden sehr positive Bewertungen ab. So erreichte das Item "Ich würde gerne<br />

auch die anderen Teile des Lernprogramms bearbeiten (Beurteilung der Wiederholungs-, Elaborations-,<br />

und metakognitiven Lernstrategien)" einen Mittelwert von 6.55 (SD = 0.70) auf einer<br />

Skala von 1 bis 7 (7: trifft völlig zu). In Bezug auf die experimentelle Variation der problemorientierten<br />

Vorwissensaktivierung zeigte sich, dass die Eingangsmotivation erwartungsgemäß – und<br />

trotz des hohen generellen Niveaus – signifikant gesteigert werden konnte. Allerdings konnte<br />

kein signifikanter Effekt auf die Bewertung des <strong>Programm</strong>s nach dessen Bearbeitung festgestellt<br />

werden; zum Teil dürfte dies an den allgemein sehr hohen Bewertungen gelegen haben<br />

(Deckeneffekt). Die problemorientierte Vorwissensaktivierung erhöhte zwar nicht den Lerneffekt<br />

in Bezug auf das konzeptuelle Wissen, aber in Bezug auf den Transfer (Analyse neuer Lerntagebücher).<br />

Schlussfolgerungen<br />

Die Thematik des entwickelten Lernprogramms scheint für Lehramtstudierende sehr attraktiv.<br />

Auch nach der Bearbeitung wird das <strong>Programm</strong> sehr positiv beurteilt. Zudem zeigt sich, dass<br />

eine problemorientierte Vorwissensaktivierung besonders nützlich ist, um Motivation für die<br />

Bearbeitung des Lernprogramms zu wecken. Damit sind sehr gute Voraussetzungen geschaffen<br />

worden, damit Lehrkräfte – bei entsprechender Einführung – das von uns entwickelte <strong>Programm</strong><br />

auch nutzen und "ernsthaft" bearbeiten. Dazu steigerte die Vorwissensaktivierung den<br />

Transfer.<br />

2.2.7 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse – Offene Fragestellungen<br />

– Geplante Arbeiten<br />

Es wurden insbesondere die folgenden Hauptziele erreicht: (a) Wissen über ein angemessenes<br />

Maß an Strukturierung der Aufgabe, Lerntagebücher zu schreiben, um bei Realschülern den<br />

individuellen Lernstrategieeinsatz messen zu können. (b) Beleg in zwei Fächern (Mathematik<br />

und Biologie), dass diese Lernstrategien für den Lernerfolg von Bedeutung sind. (c) Entwicklung<br />

eines computerbasierten Lern- und Diagnosewerkzeugs. (d) Beleg dafür, dass Lehramtstudierende<br />

die Thematik des computerbasierten Lern- und Diagnosewerkzeugs als sehr wichtig beurteilen<br />

und auch das Lernprogramm positiv bewerten. Bislang konnte noch nicht der Praxiseinsatz<br />

bei "in-service" Lehrkräften im Unterricht initiiert und untersucht werden. Zudem dürften<br />

sich beim Praxiseinsatz weitere Hinweise dazu ergeben, wie das computerbasierte Lern- und<br />

Diagnosewerkzeug weiter optimiert werden kann. Diese Ziele streben wir in künftigen Arbeiten<br />

an.<br />

26


2.3 Vernetzung in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

Wie aus der Vorstellung der Projektgruppe zu ersehen, wird dieses Projekt durch eine Kooperation<br />

zweier Institute der Universität Freiburg (Institut für Psychologie und Institut für Erziehungswissenschaft)<br />

sowie einem Institut der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Institut für<br />

Mathematik und Informatik und ihre Didaktiken) getragen. Aus der Zusammenarbeit zwischen<br />

Universität und Pädagogischer Hochschule erstand bereits ein weiterer bewilligter Forschungsantrag<br />

(BMBF-Projekt) zum Lerntagebuch (hier: Forschungsheft genannt): Leuders, T., Renkl,<br />

A. & Holzäpfel, L. (2009). Forschungshefte als Instrument der selbstreflexiven fachlichen und<br />

fachdidaktischen Professionalisierung von Mathematiklehrerinnen und –lehrern. Darüber hinaus<br />

wurden insbesondere von Prof. Leuders (Prorektor der PH Freiburg) und Prof. Renkl die Bildung<br />

eines hochschulübergreifenden Kompetenzverbunds zur empirischen Bildungs- und Unterrichtsforschung<br />

initiiert.<br />

3 Auflistung der projektrelevanten Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

3.1 Veröffentlichungen<br />

Die Projektergebnisse werden vor allem in zwei unterschiedlichen Arten von Publikationen veröffentlicht,<br />

einerseits als englischsprachige Artikel in renommierten Zeitschriften (Social Citation<br />

Index) und andererseits in praxisorientierten Zeitschriften. Dadurch erreichen unsere Projektergebnisse<br />

sowohl Protagonisten und Protagonistinnen im internationalen wissenschaftlichen<br />

Diskurs als auch Praktiker und Praktikerinnen.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, M., & Renkl, A. (2008). Activation of learning<br />

strategies when writing learning protocols: The specificity of prompts matters. In J. Zumbach,<br />

N. Schwartz, T. Seufert & L. Kester (Eds.), Beyond Knowledge: The Legacy of Competence.<br />

Meaningful Computer-based Learning Environments (pp. 201-203). Berlin:<br />

Springer.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, M., & Renkl, A. (2009). Activation of learning<br />

strategies in writing learning journals: The specificity of prompts matters. Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie/German Journal of Educational Psychology, 23, 95-104.<br />

Holzäpfel, L., Glogger, I., Schwonke, R., Nückles, M., & Renkl, A. (2009). Lerntagebücher im<br />

Mathematikunterricht: Diagnose und Förderung von Lernstrategien. In M. Neubrand (Ed.),<br />

Beiträge zum Mathematikunterricht 2009 (pp. 659-662). Münster: Martin Stein.<br />

Holzäpfel, L., Glogger, I., Schwonke, R., Nückles, M., & Renkl, A. (2009). Lernstrategien beim<br />

Schreiben: Neue Anregungen für den Umgang mit dem Lerntagebuch. mathematik lehren,<br />

156, 16-21.<br />

Holzäpfel, L., Glogger, I., Schwonke, R., Nückles, M., & Renkl, A. (2010). Lernen durch Schreiben?!<br />

Die Bedeutung des Einsatzes von Lernstrategien in Lerntagebüchern. Die neue<br />

Schulpraxis, 2010-1, 47-52.<br />

27


Universität Freiburg<br />

Holzäpfel, L., Schwonke, R., Glogger, I., Nückles, M., & Renkl, A. (2010). Das Richtige diagnos-<br />

tizieren und richtig fördern. Zum Beispiel: Das Lerntagebuch. Schulmagazin 5-10, 2010-1,<br />

55-58.<br />

Nückles, M., Hübner, S., Glogger, I., Holzäpfel, L., Schwonke, R., & Renkl, A. (2010). Selbstreguliert<br />

lernen durch Schreiben von Lerntagebüchern. In M. Gläser-Zikuda (Ed.), Lerntagebuch<br />

und Portfolio aus empirischer Sicht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik.<br />

3.2 Geplante Veröffentlichungen<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, M., & Renkl, A. (submitted). Learning strategies<br />

assessed by journal writing: Prediction of learning outcomes by quantity, quality, and<br />

combinations of learning strategies.<br />

Mindestens eine weitere englischsprachige Veröffentlichung in einer internationalen Zeitschrift<br />

ist mittelfristig zu der in Abschnitt 2.2.6 skizzierten Studie (Akzeptanz und Varianten der Einbettung<br />

eines Lernmoduls) geplant.<br />

3.3 Tagungsbeiträge – Gastvorträge (außerhalb der Treffen des Landesstiftungsprogramms)<br />

Glogger, I., Schwonke, R. Holzäpfel, L. Nückles, M., & Renkl, A. (2007). Prompts zur Aktivierung<br />

von Lernstrategien beim Schreiben von Lernprotokollen in Mathematik. Vortrag auf der<br />

70. Tagung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF), Lüneburg.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, N., Renkl, A., & Bruning, R. (2007). Prompts<br />

zur Aktivierung von Lernstrategien beim Schreiben von Lernprotokollen: Wie spezifisch<br />

müssen sie für Schüler sein? Vortrag auf der Fachtagung Pädagogische Psychologie, Berlin.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, M. & Renkl, A. (2007). Aktivierung von Lernstrategien<br />

beim Schreiben von Lernprotokollen in Mathematik. Vortrag im Forschungskolloquium<br />

am Institut für Mathematik und Informatik und ihre Didaktiken, Pädagogische Hochschule<br />

Freiburg.<br />

Glogger, I., Schwonke, R. Holzäpfel, L. Nückles, M., & Renkl, A. (2008). Validierung des Lerntagebuchs<br />

als Mittel zur Diagnostik von Lernstrategien in Mathematik. Vortrag auf der 71.<br />

Tagung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF), Kiel.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, N., Renkl, A. (2008). Activation of learning<br />

strategies when writing learning protocols: The specificity of prompts matters. Poster auf der<br />

EARLI SIG 7 and 6 Conference in Salzburg, Österreich.<br />

Glogger, I., Schwonke, R. Holzäpfel, L. Nückles, M., & Renkl, A. (2009). Validierung des Lerntagebuchs<br />

als Mittel zur Diagnose von Lernstrategien in Biologie. Vortrag auf der 72. Tagung<br />

der Arbeitsgruppe für empirische pädagogische Forschung (AEPF), Landau.<br />

28


Das Lerntagebuch als Mittel zur<br />

formativen Diagnostik von schulischen Lernstrategien<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, N., Renkl, A. (2009). Measuring cognitive and<br />

metacognitive learning strategies by learning journals and interviews. Vortrag auf der 13th<br />

Biennal Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction<br />

(EARLI), Amsterdam.<br />

Glogger, I., Schwonke, R., Holzäpfel, L., Nückles, M. & Renkl, A. (2009). Lernstrategien in Lerntagebüchern<br />

und ihre Bedeutung für den Lernerfolg. Vortrag auf der 12. Fachtagung Pädagogische<br />

Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Saarbrücken.<br />

Holzäpfel, L., Glogger, I., Schwonke, R. Nückles, M., & Renkl, A. (2009). Lerntagebücher im<br />

Mathematikunterricht: Diagnose und Förderung von Lernstrategien. Vortrag auf der 43. Jahrestagung<br />

für Didaktik der Mathematik (GDM), Oldenburg.<br />

4 Weitere Antragstellungen<br />

Es ist geplant, die beschränkte Ausschreibung zur <strong>Bildungsforschung</strong> der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

für die Fortführung der Arbeiten zu nutzen, um die bereits angesprochenen<br />

offenen Fragen zu bearbeiten (Untersuchung des Praxiseinsatz des computerbasierten Lernund<br />

Diagnosewerkzeug sowie dessen weitere Optimierung). Vor dem Hintergrund des Befunds,<br />

dass Interviews und Lerntagebücher ergänzende Informationen zum Lernstrategieeinsatz erheben,<br />

ist mittelfristig geplant, bei der DFG Gelder zu beantragen, um zu untersuchen, wie Lehrkräfte<br />

multiple Methoden der Diagnose von Lernstrategien einsetzen können.<br />

5 Literatur<br />

Artelt, C. (2000). Wie prädiktiv sind retrospektive Selbstberichte über den Gebrauch von Lernstrategien<br />

für strategisches Lernen? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 14, 72-84.<br />

Artelt, C. & Schellhas, B. (1996). Zum Verhältnis von Strategiewissen und Strategieanwendung<br />

und ihren kognitiven und emotional-motivationalen Bedingungen im Schulalter. Empirische<br />

Pädagogik, 10, 277-305.<br />

Borko, H. & Putnam, R. T. (1996). Learning to teach. In D. C. Berliner & R. C. Calfee (Eds.),<br />

Handbook of Educational Psychology (pp. 673-708). New York, NY: Macmillan.<br />

Berthold, K., Nückles, M., & Renkl, A. (2007). Do learning protocols support learning strategies<br />

and outcomes? The role of cognitive and metacognitive prompts. Learning & Instruction, 17,<br />

564-577.<br />

Bromme, R. (1997). Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In F.<br />

E. Weinert (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie. Pädagogische Psychologie, Bd. III. Psychologie<br />

des Unterrichts und der Schule (S. 177-212). Göttingen: Hogrefe.<br />

Ericsson, K. A. & Simon, H. A. (1993). Protocol analysis: Verbal reports as data. Revised edition.<br />

Cambridge, MA: The MIT Press.<br />

29


Universität Freiburg<br />

Friedrich, H. F. & Mandl, H. (1997). Analyse und Förderung selbstgesteuerten Lernens. In F. E.<br />

30<br />

Weinert & H. Mandl (Hrsg.), Psychologie der Erwachsenenbildung (Enzyklopädie der Psychologie,<br />

Pädagogische Psychologie) (S. 237-293). Göttingen: Hogrefe.<br />

Helmke, A. (2003). Unterrichtsqualität. Erfassen, Bewerten, Verbessern. Seelze: Kallmeyer.<br />

Hilbert, T., Schworm, S., & Renkl, A. (2004). Learning from worked-out examples: The transition<br />

from instructional explanations to self-explanation prompts. In P. Gerjets, J. Elen, R. Joiner,<br />

& P. Kirschner (Eds.), Instructional design for effective and enjoyable computer-supported<br />

learning (pp. 184-192). Tübingen: Knowledge Media Research Center.<br />

Jamieson-Noel, D., & Winne, P. H. (2003). Comparing self-reports to traces of studying behavior<br />

as representations of students’ studying and achievement. Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie, 17, 159-171.<br />

Leutner. D. & Leopold, C. (2006). Selbstregulation beim Lernen aus Sachtexten. In H. Mandl &<br />

H. F. Friedrich (Hrsg.), Handbuch Lernstrategien (S. 162-171). Göttingen: Hogrefe.<br />

Mayer, R. E. (2001). Multimedia learning. New York: Cambridge University Press.<br />

Mayer, R. E. & Moreno, R. (2003). Nine ways to reduce cognitive load in multimedia learning.<br />

Educational Psychologist, 38, 43-52.<br />

McCrindle, A. R., & Christensen, C. A. (1995). The impact of learning journals on metacognitive<br />

and cognitive processes and learning performance. Learning and Instruction, 5, 167-185.<br />

Nückles, M., Schwonke, R., Berthold, K., & Renkl, A. (2004). The use of public learning diaries<br />

in blended learning. Journal of Educational Media, 29, 49-66.<br />

Pressley, M., & Afflerbach, P. (1995). Verbal protocols of reading: The nature of constructively<br />

responsive reading. Hillsdale, NJ: Erlbaum.<br />

Schmitz, B. & Wiese, B. S. (2006). New perspectives for the evaluation of training sessions in<br />

self-regulated learning: Time series analyses of diary data. Contemporary Educational Psychology,<br />

31, 64–96.<br />

Schnotz, W. (2005). An integrated model of text and picture comprehension. In R. E. Mayer<br />

(Ed.), Cambridge Handbook of Multimedia Learning (pp. 49-69). Cambridge: Cambridge<br />

University Press.<br />

Schwartz, D. L., & Martin, T. (2004). Inventing to prepare for learning: The hidden efficiency of<br />

original student production in statistics instruction. Cognition & Instruction, 22, 129-184.<br />

Weinstein, C. E., & Mayer, R. E. (1986). The teaching of learning strategies. In M. Wittrock<br />

(Ed.), Handbook of research on teaching (pp. 315-327). New York: Macmillan.<br />

Wild, K.-P. (2006). Lernstrategien und Lernstile. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische<br />

Psychologie (S. 427-432). Weinheim: Beltz.<br />

Zimmerman, B. J., (2008). Investigating self-regulation and motivation: Historical background,<br />

methodological developments, and future prospects. American Educational Research Journal,<br />

45, 166-183.


II Sprachliche Heterogenität in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

1 Forschergruppe<br />

Die Forschergruppe ist an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg angesiedelt und vereint<br />

interdisziplinär Forscher 1 aus der Fachdidaktik Deutsch und der Sonderpädagogik.<br />

Akadem. Oberrätin Dr. Margit Berg<br />

Institut für Sonderpädagogik, Fachbereich Sprachbehindertenpädagogik<br />

Prof. Dr. Anne Berkemeier (Sprecherin)<br />

Institut für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik<br />

Prof. Dr. Reinold Funke<br />

Institut für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik<br />

Prof. Dr. Christian W. Glück<br />

Institut für Sonderpädagogik, Fachbereich Sprachbehindertenpädagogik<br />

Dr. Christiane Hofbauer als Akademische Mitarbeiterin<br />

Jordana Schneider als wissenschaftliche Hilfskraft<br />

2 Darstellung des Forschungsprojekts<br />

Die Ergebnisse vergleichender Schulleistungsuntersuchungen sprechen dafür, dass die Bildungschancen<br />

von SchülerInnen in Deutschland ausgeprägt ungleich verteilt sind. Dabei haben<br />

sprachliche Kompetenzen einen wesentlichen Einfluss auf den Schulerfolg. So ist z. B. beim<br />

Blick auf mehrsprachige Kinder und Jugendlichen (nicht jedoch für jeden einzelnen) festzustellen,<br />

dass deren Bildungschancen im deutschen Schulsystem eingeschränkt sind oder eingeschränkt<br />

genutzt werden. Für mehrsprachige Schüler und Schülerinnen ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

in eine Sonderschule ein- bzw. umgeschult zu werden, deutlich erhöht. So besuchten im<br />

Schuljahr 2007/08 insgesamt 4,24 % aller baden-württembergischen Schüler eine Sonderschule.<br />

Bei den ausländischen Schülern lag dieser Anteil hingegen bei 8,16 % (Statistisches Landesamt<br />

<strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>, 2009). Darin spiegelt sich die Tatsache wieder, dass Kinder mit<br />

Migrationshintergrund in Sonderschulen deutlich überrepräsentiert sind. Die differenzierte Statistik<br />

für Nordrhein-Westfalen (Information und Technik Nordrhein-Westfalen 2008) weist für<br />

2007/08 einen Gesamtanteil der AusländerInnen und AussiedlerInnen an der Schülerschaft von<br />

14,6% auf. In den Sonderschulen (Förderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten)<br />

lag deren Anteil hingegen bei 22,2%, in den Sekundarstufen der Förderschulen sogar bei<br />

25,7%. Damit stellt sich für die Zielgruppe der mehrsprachigen Schüler zwingend die Frage, ob<br />

die bislang verfolgten Förderansätze ausreichend greifen oder aber ergänzt bzw. modifiziert<br />

werden müssen (vgl. z. B. das <strong>Programm</strong> der Landesstiftung <strong>Baden</strong> <strong>Württemberg</strong> „Sag’ mal<br />

1<br />

Für eine bessere Lesbarkeit wurde auf die explizite Nennung der weiblichen Form verzichtet. Stets sind beide Formen<br />

gemeint.<br />

31


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

was“ und die Evaluation dreier Sprachförderprogramme durch Roos/Schöler, s. Hofmann/Polotzek/Roos/Schöler<br />

2008). Eine Klärung dieser Frage erfordert auch eine differenzierte<br />

Erfassung der grammatischen Kompetenzen und Schwierigkeiten.<br />

Das vorliegende Projekt zielt auf die Untersuchung morphosyntaktischer Fähigkeiten (Nominalund<br />

Verbalflexion). Dass diesem Bereich eine Schlüsselstellung für das Erlernen komplexer<br />

kognitiver Leistungen und damit für den Schulerfolg zukommt, kann insbesondere vermutet<br />

werden im Blick auf drei Gruppen von Schülerinnen und Schülern:<br />

- Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die Deutsch erst als Zweitsprache gelernt<br />

haben und in einem mehrsprachigen familiären Umfeld aufwachsen,<br />

- Kinder, denen eine umschriebene Sprachentwicklungsstörung attestiert wurde und die<br />

Sprachheilschulen besuchen,<br />

- Kinder aus Regelschulen, die nicht als sprachauffällig eingestuft sind, bei denen jedoch<br />

anhaltende Schwierigkeiten im schriftsprachlichen Bereich mit Abweichungen im sprechsprachlichen<br />

Bereich gekoppelt sind.<br />

Im Rahmen der zugewiesenen Mittel durch die Landesstiftung konnte im Hinblick auf drei verschiedene<br />

Spracherwerbsbedingungen eine explorative Pilotstudie zur Feststellung des Ausmaßes<br />

der sprachlichen Heterogenität am Beispiel der Flexionsmorphologie durchgeführt werden.<br />

In diesem Kontext wurden Methoden zur Gewinnung, Transkription und Analyse von spontan<br />

und elizitiert gewonnenen Schrift- und Lautsprachproben entwickelt. Ein wesentliches Ziel<br />

bestand darin, gruppenspezifische Fehlerprofile aufzudecken. Die Ergebnisse werden für die<br />

Ableitung und Erstellung eines neuen Forschungsantrages genutzt.<br />

Im Rahmen dieser Publikation werden weniger die methodischen Fragen in den Mittelpunkt<br />

gerückt, sondern die mit diesen Methoden an einer Pilotstudie gewonnen Erkenntnisse. Insofern<br />

deckt diese Darstellung nur einen Teil der bearbeiteten Fragestellungen ab.<br />

2.1 Methodik<br />

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine explorative Studie, die in zwei Stufen verlief.<br />

Zunächst wurden schriftliche Daten einer großen Population von Schülern erhoben und<br />

grob analysiert. Auf der Basis dieser Auswertung wurde dann eine Teilstichprobe ausgewählt,<br />

von der zum einen zusätzlich mündliche Daten erhoben, zum anderen die schon vorhandenen<br />

schriftlichen Daten ein weiteres Mal detaillierter analysiert wurden. Im Folgenden soll die Methodik<br />

genauer dargestellt werden.<br />

2.1.1 Elizitationsmaterial<br />

In der Erfassung grammatischer Fähigkeiten gibt es unterschiedliche methodische Vorgehensweisen.<br />

Für die vorliegende Studie wurde die Methode der Analyse mündlicher und schriftlicher<br />

Daten ausgewählt. Die Standardisierung der Untersuchungsbedingungen wurde durch die<br />

Nacherzählung einer Bildergeschichte erreicht. Die Bildergeschichte wurde so entwickelt, dass<br />

32


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

sie möglichst viele Sprech-/Schreibanlässe für die Verwendung unterschiedlicher Kasus- und<br />

Verbformen bietet. Insbesondere werden durch sie viele Dative (durch Verben und Präpositio-<br />

nen regiert) und unterschiedliche Genera elizitiert Gleichzeitig wurde die Geschichte von den<br />

Bildern und der Handlung her ansprechend sowie kleinschrittig und dadurch inhaltlich möglichst<br />

eindeutig gestaltet.<br />

2.1.2 Stichproben und Vorgehensweisen<br />

2.1.2.1 Versuchspersonen der Gesamtstichprobe<br />

In die Studie einbezogen wurden Daten von 360 Schülern aus 14 Hauptschulen und 4 weiterführenden<br />

Sprachheilschulen. Die Stichprobe kann als nicht repräsentative Klumpenstichprobe<br />

charakterisiert werden. Alle Probanden stammten aus 6. Klassen. Aufgrund ihrer Sprachbiografie<br />

und der Beschulungsart ergeben sich folgendes Schema und Gruppengrößen:<br />

Gesamtstichprobe (N=360)<br />

Die besuchte<br />

Schule ist eine…<br />

Deutsch ist…<br />

Erstsprache (L1) Zweitsprache (L2)<br />

Hauptschule (H) 149 166<br />

Sprachheilschule (S) 40 5<br />

Tabelle 1: Stichprobenverteilung in der Gesamtstichprobe.<br />

Aufgrund der geringen Zahl von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache in der Gruppe der<br />

Sprachheilschüler wurden die Daten dieser Kinder aus den weiteren Auswertungen entfernt.<br />

2.1.2.2 Durchführung in der Gesamtstichprobe<br />

Den Schülern wurde klassenweise die Aufgabe gestellt, in einem kleinen Heft, das die Bildergeschichte<br />

enthielt, eine Erzählung zu dieser Bildergeschichte zu schreiben, wobei ihnen die<br />

sprachliche Gestaltung und auch die inhaltliche Fortführung der Geschichte freigestellt wurde.<br />

Es war den Schülern gestattet, sich auszutauschen, da nicht erwartet wurde, dass dies die<br />

Wahl der grammatischen Strukturen beeinflussen würde.<br />

2.1.2.3 Kodierung und Auswertung in der Gesamtstichprobe<br />

Zur Auswertung der Bildergeschichten wurde zunächst aufgrund der vermuteten Fehler ein<br />

Auswertungsbogen entwickelt, der dann anhand von ca. 50 Aufsätzen modifiziert wurde. Die<br />

grammatischen Auffälligkeiten wurden dabei in folgende Kategorien eingeteilt:<br />

- Fehler der Nominalflexion, die in Dativfehler (Er schaut unter die Spüle nach, in dem kleinem<br />

Schrank), „Mündliche Akkusative“ (maskuline Akkusative, die mündlich mit dem Nominativ<br />

identisch sind: er sieht ein Fisch) sowie sonstige Fehler (Restklasse) eingeteilt wurden<br />

33


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

- Fehler der Verbalflexion, die weiter unterteilt wurden in Fehler der Subjekt-Verb-Kongruenz<br />

und sonstige Fehler der Verbalflexion<br />

- sonstige Fehler, die unterteilt wurden in Auslassungen verschiedener Wortarten und Funktionen<br />

- weitere grammatische Fehler als Restkategorie, die allerdings nicht weiter analysiert wurden.<br />

Da zwischen sprachsystematischen Fehlern und solchen, die eventuell auf Schreibproblemen<br />

basieren, nicht immer klar unterschieden werden konnte, wurde innerhalb jeder Kategorie noch<br />

einmal nach fraglichen, also evtl. auf Rechtschreibproblemen basierenden und nach eindeutig<br />

sprachsystematischen Fehlern getrennt. Neben der Kategorisierung der Auffälligkeiten wurde<br />

zudem das Vorhandensein korrekter Dative überprüft und für den Fall, dass „mündliche“ Akkusative<br />

(„Der Junge hat *ein Hund.“) vorkamen, wurde auch das Vorhandensein der schriftlich<br />

korrekten Form registriert. Damit sollte festgestellt werden, ob es sich um gelegentliche Abweichungen<br />

oder um ein Nicht-Beherrschen der korrekten Form handelt. Außerdem wurde die<br />

Anzahl der Wörter angegeben, um die relativierte Fehlerzahl bestimmen zu können. Die vorliegenden<br />

Daten wurden rein deskriptiv ausgewertet, um zum einen allgemeinen Überblick über<br />

die vorkommenden Fehlerarten innerhalb der Gruppen zu erhalten, zum anderen, um Versuchspersonen<br />

für die Feinanalyse auswählen zu können.<br />

2.1.2.4 Versuchspersonen der Teilstichprobe<br />

Aus der Gesamtstichprobe wurden von den monolingualen Hauptschülern (L1-H), den bilingualen<br />

Hauptschülern (L2-H) und den Sprachheilschülern (L1-S + L2-S) jeweils 20 Schüler ausgewählt,<br />

bei denen sich gehäuft Auffälligkeiten fanden. Diese wurden nach folgenden Kriterien<br />

ausgewählt:<br />

- Fehler in mindestens zwei Fehlerkategorien<br />

- höchste Anzahl eindeutiger Flexionsfehler<br />

- nach Deutschland gekommen vor dem 6. Geburtstag.<br />

Auch hier konnte die Gruppe der Schüler der Sprachheilschule nicht genügend Kinder mit<br />

Deutsch als Zweitsprache aufweisen, so dass sich die Gruppengröße leicht reduzierte. Die beiden<br />

Kinder der Gruppe L2-S werden von der Auswertung ausgeschlossen.<br />

Teilstichprobe (N=60)<br />

Die besuchte Schule<br />

ist eine…<br />

Deutsch ist…<br />

Erstsprache (L1) Zweitsprache (L2)<br />

Hauptschule (H) 20 20<br />

Sprachheilschule (S) 18 2<br />

Tabelle 2: Stichprobenverteilung in der Teilstichprobe.<br />

34


2.1.2.5 Durchführung und Transkription bei der Teilstichprobe<br />

Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Die Aufsätze der betroffenen Kinder wurden noch einmal analysiert, zudem wurden in Einzelsit-<br />

zungen mit den Kindern mündliche Daten erhoben: Die Schüler wurden gebeten, die Geschich-<br />

te anhand der Bilder noch einmal zu erzählen. Die Aufsätze der für die Teilstichprobe ausgewählten<br />

Schüler wurden orthografisch-originalgetreu abgeschrieben Eine gewisse Interpretation<br />

war dabei unumgänglich, da die Schrift einiger Kinder nur schwer zu entziffern war. Der nun<br />

digital vorliegende Text wurde in die Textverarbeitung der CLAN-Software (Computerized Language<br />

Analysis - MacWhinney 2000) übertragen. Zusätzlich wurden mündliche Daten erhoben,<br />

indem die Probanden die Bildergeschichte nacherzählten. Aus den Tonaufnahmen dieser Erzählungen<br />

wurden entsprechend der CHAT-Konventionen mit dem <strong>Programm</strong> CLAN Transkripte<br />

angefertigt.<br />

2.1.2.6 Kodierung und Auswertung bei der Teilstichprobe<br />

Für die Analyse der Morphosyntax wurden zwei Kodierungssysteme entwickelt, die auf den<br />

Kodierungs-Richtlinien CHAT des <strong>Programm</strong>s CLAN basieren und hierarchisch aufgebaut sind.<br />

Bei der Nominalflexion wurden folgende Merkmale erfasst: Die Struktur und Art der Nominalphrase,<br />

der zielsprachlich geforderte Kasus, das geforderte Genus, die Korrektheit, und bei<br />

fehlerhaften Formen die realisierte Form, soweit diese eindeutig identifizierbar war. Bei der Verbalflexion<br />

wurde die Art des Verbs, die Finitheit des Verbs, Person, Numerus, Tempus und Modus,<br />

genus verbi sowie die Korrektheit und die evtl. gegebene Fehlerart angegeben. Diese sehr<br />

feine Art der Analyse wurde gewählt, um Auffälligkeiten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ<br />

zu erfassen.<br />

Abbildung 1: Beispiel für die orthografisch-originalgetreue Übertragung und morphosyntaktische<br />

Kodierung (Auszug eines Transkripts aus der Gruppe L1-S).<br />

35


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

2.2 Ergebnisse und Interpretationen<br />

2.2.1 Fehlerzahl in den Schriftproben der Gesamtstichprobe<br />

Als globales Maß für die Neigung eines Probanden, beim Schreiben Flexionsfehler zu machen,<br />

kann die Zahl der Flexionsfehler bezogen auf die Zahl der geschriebenen Wörter verwendet<br />

werden. Dieses Maß wird als relativierte Fehlerzahl bezeichnet. 2 Schaubild 1 zeigt die Verteilung<br />

der relativierten Fehlerzahlen in den drei untersuchten Gruppen. Das Schaubild lässt erkennen,<br />

dass die relativierten Fehlerzahlen erwartungsgemäß nicht normalverteilt sind. In allen<br />

drei Gruppen, insbesondere aber in der Gruppe L2-H, finden sich ausgeprägte Ausreißer, das<br />

heißt Probanden mit weit über dem Zentralwert liegenden Fehlerzahlen. Aus diesem Grund<br />

werden bei der Auswertung ausschließlich nichtparametrische statistische Verfahren eingesetzt.<br />

Das ist ohnehin angezeigt, wenn relativierte Werte analysiert werden, da diese nur zwischen 0<br />

und 1 variieren können.<br />

Abbildung 2: Verteilung der relativierten Fehlerzahlen in den drei Gruppen L1-H, L2-H und<br />

L1-S. Eingetragen ist die Zahl der das jeweilige Intervall fallenden Probanden<br />

Die Betrachtung des Schaubildes legt nahe, dass die drei Gruppen sich in ihrer Fehlerneigung<br />

unterscheiden. Die Überprüfung mittels U-Test bestätigt, dass die relativierten Fehlerzahlen in<br />

der Gruppe L1-H signifikant unter denen der Gruppen L2-H und L1-S liegen (z = 6,86, p = 0,00<br />

bzw. z = 2,03, p = 0,02), ferner die der Gruppe L1-S unter denen der Gruppe L2-H (z = 2,39,<br />

p = 0,01). Insgesamt ergibt sich also in der Gesamtstichprobe für die untersuchten Gruppen im<br />

Blick auf die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Flexionsmerkmale beim Schreiben korrekt<br />

zu realisieren: L1-H > L1-S > L2-H. Die durchschnittliche Fehlerzahl der Zweitsprachler ist im<br />

2<br />

Davon zu unterscheiden ist der Fehleranteil, das heißt die Zahl fehlerhafter Realisierungen einer Form bezogen auf<br />

die Zahl der Fälle, in denen die Form auftritt.<br />

36


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Vergleich mit den Erstsprachlern mehr als doppelt so hoch und liegt zudem deutlich höher als<br />

bei den Sprachheilschülern. Dies bedeutet einen deutlich erhöhten Förderbedarf der Zweitsprachler,<br />

wenn dieser für diejenigen Schüler angenommen wird, deren Fehlerzahl um mehr als<br />

eine Standardabweichung vom mittleren Fehlerwert der Gesamtgruppe abweicht.<br />

durchschnittliche<br />

Fehleranzahl<br />

L1-H 3,04 6,7 %<br />

Förderbedarf<br />

L2-H 6,58 27,1 %<br />

L1-S 4,38 13,3 %<br />

(mind. 9 Fehler)<br />

Tabelle 3: Anteil von Probanden mit Förderbedarf in den Untersuchungsgruppen<br />

Aufgrund dieser Ergebnisse wurde für eine Feinauswertung aus der Gesamtstichprobe eine<br />

Teilstichprobe der leistungsschwächsten Schüler jeder Untersuchungsgruppe gezogen. Eine<br />

detailliertere Betrachtung zeigt, dass die relativierte Anzahl der Fehler in Nominalgruppen erheblich<br />

über der in verbalen Gruppen liegt. Das gilt für alle drei Probandengruppen. Bei der<br />

Bewertung dieser Tatsache muss man in Rechnung stellen, dass in Texten zu einem Verb verschiedene<br />

Nominalgruppen gehören können und dass Nominalgruppen im Unterschied zu verbalen<br />

Gruppen mehrere flektierte Einheiten umfassen können (Artikel, Nomen und Adjektive).<br />

Eine größere Zahl von Flexionsfehlern bei Nominalen ist alleine aus diesem Grund zu erwarten.<br />

Ob eine derartige von sprachstrukturellen Gegebenheiten ausgehende Erklärung ausreicht, um<br />

die höhere Zahl nominaler Flexionsfehler zu erklären, ist eine offene Frage.<br />

2.2.2 Analyse der Schriftproben in der Teilstichprobe<br />

In einem ersten Schritt sollen die Schriftproben im Hinblick auf ihre Struktur analysiert werden.<br />

Erst in einem weiteren Schritt wird eine Betrachtung der Fehler vorgenommen. Die folgenden<br />

Auswertungen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, ausschließlich auf die schriftlich<br />

erhobenen Daten der Teilstichprobe.<br />

2.2.2.1 Umfang der Schriftproben und Struktur der Nominalgruppe<br />

Der Umfang der Schriftproben betrug im Mittel etwa 200 Wörter, wobei sich weder bezogen auf<br />

die Sprachbiografie noch auf die Beschulung ein signifikanter Unterschied darstellte. Gegenstand<br />

der Analyse in dieser Untersuchung sind die Strukturen und Formen in den Nominalgrup-<br />

37


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

pen und in den verbalen Gruppen 3 . Auch bezogen auf die Anzahl der produzierten verbalen<br />

und nominalen Gruppen unterscheiden sich die Untersuchungsgruppen kaum voneinander.<br />

Erwartungsgemäß wurden etwa 1,5-fach mal mehr Nominalgruppen registriert als verbale<br />

Gruppen, da zu einem Verb mehrere Nominalgruppen gehören können. Dabei kann die Nominalgruppe<br />

unterschiedliche Komplexitäten aufweisen. Während sie im einfachsten Fall aus einem<br />

einzelnen Nomen oder Pronomen besteht, kann ihre Komplexität durch Determinativ-<br />

Elemente und Adjektive stark ansteigen. Auch in der ausgelesenen Teilstichprobe der Leistungsschwächsten<br />

aller Untersuchungsgruppen sind alle Formen vertreten, wenngleich der<br />

Anteil der Nominalphrasen mit Adjektiv-Beteiligung sehr gering erscheint. Signifikante Gruppenunterschiede<br />

treten nicht auf.<br />

Abbildung 3: Strukturkomplexität der Nominalgruppen am Beispiel der L1-HS.<br />

Bezogen auf die Variabilität der korrekt realisierten NP-Formen hinsichtlich Struktur, Kasus und<br />

Genus zeigt sich, dass ca. 90% aller Nominalgruppen von nur 20 verschiedenen Formen gebildet<br />

werden, während die Anzahl der selteneren Formen in den Untersuchungsgruppen ähnlich<br />

ist und zwischen 25 und 30 weitere Formen umfasst. In den verbalen Gruppen bilden bereits 12<br />

verschiedene Formen (nach Verbart, Tempus, Person, genus verbi) ca. 90% aller Belege ab.<br />

Zwischen 20 und 30 weitere, seltene Formen, meist mit nur einem Beleg, ergänzen das Spektrum<br />

der korrekten Formen. Eine auffällige Formenbeschränkung, wie sie für sprachentwicklungsgestörte<br />

Kinder im postdysgrammatischen Stadium (Dannenbauer 2002) zu erwarten wäre,<br />

konnte hier im Vergleich der leistungsschwachen Untersuchungsgruppen nicht nachgewiesen<br />

werden.<br />

3 Mit dem Ausdruck verbale Gruppe sind voneinander abhängige verbale Einheiten gemeint wie hat … gesehen im Satz<br />

Sie hat leider den Löwen nicht gesehen oder wird … gehabt haben in Er wird Fieber gehabt haben. Sie werden auch als<br />

verbale Kette (Bech 1983) oder verbale Teile (Glinz 1975) bezeichnet. Nicht gemeint sind Verbalphrasen im Sinne der<br />

Konstituentenstrukturgrammatik (in den aufgeführten Beispielen wären das den Löwen gesehen bzw. Fieber gehabt).<br />

38


2.2.2.2 Besondere Fehlerbereiche<br />

Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Die Überlegung zur unterschiedlichen Fehlerhäufigkeit im nominalen und verbalen Bereich<br />

macht deutlich, dass man bei Versuchen, das Zustandekommen von Flexionsfehlern zu erklären,<br />

kognitive Prozesse in Zusammenhang mit sprachstrukturellen Gegebenheiten betrachten<br />

muss. Aus diesem Grund werden im Folgenden zwei strukturell abgrenzbare Bereiche der Flexion<br />

anhand der Daten genauer analysiert: die Kasushierarchie und Formbildungsfehler bei<br />

Verben. Als Kasushierarchie wird die Abstufung von Kasus nach dem Grad ihrer Markiertheit<br />

bezeichnet. Im Blick auf die syntaktischen Bedingungen, unter denen ein Kasus zugewiesen<br />

wird, kann unterschieden werden zwischen dem Nominativ, der als Default-Fall realisiert wird,<br />

und den obliquen Kasus Akkusativ und Dativ, die nur unter besonderen konfigurationellen Bedingungen<br />

auftreten. Im Blick auf die phonologische Komplexität der Kasusformen steigt der<br />

Grad der Merkmalshaltigkeit vom Nominativ über den Akkusativ zum Dativ (jedenfalls gilt das<br />

für das Maskulinum). Insgesamt ergibt sich die Markiertheitsfolge (Kasushierarchie): Nom ><br />

Akk > Dat. Diese Hierarchie entspricht der Häufigkeit, mit der Kasusformen in geschriebenen<br />

Texten auftreten (zusammenfassend zur Kasushierarchie vgl. Eisenberg 1999). Ihr folgt ferner<br />

das Auftreten von Kasusformen im Spracherwerb, sowohl im erstsprachlichen (Clahsen 1988,<br />

Szagun 2006) wie im zweitsprachlichen (Diehl u. a. 2000). 4 In der Literatur finden sich Hinweise<br />

darauf, dass Kasusfehler in geschriebenen Schülertexten in der Regel durch die Ersetzung<br />

einer merkmalshaltigen Form durch eine weniger merkmalshaltige entstehen (Delius/Voigt<br />

1990). Wo ein Dativ erfordert ist, wird also eine Akkusativ- oder Nominativform realisiert, und wo<br />

ein Akkusativ stehen muss, erscheint eine Nominativform. Der umgekehrte Fall (Ersetzung einer<br />

Nominativ- durch eine Akkusativ- oder Dativform bzw. einer Akkusativ- durch eine Dativform)<br />

tritt selten auf. Das lässt sich in der Hypothese zusammenfassen, dass Kasusfehler in<br />

geschriebenen Schülertexten der Kasushierarchie folgen. Differenzierte Angaben über die Übergänge<br />

von einem Kasus zu den anderen lassen sich für die Teilstichprobe machen. Diese<br />

Übergänge verteilen sich dort wie folgt:<br />

Form<br />

ist …<br />

Form wird realisiert als …<br />

Nom Akk Dat<br />

Nom 1311 1 0<br />

Akk 60 541 14<br />

Dat 18 117 277<br />

Tabelle 4: Realisierungen von Kasusformen in der Teilstichprobe.<br />

4 Der Genitiv ist nicht aufgeführt, da er im heutigen Deutsch praktisch nur noch als Attributs-, nicht mehr als Objektkasus<br />

verwendet wird und somit nicht mehr in klar umrissener Opposition zu den Objektkasus steht. In seiner attributiven<br />

Verwendung fällt er rein formal aus der Reihe der Objektkasus heraus, da er durch eine Präpositionalgruppe ersetzbar<br />

ist (die Angst des Tormanns – die Angst von dem Tormann). In den Daten der vorliegenden Untersuchung spielen<br />

Genitiv-Fehler keinerlei Rolle.<br />

39


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Die Daten sprechen dafür, dass Übergänge zwischen den Kasusformen der Kasushierarchie<br />

folgen. Die hierarchiekonformen Übergänge (linke untere Hälfte der Matrix) überwiegen deutlich<br />

gegenüber den nicht hierarchiekonformen (rechte obere Hälfte). Das wird durch einen Wilcoxon-Test<br />

bestätigt (z = -6,06, p = 0,00). 5 Es gilt für alle drei Probandengruppen (vgl. Tabelle 7<br />

unten). Darüber hinaus legen die in der Tabelle wiedergegebenen Zahlen den Eindruck nahe,<br />

dass Übergänge zwischen Kasusformen nicht nur einem Hierarchie-, sondern auch einem Näheprinzip<br />

folgen. Das heißt, dass eine fehlerhafte Dativrealisierung häufiger darin besteht, dass<br />

eine Akkusativform verwendet wird als eine Nominativform. Das ist, wie im Folgenden gezeigt<br />

wird, vermutlich ein Artefakt, dessen Betrachtung jedoch aufschlussreich ist. Der weitaus größte<br />

Teil der in Tabelle 4 erfassten Fehler betrifft maskuline Nominale. Soweit diese mit bestimmtem<br />

Artikel auftreten, kann ein das Näheprinzip verletzender Übergang vom Dativ zum Nominativ<br />

nicht beobachtet werden, da er als Genusfehler interpretiert werden würde (Ich habe mein Buch<br />

*der Mann gegeben). Solche Übergänge sind im Maskulinum also nur bei Nominalen mit unbestimmtem<br />

Artikel oder Possessivpronomen möglich (Ich habe mein Buch *ein Mann/*dein Mann<br />

gegeben). Im Femininum und Neutrum fallen Akkusativ- und Nominativformen zusammen. Übergänge<br />

vom Dativ zu dieser Form sind in der Tabelle grundsätzlich dem Akkusativ zugeschlagen.<br />

Insgesamt ergibt sich, dass die Frage, ob Kasusfehler außer durch ein Hierarchieauch<br />

durch ein Näheprinzip determiniert sind, anhand einer gesonderten Betrachtung von maskulinen<br />

Nominalen mit unbestimmtem Artikel oder Possessivpronomen überprüft werden müsste.<br />

Auf der Basis der vorliegenden Datenkodierung ist das nicht möglich. Eine solche gesonderte<br />

Betrachtung wäre auch im Femininum und im Neutrum von Interesse, wenn auch aus anderen<br />

Gründen. Hierarchiekonforme Kasusübergänge im Maskulinum sind generell als Abbau<br />

phonologischer Komplexität beschreibbar. Im Femininum und Neutrum gilt Gleiches für Nominale<br />

mit unbestimmtem Artikel oder Possessivpronomen (Ich habe mein Buch *eine Frau/*ein Kind<br />

geliehen), kaum aber für Nominale mit bestimmtem Artikel (Ich habe mein Buch *die Frau/*das<br />

Kind gegeben) und Pronomen (Ich habe *sie das gegeben). Der Vergleich der Auftretenshäufigkeiten<br />

von hierarchiekonformen Kasusübergängen bei den zuerst und den zuletzt genannten<br />

Nominalen im Femininum oder Neutrum könnte also Aufschlüsse darüber geben, ob die Hierarchiekonformität<br />

von Kasusfehlern generell als Ergebnis phonologisch bedingter Prozesse beschreibbar<br />

ist oder ob auch syntaktische Leistungen daran beteiligt sind. Auch die (selten auftretenden)<br />

nicht hierarchiekonformen Kasusübergänge könnten insofern Aufmerksamkeit verdienen,<br />

als sie jedenfalls kaum phonologisch erklärbar sind. Es ist auf den ersten Blick naheliegend,<br />

Flexionsfehler bei finiten Verben in einem ähnlichen Schema zu erfassen, indem man<br />

Übergänge von einer Personalform zu den anderen auszählt. Tabelle 5 enthält eine Übersicht<br />

zu den Übergängen im Präsens Singular.<br />

5 Eine Signifikanzprüfung ist auf der Grundlage der zur der Analyse von Kontingenztafeln gebräuchlichen χ²-Statistiken<br />

nicht möglich, da die in der Tabelle erfassten Werte voneinander abhängig sind. Sie wird hier personenweise vorgenommen,<br />

indem für jeden Probanden der Teilstichprobe der Anteil hierarchiekonformer und der Anteil nicht hierarchiekonformer<br />

Übergänge an der Gesamtzahl der Nominalgruppen gegenübergestellt wird.<br />

40


Form ist …<br />

(Person)<br />

Form wird realisiert als … (Person)<br />

1. 2. 3.<br />

1. 30 0 1<br />

2. 1 24 0<br />

3. 7 2 517<br />

Tabelle 5: Realisierung von Personalformen in der Teilstichprobe.<br />

Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Das wesentliche Ergebnis ist, dass Übergänge zwischen Formen eines Paradigmas bei Verben,<br />

anders als bei Nominalen, selten sind. 6 Ein ebenso häufiger Fehler bei der Flexion von Verben<br />

besteht darin, dass eine Form nach einem falschen Paradigma gebildet wird, indem etwa unregelmäßige<br />

Verben regularisiert oder regelmäßige irregularisiert werden (Sie *gehte nach Hause<br />

bzw. Sie *sägte nichts dazu). Zusammengenommen sind in der Verbflexion fehlerhafte Formbildungen<br />

bei den Probanden der Teilstichprobe signifikant häufiger als Formverwechslungen<br />

innerhalb des Paradigmas, wie sie in der Nominalflexion überwiegen (Wilcoxon-Test; z = 2,62; p<br />

= 0,00). Das ist allerdings nicht in allen Probandengruppen der Fall (vgl. Tabelle 8 unten).<br />

Der beschriebene Unterschied zwischen verbalen und nominalen Flexionsfehlern dürfte zumindest<br />

zum Teil dadurch erklärbar sein, dass es in der deutschen Nominalflexion zwar verschiedene<br />

Flexionsklassen, aber keine unregelmäßigen Flexionsformen gibt, während solche im<br />

verbalen Bereich verbreitet sind. Er ist deshalb von Interesse, weil die Zuordnung eines Verbs<br />

zu einem regelmäßigen oder unregelmäßigen Flexionsparadigma eine Frage des lexikalischen<br />

Wissens ist. In Verbindung mit den Überlegungen zur Kasushierarchie ergibt sich insgesamt,<br />

dass bei der Erklärung von Flexionsfehlern Prozesse und Bedingungen auf drei Ebenen in Betracht<br />

gezogen werden müssen:<br />

- lexikalische Ebene: Eine Form wird falsch gebildet, da die richtige Form nicht oder nur unzureichend<br />

bekannt ist.<br />

- syntaktische Ebene: Die korrekte Realisierung einer Form bleibt aus, weil nicht erkannt oder<br />

nicht berücksichtigt wird, dass die syntaktischen Bedingungen für ihre Verwendung gegeben<br />

sind.<br />

- phonologische Ebene: Die Bildung einer Form misslingt, weil sie in Konkurrenz zu anderen,<br />

ähnlichen Formen gerät, oder weil sie einem Komplexitätsabbau unterliegt.<br />

6 Das gilt für das Präsens Singular. In anderen Tempora kommen sie, jedenfalls in den vorliegenden Daten, jedoch<br />

überhaupt nicht vor, und im Präsens Plural sind sie auch selten. Der häufigste Fall eines paradigmeninternen Formwechsels<br />

in den Daten besteht darin, dass eine Form, die in der 3. Person Plural Präteritum erscheinen müsste, als 3.<br />

Person Singular Präteritum realisiert wird. Das ergibt sich vermutlich aus Konstruktionen, in denen die Koordination<br />

zweier Nominale im Singular als Subjekt fungiert (Der Junge und der Hund *ging nach Hause). Auch diese Fälle sind<br />

jedoch selten (ähnlich Keller 1980).<br />

Die in Tabelle 6 vergleichsweise hoch erscheinende Zahl von Übergängen von der 3. Person Singular Präsens zur 1.<br />

Person Singular Präsens mag zu irreführenden Interpretationen verleiten. Sie ergibt sich daraus, dass hier Fälle gezählt<br />

wurden, in denen eine Form in der 3. Person Singular Präsens als Stamm realisiert wird (Der Junge *geh nach Hause).<br />

41


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Es ist allerdings sicherlich nicht angezeigt, alleine daraus, dass ein Proband Flexionsfehler<br />

macht, ohne Weiteres auf ein syntaktisches Defizit zu schließen – selbst wenn solche Fehler<br />

bei ihm in größerem Umfang auftreten.<br />

2.2.2.3 Vergleich der Probandengruppen<br />

In der Gesamtstichprobe lässt sich, wie erwähnt, eine klare Abfolge zwischen den Probandengruppen<br />

feststellen, was die relativierten Fehlergesamtzahlen angeht (L1-H > L1-S > L2-H). Der<br />

Unterschied zwischen den Gruppen L1-H und L1-S ist in der Teilstichprobe, für die gezielt Probanden<br />

mit hohen relativierten Fehlerzahlen herausgesucht wurden, nivelliert (U-Test; u =<br />

175,5, n1 = 20, n2 = 18, p > 0,05), während die Unterschiede beider Gruppen zur zweitsprachlichen<br />

Gruppe L2-H dort weiterbestehen (u = 57, n1 = 20, n2 = 20, p < 0,002 bzw. u = 7, n1 = 20,<br />

n2 = 18, p < 0,002). Die zur Gesamtstichprobe vorliegenden kodierten Daten lassen einen<br />

Gruppenvergleich für einige in relativierte Fehlerzahlen transformierte Variablen zu. Das Ergebnis<br />

dieses Vergleichs gibt Tabelle 6 in summarischer Form wieder (auf die Angabe der Teststatistiken<br />

im Einzelnen wird verzichtet).<br />

L1-H vs. L2-H L1-H vs. L1-S L2-H vs. L1-S<br />

Fehler Dativformen s. s. n. s.<br />

bei … Akkusativformen n. s. n. s. n. s.<br />

Subjekt-Verb-<br />

Kongruenz<br />

s. s. n. s.<br />

Auslassungen s. n. s. n. s.<br />

Tabelle 6: Vergleich der relativierten Fehlerzahlen bei verschiedenen Fehlerbereichen für<br />

die Probandengruppen L1-H, L2-H und L1-S der Gesamtstichprobe. (s. – Unterschied<br />

signifikant, n. s. – Unterschied nicht signifikant (U-Test))<br />

Es gibt deutliche Gruppenunterschiede bei den Dativformen, nicht dagegen bei den Akkusativformen.<br />

Denkbar ist, dass die Erstsprachler in größerer Zahl und konsequent Akkusativformen,<br />

die im schriftsprachlichen Gebrauch fehlerhaft sind, aus ihrem sprechsprachlichen Repertoire in<br />

den Text übernommen haben („mündlicher Akkusativ“). Die bei den Zweitsprachlern vergleichsweise<br />

erhöhten Anzahlen von Auslassungen könnten interferenzbedingt sein (Auslassungen<br />

von Artikeln bei Sprechern des Russischen, von Präpositionen bei Sprechern des Türkischen,<br />

von Pronomen bei Sprechern des Italienischen). Insgesamt bleiben als die bemerkenswertesten<br />

Unterschiede die im Vergleich zur Gruppe L1-H erhöhten Fehlerzahlen der<br />

Gruppen L2-H und L1-S bei Dativen und in der Subjekt-Verb-Kongruenz. Diese beiden Fehlertypen<br />

können den oben erörterten Bereichen der Kasushierarchie und der Formbildung bei<br />

Verben zugeordnet werden. Die unter dem Stichwort Subjekt-Verb-Kongruenz zusammenge-<br />

42


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

fassten Fehler stellen sich dar als paradigmeninterne Formübergänge, wie sie für den speziel-<br />

len Fall des Präsens Singular in Tabelle 5 zusammengestellt sind.<br />

Die in Tabelle 6 ausgewiesenen Gruppenunterschiede sind in der Teilstichprobe, in welcher alle<br />

Gruppen durch Probanden mit hohen Fehlerzahlen vertreten sind, nivelliert. Das legt nahe,<br />

dass die betrachteten Typen von Flexionsfehlern, auch Dativ- und Kongruenzfehler, nicht als<br />

inhärent charakteristisch für bestimmte Probandengruppen betrachtet werden sollten (seien es<br />

Zweitsprachler oder Sprachheilschüler), sondern einfach bei Probanden mit hohen Fehlerzahlen<br />

gehäuft auftreten. 7 Aufgrund der differenzierteren Kodierung in der Teilstichprobe können<br />

dort Gruppenvergleiche für weitere Variablen, die in Form von Fehleranteilen vorliegen, durchgeführt<br />

werden. Sie ergeben als den einzigen signifikanten Unterschied, dass die Zahl der Genusfehler<br />

in der Gruppe der Zweitsprachler höher ist als in beiden Erstsprachler-Gruppen (u =<br />

5, n1 = 20, n2 = 20, p < 0,002 für den Vergleich L1-H vs. L2-H und u = 7, n1 = 18, n2 = 20, p <<br />

0,002 für den Vergleich L1-S vs. L2-H). Das ist nicht erstaunlich, da das Auftreten von Genusfehlern<br />

ein bekanntes Spezifikum des Zweitspracherwerbs ist, das im Erstspracherwerb selten<br />

beobachtet wird (Szagun 2006). 8 Im Fazit lässt sich mit Blick auf die erhobenen Daten sagen,<br />

dass bei in etwa gleicher Zahl von Flexionsfehlern gruppenspezifische Fehlerarten bei Zweitsprachlern<br />

zu finden sind (Genus- und Auslassungsfehler). Für Erstsprachler der Sprachheilschule<br />

können gruppenspezifische Fehlerarten anhand der Daten dagegen nicht festgestellt<br />

werden. Dennoch ist bei näherer Betrachtung dieser Gruppe eine abweichende Fehlercharakteristik<br />

in den beiden unter 2.2 analysierten Fehlerbereichen erkennbar. Das soll im Folgenden<br />

verdeutlicht werden. Wie beschrieben, ist in allen drei Probandengruppen die Zahl hierarchiekonformer<br />

Kasusfehler signifikant höher als die nicht hierarchiekonformer. Der Grad der Ausprägung<br />

dieses Kontrasts ist jedoch nicht überall gleich. Vergleicht man das Auftreten hierarchieverträglicher<br />

und hierarchieunverträglicher Kasusfehler (Fehleranteile) für alle drei Gruppen<br />

gleichzeitig in einem nichtparametrischen Modell, so ergibt sich, dass der Grad der Hierarchiekonformität<br />

zwischen den Gruppen differiert. Der Unterschied ist, wie Tabelle 7 zeigt, signifikant.<br />

7 Eine Ausnahme betrifft die Auslassungen, bei denen auch in der Teilstichprobe ein signifikanter Unterschied zwischen<br />

den Gruppen L1-H und L2-H besteht (u = 120, n1 =20, n2 = 20, p < 0,05). Das ist im Blick auf die anzunehmenden<br />

sprachlichen Interferenzen nicht überraschend.<br />

8 Ein weiterer, knapp signifikanter Unterschied besteht in der Teilstichprobe zwischen den erstsprachlichen Hauptschülern<br />

und den erstsprachlichen Sprachheilschülern bei den Kasusfehlern, und zwar zugunsten der letzteren (u = 111,<br />

n1 = 20, n2 = 18, p < 0,05). Die bereits erörterten Befunde legen als Erklärung dafür nahe, dass es eine gewisse Zahl<br />

von erstsprachlichen Hauptschülern gibt, die in die Teilstichprobe vor allem durch eine hohe Zahl von „mündlichen<br />

Akkusativen“ gelangt sind.<br />

43


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Gruppenzugehörigkeit<br />

(L1-H vs. L2-H vs. L1-S)<br />

Fehlerart<br />

(hierarchieverträglich vs. hierarchieunverträglich)<br />

B df p<br />

0,47 1 0,60<br />

163,74 1 0,00<br />

Gruppenzugehörigkeit * Fehlerart 6,47 1 0,00<br />

Tabelle 7: Hierarchieverträgliche und -unverträgliche Kasusfehler in verschiedenen Probandengruppen<br />

der Teilstichprobe. Nichtparametrisches Modell nach Brunner/Langer<br />

(1999). B – Rangstatistik (Box type), df – Freiheitsgrad, p – Wahrscheinlichkeit<br />

unter der Nullhypothese der Gleichverteilung.<br />

Der Faktor Gruppenzugehörigkeit ist, wie die erste Zeile ausweist, nicht signifikant wirksam.<br />

Das bedeutet, dass die Gruppen sich in der Teilstichprobe hinsichtlich der Gesamtzahl der Kasusfehler<br />

nicht unterscheiden. Der Faktor Fehlerart ist signifikant (zweite Zeile). Darin kommt<br />

zum Ausdruck, dass die Zahl hierarchiekonformer Fehler die nicht hierarchiekonformer deutlich<br />

überwiegt. Für die gegebene Fragestellung ausschlaggebend ist die dritte Zeile, aus der hervorgeht,<br />

dass Gruppenzugehörigkeit und Fehlerart signifikant interagieren. Während bei den<br />

Hautschülern nur 2,5% (L1-H) bzw. 4,2% (L2-H) aller Kasusübergänge hierarchieunverträglich<br />

sind, sind es bei den Sprachheilschülern (L1-S) 23,3%. Abbildung 4 verdeutlicht den Unterschied<br />

anhand der vom Modell berechneten relative treatment effects (RTE), die im Wesentlichen<br />

dem durchschnittlichen Rangplatz auf jeder Faktorstufe bzw. Kombination von Faktorstufen<br />

entsprechen und Werte zwischen 0 und 1 annehmen können.<br />

Abbildung 4: Hierarchiekonforme und nicht hierarchiekonforme Übergänge bei Kasuswechseln<br />

in verschiedenen Probandengruppen der Teilstichprobe, angegeben als<br />

RTE (relative treatment effects).<br />

44


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Kasusübergänge, die der Kasushierarchie zuwiderlaufen, sind kaum als phonologisch bedingte<br />

Fehler interpretierbar. Der vergleichsweise hohe Anteil solcher Übergänge in der Gruppe der<br />

erstsprachlichen Sprachheilschüler könnte deshalb ein Hinweis auf die Wirksamkeit spezifisch<br />

ablaufender syntaktischer Verarbeitungsprozesse sein. Er muss allerdings nicht zwingend so<br />

interpretiert werden. Denkbar ist, dass Fehler dieses Typs ein Ergebnis von Hyperkorrekturen<br />

beim Schreiben sind. Sie würden dann dafür sprechen, dass es unter den untersuchten Schülern<br />

der Sprachheilschule solche gibt, die beim Schreiben ihre Aufmerksamkeit in starkem Maß<br />

auf formale Merkmale richten. In diesem Fall könnten sie ein Resultat der besonderen Beschulung<br />

der Gruppe sein. Ein zweiter Unterschied zwischen den Schülern der Sprachheilschule und<br />

denen der anderen Probandengruppen betrifft ebenfalls nicht eine einzelne Variable, sondern<br />

das Verhältnis zweier Variablen. Wie beschrieben, treten im verbalen Bereich paradigmeninterne<br />

Formvertauschungen, wie sie als Fehler in der Subjekt-Verb-Kongruenz in Erscheinung treten,<br />

seltener auf als paradigmenüberschreitende Formbildungsfehler. Das gilt für die Teilstichprobe<br />

als Ganze, nicht aber für alle Probandengruppen, wie die Tabelle 8 zeigt.<br />

T n p<br />

L1-H 8 13 0,01<br />

L2-H 9,5 11 0,03<br />

L1-S 38,5 12 0,97<br />

Tabelle 8: Wilcoxon-Test zum Vergleich von Formverwechslungen und Formfehlbildungen<br />

bei finiten Verben (Fehleranteile) in der Teilstichprobe.<br />

Bei den Schülerinnen und Schülern der Sprachheilschule gibt es, anders als in den beiden anderen<br />

Gruppen, keinen Unterschied zwischen der Häufigkeit des Auftretens von Kongruenzund<br />

Formbildungsfehlern. Das ist deshalb von Interesse, da es dafür sprechen könnte, dass die<br />

Verfügung über lexikalisches Wissen in ihrem Fall beim Zustandekommen von verbalen Flexionsfehlern<br />

im Vergleich zu syntaktischen Prozessen seltener eine kritische Rolle spielt als bei<br />

den untersuchten Hauptschülern. Hinsichtlich des Verhältnisses von Formverwechslungen und<br />

Formfehlbildungen unterschreitet allerdings die Wahrscheinlichkeit für die mittels nichtparametrischem<br />

Modell nach Brunner/Langer (1999) errechnete Interaktion zwischen Gruppenzugehörigkeit<br />

und Fehlerart nicht die Signifikanzgrenze (B = 1,69, df = 1, p = 0,19). Eine Dateninspektion<br />

legt zudem nahe, dass die – gemessen an den sonstigen Formbildungsfehlern – vergleichsweise<br />

hohe Zahl an Kongruenzfehlern bei den Sprachheilschülern vor allem auf ausgeprägt<br />

hohe Fehlerzahlen bei einigen wenigen Probanden zurückgeht. Es muss also offen bleiben,<br />

ob und in welchem Ausmaß sie tatsächlich für die Gruppe der erstsprachlichen Sprachheilschüler<br />

als Ganze charakteristisch ist.<br />

2.2.2.4 Einbezug der mündlichen Sprachproduktion<br />

Der folgende Gruppenvergleich bezieht auch die Analysen der mündlichen Nacherzählung ein,<br />

wie sie in der Teilstichprobe der Leistungsschwächeren erhoben worden sind. Für die verbale<br />

Gruppe zeigt das Gesamtergebnis, dass die durchschnittliche Fehlerzahl der bilingualen Kinder<br />

45


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

(2,95) gegenüber den monolingualen Kindern (2,9) nur leicht erhöht ist und unter der Fehlerzahl<br />

der sprachbehinderten Kinder (3,4) liegt. Als Besonderheit der Gruppe L2-H fällt auf, dass ausschließlich<br />

in dieser Teilgruppe die meisten Fehler auf Modalverben fallen, zu deren Charakteristika<br />

die stets unregelmäßige Bildung gehört. Auch hier zeigt sich das schon erwähnte Phänomen,<br />

das später an weiteren Aspekten sichtbar wird: irreguläre Formen scheinen mehrsprachigen<br />

Kindern tendenziell mehr Probleme zu bereiten. Bei ihnen machen Formfehler einen<br />

großen Anteil der produzierten Fehlbildungen in der Verbalphrase aus. Diese bestehen zu etwa<br />

90% aus Regularisierungen unregelmäßiger Verben oder falsch gebildeten irregulären Formen.<br />

Bei den mündlichen Äußerungen wird diese Fehlerquelle in der Verbalphrase noch durch Auslassungen<br />

übertroffen; dies könnte auf das gegenüber der geschriebenen Sprache geringere<br />

Sprachbewusstsein bei der Produktion zurückzuführen sein. Demgegenüber bereiten die regelgeleiteten<br />

Bildungen im Bereich der Subjekt-Verb-Kongruenz mehrsprachigen Schülern deutlich<br />

weniger Probleme. Hier könnte sich möglicherweise ein Unterscheidungsmerkmal für die Abgrenzung<br />

eines normal verlaufenden Zweitspracherwerbs und einer Spracherwerbsstörung<br />

herauskristallisieren.<br />

Die für die schriftliche Sprachproduktion in allen Teilgruppen festgestellte höhere Fehleranfälligkeit<br />

der Nominalgruppe gegenüber der verbalen Gruppe zeigt sich auch bei der Analyse der<br />

mündlichen Sprache. Hier stellte sich als größte Fehlerquelle (46,94 % der Fehler in der Nominalphrase)<br />

allerdings bei den mehrsprachigen Kindern die Gruppe der als „weitere Fehler“ zusammengefassten<br />

Fehler heraus, zu denen beispielsweise Auslassungen, Pluralformen und<br />

falsch gewählte Präpositionen zählten. In den anderen Gruppen betrafen die meisten Fehler<br />

hingegen die Dativmarkierung. Dies traf allerdings auch für mehr als 40% der Fehler in der Nominalphrase<br />

in den mündlichen Äußerungen der mehrsprachigen Kinder zu. Zusammenfassend<br />

zeigten die mehrsprachigen Schüler der Teilstichprobe in der mündlichen Sprachproduktion<br />

- signifikant weniger korrekte Nominalphrasen als die L1-H<br />

- signifikant weniger korrekte Kasusmarkierungen als L1-H und L1-S<br />

- signifikant weniger korrekte Dativmarkierungen als L1-H und L1-S<br />

und weisen dabei ein anderes Fehlerprofil auf: Genusfehler finden sich in größerem Maße überhaupt<br />

nur in der bilingualen Gruppe und stellen die Hauptfehlerquelle in der Nominalphrase<br />

dar. Akkusativfehler hingegen sind – wie auch bei den einsprachigen Hauptschülern und den<br />

Sprachheilschülern – selten. Fehler finden sich nur in 3% aller von den mehrsprachigen Schülern<br />

mündlich produzierten Akkusativkontexte. Im Gegensatz dazu kommen bei den mehrsprachigen<br />

Schülern der Teilstichprobe Dativfehler in großer Häufigkeit vor: sie finden sich in 41 %<br />

der produzierten Dativkontexte (L1-H: 17%, L1-S: 18%). Eine Besonderheit, die ausschließlich<br />

bei den mehrsprachigen Schülern vorliegt, besteht in der Abhängigkeit der Fehlerhäufigkeit vom<br />

Kontext: 74% ihrer Dativfehler treten im Zusammenhang mit Präpositionen auf. Es fällt auf, dass<br />

bei den mehrsprachigen Schülern wenige Fehlerkategorien einen großen Teil der Fehler ausmachen:<br />

diese betreffen den bestimmten Artikel (Genus und Dativ), die Pronomen sowie die<br />

Pluralformen der Nomen. Die hierfür erforderlichen Kompetenzen müssten daher im Zentrum<br />

der Förderung stehen und würden bei eintretendem Fördererfolg die Fehlerzahl bereits deutlich<br />

verringern. Die Kasusmarkierung erfordert dabei ein Regellernen, die Genuszuweisung sowie<br />

46


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

die Verwendung der Pluralformen hingegen ein eher lexikalisches Lernen. Wie bereits für die<br />

Verben gezeigt, spricht auch die Analyse der Nominalphrasen für die Notwendigkeit eines veränderten,<br />

erweiterten lexikalischen Lernens.<br />

2.2.3 Fazit<br />

Die Ergebnisse lassen sich für die einzelnen Probandengruppen wie folgt zusammenfassen. In<br />

der Gruppe der zweitsprachlichen Hauptschüler sind unter allen untersuchten Gruppen die<br />

weitaus meisten Flexionsfehler zu verzeichnen. Für diese Gruppe lassen sich spezifische Fehlerarten<br />

angeben, die in naheliegender Weise mit den Bedingungen ihres sprachlichen Lernprozesses<br />

in Zusammenhang gebracht werden können (Genus- und Auslassungsfehler). Sie teilt<br />

darüber hinaus charakteristische Fehlerschwerpunkte wie Dativ- und Kongruenzfehler mit<br />

schwachen Schülern der anderen Gruppen. Sprechsprachliche Flexionsfehler von Zweitsprachlern<br />

sind in der englischsprachigen Literatur mit der Formel „more errors of ommission than<br />

errors of commission“ beschrieben worden. Das bedeutet, dass sie eher durch das Ausbleiben<br />

flexivischer Markierungen als durch die Verwendung fehlerhafter Markierungen gekennzeichnet<br />

sind (Genesee u. a. 2004, 123). Nach Genesee u. a. gilt diese Formel für zweitsprachliche ebenso<br />

wie für sprachentwicklungsgestörte Kinder. Im Blick auf das geschriebene Deutsch lässt<br />

sich eine solche Aussage anhand der vorliegenden Daten nicht uneingeschränkt bestätigen.<br />

Genusmarkierungen sind im Deutschen obligatorisch, so dass ein Fehler des Typs ommission<br />

praktisch nicht auftreten kann. 9 Als Folge davon wird stets eine Kasusform realisiert. Hinsichtlich<br />

der verbalen Flexion nehmen die zweitsprachlichen Probanden an dem allgemeinen Trend<br />

zu paradigmenübergreifenden Formveränderungen teil, was zur Verwendung eindeutig markierter<br />

Formen führt (insbesondere von Regularisierungen bei unregelmäßigen Verben).<br />

Bei den leistungsschwächeren Probanden der Gruppe erstsprachlicher Schüler aus Sprachheilschulen<br />

lässt sich – jedenfalls in den vorliegenden Daten – kein Fehlerprofil erkennen, das sie<br />

von erstsprachlichen Hauptschülern mit gleich ausgeprägter Fehlerneigung unterscheidet. Die<br />

Daten sprechen dafür, dass die Annahme einer spezifisch syntaktischen Bedingtheit von Flexionsfehlern<br />

in dieser Gruppe mit Vorsicht zu betrachten ist. Hinweise darauf könnten in Verschiebungen<br />

in der relativen Häufigkeit von Fehlerarten, welche sich bei ihr finden, gesehen<br />

werden, nämlich in einer vergleichsweise hohen Anzahl von hierarchieunverträglichen Kasusfehlern<br />

und einer relativ verstärkten Frequenz von Kongruenzfehlern gegenüber Formbildungsfehlern<br />

bei Verben. Jedoch sind diese Befunde entweder quantitativ nur begrenzt überzeugend<br />

(Kongruenzfehler) oder inhaltlich auch als Ergebnis der besonderen Beschulungsbedingungen<br />

erklärbar (Kasusfehler).<br />

Im Blick auf die erstsprachlichen Hauptschülerinnen und -schüler wirft die Feststellung, dass es<br />

eine leistungsschwache Gruppe unter ihnen gibt, die sich weder in der Gesamtfehlerzahl noch<br />

im Fehlerprofil von dem leistungsschwächeren Teil der Spracheilschüler unterscheidet, pädagogische<br />

wie bildungspolitische Fragen auf. Es ist in der Literatur die Vermutung geäußert worden,<br />

dass es unter den Schülern von Regelschulen einen Anteil von bis zu 5% Kindern mit einer<br />

9 Das gilt jedenfalls im schriftsprachlichen Gebrauch. Im sprechsprachlichen Gebrauch von Zweitsprachlern lässt sich<br />

gelegentlich der Versuch beobachten, genus-unmarkierte Artikelformen zu verwenden (Einheitsartikel de).<br />

47


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

latenten, nicht erkannten Sprachentwicklungsstörung (hidden language impairment) gibt (Nation<br />

u. a. 2004). Die in der vorliegenden Untersuchung gefundene Verteilung der Anzahl von Flexionsfehlern<br />

weist in der Gruppe der erstsprachlichen Hauptschüler, nicht anders als in der der<br />

Sprachheilschüler, einzelne Ausreißer-Probanden auf, die durch ungewöhnlich hohe Fehlerraten<br />

gekennzeichnet sind. Mit Blick auf diese Kinder ist die diagnostische Fragestellung des vorliegenden<br />

Projekts von besonderer Bedeutung. Dessen Ergebnisse sprechen dafür, dass die<br />

Auswertung von Flexionsfehlern in geschriebenen Schülertexten durchaus differenzierte Hinweise<br />

auf Förderbedarf geben kann. Sie legen nahe, dass zweitsprachliche wie dialektsprechende<br />

Schüler sich durch gruppenspezifische Fehler auszeichnen. Darüber hinaus weisen sie<br />

keine gruppenspezifischen Fehlerarten nach, wohl aber eine Schwierigkeitsskala von Flexionsbereichen,<br />

auf der Kongruenz- und Dativfehler diagnostisch relevante Punkte darstellen. Diese<br />

Skala kann, wie die Daten vermuten lassen, eher als metrisches, weniger als ein klassifikatorisches<br />

Instrument eingesetzt werden. Es ist, mit anderen Worten, nicht das Auftreten von bestimmten<br />

Fehlern als solches, sondern deren Häufung, was Beachtung finden sollte.<br />

In den letzten Jahren ist die Notwendigkeit einer gezielten sprachlichen Förderung mehrsprachiger<br />

Kinder zunehmend erkannt worden und schlägt sich in einer Ausweitung entsprechender<br />

Förderangebote nieder. Dabei sind Schwerpunkte auszumachen, die zum einen das Alter, zum<br />

anderen den Inhalt der Förderung betreffen. In Bezug auf das Alter liegt dieser Schwerpunkt<br />

aktuell deutlich im Vorschulbereich und hat hier unbestritten eine zentrale Bedeutung: ein erfolgreiches<br />

schulisches Lernen setzt unverzichtbar sprachliche Kompetenzen im Verständnis<br />

und in der Produktion der Unterrichtssprache voraus. In Bezug auf den Inhalt der Förderung<br />

liegt der Schwerpunkt auf der Kommunikationsfähigkeit, also der Sprachhandlungskompetenz,<br />

um mehrsprachigen Kindern Wege zu öffnen, um sich zu verständigen, sich auszudrücken, zu<br />

verstehen, mitzuspielen. Diese Aspekte sind den BICS (basic interpersonal communicative<br />

skills) zuzurechnen und beziehen sich schwerpunktmäßig auf situationsgebundene, basale<br />

sprachlich-kommunikative Fähigkeiten. Demgegenüber stehen bislang sprachformale Aspekte,<br />

die für die CALP (cognitive academic language proficiency) relevant und in höherem Maße situations-<br />

und erfahrungsungebunden, aber von hoher Relevanz für den Schulerfolg sind, eher im<br />

Hintergrund der Förderpraxis. In erster Linie wird dort der Bereich „Wortschatz“ fokussiert, allerdings<br />

häufig mit unzureichender Spezifizierung und Differenzierung. Förderprogramme und -<br />

maßnahmen knüpfen häufig kaum an den aktuellen Forschungsstand zum mentalen Lexikon<br />

sowie über Speicher- und Abrufprozesse an, und das zugehörige morphologische Wissen (z. B.<br />

Plural, Deklination, Konjugation, Tempus, irreguläre Formen ...) wird häufig nicht explizit erarbeitet.<br />

Der auffällig hohe festgestellte Anteil an Formfehlern in der Verbalphrase deutet darauf<br />

hin, dass die leistungsschwächere Teilgruppe der mehrsprachigen Kinder vor allem Probleme<br />

mit den jeweils wortspezifisch zu lernenden und zu speichernden morphologischen Merkmalen<br />

von Wörtern hat, zu denen z. B. unregelmäßige Konjugation, Veränderungen des Vokals im<br />

Verbstamm und unregelmäßige Zeitformen zählen. Entsprechend gilt dies für die Genuszuweisung<br />

und die Produktion von Pluralformen in der Nominalphrase. Das legt nahe, künftig formale<br />

Aspekte verstärkt in die Wortschatzarbeit zu integrieren.<br />

Die Ergebnisse der durchgeführten Sprachanalysen haben gezeigt, dass die mehrsprachigen<br />

Schüler als Gruppe den monolingualen Schülern deutlich unterlegen sind und der Anteil derje-<br />

48


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

nigen mehrsprachigen Schüler, die auch in der 6. Klasse noch einen Förderbedarf im Bereich<br />

der Grammatik aufweisen, hoch ist. Das spricht – zumindest für einen Teil der mehrsprachigen<br />

Schüler - für eine unzureichende Effektivität der bisherigen Förderpraxis, und deutet darauf hin,<br />

dass durch eine allgemeine Kommunikationsförderung grammatische Strukturen nicht automatisch<br />

implizit mitgelernt werden. Geeignete Möglichkeiten einer solchen spezifischen Förderung<br />

sind folglich zu entwickeln und hinsichtlich ihrer Effektivität zu evaluieren.<br />

2.3 Weiterentwicklung des Projektes<br />

An diese explorativ und deskriptiv angelegte Studie sollte sich auf der Basis der gewonnen Daten<br />

eine Interventionsstudie zu einem ausgewählten Entwicklungsbereich anschließen. Aufgrund<br />

des hohen Fehleranteils muss v.a. bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache, aber auch<br />

bei einzelnen erstsprachlichen Kindern im Bereich des Genusgebrauchs verstärkter Förderbedarf<br />

konstatiert werden. Erstsprachliche Schüler zeigen im Normalfall keine Probleme beim<br />

Erwerb des deutschen Genussystems. Im Zweit- oder Fremdsprachenerwerb hingegen bereitet<br />

das deutsche Genussystem den Lernenden große Probleme. Die Ergebnisse der hier vorliegenden<br />

Studie werden von der Didaktik des DaZ- (Deutsch als Zweitsprachen-) bzw. DaF-<br />

(Deutsch als Fremdsprachen-) Unterricht gestützt. Hier ist das Genus als eine Hauptfehlerkategorien<br />

von Deutschlernern bekannt (vgl. Wegener 1995, 59; Wegera 1997, 9; Kaltenbacher<br />

2007, 82). Der Genuserwerb stellt für Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache eine besondere<br />

Herausforderung dar, da das Genussystem der Muttersprache der Kinder häufig nicht mit dem<br />

deutschen Genussystem vergleichbar ist. Die Vermittlung des deutschen Genussystems wird<br />

zusätzlich durch die Komplexität und Intransparenz der nominalen Genuszuweisung im Deutschen<br />

erschwert, die von einigen Autoren auch als Arbitrarität gedeutet wird (vgl. Engel 1988,<br />

502; Helbig 1999, 270). Dennoch ist das Beherrschen des Genussystems im Deutschen sowohl<br />

unter pragmatischen als auch unter grammatischen Aspekten bedeutend. Das Genus erfüllt im<br />

Deutschen mehrere für das Sprachverständnis wichtige Funktionen. U.a. gewährleistet es im<br />

kommunikativen Sprachgebrauch die Eindeutigkeit der pronominalen Referenz und unterstützt<br />

die lexikalische Strukturierung durch die Ordnung des Wortschatzes in verschiedene Kategorien<br />

(vgl. Köpcke/Zubin 1996, 481; Wegener 1995, 60). Ein Nichtbeherrschen des Genussystems<br />

hat auch für die grammatische Entwicklung des Kindes weitreichende Konsequenzen, da die<br />

Flexionsparadigmen für die grammatischen Kategorien Numerus und Kasus mit der Genuszuweisung<br />

variieren und so weitreichende Probleme entstehen können. Leider existieren sowohl<br />

in der Sonderpädagogik als auch in der Didaktik des DaF. bzw. DaZ-Unterrichts kaum spezifische<br />

Förderansätze. Die wenigen Vorhandenen sind als methodisch einseitig und wissenschaftlich<br />

unzureichend evaluiert einzustufen. Somit besteht hier dringender Handlungsbedarf – besonders<br />

im Hinblick auf die Häufigkeit und die weitreichenden Konsequenzen der Genusfehler.<br />

An diesem Punkt setzt die Weiterentwicklung des Forschungsvorhabens an. Durch die Entwicklung<br />

und Evaluation von zwei methodischen Zugängen zur Förderung der Genuszuweisung soll<br />

die Qualität und Effektivität der Förderung im Bereich der Genuszuweisung untersucht und verbessert<br />

werden. Ziel der geplanten Folgestudie sind Erkenntnisse über die Wirksamkeit der<br />

angewandten Methoden sowie über die Speicherung des Genus im mentalen Lexikon der<br />

49


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Sprachlerner zu gewinnen. Insofern ist das Projekt nicht nur unter anwendungsbezogenen sondern<br />

auch unter grundlagenwissenschaftlichen Gesichtspunkten interessant. Neben der Entwicklung<br />

und Evaluierung eines informellen Verfahrens zur Genuszuweisung im Deutschen, das<br />

als Diagnostikverfahren für die Erfassung von Auffälligkeiten im Bereich der Genuszuweisung<br />

dienen könnte, soll die Förderung der Genuszuweisung methodisch später so modifiziert werden,<br />

dass sie sowohl unter den personellen als auch zeitlichen Ressourcen im Schulalltag einsetzbar<br />

ist. Eine Möglichkeit wäre ein spezifisches, computergestütztes Förderprogramm zur<br />

Genuszuweisung im Deutschen. Dadurch könnte, sollten die Methoden Erfolge verzeichnen,<br />

eine bessere schulische und soziale Integration von mehrsprachigen Kindern und Kindern mit<br />

einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung durch eine effektive und wissenschaftlich evaluierte<br />

sprachliche Förderung im Bereich der Genuszuweisung erreicht werden.<br />

An der Studie werden mehrsprachige Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache sowie Kinder<br />

mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung teilnehmen, die Probleme bei der Genuszuweisung<br />

haben. Jedes Kind erhält ein Training mit Methode A und anschließend mit Methode B.<br />

Methode A agiert mit syntaktischen Variationen. Methode B versucht phonologische und morphologische<br />

Genuszuweisungsregeln didaktisch wirksam zu machen. Beiden Methoden liegt ein<br />

psycholinguistisches Modell zugrunde, anhand dessen mögliche Speicherorte der Kategorie<br />

Genus identifiziert werden können.<br />

Methode A liegt das hierarchisch-serielle Sprachverarbeitungsmodell nach Levelt (1992) zugrunde.<br />

Darin wird das mentale Lexikon in zwei Bereiche geteilt: die Lemmaebene, in der lexikalisches<br />

Wissen verarbeitet wird, also Syntax und Semantik, und die Lexemebene auf der die<br />

formale Verarbeitung stattfindet (Phonologie und Morphologie). „Genus ist dieser Modellvorstellung<br />

zufolge Teil der Lemma-Information, wobei ein Nomen-Lemma in fester Verbindung zu<br />

seinem entsprechenden Genusknoten steht. Der Genusknoten wiederum steht neben dem Nomen-Lemma<br />

in Verbindung zu Lemmata gleichen grammatischen Geschlechts, die mit diesem<br />

Nomen während der syntaktischen Kodierung kongruent gemacht werden. Zu denken ist hier an<br />

Pronomen, Artikel, Adjektive (Neumann 2002, 72).“ Demzufolge wird Genus als eine syntaktische<br />

Kategorie gelernt. Eine Förderung des Genus, die das hierarchisch-serielle Sprachverarbeitungsmodell<br />

von Levelt als Grundlage hat, muss demzufolge auf der syntaktischen Ebene<br />

stattfinden. Daher wird in Methode A versucht, dem Kind das Genus in unterschiedlichen syntaktischen<br />

Gegebenheiten (Artikel, Pronomen, Adjektive) aufzuzeigen, um so die Verbindungen<br />

des Lemmaknotens zu stärken.<br />

Dem Training mit Methode B liegt das interactive activation Modell von Dell (1986) zugrunde.<br />

Dieses Modell nimmt eine Aktivierungsausbreitung im Netzwerk an. Art und Anzahl der Verarbeitungsebenen<br />

des interaktiven Modells unterscheiden sich dabei nicht von denen des hierarchisch-seriellen<br />

Modells nach Levelt: Konzeptuelle Ebene, Lemma-Ebene, phonologische Ebene<br />

und artikulatorische Ebene sind als separate Verarbeitungsmodule dargestellt. Im Gegensatz<br />

zum hierarchisch-seriellen Modell überlappen sich hier semantische und phonologische Verarbeitungsschritte.<br />

50


3.Nachuntersuchung<br />

2. Nach untersuchung<br />

Trainings-phase 2<br />

Methode B<br />

1. Nachuntersuchung<br />

Trainingsphase 1<br />

Methode Methode AA<br />

Voruntersuchung:<br />

Voruntersuchung:<br />

Nachhaltigkeit der<br />

Effekte 8 Wochen<br />

nach Ende der<br />

Intervention<br />

Effekte vo n<br />

Training s-phase B<br />

sowie vo n A + B<br />

4-5 Wochen<br />

2-3x pro Woche<br />

9 Sitzungen<br />

30 Minuten à<br />

(4,5 Stunden)<br />

Effekte von<br />

Trainingsphase A<br />

4-5 Wochen<br />

2-3x pro Woche<br />

9 Sitzungen à<br />

30 Minuten<br />

(4,5 Stunden)<br />

Auswahl Auswahl und Baseline<br />

1. informelles<br />

Verfahren Verfahren zur<br />

Genuszuweisung<br />

2. Überprüfung der<br />

Genuszuweisung<br />

in spontansprachlichem<br />

Kontext<br />

informell es<br />

Verfahre Verfahren<br />

n zur zur<br />

Genuszuwe isung<br />

Stimulusdarbietung<br />

einschließlich<br />

analoger<br />

Pseudosubstantive<br />

geordnet nach<br />

Ableitungsgruppen<br />

informelles Verfahren<br />

zur Genuszuweisung<br />

Syntaktische<br />

Variation mit:<br />

bestimmtem und<br />

unbestimmtem<br />

Artikel,<br />

Demonstrativa,<br />

Negativa, Negativa,<br />

Adjektiven Adjektiven und<br />

PossesivPossesivpronomenpronomen A<br />

b<br />

l<br />

a<br />

u<br />

f<br />

K<br />

o<br />

n<br />

z<br />

e<br />

p<br />

t<br />

I<br />

n<br />

h<br />

a<br />

l<br />

t<br />

e<br />

Abbildung 5: Versuchsplan.<br />

Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

1. informelles<br />

Verfahren zur<br />

Genuszuweisung<br />

2. nonverbaler<br />

Intelligenztest<br />

3. Überprüfung von<br />

sprachlichen<br />

Auffälligkeiten in<br />

der Erstsprache<br />

4. Eltern- und<br />

Lehrerfrage-Bogen<br />

5. Überprüfung der<br />

Genuszuweisung in<br />

spontansprachlichem<br />

Kontext<br />

51


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Das heißt hier sind sogenannte Feedbackmechanismen möglich, die eine Rückkopplung der<br />

Lexem- zur Lemma-Ebene bewirken. Daraus lässt sich ableiten, dass das Genus (wie andere<br />

grammatische Kategorien auch) im syntaktischen Regelsystem gespeichert sind. Formale Genusmarkierer<br />

wie Artikel haben demnach einen Eintrag auf der Lemmaebene, ihre phonologische<br />

Repräsentation ist auf der Lexemebene gespeichert. Aufgrund der zurückfließenden Aktivierung<br />

von der Wortform zur Lemmaebene sagt das interactive activation Modell von Dell einen<br />

Einfluss von morphologischen und phonologischen Genuszuweisungsregeln auf die Genusselektion<br />

voraus (vgl. Neumann 2002, 91-102). Daher wird mit Methode B versucht, je drei<br />

phonologische und drei morphologische Regeln der Genuszuweisung sprachdidaktisch bzw. –<br />

therapeutisch nutzbar zu machen, z. B. die „.-ung“-Regel, nach der Nomen der feminien Genusklasse<br />

zugewiesen werden („Heizung, Zeitung…). Hierzu werden morphologisch bzw. phonologisch<br />

analoge Wörter im Set trainiert und gezielt miteinander kontrastiert. Außerdem soll<br />

durch die Verwendung von Pseudowörtern (z. B. Sutane, Kuler, Peikung) die implizite Regelbildung<br />

unterstützt werden. Einen Überblick über den Ablauf der Trainingsstudie mit Methode A<br />

und B gibt Abbildung 5.<br />

Somit lässt das geplante Forschungsvorhaben wichtige Erkenntnisse in Bezug auf mögliche<br />

methodische Zugänge zur Förderung des Genussystems sowie über deren Wirksamkeit erwarten.<br />

Neben der Entwicklung und Evaluation eines informellen Verfahrens als Diagnostikum für<br />

Probleme bei der Genuszuweisung soll eine wissenschaftlich und methodisch fundierte Förderung<br />

der Genuszuweisung bei mehrsprachigen Kindern und Kindern mit einer spezifischen<br />

Sprachentwicklungsstörung entstehen. Die Erkenntnisse der Studie sollen in einen Förderansatz<br />

münden, der sich im schulischen Rahmen mit den vorhandenen personellen, finanziellen<br />

und zeitlichen Ressourcen realisieren lässt. Angedacht ist ein computergestütztes Verfahren,<br />

das eine weitgehend selbstständige Durchführung durch den Schüler ermöglicht und einen<br />

realisierbaren Aufwand für die Lehrperson bedeutet.<br />

2.4 Literatur<br />

Bech, G. (1983): Studium über das deutsche Verbum infinitum. 2.Aufl. Tübingen: Niemeyer<br />

Brunner, E./Langer, F. (1999): Nichtparametrische Analyse longitudinaler Daten. München:<br />

Oldenbourg<br />

Clahsen, H. (1988): Normale und gestörte Kindersprache. Amsterdam: Benjamins<br />

Dannenbauer, F. M. (2002): Grammatik. In S. Baumgartner & I. Füssenich (Hrsg.), Sprachtherapie<br />

mit Kindern. (5 Aufl.). (S. 105-161). München: Reinhardt.<br />

Delius, B./Voigt, G. (1990): Dem Dativ zu Hilfe. Praxis Deutsch 17, Heft 102, 19-20<br />

Dell, G.S. (1986): A spreading-activation theory of retrieval in sentence production. Psychological<br />

Review, 93, 283-321<br />

Diehl, E./Christen, H./Leuenberger, S./Pelvat, I./Studer, T. (2000): Grammatikunterricht: Alles<br />

für die Katz? Tübingen: Niemeyer<br />

52


Sprachliche Heterogenität<br />

in der Sprachheil- und der Regelschule<br />

Eisenberg, P. (1999): Grundriß der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler<br />

Engel, U. (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg [u.a.]: Groos [u.a.].<br />

Genesee, F./Paradis, J./Crago, M. B. (2004): Dual language development and disorders. Balti-<br />

more: Brookes<br />

Glinz, H. (1975): Deutsche Grammatik I. 3. Aufl. Wiesbaden: Athenaion<br />

Helbig, G. (1999): Deutsche Grammatik. Leipzig: Verlag Enzyklopädie.<br />

Hofmann, N., Polotzek, S., Roos, J. & Schöler, H. (2008): Sprachförderung im Vorschulalter -<br />

Evaluation dreier Sprachförderkonzepte. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 3, 291-<br />

300.<br />

Information und Technik Nordrhein-Westfalen (2008): Statistik: Förderschüler in Nordrhein-<br />

Westfalen<br />

Kaltenbacher, E. & Klages, H. (2007): Sprachprofil und Sprachförderung bei Vorschulkindern<br />

mit Migrationshintergrund. In: Ahrenholz, B: Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb<br />

und Fördermöglichkeiten (2. Aufl., S. 80-97). Freiburg im Breisgau: Fillibach-Verl.<br />

Keller, R. (1980): Zum Begriff des Fehlers im muttersprachlichen Unterricht. In: Cherubim, D.<br />

(Hg.): Fehlerlinguistik. Tübingen: Niemeyer, 24-42<br />

Köpcke, K. M. & Zubin, D. A. (1996): Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen. In:<br />

Lang, E. & Zifonun, G. (Hgg.): Deutsch - typologisch. IdS Jahrbuch 1995. (S. 473-491).<br />

Berlin u. New York: de Gruyter.<br />

Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>. <strong>Programm</strong> „Sag’ mal was“. http://www.sagmalwas-bw.de/<br />

Levelt, W. J. M. (1992): Accessing words in speech production: Stages, processes and representations.<br />

Cognition, 42, 1-22.<br />

MacWhinney, B. (2000): The CHILDES project: tools for analyzing talk - The database. (3. ed<br />

Aufl.). (Bd. Vol. 2). Mahwah, NJ [u.a.]: Lawrence Erlbaum.<br />

Nation, K./Clarke, P./Marshall, C. M./Durand, M. (2004): Hidden language impairments in children:<br />

parallels between poor reading comprehension and specific language impairment.<br />

Journal of Speech, Language, and Hearing Research 47, 199-211<br />

Neumann, A. (2002): Sprachverarbeitung, Genus und Aphasie. Dissertation Humboldt Univ.<br />

Berlin.<br />

Statistisches Landesamt <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> (2009): Statistische Berichte <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

vom 31.10. 2008: Unterricht und Bildung. Artikel-Nr. 3231070001<br />

Szagun, G. (2006): Sprachentwicklung beim Kind. Neuausgabe. Weinheim: Beltz<br />

Wegener, H. (1995): Die Nominalflexion des Deutschen - verstanden als Lerngegenstand. Tübingen:<br />

Narr.<br />

53


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Wegera, K. (1997): Das Genus. Ein Beitrag zur Didaktik des DaF-Unterrichts. Müchen: Iudici-<br />

54<br />

um.<br />

3 Projektrelevante Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

Glück, C. W. (2008). Grammatische Fähigkeiten von deutschsprachigen 4. und 6. Klässlern-<br />

und was sie uns über die Aufgaben und die Qualität der Sprachheilschule verraten<br />

Berg, M. (2008) Grammatische Fähigkeiten mehrsprachiger Schüler in der Zweitsprache<br />

Deutsch - Herausforderungen für die Sprachförderung<br />

- beides Vorträge im Abstraktband zum 28. Kongress der dgs am 26.9.08. Cottbus.<br />

4 Sonstiges<br />

Für die im Kapitel zur „Weiterentwicklung des Projekts“ skizzierte Interventionsstudie zur Genuszuweisung<br />

wird derzeit ein Antrag auf Forschungsförderung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

vorbereitet


III PRISE - Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Roos, Jeanette, Prof. Dr. rer. nat., Dipl.-Psych. (Antragstellerin), Professorin für Psychologie,<br />

Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Schöler, Hermann, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. (Antragsteller), Professor für Psychologie der<br />

Lernbehinderten und Leiter des Bachelor-Studiengangs "Frühkindliche und Elementarbildung",<br />

Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Zöller, Isabelle, Dr. phil., Dipl.-Psych., Vertretung einer Professur im Fach Psychologie, Pädagogische<br />

Hochschule Heidelberg<br />

Treutlein, Anke, Dipl.-Psych., Akad. Mitarbeiterin, Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

2 Kurzdarstellung des Forschungsprojekts<br />

Mit dem Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schularten der Sekundarstufe I<br />

erfolgt eine erste sehr wichtige Weichenstellung der schulischen Ausbildung, die nicht nur die<br />

Schul- sondern vielfach auch die spätere Berufslaufbahn nachhaltig beeinflusst. Insbesondere<br />

vor dem Hintergrund des dreigliedrigen Schulsystems wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit<br />

daher diskutiert, ob eine solche Entscheidung mit derart weitreichenden Konsequenzen am<br />

Ende der 4. Klasse eventuell zu früh erfolgt – zumal bedingt durch G8 die Durchlässigkeit ins<br />

Gymnasium deutlich erschwert sein könnte. In der PRISE-Studie („Der Übergang vom Primarzum<br />

Sekundarbereich“) wird dieser Übergang von der Grundschule auf die weiterführende<br />

Schule untersucht. PRISE ist Teil des <strong>Programm</strong>s „<strong>Bildungsforschung</strong>“ der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

und dem Schwerpunkt II „Kritische Übergänge in der Bildungsbiographie“<br />

zugeordnet.<br />

2.1 Fragestellungen<br />

Schulische Leistungen und Leistungsunterschiede – zwischen Personen wie zwischen Schulklassen<br />

– werden von einer Vielzahl Faktoren beeinflusst – sie sind multipel determiniert (vgl. u.<br />

a. Helmke & Weinert, 1997; Helmke & Schrader, 2006; Jerusalem, 1997; Helmke, 2009). Eine<br />

hohe Intelligenz alleine reicht nicht aus, um in der Schule Erfolg zu haben. Neben den individuellen<br />

Lernvoraussetzungen (insbesondere Intelligenz, Sprachkompetenz und Vorwissen) spielen<br />

vor allem die soziokulturellen und soziographischen Rahmenbedingungen eine entscheidende<br />

Rolle für das Lernen. Ebenfalls bedeutsam sind die Leistungsbeurteilungen durch die<br />

Lehrkraft im Verlauf der 4. Klasse, da diese als Grundlage für die Vergabe der Bildungsempfehlungen<br />

dienen. In <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> ist die Bildungsempfehlung der Lehrkraft bindend. Vor<br />

diesem Hintergrund interessiert neben der Betrachtung von Faktoren und Merkmalen, die auf<br />

den Erhalt einer bestimmten Bildungsempfehlung Einfluss nehmen, besonders die längsschnittliche<br />

Untersuchung der Leistungen von Schülerinnen/Schülern in Abhängigkeit von lernrelevanten<br />

Faktoren und deren Entwicklung auf den einzelnen Schularten.<br />

55


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Im Rahmen des Projekts wurden folgende Fragestellungen und Ziele verfolgt:<br />

(1) Analyse der Güte der Bildungsempfehlungen der Grundschullehrkräfte;<br />

(2) Beschreibung der schulischen Leistungsentwicklung ng von der Grundschule bis in die Sekundarstufe<br />

I (Klassen (Klassen 6 und 7) in Abhängigkeit von individuellen Merkmalen der Schülerinnen<br />

und und Schüler sowie von soziokulturellen und soziographischen Faktoren; Faktoren;<br />

(3) Analyse der Leistungsentwicklung von merkmalsgleichen Kindern in unterschiedlichen<br />

Schulformen der Sekundarstufe;<br />

(4) Suche nach Resilienzfaktoren, d. h. Identifizierung von Faktoren, die es Kindern ermöglichen,<br />

trotz widriger Umweltbedingungen und Prognosen gute schulische Leistungen zu erzielen;<br />

(5) Wirkung des Übergangs in die weiterführende Schule auf die Lern- bzw. Leistungsmotivation<br />

sowie das Fähigkeitsselbstkonzept;<br />

(6) Gründe für die Schulwahl der Eltern;<br />

(7) Bewertung des Übergangs durch Eltern und Schüler/-innen.<br />

2.2 Methode<br />

2.2.1 Design<br />

Die PRISE-Studie verfolgt zwei Heidelberger Einschulungsjahrgänge (2001 und 2002) zwei<br />

Jahre lang in ihrer schulischen Entwicklung in der Sekundarstufe I (s. Abb. 1), die bereits in der<br />

EVES-Studie (Evaluation eines Vorschultrainings zur Prävention von Schriftspracherwerbsproblemen<br />

sowie Verlauf und Entwicklung des Schriftspracherwerbs in der Grundschule; s. zsf.<br />

Roos & Schöler, 2009) von der 1. bis 4. Klasse längsschnittlich untersucht worden waren. Bedingt<br />

durch den Zeitpunkt der Antragsbewilligung entstand beim Einschulungsjahrgang 2001<br />

eine ‚Beobachtungslücke’ für die 5. Klasse, die Kinder des Jahrgangs 2001 befanden sich zu<br />

Beginn der PRISE-Studie bereits in der 6. Klasse.<br />

Abbildung 1 Design der PRISE-Studie<br />

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009<br />

56<br />

EVES-Erhebungen<br />

Kita 1. Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse 5. Klasse 6. Klasse<br />

Einschulungsjahrgang 2002<br />

1. Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse<br />

6. Klasse 7. Klasse<br />

Einschulungsjahrgang 2001 2001<br />

Start der PRISE-Erhebungen


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Die Erhebungen erfolgten sowohl in der Grund- als auch der weiterführenden Schule jeweils<br />

zwischen den Pfingst- und Sommerferien, d. h. im letzten Drittel eines jeden Schuljahres. Abweichend<br />

davon konnten Kinder aus Schulen, deren Leitungen überraschend die Teilnahme an<br />

der Untersuchung verweigerten, im Schuljahr 2006/2007 (erster Untersuchungszeitpunkt) erst<br />

nach den Sommerferien, also zu Beginn des nächsten Schuljahres untersucht werden. Die<br />

Nacherhebungen fanden im Zeitraum vom 22.10.2007 bis 09.11.2007 in der Pädagogischen<br />

Hochschule statt.<br />

2.2.2 Untersuchungsgruppe<br />

Zusätzlich zu den bereits in EVES längsschnittlich untersuchten Kindern nahmen bei PRISE<br />

Schüler/-innen teil, die aus den umliegenden Gemeinden auf eine Heidelberger Schule der Sekundarstufe<br />

I wechselten. Für diese liegen mit Ausnahme der nachträglich erhobenen Schulnoten<br />

der 4. Klasse keine Daten aus der Grundschulzeit vor. Die Verteilung auf die einzelnen<br />

Schularten der Sekundarstufe I zeigt, dass etwa 35 % aller Heidelberger Schüler/-innen erfasst<br />

werden konnten (s. Tab. 1). Allerdings variiert der Anteil an der Grundgesamtheit deutlich zwischen<br />

den Schularten: Nur etwa 7 % der Gesamtschüler/-innen und nur knapp ein Viertel der<br />

Hauptschüler/-innen sind beteiligt gewesen, während die Anteile der Schüler/-innen aus Realschulen<br />

(44 %) und Gymnasien (38 %) deutlich höher lagen.<br />

Tabelle 1 Anzahl der beteiligten Schüler/-innen nach Schulart<br />

Gesamtschule <br />

Hauptschule<br />

Teilnahme<br />

nur an<br />

PRISE<br />

Teilnahme an<br />

EVES &<br />

PRISE<br />

Gesamtstichprobe<br />

Geschätzte<br />

Grundgesamtheit<br />

5 10 15 220 7<br />

30 38 68 287 24<br />

Realschule 103 106 209 476 44<br />

Gymnasium<br />

262 327 589 1 544 38<br />

Gesamt 400 481 881 2 527 35<br />

%-Anteil an<br />

der Grundgesamtheit<br />

Tabelle 2 zeigt die Verteilung der Merkmale Geschlecht, Sprachstatus (ein- bzw. mehrsprachig),<br />

sozioökonomischer Hintergrund (HISEI), Intelligenz und Sprachleistung (Wortschatz) getrennt<br />

nach Schulart und Einschulungsjahrgang. Von Hauptschule über Realschule bis zum Gymnasi-<br />

57


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

um nehmen (erwartbar) sowohl die sozioökonomischen Niveaus wie auch die Intelligenz- und<br />

Sprachleistungen der Schüler/-innen zu.<br />

Tabelle 2 Merkmale der Gesamtstichprobe nach Schulart und Klassenstufe<br />

Mädchen<br />

Jungen<br />

Jahrgang 2001 (Klasse 6) Jahrgang 2002 (Klasse 5)<br />

Hauptschule Realschule Gymnasium Hauptschule Realschule Gymnasium<br />

N % N % N % N % N % N % Gesamt<br />

10<br />

21<br />

32.3<br />

67.7<br />

47<br />

40<br />

54.0<br />

46.0<br />

120<br />

150<br />

44.4<br />

55.6<br />

Gesamt 31 87 270 31 115 306 840<br />

mehrsprachig 8 25.9 21 24.1 36 13.3 7 22.6 22 19.1 70 22.9 164<br />

16<br />

15<br />

51.6<br />

48.4<br />

74<br />

41<br />

64.3<br />

35.7<br />

M SD M SD M SD M SD M SD M SD<br />

HISEI 39.90 10.50 50.36 15.20 68.04 14.07 44.19 13.85 50.75 15.08 68.49 13.63<br />

Intelligenz 44.00 9.09 52.46 6.90 61.00 8.37 44.00 7.68 51.41 8.35 59.10 8.51<br />

Wortschatz 42.63 7.15 49.90 6.99 57.17 6.77 46.58 6.22 50.66 8.49 57.17 7.11<br />

2.2.3 Eingesetzte Verfahren<br />

Die schulischen und kognitiven Leistungen sowie die Motivation der teilnehmenden Schüler/innen<br />

wurden am Ende der Schuljahre 2006/2007 und 2007/2008 mittels normierter Verfahren<br />

erfasst. Bei der Testauswahl wurde einerseits auf die Durchführung einer Testung im Klassenverband<br />

geachtet und zum anderen auf die Möglichkeit, gleich konzipierte Verfahren in allen<br />

Klassenstufen einzusetzen. Die Testung im Klassenverband war beim überwiegenden Teil der<br />

Schüler/-innen möglich, nicht immer fanden sich geeignete Instrumente, die für mehrere Klassenstufen<br />

in Folge entwickelt wurden.<br />

Schulleistungen. Die Leistungen in Deutsch und Mathematik in den 5.-7. Klassen wurden durch<br />

Schulleistungstests erfasst: Rechtschreiben mit der Hamburger Schreib-Probe 5-9 (HSP 5-9 B;<br />

May, 2001), Lesen mit dem Salzburger Lese-Screening 5-8 (SLS 5-8; Auer, Gruber, Mayringer<br />

& Wimmer, 2006), Mathematik mit dem DEMAT 5+/6+ (Deutscher Mathematiktest für fünfte und<br />

sechste Klassen; Marx & Opitz-Karig, in Vorb.). Da für die Prüfung der Englischleistung keine<br />

Tests zur Verfügung stehen, wurde in Anlehnung an die Kompetenzstufen im Gemeinsamen<br />

Europäischen Referenzrahmen (GERR) für den Erwerb von Fremdsprachen ein Einstufungstest<br />

der Reihe English network – new edition (Langenscheidt, 2006) an die Lebenswelt von Kindern<br />

angepasst. Darüber hinaus wurden die Schulnoten am Ende der Klassenstufen 4 bis 6 sowie 4,<br />

6 und 7 erfasst.<br />

58<br />

167<br />

139<br />

54.6<br />

45.4<br />

434<br />

406


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Erfassung individueller Einflussfaktoren. Am Ende der 5. und 6.Klasse wurde die kognitive Leistungsfähigkeit<br />

jeweils mit dem Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung für 4. bis 6. Klassen<br />

(PSB-R 4-6, Horn, Lukesch, Kormann & Mayrhofer, 2002), am Ende der 7. Klasse mit dem<br />

PSB-R 6-13 (Lukesch, Mayrhofer & Kormann, 2003) untersucht. Der Wortschatz-Test (WS), ein<br />

Ergänzungstest zum Grundintelligenztest CFT 20 (Weiß, 1998) wurde als Indikator für die<br />

Sprachfähigkeit zweimal jeweils am Ende der 5. und 6. Klasse (Jahrgang 2002) bzw. am Ende<br />

der 6. und 7. Klasse (Jahrgang 2001) durchgeführt. Mittels der SELLMO-S (Skalen zur Erfassung<br />

der Lern- und Leistungsmotivation; Spinath, Stiensmeier-Pelster, Schöne & Dickhäuser,<br />

2002) wurden die Lern- und Leistungsmotivation jeweils am Ende der 3. bis 6. Klasse (Jahrgang<br />

2002) bzw. 3. und 4. sowie 6. und 7. Klasse (Jahrgang 2001) erfasst. Das fächerspezifische<br />

Fähigkeitsselbstkonzept wurde am Ende der 6. (Jahrgang 2002) und 7. Klasse (Jahrgang 2001)<br />

mittels einer erweiterten Form des Differentiellen schulischen Selbstkonzept-Gitters (DISK-<br />

Gitter, Rost, Sparfeldt & Schilling, 2007) erhoben. Da im Projekt PRISE auch die Englischleistungen<br />

analysiert werden, im DISK-Gitter aber das Selbstkonzept nur für die Fächer Deutsch,<br />

Mathematik und Geschichte überprüft wird, wurde es um das Selbstkonzept für das Fach Englisch<br />

ergänzt. In der 3. Klasse war das Fähigkeitsselbstkonzept der Kinder in den Bereichen<br />

Lesen, Schreiben und Rechnen durch einen Fragebogen erfasst worden (s. Frühauf, 2008).<br />

Soziokulturelle Variablen. Detaillierte Informationen zum Bildungsniveau sowie zum beruflichen<br />

Werdegang der Eltern wurden, soweit noch nicht aus der EVES-Studie bekannt, zum ersten<br />

Untersuchungszeitpunkt (Schuljahresende 2007) mittels eines Elternfragebogens erfasst. Im<br />

Rahmen der PRISE-Studie wird der von Ganzeboom, De Graaf, Treiman und De Leeuw (1992)<br />

entwickelte International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI) als Maß für die<br />

sozioökonomische Stellung der Familien eingesetzt. Der ISEI trennt die ökonomische Stellung<br />

vom Berufsprestige und berücksichtigt ausschließlich Informationen zur Bildung und zum Einkommen.<br />

Beim ISEI handelt es sich um ein nicht normalverteiltes Merkmal mit einem Mittelwert<br />

von 51.6 und einer Standardabweichung von 17.5 (Erikson, Goldthorpe, König, Lüttinger & Müller,<br />

1989; Ganzeboom et al., 1992). Der ISEI variiert zwischen 16 (forstwirtschaftliche Hilfskräfte)<br />

und 90 (Richter) – der höchste in der Familie vorkommende ISEI entspricht dem HISEI. Die<br />

eingesetzten Elternfragebogen lehnen sich inhaltlich an die in der PISA-Studie verwendeten<br />

Elternfragebogen (Baumert et al., 2001) an. Sie beinhalten Fragen zur familiären Situation der<br />

Kinder, zu außerschulischen Lernanregungen bzw. Lerngelegenheiten, zum familiären Sprachhintergrund<br />

sowie zum Bildungshintergrund und der beruflichen Stellung der Eltern. Die Informationen<br />

zum familiären sprachlichen Hintergrund bezogen sich insbesondere auf die Sprachkenntnisse<br />

der Eltern im Deutschen sowie in den eventuell abweichenden Muttersprachen, die<br />

sprachlichen Fertigkeiten des Kindes in den Muttersprachen der Eltern sowie im Falle eines<br />

Migrationshintergrundes der Zeitpunkt der Zuwanderung.<br />

Allgemeine Angaben zum Übergang. Die Entscheidungskriterien der Eltern für die Wahl einer<br />

bestimmten Schule sowie die aktuelle Zufriedenheit mit der gewählten Schule und den Schulleistungen<br />

des Kindes wurden mittels eines Fragebogens erfasst. Bezüglich der Grundschulempfehlung<br />

wurden von den Eltern Informationen zu einem eventuellen Beratungsverfahren<br />

erfragt. Des Weiteren wurden Fragen zum Übergang gestellt und wie die damit verbundenen<br />

59


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Veränderungen retrospektiv von den Eltern sowie den Schülerinnen und Schülern beurteilt werden.<br />

2.2.4 Untersuchungsbesonderheiten<br />

Zur Gewinnung der Stichprobe. Die Kontaktaufnahme zu den betroffenen Familien erfolgte per<br />

Post oder über die weiterführenden Schulen. Fünf Heidelberger Schulleitungen lehnten eine<br />

Teilnahme an der PRISE-Studie überraschend ab. Als Grund für das Ausscheiden wurde insbesondere<br />

die unbegründete Befürchtung vorgebracht, die Untersuchung ermögliche eine externe<br />

Evaluation bzw. ein Schulranking – unbegründet insofern, dass dies weder als Untersuchungsziel<br />

intendiert war, noch mit den allgemeinen datenschutzrechtlichen Bestimmungen vereinbar<br />

gewesen wäre. Durch die Nichtteilnahme dieser Schulen musste die Rekrutierungsstrategie<br />

geändert werden. In Abhängigkeit vom Geburtsdatum wurden vom Einwohnermeldeamt der<br />

Stadt Heidelberg Namen und Adressen von potenziellen Fünft- und Sechstklässlern/-innen zusammengestellt.<br />

Die Familien dieser Schüler/-innen wurden im Oktober 2007 angeschrieben<br />

und um ihre Teilnahme an der PRISE-Studie gebeten. Zeitgleich wurde eine Annonce im Lokalteil<br />

der Rhein-Neckar-Zeitung geschaltet, um auch jene Schüler/-innen zu erreichen, die zwar in<br />

Heidelberg zur Schule gehen, aber nicht dort wohnen.<br />

Durchführung der Erhebungen und Aufwand für die Schüler/-innen. Die meisten Schüler/-innen<br />

wurden an ihren Schulen untersucht (s. o.). Je nach Wunsch der Schule fanden die vier Unterrichtsstunden<br />

dauernden Untersuchungen außerhalb oder während der Unterrichtszeit (z. B. in<br />

Freistunden) statt. Etwa eine halbe Stunde wurde zusätzlich für das Ausfüllen des Motivationsfragebogens<br />

bzw. der Fragen zu den persönlichen Erfahrungen mit dem Übergang benötigt.<br />

Diese Fragebogen wurden entweder im Unterricht ausgeteilt oder zugeschickt und zu Hause<br />

bearbeitet. Als Aufwandsentschädigung erhielten die Schüler/-innen im Erhebungszeitraum<br />

2007 einen Kugelschreiber sowie einen Kinogutschein. Im Erhebungszeitraum 2008 wurden die<br />

Untersuchungen in je zwei 90-Minuten-Blöcken durchgeführt. Alle Schüler/-innen, die nicht an<br />

ihrer Schule untersucht werden oder dort an einem Termin nicht teilnehmen konnten, erhielten<br />

einen Wunschtermin (innerhalb eines Zeitfensters von drei Wochen) und wurden an der Pädagogischen<br />

Hochschule untersucht. Für die Teilnahme erhielten die Schüler/-innen erneut einen<br />

Kinogutschein und Süßigkeiten.<br />

3 Ergebnisse 1<br />

3.1 Güte der Bildungsempfehlungen<br />

In Heidelberg wechselt ein Großteil der Kinder auf ein Gymnasium (vgl. Tab. 3). Insbesondere<br />

Kinder mit hohem sozioökonomischem Hintergrund erhalten nahezu alle eine Gymnasialempfehlung<br />

(vgl. Abb. 2).<br />

1 Da zu allen Zielen Ergebnisse auf insgesamt nicht mehr als 20 Seiten berichtet werden sollen, werden hier lediglich<br />

zentrale Ergebnisse z. T. sehr kurz dargestellt. Eine ausführliche Ergebnisdarstellung folgt.<br />

60


Tabelle 3 Anteil der Bildungsempfehlungen<br />

PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

% an PRISE-Stichprobe % an Gesamtpopulation in Heidel-<br />

Gymnasialempfehlung 69 58<br />

Realschulempfehlung 20 28<br />

Hauptschulempfehlung 11 14<br />

Abbildung 2 Bildungsempfehlung in Abhängigkeit des sozioökonomischen Hintergrunds<br />

%<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil<br />

HISEI<br />

berg <br />

Gymnasialempfehlung<br />

Realschulempfehlung<br />

Hauptschulempfehlung<br />

Die Leistungsverteilungen auf Gymnasium, Real- und Hauptschule überlappen sich, ähnlich wie<br />

dies aus den PISA-Studien bekannt ist, von Anfang an stark (vgl. Abb. 3 und Abb. 4): Die (über-)durchschnittlich<br />

leistungsstarken Kinder auf der Hauptschule erbringen vergleichbare Leistungen<br />

wie die (unter-)durchschnittlich leistenden Kinder des Gymnasiums. Insbesondere bei<br />

der Lesegeschwindigkeit verringert sich die Überschneidung mit zunehmender Schulzeit etwas,<br />

bleibt aber dennoch sehr hoch (vgl. Abb. 3). Bei PISA 2006 zeigte sich bei Jugendlichen der 9.<br />

Klassen eine geringere Überschneidung, sodass davon ausgegangen werden kann, dass durch<br />

die kumulierten Effekte unterschiedlicher Beschulung ein Schereneffekt auftritt.<br />

Deutlich geringere Überschneidungen zeigen sich im Fach Englisch (vgl. Abb. 4). Hier scheint<br />

das Tempo der Erarbeitung bestimmter Fachinhalte in Abhängigkeit von der Schulart stark zu<br />

variieren, sodass für Kinder, bei denen die Inhalte noch nicht in der Schule behandelt wurden<br />

(meist bei den Hauptschüler/-innen zutreffend) manche Aufgaben nicht lösbar waren. Zudem ist<br />

zu berücksichtigen, dass die Normierung des Englischtests im Wesentlichen an einer Gymnasialstichprobe<br />

erfolgte.<br />

61


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Abbildung 3: Lesegeschwindigkeit in Abhängigkeit von Schulart und Klassenstufe<br />

Hauptschule<br />

Realschule<br />

Gymnasium<br />

Abbildung 4: Englischtestleistung in Abhängigkeit von Schulart und Klassenstufe<br />

Hauptschule<br />

Realschule<br />

Gymnasium<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Kl. 7<br />

Kl. 6<br />

Kl. 5<br />

Lesegeschwindigkeit<br />

0 20 40 60 80<br />

Lesequotient<br />

Englisch<br />

0 10 20 30 40 50 60<br />

T-Werte<br />

5% 10% 25% 75% 90% 95%<br />

Mittelwert<br />

5% 10% 25% 75% 90% 95%<br />

Mittelwert<br />

Während ein relativ hoher Anteil Kinder eine „realschultaugliche“ Leistung zeigt, aber eine<br />

Hauptschulempfehlung erhielt, kann nur ein sehr viel geringerer Anteil Kinder, mit Realschulempfehlung,<br />

das durchschnittliche Niveau des Gymnasiums erreichen. Dies bedeutet zum einen,<br />

dass bei der Entscheidung zwischen Haupt- und Realschule die Empfehlung häufig nach<br />

oben zu korrigieren wäre; zum anderen, dass bei der Entscheidung zwischen Gymnasium oder<br />

anderen Schulformen relativ häufig eine den Leistungen entsprechende Prognose getroffen<br />

wird. Dieses Ergebnis muss allerdings im Licht der hohen Übergangsquoten auf das Gymnasium<br />

betrachtet werden: Bei einer Übergangsquote von annähernd 70 % wie in der PRISE-<br />

Stichprobe ist die Trefferwahrscheinlichkeit deutlich erhöht. Es lässt sich demnach vermuten,<br />

62


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

dass es sich für die Güte der Bildungsempfehlung günstig auswirkt, wenn möglichst viele Kinder<br />

eine möglichst hoch qualifizierende Bildungsempfehlung erhalten.<br />

Leider konnten nur zwei Kinder in die weiterführende Schule begleitet werden, die nach einem<br />

Einspruchsverfahren gegen die Bildungsempfehlung auf dem Gymnasium beschult werden<br />

(insgesamt wurden sieben Kinder entgegen der ursprünglichen Empfehlung auf dem Gymnasium<br />

beschult, von denen fünf aber nicht an der PRISE-Studie teilnahmen). Die zwei teilnehmenden<br />

Kinder zeigen im Rechtschreiben und in Englisch in der 5. Klasse Leistungen, die der<br />

durchschnittlichen Leistung auf dem Gymnasium entsprechen. In der 6. Klasse verschlechtern<br />

sie sich und erreichen etwa das durchschnittliche Realschulniveau. Hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit<br />

verschlechtern sich die Kinder zwar auch bis zur 6. Klasse, bleiben jedoch noch<br />

auf einem „gymnasialtypischen“ Niveau. In Mathematik dagegen zeigen sie bereits ab der 5.<br />

Klasse eine Leistung, die eher mit dem durchschnittlichen Realschul- als mit dem Gymnasialniveau<br />

vergleichbar ist. Die anfängliche Entscheidung der Lehrkräfte zwischen Realschule und<br />

Gymnasium zugunsten der Realschule war demnach (in diesen beiden Fällen) vermutlich langfristig<br />

gesehen gerechtfertigt – möglicherweise berücksichtigten Lehrkräfte beim Ausstellen der<br />

Bildungsempfehlung neben den Leistungen und der Leistungsfähigkeit auch das Durchhaltevermögen<br />

bzw. die Kontinuität der Mitarbeit. 36 Kinder wechselten trotz Gymnasialempfehlung<br />

auf eine Realschule – davon konnten in der weiterführenden Schule (je nach berücksichtigter<br />

Leistung) zwischen 10 und 27 Kindern untersucht werden. Der freiwillige Wechsel auf eine Realschule<br />

trotz Gymnasialempfehlung hat langfristig eher negative Folgen hinsichtlich der Leistungsentwicklung:<br />

Während die Kinder in der 4. Klasse noch Leistungen zeigten, die dem Niveau<br />

der späteren Gymnasiastinnen/Gymnasiasten entsprachen, passte sich ihr Leistungsniveau<br />

in der 5. und 6. Klasse zunehmend dem durchschnittlichen Realschulniveau an.<br />

Zehn Kinder widersprachen der Hauptschulempfehlung und wurden im Zuge des Einspruchsverfahrens<br />

auf die Realschule empfohlen – von diesen konnten in der weiterführenden Schule<br />

zwischen drei und fünf Kinder (abhängig vom jeweiligen Fach) untersucht werden. Kinder, die<br />

nach Einspruch gegen die Bildungsempfehlung statt der Haupt- die Realschule besuchen, profitieren<br />

vom Anregungsgehalt dort. Zwar sind sie im Lesen und in Mathematik in der 5. Klasse<br />

noch im unteren Leistungsbereich verglichen mit den anderen Realschüler/-innen, können jedoch<br />

in der 6. Klasse ihr Niveau dem durchschnittlichen Realschulniveau anpassen und bis ans<br />

Ende der 7. Klasse halten. Bei der Entscheidung zwischen Haupt- und Realschule ist die Bildungsempfehlung<br />

der Lehrkräfte demnach (zumindest in einigen Fällen) nach oben zu korrigieren.<br />

Als Grund für einen Einspruch gegen die ursprünglich ausgestellte Bildungsempfehlung wird<br />

von den Eltern häufig genannt, dass die Noten eine andere Schulart nahe legten oder dass das<br />

Kind intelligent genug sei für die höhere Schulart. Erfolge beim Einspruchsverfahren können<br />

häufig mehrsprachig aufwachsende Kinder mit einem relativ hohen sozioökonomischen Hintergrund<br />

verbuchen. Jungen haben eine doppelt so hohe Chance, dass ihre Bildungsempfehlung<br />

nach oben korrigiert wird wie Mädchen. Ein freiwilliger Wechsel nach unten wird eher für Mädchen<br />

in Erwägung gezogen als für Jungen und tendenziell von Eltern, die selbst einen geringen<br />

bis mittleren Schulabschluss und Berufsausbildung haben.<br />

63


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Auch bereits während der ersten beiden Jahre der Sekundarstufe finden Wechsel statt, insgesamt<br />

sind es 22 Kinder, die hälftig in eine niedrigere oder eine höhere Schulform wechseln.<br />

Kinder, die nach der 5. bzw. 6. Klasse auf eine höhere Schulart wechseln, machen tendenziell<br />

größere Leistungsfortschritte als Kinder, die nach der 5. bzw. 6. Klasse auf eine niedrigere<br />

Schulart wechseln. Dabei ist zu beachten, dass die „Aufsteiger/-innen“ (sieben davon sind Mädchen)<br />

und „Absteiger/-innen“ hinsichtlich der Intelligenz vergleichbare Voraussetzungen mitbringen.<br />

Die Aufsteiger/-innen weisen einen geringeren sozioökonomischen Hintergrund auf als<br />

die Absteiger/-innen. Eine Ursache hierfür könnte sein, dass Eltern, die selbst einen geringen /<br />

mittleren Bildungsabschluss haben, ihr Kind zunächst auf eine niedrigere Schulart schicken und<br />

erst, wenn sie feststellen, dass es dort tatsächlich gut mitkommt, einen Wechsel nach oben in<br />

Erwägung ziehen.<br />

3.2 Leistungsentwicklung nach dem Übergang<br />

Ein weiteres Augenmerk der PRISE-Studie lag auf dem Einfluss individueller Faktoren (Geschlecht,<br />

Intelligenz, Sprachfertigkeit) sowie der Schulart und der Bildungsnähe des Elternhauses.<br />

Im Folgenden wird dargestellt, ob und – falls ja – welche der genannten Faktoren die Leistungen<br />

von Schülern/-innen beeinflussen.<br />

3.2.1 Geschlecht<br />

Die Ergebnisse internationaler Schulvergleichsstudien zeigen, dass Jungen insbesondere im<br />

Lesen und Rechtschreiben bis ins Jugendalter deutliche Leistungsrückstände aufbauen. Im<br />

Rahmen der PRISE-Studie konnten für einen solchen Befund allerdings keine Anhaltspunkte<br />

gefunden werden. Weder bei einem Vergleich der Leistungen vor und nach dem Übergang auf<br />

die weiterführende Schule noch bei genauerer Betrachtung des Entwicklungsverlaufs in der<br />

Sekundarstufe lassen sich bedeutsame Leistungsunterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht<br />

feststellen.<br />

3.2.2 Intelligenz<br />

Entsprechend der gängigen Forschungsbefunde erweist sich die kognitive Leistungsfähigkeit<br />

auch im Rahmen der PRISE-Studie als vorhersagestärkster Faktor. Bereits vor dem Übergang<br />

auf die weiterführende Schule weisen mit einer mindestens überdurchschnittlichen Intelligenz<br />

auch in den Lese- und Rechtschreibtests bessere Leistungen als Kinder mit durchschnittlicher<br />

Intelligenz. Die geringsten Lese-/Rechtschreibleistungen erbringen Kinder mit einer Intelligenz<br />

im unteren (Durchschnitts-)bereich. Auf der weiterführenden Schule ergibt sich ein vergleichbares<br />

Bild: Die intelligenteren Schüler/-innen erzielen auch in der 5. bis 7. Klasse bessere Leistungen<br />

als die Gruppen der weniger intelligenten Kinder. Besonders ausgeprägt sind die Leistungsunterschiede<br />

im Fach Mathematik. Interessanterweise zeigt sich jedoch kein sog. „Schereneffekt“.<br />

Intelligentere Kinder erzielen somit im Durchschnitt zwar bessere Schulleistungen.<br />

Die Leistungsunterschiede zwischen den Vergleichsgruppen nehmen über die Zeit hinweg je-<br />

64


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

doch nicht zu. Unter der Annahme, dass intelligentere Kinder über eine höhere Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

und -kapazität verfügen und daher in der Lage sein sollten, den Lernstoff<br />

schneller aufzunehmen und womöglich tiefer zu verarbeiten, wäre mit einem Auseinanderdriften<br />

der Leistungskurven von begabten und weniger begabten Kindern zu rechnen. Das Ausbleiben<br />

eines Schereneffektes könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass der Unterricht gerade für<br />

begabtere Kinder zu wenige Anregungen bietet und auf Differenzierungsangebote für leistungsfähigere<br />

Kinder verzichtet wird. Unterrichtliche Anforderungen orientieren sich überwiegend an<br />

den Leistungen der schwächeren oder durchschnittlichen Schüler/-innen.<br />

3.2.3 Familiärer Hintergrund<br />

Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die familiären Lebensverhältnisse, unter denen<br />

ein Kind aufwächst (hier bestimmt durch das Bildungsniveau der Eltern und die finanzielle Ausstattung<br />

der Familie), wichtige kulturelle Ressourcen darstellen, welche die aktuellen Schulleistungen<br />

und auf lange Sicht auch den Bildungserfolg eines Kindes nachhaltig beeinflussen können.<br />

Prinzipiell gilt: Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, desto besser sind die<br />

Bildungschancen der Kinder. Selbstverständlich stellen eine niedrigere gesellschaftliche Stellung<br />

und ein geringeres Einkommen der Eltern nicht per se Nachteile dar. Allerdings fällt es<br />

wohlhabenden Eltern im Vergleich zu Eltern mit knapperen finanziellen Ressourcen im Allgemeinen<br />

leichter, ihren Kindern günstige Lebens- und Lernbedingungen zu bieten: So haben gut<br />

situierte Eltern u. a. die Möglichkeit, über die Bereitstellung von lernrelevanten Medien (z. B.<br />

Computern, Büchern, Spielen) oder den erleichterten Zugang zu kulturellen Erfahrungen (z. B.<br />

Museums- und Theaterbesuchen, Auslandsaufenthalten) und das hierbei erworbene Wissen,<br />

den Schulerfolg ihrer Kinder positiv zu beeinflussen.<br />

Auch im Rahmen der PRISE-Studie zeigt sich der positive Einfluss eines hohen sozioökonomischen<br />

Hintergrunds. Sowohl vor als auch nach dem Übergang auf die weiterführenden Schulen<br />

erzielen Kinder aus bildungsnahen Familien bessere schulische Leistungen als Kinder aus bildungsferneren<br />

Elternhäusern. Einschränkend muss allerdings festgestellt werden, dass die<br />

Bedeutung des sozioökonomischen Status für den Schulerfolg im Vergleich zu anderen Merkmalen<br />

(z. B. der kognitiven Leistungsfähigkeit und Sprachfertigkeit) eher gering ausfällt. Werden<br />

diese Merkmale in den Analysen berücksichtigt, zeigt sich der positive Effekt eines gutsituierten<br />

und bildungsnahen Elternhauses nur noch in den Fächern Mathematik und Englisch.<br />

3.2.4 Sprachfertigkeit<br />

Ein erfolgreicher schulischer Wissenserwerb setzt die Beherrschung der jeweiligen Unterrichtssprache<br />

voraus. Weicht die familiäre Umgangssprache, wie dies insbesondere bei zugewanderten<br />

Familien häufig der Fall ist, von der Unterrichtssprache ab, so kann sich dies nachteilig auf<br />

die schulische Leistungsentwicklung auswirken. Dies gilt vor allem dann, wenn das Kind die<br />

Zweitsprache Deutsch nur unzureichend beherrscht bzw. auch außerhalb der Schule nur eingeschränkte<br />

Möglichkeiten bestehen, die sprachlichen Kompetenzen in der Unterrichtssprache zu<br />

erweitern. Im Rahmen der PRISE-Studie wurde die Sprachfertigkeit über einen Wortschatztest<br />

65


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

erfasst. Ein Vergleich der schulischen Leistungen von Kindern mit einem sehr umfangreichen<br />

bzw. vergleichsweise geringen Wortschatz zeigt, dass Kinder mit umfangreicherem Wortschatz<br />

im Durchschnitt deutlich bessere Leistungen erzielen. Dies gilt vor und nach dem Übergang und<br />

prinzipiell für alle untersuchten Fächer bzw. Fertigkeiten. Wird in den Analysen neben dem<br />

Wortschatz auch die Intelligenz der Kinder berücksichtigt, verringert sich der Einfluss der<br />

Sprachfertigkeit jedoch. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein enger Zusammenhang zwischen<br />

Intelligenz und Wortschatz besteht und Leistungsunterschiede daher nicht ausschließlich<br />

dem unterschiedlichen Sprachniveau, sondern auch den damit einhergehenden Intelligenzunterschieden<br />

zuzuschreiben sind.<br />

3.2.5 Schulart<br />

Die Aufteilung von Schülern/-innen auf Schularten mit einem unterschiedlichen Anforderungsniveau<br />

(Gymnasium, Realschule, Hauptschule) erfolgt mit dem Ziel, leistungs- und fähigkeitshomogene<br />

und, wie wir inzwischen aus diversen Untersuchungen wissen, auch in anderer Weise<br />

verhaltensähnliche Gruppen zu bilden und auf diese Weise unterschiedlich leistungsstarken<br />

bzw. befähigten Schüler/-innen eine ihren Fähigkeiten / Kenntnissen entsprechende Lernumwelt<br />

zu bieten. Es wird also davon ausgegangen, dass Schüler/-innen mit einer hohen Begabung<br />

oder einem umfangreichen Vorwissen andere Lernanreize benötigen als Schüler/-innen,<br />

die über eine geringere Begabung verfügen oder Wissensdefizite aufweisen. Unter optimalen<br />

Bedingungen sollten daher Gymnasiasten/-innen, die aufgrund ihrer Lernvoraussetzungen den<br />

inhaltlich breiter gefächerten Lernstoff schneller und vertiefter verarbeiten können, einen anspruchsvolleren<br />

Unterricht erhalten als etwa Realschüler/-innen.<br />

Gymnasium / Realschule: Ein Vergleich der Leistungen vor und nach dem Übergang zeigt erwartungsgemäß,<br />

dass Kinder, die ein Gymnasium besuchen, im Allgemeinen bereits am Ende<br />

der 3. Klasse deutlich höhere Leistungen erzielen als zukünftige Realschüler/-innen. Erstere<br />

können ihren Leistungsvorsprung im Lesen und Rechtschreiben bis zum Ende der 6. Klasse<br />

halten. Der erwartbare Schereneffekt bleibt jedoch aus, d. h. es gelingt ihnen nicht, den Wissensvorsprung<br />

weiter auszubauen. Dieser Trend setzt sich auf der weiterführende Schule fort<br />

und betrifft neben den Leistungen im Lesen und Rechtschreiben dann auch die Leistungen im<br />

Fach Englisch. Lediglich im Fach Mathematik zeigen sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe.<br />

Ausgehend von dem erwartbar höheren Ausgangsniveau am Ende der 5. Klasse können<br />

Schüler/-innen des Gymnasiums ihren Leistungsvorsprung im Laufe der 6. und 7. Klasse weiter<br />

vergrößern. Dies gilt auch dann, wenn nur Kinder verglichen werden, die über eine vergleichbare<br />

Intelligenz, Sprachfertigkeit und familiäre Umwelt verfügen, sich jedoch hinsichtlich der besuchten<br />

Schulart unterscheiden. Der beschriebene Schereneffekt ist somit Merkmalen der<br />

Schulart zuzuschreiben und nicht etwa der vermeintlich höheren Intelligenz von Gymnasiasten/innen<br />

bzw. deren eventuell günstigeren außerschulischen Lernumwelten. Im Fach Mathematik<br />

scheint es somit zu gelingen, durch einen anspruchsvollen und dem Leistungs-<br />

/Fähigkeitsniveau angepassten Unterricht die Leistungsentwicklung der Gymnasiastinnen/Gymnasiasten<br />

zu beschleunigen. Dieser Befund ist positiv zu bewerten, und es sollte ver-<br />

66


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

sucht werden, derartige Erfolge auch in anderen Fächern zu erzielen, auch wenn hierdurch die<br />

Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schularten beeinträchtigt wird.<br />

Hauptschule: Die sehr geringe Zahl an Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmern mit<br />

einer Hauptschulempfehlung macht es nötig, diese Gruppe gesondert zu betrachten. Tendenziell<br />

zeigen Hauptschüler/-innen einen ähnlichen Entwicklungsverlauf wie Schüler/-innen der<br />

Realschule und des Gymnasiums. Sie scheinen jedoch auf einem deutlich niedrigeren Niveau<br />

zu starten und können auch am Ende der 7. Klasse erwartungsgemäß nicht mit den Leistungen<br />

der Schüler/-innen der beiden anderen Schularten mithalten.<br />

Bewertung. Obwohl im vorangegangenen Abschnitt das Augenmerk auf Faktoren gelenkt wurde,<br />

die je nach Ausprägung die schulischen Leistungen eines Kindes in unterschiedlicher Weise<br />

beeinflussen, lassen Gruppenunterschiede keine Rückschlüsse auf die Leistungen einzelner<br />

Schüler/-innen zu. Auch wenn sich zwischen den jeweiligen Vergleichsgruppen (z. B. Kinder mit<br />

einer höheren oder geringeren Sprachfertigkeit, Schüler/-innen des Gymnasiums oder der Realschule)<br />

im Durchschnitt Unterschiede erkennen lassen, stehen diese zumeist in keinem Verhältnis<br />

zu den Leistungsunterschieden innerhalb der Gruppen. Wie bereits in Abschnitt 3.1 gezeigt<br />

werden konnte, gibt es also beispielsweise eine ganze Reihe von Realschülern/-innen, die<br />

weitaus bessere Leistungen erzielen als viele Gymnasiasten/-innen, auch wenn sich im Durchschnitt<br />

ein Leistungsvorsprung von Schülern/-innen der Gymnasien zeigt.<br />

3.3 Leistungsentwicklung vergleichbarer Kinder auf unterschiedlichen<br />

Schularten<br />

Für die Beobachtung der Leistungsentwicklungen von Kindern unterschiedlicher Schularten, die<br />

in ihrer Intelligenz, dem sozioökonomischen Hintergrund, dem Geschlecht und dem Vorwissen<br />

(in Lesen und Rechtschreiben in der 4. Klasse) vergleichbar sind (s. Tabellen 4 bis 7) ließen<br />

sich nur zwischen sieben und zwölf Paare finden (je nach betrachtetem Fach eine unterschiedliche<br />

Anzahl), von denen jeweils ein Kind aufs Gymnasium, eines auf die Realschule geht. Vier<br />

Real- und Hauptschul-Paare und drei Gymnasium-Hauptschul-Paare können nur in Form von<br />

Einzelfällen analysiert werden.<br />

67


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Tabelle 4 Merkmale der Kinder, von denen jeweils eines auf dem Gymnasium, eines auf<br />

der Realschule ist (Jahrgang 2002; Kind auf Gymnasium / Kind auf Realschule)<br />

Paar Geschlecht IQ (T-Wert) HISEI<br />

WLLP<br />

(LQ, 4. Klasse)<br />

DRT 4<br />

(T-Wert)<br />

1 ♂ 64 / 60 49 / 45 107 / 99 54 / 56<br />

2 ♂ 60 / 56 53 / 56 122 / 118 49 / 52<br />

3 ♀ 63 / 58 45 / 38 120 / 122 48 / 54<br />

4 ♀ 59 / 50 29 / 29 121 / 116 56 / 54<br />

5 ♀ 58 / 53 74 / 69 103 / 100 64 / 59<br />

6 ♀ 51 / 50 45 / 52 112 / 98 48 / 54<br />

7 ♀ 51 / 52 69 / 69 121 / 122 57 / 53<br />

8 ♀ 59 / 57 69 / 74 105 / 110 52 / 53<br />

9 ♀ 60 / 57 51 / 51 111 / 118 56 / 51<br />

10 ♀ 54 / 57 65 / 59 107 / 102 57 / 50<br />

11 ♀ 61 / 60 51 / 52 93 / 92 48 / 47<br />

12 ♀ 51 / 55 69 / 64 118 / 113 50 / 46<br />

Tabelle 5 Merkmale der Kinder, von denen jeweils eines auf dem Gymnasium, eines auf<br />

der Realschule ist (Jahrgang 2001; Kind auf Gymnasium / Kind auf Realschule)<br />

68<br />

Paar Geschlecht IQ (T-Wert) HISEI<br />

WLLP<br />

(LQ, 4. Klasse)<br />

DRT 4<br />

(T-Wert)<br />

1 ♂ 59 / 54 59 / 52 118 / 122 72 / 59<br />

2 ♂ 53 / 50 54 / 54 101 / 98 56 / 57<br />

3 ♂ 56 / 52 51 / 54 114 / 122 56 / 51<br />

4 ♂ 61 / 62 43 / 40 119 / 121 57 / 51<br />

5 ♂ 48 / 49 69 / 69 101 / 96 49 / 51<br />

6 ♂ 62 / 58 69 / 65 121 / 115 50 / 43<br />

7 ♀ 62 / 60 71 / 70 106 / 113 57 / 64<br />

8 ♀ 62 / 59 49 / 54 121 / 121 52 / 56<br />

9 ♀ 52 / 48 74 / 71 106 / 107 57 / 50


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Tabelle 6 Merkmale der Kinder, von denen jeweils eines auf der Realschule, eines auf der<br />

Hauptschule ist (Kind auf Realschule / Kind auf Hauptschule)<br />

Paar<br />

Geschlecht<br />

IQ (T-Wert) HISEI<br />

WLLP<br />

(LQ, 4. Klasse)<br />

DRT 4<br />

(T-Wert)<br />

1 (Jhg. 02) ♀ 59 / 53 54 / 56 90 / 89 62 / 59<br />

2 (Jhg. 01) ♂ 42 / 45 29 / 31 78 / 72 51 / 51<br />

3 (Jhg. 01) ♂ 50 / 44 38 / 38 74 / 64 43 / 36<br />

4 (Jhg. 01) ♂ 51 / 57 45 / 40 96 / 104 31 / 28<br />

Tabelle 7 Merkmale der Kinder, von denen jeweils eines auf dem Gymnasium, eines auf<br />

der Hauptschule ist (Kind auf Gymnasium / Kind auf Hauptschule)<br />

Paar<br />

Geschlecht<br />

IQ (T-Wert) HISEI<br />

WLLP<br />

(LQ, 4. Klasse)<br />

DRT 4<br />

(T-Wert)<br />

1 (Jhg. 02) ♂ 49 / 45 51 / 53 93 / 93 45 / 41<br />

2 (Jhg. 01) ♀ 62 / 55 45 / 44 97 / 106 50 / 45<br />

3 (Jhg. 01) ♂ 46 / 50 51 / 53 115 / 110 51 / 47<br />

Bei den Paarlingen stellt sich zunächst allgemein die Frage, warum das eine Kind eine Gymnasial-,<br />

das andere Kind eine Realschulempfehlung erhalten hat. Es zeigt sich, dass die Kinder<br />

mit einer Realschulempfehlung in ihrer jeweiligen Grundschulklasse zu den schlechteren Schülerinnen/Schülern<br />

zählten, d. h. ihre Grundschulleistungen waren innerhalb ihrer Klasse<br />

schlechter als von den Kindern mit einer Gymnasialempfehlung.<br />

Trotz vergleichbarer Leistungen und Hintergründe und trotz Gymnasialempfehlung gehen Mädchen<br />

häufig (freiwillig) und öfter als Jungen von der Grundschule auf die Realschule. Bei der<br />

Entscheidung zwischen Realschule und Gymnasium scheint auch eine Rolle zu spielen, ob eine<br />

umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten (im Sinne der Kategorie F81 nach<br />

ICD 10) diagnostiziert wurde: So weisen 21 % der Kinder, die auf die Realschule empfohlen<br />

wurden, eine entsprechende Diagnose wie LRS oder Dyskalkulie oder ADHS auf, auf dem<br />

Gymnasium liegt der Anteil dieser Auffälligkeiten mit nur 2 % (und nur LRS) deutlich niedriger<br />

(bezogen auf die Paarlinge).<br />

Die Gründe, vergleichbare Kinder auf die Real- bzw. Hauptschule zu schicken, sind etwas andere:<br />

Sowohl die späteren Real- als auch Hauptschüler/-innen gehörten in der Grundschule zur<br />

schlechteren Hälfte der Klasse. Die Kinder, die auf die Hauptschule empfohlen werden, wachsen<br />

nicht selten mehrsprachig auf und bringen häufig Belastungen wie LRS und/oder ADHS mit<br />

oder fielen in der Grundschule durch eine recht geringe Lesegeschwindigkeit sowie einen geringen<br />

Wortschatz auf.<br />

69


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Was führte dazu, einen Paarling auf das Gymnasium, den anderen auf die Hauptschule zu<br />

empfehlen? Eltern der späteren Hauptschüler/-innen sind häufig keine Akademiker/-innen und<br />

leben teilweise erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Zum anderen liegen bei allen berücksichtigten<br />

Kindern verschiedene Diagnosen wie LRS, Dyskalkulie oder ADHS vor, wobei zwei<br />

von drei späteren Hauptschüler/-innen sogar mehr als eine dieser Schwierigkeiten aufweisen.<br />

Die Diagnose ADHS findet sich teilweise bereits in den Unterlagen der Einschulungsuntersuchung.<br />

Die Leistungen der Kinder auf unterschiedlichen Schularten entwickeln sich wie folgt: Bei den<br />

Gymnasium-Realschul-Paaren zeigen sich im Lesen und Rechtschreiben geringe Leistungsvorsprünge<br />

zugunsten der Kinder auf dem Gymnasium. In Mathematik und Englisch ist dieser Unterschied<br />

statistisch bedeutsam. Während sich in Mathematik die Schere erst im Laufe der<br />

Schulzeit öffnet, sind die Gymnasial-Kinder in Englisch bereits am Ende der 5. Klasse besser.<br />

In diesen Fächern dürfte Art und Umfang der Stoffvermittlung zu den Leistungsunterschieden<br />

führen.<br />

Die wenigen vergleichbaren Kinder, die auf der Real- bzw. Hauptschule beschult werden, entwickeln<br />

sich im Rechtschreiben und der Lesegeschwindigkeit ebenfalls relativ ähnlich. Zwar<br />

sind Vorteile zugunsten der Realschüler/-innen erkennbar, sie fallen jedoch nicht übermäßig<br />

groß aus. Größere Unterschiede zeigen sich jedoch in Mathematik und Englisch: Hier schneiden<br />

die Realschüler/-innen deutlich besser ab als die Hauptschüler/-innen. Möglicherweise war<br />

die Hauptschulempfehlung in der Hoffnung erteilt worden, dass den Kindern dort eine angemessenere<br />

Förderung zukommt. Die Leistungsentwicklung lässt jedoch erahnen, dass die Förderung<br />

zumindest die im Vergleich zur Realschule unterschiedliche Leistungsentwicklung nicht<br />

verhindern konnte. Eine Entwicklung, die wohl überwiegend dem unterschiedlichen Anforderungsniveau<br />

zwischen den Schularten und der damit verbundenen Art und Weise der Vermittlung<br />

von Wissen geschuldet ist.<br />

Kinder der Gymnasien weisen verglichen mit ihren „Paarlingen“ der Hauptschulen deutliche<br />

Leistungsvorsprünge beim Rechtschreiben auf. Auch in Mathematik schneiden die Kinder der<br />

Gymnasien besser ab als ihre vergleichbaren „Paarlinge“ der Hauptschulen. Bei der Lesegeschwindigkeit<br />

und in Englisch sind diese Unterschiede ebenfalls erkennbar, jedoch weniger<br />

stark ausgeprägt.<br />

Bei Kindern mit einer Entwicklungsauffälligkeit wie LRS, Dyskalkulie oder ADHS nehmen Lehrkräfte<br />

vielleicht an, dass diese Kinder in der Haupt- oder Realschule besser als im Gymnasium<br />

gefördert werden können. In den unterschiedlichen Schulformen scheint es jedoch nicht zu<br />

gelingen, das Potenzial der nach Vorwissen und kognitiver Leistungsfähigkeit vergleichbaren<br />

Kinder in gleichem Ausmaß zu nutzen und die erschwerten Lernbedingungen zu kompensieren.<br />

Vielmehr bleibt das Leistungsniveau der Realschüler/-innen und insbesondere der Hauptschüler/-innen<br />

deutlich hinter der Leistung der Gymnasiastinnen/Gymnasiasten zurück.<br />

70


3.4 Schutzfaktoren beim Übergang<br />

PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Wenn trotz Risikomerkmalen und einer Belastungssituation wie dem Übergang in die Sekun-<br />

darstufe I gute schulische Leistungen erzielt werden, ist davon auszugehen, dass Schutzfakto-<br />

ren die Risiken kompensieren oder zumindest abschwächen.<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass das Risiko für schlechte Schulleistungen, das sich durch einen<br />

geringen sozioökonomischen Hintergrund ergibt, am ehesten durch eine hohe Intelligenz, einen<br />

guten (deutschen) Wortschatz (vgl. Abb. 5) sowie hohe Bildungsaspirationen der Eltern ausgeglichen<br />

werden kann. Unklar bleibt allerdings, ob die Bildungsaspirationen der Eltern Folge oder<br />

Ursache der guten Schulleistungen sind. Zudem zeigt sich tendenziell: (a) Mädchen können<br />

den Risikofaktor geringer sozioökonomischer Hintergrund eher ausgleichen als Jungen, (b) der<br />

Gymnasialbesuch wirkt „schützend“ (was sicherlich auch der höheren Intelligenz zuzuschreiben<br />

ist) und (c) eine geringe Schulangst wirkt dem Risiko entgegen (wobei diese auch als Folge<br />

guter Schulleistungen interpretiert werden kann).<br />

Abbildung 5 Intelligenz und Wortschatz von Kindern, die trotz geringem sozioökonomischem<br />

Hintergrund überdurchschnittliche Mathematikleistungen erbringen<br />

T-Werte<br />

70<br />

65<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

überdurchschnittlich durchschnittlich unterdurchschnittlich<br />

Matheleistung nach 2 Jahren weiterführende Schule<br />

Intelligenz<br />

Wortschatz<br />

Eine geringe kognitive Leistungsfähigkeit ist durch einen hohen sozioökonomischen Hintergrund,<br />

guten Wortschatz, hohes Vorwissen (aus der Grundschule) und den Besuch einer möglichst<br />

hoch qualifizierenden Schule kompensierbar.<br />

Ein geringer Wortschatz kann am ehesten durch eine hohe Intelligenz, einen hohen sozioökonomischen<br />

Hintergrund, den Besuch einer möglichst hoch qualifizierenden Schulart sowie hohe<br />

Bildungsaspirationen der Eltern ausgeglichen werden. Selbst bei geringem Wortschatz wirkt<br />

sich jede Verbesserung des Wortschatzes sofort positiv auf die Schulleistungen aus. Vermutlich<br />

geht eine Wortschatzverbesserung mit einer Verbesserung der Deutschkompetenz einher.<br />

71


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Ein geringes Vorwissen (d. h. ein geringeres Leistungsniveau der Grundschulklasse) wird am<br />

besten durch eine hohe Intelligenz, einen hohen Wortschatz, einen hohen sozioökonomischen<br />

Hintergrund und den Besuch einer möglichst hoch qualifizierenden Schulart kompensiert. Wissenslücken<br />

können demnach durch vermehrte und anspruchsvollere Wissensvermittlung ausgeglichen<br />

werden. Jede Verbesserung des Vorwissens mindert das Risiko von schwachen<br />

schulischen Leistungen. Tendenziell zeigt sich zudem, dass hohe Bildungsaspirationen der<br />

Eltern, sowie auf Seiten der Schüler/-innen eine positive Einstellung zur Schule und ein hohes<br />

Gefühl des Angenommenseins von Lehrkräften risikomindernd wirken.<br />

3.5 Entwicklung der Lern- und Leistungsmotivation sowie des Fähigkeitsselbstkonzepts<br />

nach dem Übergang<br />

3.5.1 Entwicklung von Lern- und Leistungsmotivation<br />

In der PRISE-Studie wurden vier motivationale Zielorientierungen unterschieden: Lernziel- (LZ),<br />

Annäherungs- (AL) und Vermeidungsleistungsorientierung (VL) sowie Arbeitsvermeidung (AV).<br />

Lernzielorientierte Schüler/-innen streben danach, ihre Fertigkeiten und Kenntnisse zu erweitern<br />

und arbeiten daher auch dann ausdauernd weiter, wenn sich Schwierigkeiten und Hindernisse<br />

ergeben. Leistungszielorientierte sind hauptsächlich darauf bedacht, kompetent zu erscheinen<br />

(AL) und einen möglichen Mangel an Fähigkeiten zu verbergen (VL). Entsprechend sind sie<br />

weniger geneigt, Fehler zu ignorieren und auch angesichts von Schwierigkeiten ausdauernd bei<br />

einer Sache zu bleiben. Beides würde vielmehr als ein Zeichen für Inkompetenz bzw. Versagen<br />

gewertet. Leistungszielorientierte Schüler/-innen bevorzugen Aufgaben, die ihnen bekannt sind<br />

und vermeiden Risiken. Sie streben danach, besser abzuschneiden als andere Schüler/-innen,<br />

wobei das letztlich erzielte Fähigkeitsniveau keine Rolle spielt. In der jüngeren Vergangenheit<br />

wurde eine vierte Dimension, die Arbeitsvermeidungsorientierung zur Liste der Leistungsziele<br />

hinzugefügt. Schüler/-innen mit einer hohen Arbeitsvermeidungsorientierung bevorzugen leichte<br />

Aufgaben. Dies ist allerdings nicht auf einen Mangel an Fähigkeiten zurückzuführen, sondern<br />

auf den Wunsch, das Arbeitsvolumen möglichst gering zu halten (z. B. um mehr Zeit für außerschulische<br />

Aktivitäten zu haben).<br />

Die Zielorientierungen der Schüler/-innen wurden jeweils zweimal erfasst: am Ende der 5. und<br />

6. Klasse (Jg. 2002) bzw. am Ende der 6. und 7. Klasse (Jg. 2001). Darüber hinaus lagen aus<br />

der EVES-Studie für beide Jahrgänge die Zielorientierungen der 3. und 4. Klasse vor.<br />

Die populäre Erkenntnis, dass sich die Motivation von Schülern/-innen im Laufe der Schulzeit<br />

verringert, kann nur teilweise bestätigt werden: So zeigt sich zwar eine deutliche Verringerung<br />

der Leistungsmotivation vom Ende der 3. bis zum Ende der 6. Klasse. Die Lernmotivation bzw.<br />

der Wunsch die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erweitern, bleiben hingegen auf hohem<br />

Niveau stabil. Dies gilt für Schüler/-innen der unterschiedlichen Schularten, Mädchen und Jungen<br />

sowie Schüler/-innen mit hoher bzw. vergleichsweise niedriger Begabung. Da üblicherweise<br />

davon ausgegangen wird, dass sich eine hohe Lernzielorientierung positiv und eine hohe Leistungszielorientierung<br />

eher negativ auf den schulischen Erfolg auswirkt, ist dieser Befund ohne<br />

Frage erfreulich.<br />

72


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Obwohl die Entwicklung der Zielorientierungen in den verglichenen Schüler/-innengruppen sehr<br />

ähnlich verläuft, zeigen sich zwischen den Vergleichsgruppen geringe, aber doch erkennbare<br />

Unterschiede. So sind etwa Jungen im Vergleich zu Mädchen sowohl vor als auch nach dem<br />

Übergang auf die weiterführende Schule stärker bemüht, Kompetenz zu demonstrieren (AL).<br />

Sie verfügen vor dem Übergang zudem über eine etwas stärkere Vermeidungsleistungsorientierung<br />

und Arbeitsvermeidungshaltung. Dieser Unterschied scheint sich nach dem Übergang<br />

jedoch auszugleichen.<br />

Mit der Bildungsempfehlung erhalten die Schüler/-innen in der 4. Klasse eine Rückmeldung<br />

über die bisher erzielten und zukünftig zu erwartenden Leistungen. Es erscheint erwartbar, dass<br />

sich einerseits Schüler/-innen mit einem unterschiedlichen Leistungsniveau in ihrer motivationalen<br />

Orientierung unterscheiden und sich andererseits für diese Schüler/-innengruppen in Folge<br />

der Bildungsempfehlung unterschiedliche motivationale Verläufe ergeben. Der Vergleich der<br />

Zielorientierungen zeigt, dass Schüler/-innen, die zukünftig eine Haupt- oder Realschule besuchen<br />

werden, eher den Wunsch verspüren, auf andere einen kompetenten Eindruck zu machen<br />

(AL) und mögliche Schwächen zu verbergen (VL) als die Kinder, die aufs Gymnasium wechseln.<br />

Doch auch die Tendenz zur Arbeitsvermeidung scheint bei diesen Schüler/-innengruppen<br />

höher ausgeprägt zu sein als bei Gymnasiastinnen/Gymnasiasten. Unterschiedliche Entwicklungsverläufe<br />

lassen sich jedoch nicht feststellen. Um auszuschließen, dass Unterschiede in<br />

den Zielorientierungen von Schülern/-innen der verschiedenen Schularten auf etwaige Intelligenzunterschiede<br />

zurückzuführen sind, wurden die Zielorientierungen einer hinsichtlich ihrer<br />

Intelligenz vergleichbaren Gruppe von Realschülern/-innen und Gymnasiasten/-innen verglichen.<br />

Die Analysen wurden dabei auf die 5. Klasse ausgedehnt und damit das Augenmerk auch<br />

auf Veränderungen gerichtet, die sich möglicherweise erst nach dem Übergang auf die weiterführende<br />

Schule ergeben. Nach der Parallelisierung ergeben sich jedoch keine Unterschiede<br />

hinsichtlich der Lern- und Leistungszielorientierung.<br />

Zwischen kognitiver Leistungsfähigkeit und Höhe der Zielorientierungen scheint demnach ein<br />

Zusammenhang zu bestehen. Ein Vergleich der Zielorientierungen von Schülern/-innen mit<br />

hoher, durchschnittlicher und vergleichsweise niedriger Intelligenz zeigt auch, dass Schüler/innen<br />

mit höherer Intelligenz eine geringere Arbeitsvermeidungstendenz aufweisen. Im Bereich<br />

der Leistungszielorientierung weisen Schüler/-innen, deren IQ im oberen Durchschnittsbereich<br />

liegt, tendenziell die niedrigsten leistungsmotivationalen Tendenzen auf. Die Unterschiede zwischen<br />

den Schüler/-innengruppen sind jedoch – außer im Falle der Arbeitsvermeidung – äußerst<br />

gering. Unterschiede hinsichtlich der Lernzielorientierung ergeben sich nicht.<br />

Ausgehend von der Annahme, dass bestimmte motivationale Tendenzen (z. B. eine hohe Lernzielorientierung)<br />

gute schulische Leistungen begünstigen, wurde schließlich geprüft, ob der<br />

Ausprägungsgrad der Zielorientierungen die Testleistungen der Schüler/-innen in den Fächern<br />

Deutsch (Leseverständnis, Rechtschreibung), Mathematik und Englisch tatsächlich beeinflusst.<br />

Hierzu wurden die Leistungen von Kindern verglichen, deren Merkmalsausprägung (LZ, AL, VL,<br />

AV) bezogen auf die teilnehmenden Heidelberger Schüler/-innen entweder im Bereich der oberen<br />

oder der unteren 25 Prozent lag. Bei allen vier Vergleichen sind die Gruppen bezüglich Intelligenz<br />

und sozioökonomischem Hintergrund parallelisiert, sie unterscheiden sich aber hin-<br />

73


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

sichtlich ihrer Zielorientierung. Der Vergleich von Drittklässlerinnen und Drittklässlern bzw.<br />

Sechstklässlerinnen und Sechstklässlern mit einer eher starken (4. Quartil) bzw. eher schwachen<br />

(1. Quartil) Zielorientierung zeigt, dass sich weder vor noch nach dem Übergang auf die<br />

weiterführende Schule bedeutsame Leistungsunterschiede in Abhängigkeit von der Stärke der<br />

Zielorientierung ergeben. Dies gilt für alle untersuchten Fertigkeiten und alle<br />

Lern-/Leistungsziele. Die populäre Annahme, dass Lernziele Lernhandlungen fördern und den<br />

Lernerfolg erhöhen, während Leistungsziele die Lernqualität eher mindern, kann damit nicht<br />

bestätigt werden. Es zeigt sich vielmehr, dass die Motivation nur eine von vielen Leistungsdeterminanten<br />

darstellt und im Allgemeinen keinen besonders großen Einfluss auf die schulischen<br />

Leistung bzw. den Schulerfolg eines Individuums hat.<br />

3.5.2 Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts<br />

Das in der Grundschule aufgebaute Fähigkeitsselbstkonzept wirkt auf den weiterführenden<br />

Schulen nach: Kinder, die in der Grundschule zu den schlechtesten Kindern zählten (und demnach<br />

ein geringes Fähigkeitsselbstkonzept hatten) und nach dem Wechsel in ihrem neuen<br />

Klassenkontext zu den leistungsstärksten Kindern gehören, passen zwar ihr Fähigkeitsselbstkonzept<br />

mit der Zeit an – allerdings dauert es drei Jahre, bis sie ihre Fähigkeiten auch selbst<br />

leistungsangemessener einzuschätzen in der Lage sind. Noch mehr Zeit bis zur Anpassung des<br />

Fähigkeitsselbstkonzepts an die Leistungsposition vergeht bei Kindern, die in der Grundschule<br />

zu den Klassenbesten und nach dem Übergang zu den Schlechtesten der Klasse zählen: Zwar<br />

schätzen sie am Ende der 6. Klasse ihre eigenen Fähigkeiten schon deutlich schlechter ein als<br />

noch in der Grundschule, allerdings sinken sie bis ans Ende der 7. Klasse nicht auf das Niveau<br />

ab, das leistungsschwache Schüler/-innen in der Grundschule aufwiesen. Die Abnahme des<br />

Fähigkeitsselbstkonzepts verläuft demnach etwas langsamer als die Zunahme: Ein in der<br />

Grundschule erworbenes positives Fähigkeitsselbstkonzept schützt wohl davor, Misserfolgserlebnisse<br />

in der weiterführenden Schule unmittelbar auf eigene mangelnde Fähigkeiten zu beziehen.<br />

Viele Kinder erleben, dass die Noten in der weiterführenden Schule um eine Note<br />

schlechter werden. Diese Verschlechterung wird offenbar infolge höherer Anforderungen als<br />

„tolerabel“ betrachtet – sie hat keine Auswirkungen auf das Fähigkeitsselbstkonzept. Ebenso<br />

wirkungslos für das Fähigkeitsselbstkonzept ist die besuchte Schulart: Kinder an Gymnasien<br />

haben zwar insgesamt betrachtet ein höheres Fähigkeitsselbstkonzept als Kinder der Realoder<br />

Hauptschulen, allerdings unterscheiden sich die Noten der Kinder auf den einzelnen<br />

Schularten. Eine Berücksichtigung der Noten zeigt, dass gleiche Noten in den einzelnen Schularten<br />

mit einem vergleichbaren Fähigkeitsselbstkonzept einhergehen (vgl. Abb. 6). Die Schulart<br />

wirkt dabei nicht (zusätzlich) auf- oder abwertend.<br />

74


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Abbildung 6 Fähigkeitsselbstkonzept in Mathematik in der 7. Klasse in Abhängigkeit der<br />

FSK Mathe (7. Kl., T-Wert)<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Mathenote auf den einzelnen Schularten<br />

1 2 3 4 5<br />

Mathenote (7. Klasse)<br />

Gymnasium<br />

Realschule<br />

Hauptschule<br />

Bezogen auf das Fähigkeitsselbstkonzept kann gemäß des „Big-fish-little-pond-Effektes“ bestätigt<br />

werden, dass es für Schüler/-innen günstiger ist, ein/e gute/r Realschüler/-in zu sein als<br />

ein/e schlechte/r Gymnasiast/-in.<br />

Wenn ein Kind nach dem Übergang in einem Fach besser / schlechter wird und die Note in<br />

diesem Fach über / unter die Noten in den anderen Fächern sinkt, verändert sich auch das Fähigkeitsselbstkonzept.<br />

Insbesondere das Fähigkeitsselbstkonzept im Fach Mathematik ist stark<br />

von den Vergleichen mit den Leistungen in den anderen Fächern beeinflusst. Das Fähigkeitsselbstkonzept<br />

in Deutsch ist dagegen robuster.<br />

Es lässt sich vermuten, dass die subjektiv wahrgenommene Schwierigkeit von Fächern für diese<br />

Effekte eine Rolle spielen – demnach kann angenommen werden, dass Mathematik als recht<br />

schwieriges Fach eingeschätzt wird, gefolgt von Englisch, während Deutsch (insbesondere für<br />

Muttersprachler/-innen) als „einfacheres“ Fach zu gelten scheint. Für Noten und Testleistungen<br />

zeigt sich dasselbe Muster. Dies spricht dafür, dass das Fähigkeitsselbstkonzept nicht nur über<br />

die Noten vermittelt wird, sondern dass die Kinder auch selbst wahrnehmen, was ihnen schwer<br />

oder leicht fällt.<br />

3.6 Kriterien der Eltern bei der Wahl einer Einzelschule<br />

Die herangezogenen Entscheidungskriterien bei der Wahl der Einzelschule variieren in Abhängigkeit<br />

von der empfohlenen Schulform: Bei der Wahl des Gymnasium ist das Schulprofil das<br />

wichtigste Kriterium – insbesondere das Fächerangebot der Schule. Bei der Wahl der Realschule<br />

sind Rahmenbedingungen wie die Klassengröße, die Ausstattung der Schule oder die<br />

Tatsache, dass es sich bei der gewählten Schule um eine Mädchenschule handelt, am wichtigsten.<br />

Für die Wahl der Hauptschule werden als ausschlaggebend genannt: (a) Schulprofil – insbesondere<br />

die Zusatzangebote wie Mittagstisch, AG’s und Förderangebote, (b) subjektiv wahrgenommene<br />

Schulqualität durch Freunde und Bekannte (Empfehlung der Schule, Ruf der<br />

Schule), (c) Schulweg. Das Kriterium Schulweg lässt darauf schließen, dass von der erst seit<br />

75


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

kurzem bestehenden Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Hauptschulen noch eher selten<br />

Gebrauch gemacht wurde. Dem Schulweg kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als<br />

auch bei der Wahl des Gymnasiums oder der Realschule dieses Kriterium mitberücksichtigt<br />

wird. Wichtig ist den Eltern allerdings auch der Wunsch des Kindes – dies gilt vor allem bei der<br />

Wahl des Gymnasiums. Die Schulwahl ist sicherlich auch davon beeinflusst, welche Informationen<br />

über eine Schule zur Verfügung stehen: Bei einem Gymnasium lässt sich allein schon aufgrund<br />

der unterschiedlichen Züge und Fächerangebote ein spezifisches Schulprofil eher erkennen<br />

als bei Real- oder Hauptschulen.<br />

Ähnlich wie die Bildungsempfehlung wirkt sich auch der sozioökonomische Hintergrund auf die<br />

Schulwahl aus: Eltern mit einem relativ hohen sozioökonomischen Status schicken ihre Kinder<br />

eher auf eine Schule, bei der die Eltern die Vermittlung von spezifischen (häufig christlichen)<br />

Werten als gegeben sehen. Dies trifft insbesondere für (kirchliche) Privatschulen zu – aufgrund<br />

der Schulgebühren ist es wenig verwunderlich, dass sich hauptsächlich Eltern mit entsprechendem<br />

sozioökonomischem Status für eine solche Schule entscheiden. Eltern mit niedrigem sozioökonomischem<br />

Status orientieren sich stärker an der konkreten Schulform – viele Eltern<br />

wählen eine Mädchenschule oder eine Gesamtschule (hier wird häufig der Wunsch nach einem<br />

möglichst hohen Schulabschluss genannt) – sowie an Empfehlungen durch Bekannte.<br />

Die Suche nach Informationen zum Thema Übergang verläuft größtenteils unabhängig davon,<br />

welche Bildungsempfehlung ein Kind erhalten hat. Nahezu alle Eltern informieren sich im Gespräch<br />

mit den Lehrkräften der Grundschule zur Übergangssituation, und ein Großteil erlebt<br />

dieses Gespräch als hilfreich. Weniger hilfreich werden Informationsveranstaltungen und<br />

Schnuppernachmittage betrachtet. Die Schnuppernachmittage werden von angehenden Hauptschüler/-innen<br />

seltener genutzt als von angehenden Realschüler/-innen oder Gymnasiastinnen/Gymnasiasten<br />

– dies könnte jedoch daran liegen, dass Hauptschulen ein solches Angebot<br />

seltener möglich machen.<br />

3.7 Veränderungen durch den Übergang aus Sicht der Eltern und<br />

Schüler/-innen<br />

Eltern und Kinder sind gemäß ihrer Angaben am Ende der 5. bzw. 6. Klasse größtenteils mit der<br />

gewählten weiterführenden Schule zufrieden: Bei einer erneuten Wahl würden sich die meisten<br />

Eltern wie auch Kinder wieder für die gewählte Schule entscheiden. Direkt nach dem Wechsel<br />

(in der 5. Klasse) werden v. a. die verschiedenen Schulfächer von den Kindern besser bewertet<br />

als in der Grundschule. Dies beschränkt sich nicht auf die neu hinzugekommenen Fächer, vielmehr<br />

sind es Fächer, welche die Kinder schon aus der Grundschule kennen, die ihnen besonderen<br />

Spaß bereiten. Ein Jahr später (6. Klasse) hat sich diese Bewertung verändert – die Fächer<br />

gehören nun zum Schulalltag und werden nicht mehr so positiv bewertet. Dafür ist ein Jahr<br />

nach dem Wechsel die Zufriedenheit mit den Lehrkräften und Mitschülerinnen/Mitschülern höher<br />

als im ersten Schuljahr nach dem Übergang.<br />

Befragt nach den Vor- und Nachteilen der weiterführenden Schule bzw. nach Merkmalen, die<br />

den Kindern besser oder schlechter als in der Grundschule gefallen, zeigt sich, dass Kinder und<br />

76


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Eltern die Merkmale unterschiedlich gewichten: Kinder bewerten insbesondere Merkmale des<br />

Schulgebäudes und -geländes positiv. Auch das Vorhandensein einer Cafeteria / eines Bäckers<br />

in der Schule wird sehr positiv gesehen. Die Eltern nehmen Schulleitung und Lehrkräfte sowie<br />

die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus positiv wahr. Auch das Schulkonzept wird<br />

von Eltern eher lobend erwähnt. Dass auch für die Kinder ihre neuen Lehrkräfte wichtig sind,<br />

drückt sich in ihrem häufigsten Wunsch vor dem Wechsel in die neue Schule aus: Sie wünschen<br />

sich nämlich insbesondere „nette“ Lehrkräfte. Bei negativen Bewertungen stimmen Eltern<br />

und Kinder in ihrer Einschätzung stärker überein: Genannt werden (a) der Schulweg, der nach<br />

dem Übergang in die 5. Klasse noch als weit größerer Nachteil empfunden wird als ein Jahr<br />

später, und (b) die Leistungsanforderungen. Insbesondere in der 6. Klasse stellen die Kinder<br />

am Gymnasium fest, dass sie sich für eine gute Note deutlich mehr anstrengen müssen und im<br />

Unterricht weniger gut mitkommen als auf der Grundschule – ihr Wunsch nach guten Noten<br />

erfüllt sich am seltensten. Die hohen Leistungsanforderungen schlagen sich auch in vermehrter<br />

außerschulischer Unterstützung nieder: Neben häufigerem häuslichem Üben wird auch häufiger<br />

Nachhilfe (v. a. in den Fremdsprachen) in Anspruch genommen. Die Eltern sehen zudem<br />

Schwierigkeiten beim Übergang, wenn das Kind in seiner neuen Klasse niemanden kennt und<br />

ohne einen Freund / eine Freundin auf die neue Schule wechselte. Knapp 80 % aller Kinder<br />

kannten zumindest ein Kind in der neuen Schule und viele vollziehen den Übergang zur weiterführenden<br />

Schule zusammen mit einem Freund / einer Freundin – trifft dies nicht zu, wünschen<br />

sich viele Kinder in eine andere Schule zu gehen, nämlich in diejenige, die von einem Freund /<br />

einer Freundin besucht wird. Für die meisten Kinder erfüllt sich jedoch der Wunsch, in der neuen<br />

Schule schnell Freunde / Freundinnen zu finden. Ein Jahr nach dem Wechsel werden die<br />

Mitschüler/-innen zudem positiver erlebt, als im Schuljahr nach dem Übergang. Dies drückt sich<br />

auch in der hohen sozialen Integration in die Klasse aus – ein Großteil der Kinder fühlt sich in<br />

hohem Ausmaß von den Mitschülern / Mitschülerinnen akzeptiert. Für Hauptschüler/-innen, die<br />

aufgrund der Zusammenlegung der Hauptschulen nach einem bzw. zwei Schuljahren erneut mit<br />

einer neuen Klassenzusammensetzung konfrontiert waren, trifft dies nicht zu – sie erleben nach<br />

dem erneuten „Wechsel“ eine relativ geringe soziale Integration. Das Gefühl des Angenommenseins<br />

durch die Lehrkräfte ist im Schuljahr nach dem Übergang etwas höher als am Ende der 7.<br />

Klasse, und die Kinder fühlen sich in der 5. Klasse wohler als in den höheren Klassenstufen.<br />

Wie aufgrund bisheriger Studien zu erwarten war, verringert sich die Lernfreude mit jedem hinzukommenden<br />

Schuljahr.<br />

Die Prüfungsangst variiert mit der Schulform: Hauptschüler/-innen können ihre Prüfungsangst<br />

zunehmend verringern, während sie bei Kindern am Gymnasium steigt.<br />

Zusammenfassend ergibt sich insgesamt eine recht positive Bewertung der Folgen des Übergangs<br />

auf die weiterführenden Schulen. Schwierigkeiten sind hauptsächlich den veränderten<br />

Leistungsanforderungen und – v. a. direkt nach dem Übergang – dem Wegfall bisheriger<br />

Freundschaften in der Klasse geschuldet. Für Kinder und Eltern sind zwar unterschiedliche<br />

Merkmale bei der Bewertung der Schule von Bedeutung – beide sind insgesamt aber sehr zufrieden<br />

mit der neuen Schule.<br />

77


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

4 Auflistung der projektrelevanten Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

Treutlein, A., Zöller, I., Roos, J. & Schöler, H. (2009). Einfluss des Klassenkontexts auf Selbstund<br />

Fremdwahrnehmung in der Primar- und Sekundarstufe. Poster anl. DGfE-<br />

Sektionstagung „Empirische <strong>Bildungsforschung</strong>“, Landau, 21.-25. März 2009.<br />

Zöller, I., Treutlein, A., Roos, J. & Schöler, H. (2008). PRISE – Der Übergang vom Primar- zum<br />

Sekundarbereich. Design, Methoden und erste Ergebnisse. Unveröff. Arbeitsbericht.<br />

5 Literatur<br />

Baumert, J. & Schümer, G. (2001). Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und<br />

Kompetenzerwerb. In J., Baumert, E. Klieme, M., Neubrand, M., Prenzel, U., Schiefele, W.,<br />

Schneider, P., Stanat, K.-J. Tillmann, & M. Weiß, (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323-407). Opladen, Leske<br />

+ Budrich.<br />

Billmann-Mahecha, E. & Tiedemann, J. (2006). Übergangsempfehlungen als kritisches Lebensereignis:<br />

Migration, Übergangsempfehlung und Fähigkeitsselbstkonzept. In A. Schründer-<br />

Lenzen (Hrsg.), Risikofaktoren kindlicher Entwicklung – Migration, Leistungsangst und<br />

Schulübergang. Wiesbaden: VS.<br />

Bos, W., Lankes, E.-M., Prenzel, M., Schwippert, K., Walther, G. & Valtin, R. (2004). IGLU. Einige<br />

Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich.<br />

Münster: Waxmann.<br />

Büchner, P. & Koch, K. (2001). Von der Grundschule in die Sekundarstufe. Band 1 Der Übergang<br />

aus Kinder- und Elternsicht. Leske + Budrich: Opladen.<br />

Clausen, M. (2006). Warum wählen Sie genau diese Schule? Zeitschrift für Pädagogik, 52, 69-<br />

90.<br />

Darge, K. (2008). Und wo bleibt die Schulfreude? – Ergebnisse aus einer Längsschnittuntersuchung<br />

aus Berlin. Vortrag auf dem Symposium der Universität Köln. Verfügbar unter:http://www.symposium2008.uni-koeln.de/uploads/media/vortrag_darge.pdf<br />

[16.4.09]<br />

Drechsel, B. & Artelt, C. (2007). Lesekompetenz. In M. Prenzel, C. Artelt, J. Baumert, W. Blum,<br />

M. Hammann, E. Klieme & R. Pekrun (Hrsg.), PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen<br />

Vergleichsstudie. Münster: Waxmann.<br />

Elias, M., Gara, M. & Ubriaco, M. (1985). Sources of stress and support in children’s transition<br />

to middle school: an empirical analysis. Journal of Clinical Child Psychology, 14, 112-118.<br />

Geck, C. (2004). Fähigkeitsselbstkonzepte vor und nach dem Übergang in die weiterführende<br />

Schule. Verfügbar unter: iim.uni-giessen.de/Postertag2004/pdf/Geck.pdf [23.04.09]<br />

78


PRISE<br />

Der Übergang vom Primar- zum Sekundarbereich<br />

Gerlach, E., Trautwein, U. & Lüdtke, O. (2007). Referenzgruppeneffekte im Sportunterricht.<br />

Kurz- und langfristig negative Effekte sportlicher Klassenkameraden auf das sportbezogene<br />

Selbstkonzept. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 38, 73-83.<br />

Helmke, A. (1993). Entwicklung der Lernfreude vom Kindergarten bis zur 5. Klassenstufe. Zeit-<br />

schrift für Pädagogische Psychologie, 7, 77-86.<br />

Konsortium Bildungsberichterstattung im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister<br />

der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung<br />

und Forschung (Hrsg.). (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht<br />

mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann Verlag.<br />

Lehmann, R. & Nikolova, R. (2005). ELEMENT. Erhebung zum Lese- und Mathematikverständ-<br />

nis – Entwicklung in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin. Bericht über die Untersuchung<br />

2003 an Berliner Grundschulen und grundständigen Gymnasien. Verfügbar unter:<br />

http://www.berlin.de/imperia/md/content/senbildung/schulqualitaet/schulleistungsuntersuchungen/element_untersuchungsbericht_2003.pd<br />

f [15.4.09]<br />

Maier, U. (2007. Leistungserwartungen von Grundschullehrkräften an zukünftige Sekundarschüler.<br />

Empirische Pädagogik, 21, 38-57.<br />

Marsh, H. (1987). The big-fish-little-pond effect on academic self-concept. Journal of Educational<br />

Psychology, 79, 280-295.<br />

Marsh, H. (2005). Big-fish-little-pond effect on academic self-concept. Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie, 19, 119-127.<br />

Marsh, H., Trautwein, U., Lüdtke, O., Baumert, J. & Köller, O. (2007). The Big-Fish-Little-Pond-<br />

Effect: Persistent negative effects of selective high schools on self-concept after graduation.<br />

American Educational Research Journal, 44, 631-669.<br />

Mitzlaff, H. & Wiederhold, K. (1989). Gibt es überhaupt „Übergangsprobleme“? In R. Portmann,<br />

K. Wiederhold & H. Mitzlaff (Hrsg.), Übergänge nach der Grundschule. Frankfurt a. M.: Arbeitskreis<br />

Grundschule e. V.<br />

Möller, J. & Köller, O. (2004). Die Genese akademischer Selbstkonzept: Effekte dimensionaler<br />

und sozialer Vergleiche. Psychologische Rundschau, 55, 19-27.<br />

Prenzel, M., Schütte, K., Rönnebeck, S., Senkbeil, M., Schöps, K. & Carstensen, C. H. (2008).<br />

Der Blick in die Länder. In PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.), PISA 2006 in Deutschland.<br />

Die Kompetenzen der Jugendlichen im dritten Ländervergleich (S. 149-263). Münster:<br />

Waxmann.<br />

Roos, J. & Schöler, H. (Hrsg.). (2009). Schriftspracherwerb in der Grundschule. Längsschnittanalyse<br />

zweier Kohorten über die Grundschulzeit. Wiesbaden: VS.<br />

79


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Schwarzer, R., Lange, B. & Jerusalem, M. (1982). Selbstkonzeptentwicklung nach einem Be-<br />

80<br />

zugsgruppenwechsel. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie,<br />

14, 125-140.<br />

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik<br />

Deutschland (2006). Übergang von der Grundschule in Schulen des Sekundarbereichs I. Informationsunterlage<br />

des Sekretariats der Kultusministerkonferenz. Verfügbar unter:<br />

http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2006/2006_03_00-<br />

Uebergang-Grundsch-SekI-01.pdf [23.04.09]<br />

Trautwein, U. & Baeriswyl, F. (2007). Wenn leistungsstarke Klassenkameraden ein Nachteil<br />

sind. Referenzgruppeneffekte bei Übertrittsentscheidungen. Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie, 21, 119-133.<br />

Treutlein, A. & Schöler, H. (2009). Zum Einfluss der schulischen Lernumwelt auf die Schulleistung.<br />

In J. Roos & H. Schöler (Hrsg.), Schriftspracherwerb in der Grundschule – Längsschnittanalyse<br />

zweier Kohorten über die Grundschulzeit. Wiesbaden: VS.<br />

Treutlein, A., Roos, J. & Schöler, H. (2008). Einfluss des Leistungsniveaus einer Schulklasse<br />

auf die Benotung am Ende des 3. Schuljahres. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften,<br />

30, 579-593.<br />

Valtin, R., Wagner, C., Ostrop, G. & Darge, K. (2000). Das Forschungsprojekt SABA Plus:<br />

Schulische Adaptation und Bildungsaspiration (Fortsetzung im 7. Schuljahr). Bericht für die<br />

an der Untersuchung beteiligten Schulen. Verfügbar unter: amor.rz.huberlin.de/~h0319kfm/saba_plus.html<br />

[23.04.09].<br />

van Ophuysen, S., Harazd, B. & Schürer, S. (2006). Wie Schülerinnen und Schüler den Wechsel<br />

von der Grundschule zur weiterführenden Schule erleben ein Zwischenbericht. Forum<br />

Schule, 1, 10-11.


IV Wirkung offener Lehr-Lernformen (WOLLF)<br />

1 Mitglieder der Projektgruppe<br />

In dem interdisziplinär (Erziehungswissenschaft / Fachwissenschaften) angelegten For-<br />

schungsprojekt kooperieren die Mitglieder dreier Hochschulen. Namentlich in alphabetischer<br />

Reihenfolge sind dies:<br />

Prof. Dr. T. Bohl, Universität Tübingen; Prof. Dr. G. Dörr, Pädagogische Hochschule Weingarten;<br />

Dr. T. Irion, Pädagogische Hochschule Weingarten; Prof. Dr. D. Kucharz, Pädagogische<br />

Hochschule Weingarten; Dr. O. Küster, Pädagogische Hochschule Weingarten; Prof. Dr. C.<br />

Löffler, Pädagogische Hochschule Weingarten; K. Müller, Pädagogische Hochschule Weingarten;<br />

Prof. Dr. B. Reinhoffer, Pädagogische Hochschule Weingarten; Dr. S. Schnebel, Pädagogische<br />

Hochschule Weingarten; Dr. M. Schoy, Pädagogische Hochschule Thurgau.<br />

2 Darstellung des Forschungsprojekts WOLLF<br />

2.1 Einbettung des Projekts in die Forschungslandschaft <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong>s<br />

Das Forschungsprojekt Wirksamkeit offener Lehr-Lern-Formen der Pädagogischen Hochschule<br />

Weingarten wurde im Rahmen des <strong>Programm</strong>s „<strong>Bildungsforschung</strong>“ der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong> durchgeführt. Es reiht sich ein in das Themenfeld I a der Ausschreibung mit dem<br />

Titel „Die Wirksamkeit innovativer Lehr-Lern-Formen“. Dieses Themenfeld zielte darauf, neu<br />

entstandene, teilweise aus der Tradition der Reformpädagogik weitergeführte Unterrichtsformen<br />

empirisch in den Blick zu nehmen. Insbesondere sollte analysiert werden, wie effektiv solche<br />

Lernformen in Abhängigkeit von den Akteuren und den schulischen wie gesellschaftlichen Bedingungen<br />

sind (Landesstiftung 2005, S. 5). Damit nahm die Ausschreibung der Landesstiftung<br />

Bezug auf die national wie international immer wieder angemahnte empirische Lücke hinsichtlich<br />

der unterrichtlichen Umsetzung und der Effekte verschiedener Unterrichtsformen.<br />

Während etwa das Kooperative Lernen inzwischen auf eine breite empirische Forschungstradition<br />

aufbauen kann, besteht für den offenen Unterricht nach wie vor eine große Forschungslücke<br />

(Lipowsky 2002; S. 126; Bohl 2009, S. 6). Allerdings wurden in den vergangenen Jahren<br />

einige Forschungsbefunde vorgelegt, die die Frage nach Bedingungen und Wirkungen offenen<br />

Unterrichts aufgreifen. Auch existieren mittlerweile Projekte zu verschiedenen didaktischen<br />

Aspekten von Unterricht, welche wichtige Anschlussmöglichkeiten für die Erforschung offenen<br />

Unterrichts bieten.<br />

Metaanalysen und Zusammenfassungen (Giaconia und Hedges 1982; Lipowsky 2002) zeigten<br />

im Hinblick auf die Wirksamkeit von Offenem Unterricht eine leichte Überlegenheit bzw. Parallelität<br />

mit traditionellem Unterricht, was die kognitive Lernentwicklung anbelangt. Eine Überlegenheit<br />

offener Unterrichtsformen konnte bzgl. personaler und sozialer Komponenten nachgewiesen<br />

werden.<br />

81


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

Frank Lipowsky weist darauf hin, dass für die Qualität, also für die Effizienz offener Lernsituationen<br />

sowohl in fachlichen Leistungsdimensionen wie auch in nicht-fachlichen Bereichen, die<br />

konkreten Prozesse und Handlungsformen im Klassenzimmer, die Ebene der Interaktionen und<br />

das Lernniveau des Unterrichts verantwortlich sind (Lipowsky 2002, S. 127). Diese Betonung<br />

der Mikroprozesse legt nahe, auch in der Erforschung offenen Unterrichts stärker auf Unterrichtsqualitätsmerkmale<br />

abzuheben und die konkreten Prozesse im Klassenzimmer sowie die<br />

daraus resultierenden Lernergebnisse gegenüber einer eher äußeren, auf der methodischen<br />

Ebene angesiedelten Betrachtung zu bevorzugen.<br />

Legt man als Systematisierung das Angebot-Nutzungs-Modell von Andreas Helmke (Helmke<br />

2003) zugrunde, lassen sich empirische Forschungsprojekte der letzten Jahre zum offenen<br />

Unterricht in drei Dimensionen einteilen: Studien, welche die Unterrichtsform mit den Lernvoraussetzungen<br />

der Schüler in Beziehung setzen, Studien, welche die Nutzung der Lernangebote<br />

durch die Schüler aufzeigen und Studien, welche die Gestaltung der Lernangebot durch die<br />

Lehrkraft analysieren.<br />

Hartinger untersuchte die Auswirkungen verschiedener Formen der Öffnung auf das Selbstbestimmungsempfinden<br />

von Grundschülern. Er konnte zeigen, dass jede Form der Öffnung das<br />

Selbstbestimmungsempfinden der Schüler steigert. Darüberhinaus wies er nach, dass auch die<br />

Lehrervariablen Autonomieorientierung und die Attribuierungstendenz der Schüler sich auf das<br />

Selbstbestimmungsempfinden auswirken (Hartinger 2005).<br />

Blumberg u.a. untersuchten, wie leistungsschwächere und leistungsstärkere Grundschüler (3.<br />

Klasse) hinsichtlich Kompetenzerleben und Erfolgszuversicht auf offene Unterrichtsformen reagierten,<br />

die einmal stark und einmal wenig strukturiert waren. Sie konnten nachweisen, dass<br />

leistungsschwache Schüler sich in wenig strukturierten offenen Lernsituationen signifikant weniger<br />

kompetent erlebten und auch eine geringere Erfolgszuversicht aufwiesen (Blumberg u.a.<br />

2004).<br />

Ähnliche Ergebnisse liegen für verschiedene Untersuchungen zum kooperativen Lernen vor. Zu<br />

dieser Unterrichtsform konnte etwa in qualitativ und quantitativ angelegten Interventionsstudien<br />

an der Pädagogischen Hochschule Weingarten im Rahmen eines FuN-Kollegs nachgewiesen<br />

werden, dass Schülergruppen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Persönlichkeitsvariablen<br />

unterschiedlich von kooperativen Lernarrangements profitierten (Huber 2007).<br />

Diese Studien, die den Forschungsstand beispielhaft beleuchten, zeigen, dass die Wirkung<br />

offener Lehr-Lern-Formen auf unterschiedliche Schülerinnen und Schüler differentiell betrachtet<br />

werden muss. Die Nutzung der Freiräume hängt von kognitiven, metakognitiven, motivationalen<br />

und volitionalen Lernvoraussetzungen ab.<br />

Auch die Angebotsseite durch die Lehrkraft bedarf einer differenzierten Betrachtungsweise.<br />

Insbesondere die Strukturiertheit des Angebots und das kognitive Anforderungsniveau werden<br />

von der Lehrkraft gesteuert. Hinsichtlich der Strukturiertheit konnten etwa Petra Handke für die<br />

Grundschule oder Marc Kleinknecht für den Hauptschulbereich zeigen, dass es den Lehrkräften<br />

gelingt, eine organisatorische Form der Strukturierung zu realisieren (Handke 2005; Kleinknecht<br />

2009). Solche organisatorischen Formen betreffen etwa die Ordnungssysteme in Regalen oder<br />

82


WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Materialkästen, Klarheit hinsichtlich Reihenfolge und Umfang der zu erledigenden Aufgaben<br />

o. ä. Demgegenüber wird die inhaltliche Strukturierung, die entscheidend für die lernförderliche<br />

Tiefenstruktur des Unterrichts ist (Reusser zit. nach Bohl 2009, S. 7), vernachlässigt. Das Anspruchsniveau<br />

bzw. die kognitive Aktivierung werden in offenen Unterrichtssettings wesentlich<br />

über die Aufgaben und das Arbeitsmaterial definiert. Verschiedene Studien und Berichte zeigten,<br />

dass das Anforderungsniveau in den Aufgaben in offenen Unterrichtsformen eher gering<br />

war (Riemer 2009,). An den Verfahren und Erkenntnissen des Forschungsprojekts zur Aufgabenkultur<br />

an Hauptschulen (Kleinknecht 2009) kann zukünftig für die Erforschung zur Wirksamkeit<br />

offenen Unterrichts angeknüpft werden.<br />

Die Nutzung der Lernangebote wird von den Lehrkräften durch Lernberatung unterstützt. Dieser<br />

Bereich ist in der Forschung noch weitgehend unberücksichtigt, einige konzeptionelle<br />

(Bohl/Schnebel 2008) und empirische Vorarbeiten (Hoeftmann/Schnebel 2009) liegen aber vor,<br />

auf die zurück gegriffen werden kann<br />

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt weist somit verschiedene Anschlussmöglichkeiten an<br />

nationale wie internationale Forschungserkenntnisse auf.<br />

Auch zu den im <strong>Programm</strong> 2005 geförderten Projekten der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong><br />

lassen sich verschiedene Bezüge herstellen. Mit dem Projekt Förderung schwächerer Auszubildender<br />

der Universität Stuttgart verbindet unser Projekt forschungsmethodische Fragen. Insbesondere<br />

stellt sich in beiden Projekten die Aufgabe, didaktische Dimensionen von Unterricht zu<br />

operationalisieren und empirisch fassbar zu machen. Das Projekt Selbstreflexives Lernen von<br />

Lehrpersonen und Schülern der PH Freiburg bietet Anschlussmöglichkeiten für Folgeprojekte<br />

oder aus WOLLF resultierende Unterrichtsentwicklungsmaßnahmen. Ähnliches gilt auch für die<br />

Studie der Universität Freiburg zum Belastungsempfinden von Lehrkräften im Zusammenhang<br />

mit innovativen Lehr-Lern-Formen. Werden aus Wirksamkeitsstudien Konsequenzen für den<br />

Unterricht gezogen, muss in Folgeprojekten immer auch berücksichtigt werden, wie und unter<br />

welchen Voraussetzungen mit Lehrkräften an deren Unterricht gearbeitet werden kann. Verbindungen<br />

finden sich also sowohl auf forschungsmethodischer Ebene als auch hinsichtlich des<br />

Transfers in die Unterrichtswirklichkeit.<br />

2.2 Fragestellung<br />

Im vorliegenden Projekt wurde offener Unterricht im Sinne eines didaktischen Prinzips verstanden,<br />

das eine bestimmte Haltung der Lehrkraft und selbstreguliertes und -bestimmtes Lernen<br />

der Schülerinnen und Schüler impliziert. Damit folgte unser Verständnis von Unterricht eher<br />

einer Rahmenkonzeption Offenen Unterrichts (Jürgens 1997) als einer engen methodischen<br />

Definition.<br />

Die unter 2.1 referierten Studien zeigten die deutliche Tendenz auf, weniger offene Unterrichtsgestaltung<br />

zu lehrergelenktem Unterricht zu kontrastieren, sondern, differenzierter nachzufragen,<br />

welche Bedingungen im offenen Unterricht lernförderlich sind. Aktuelle Forschungsansätze<br />

versuchen Merkmale zu beschrieben, die dazu dienen, die Qualität Offenen Unterrichts voranzubringen.<br />

83


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

Wird eine solche Zielsetzung verfolgt, stellt sich allerdings zunächst das Problem, dass offener<br />

Unterricht kein einheitliches pädagogisch-didaktisches Konzept darstellt. Die Vielfalt in der Praxis<br />

erweist sich als problematisch für die Forschung (Lipowsky 2002, S. 126). Bevor die Wirksamkeit<br />

offener Lernsituationen überprüft werden kann, muss zunächst ein System entwickelt<br />

werden, um die Bandbreite an Offenheit und Öffnungsdimensionen abbildbar zu machen und<br />

damit zur Frage nach der Effizienz in Beziehung setzen zu können.<br />

An diesem Punkt setzte das Forschungsprojekt WOLLF an. Es verfolgte zwei Zielsetzungen<br />

bzw. Fragestellungen – eine forschungsmethodische und eine auf Unterrichtsqualität bezogene:<br />

1. Um Erkenntnisse in Richtung Wirksamkeit gewinnen zu können, musste zunächst ein System<br />

entwickelt und erprobt werden, das es ermöglicht zu erfassen, inwiefern und in welchen Dimensionen<br />

Unterricht geöffnet wird. Es sollte also ein Verfahren entwickelt werden, mit Hilfe von<br />

Beobachtungen Lernumgebungen hinsichtlich ihrer Öffnungsaspekte systematisch zu beschreiben.<br />

Hierzu wurden die Dimensionen genutzt, die Peschel (2006) in Weiterführung von Ramseger<br />

(1977) definierte, also die organisatorische, methodische, inhaltliche, soziale und persönliche<br />

Öffnung.<br />

2. In einem weiteren Schritt verfolgten wir das Ziel, Qualitätsmerkmale aus der Unterrichtsforschung,<br />

wie sie etwa Helmke 2003 ausführt, zu operationalisieren und auf offenen Unterricht<br />

anzuwenden. Insbesondere sollten die Unterrichtsqualitätsmerkmale Strukturierung, Klassenführung,<br />

Adaptivität und kognitive Aktivierung einbezogen werden.<br />

2.3 Forschungsdesign<br />

2.3.1 Anlage des Projekts<br />

Dem vorliegenden Forschungsprojekt lag eine explorative Untersuchungsanlage zugrunde.<br />

Methodisch wurden zwei unterschiedliche Beobachtungsverfahren eingesetzt: Zum einen eine<br />

Videostudie und zum anderen nicht-teilnehmende Beobachtungen. Alle Daten wurden je anhand<br />

hochstrukturierter Kategoriensysteme computer- und softwarebasiert ausgewertet. Um<br />

sowohl phänomen- und verhaltensnahe Beschreibungen des unterrichtlichen Angebotes, als<br />

auch Bewertungen zu Qualitätsmerkmalen des Unterrichts vornehmen zu können, kamen jeweils<br />

niedrig-inferente Kodiersysteme und hoch-inferente Ratingmanuale zum Einsatz. Im Vergleich<br />

zu einer eher interpretativ-rekonstruktiven Auswertungsstrategie, deren Ziel Sinndeutungen<br />

und Erklärungen darstellen, folgte das vorliegende Projekt dadurch einer eher quantitativen<br />

Forschungslogik.<br />

Niedrig-inferente Kodierungen beziehen sich auf die beobachtbare Sicht- oder Oberflächenstruktur<br />

des Unterrichts. Die zu beobachtenden Merkmale sind möglichst „objektiv“ und ohne<br />

viel Interpretationsspielraum erkennbar und ermöglichen eine präzise Beschreibung konkreter<br />

Unterrichtsereignisse auf der Oberflächenstruktur. Das Kategoriensystem besteht entweder aus<br />

einem Set disjunkter Kategorien, die sich auf eine Dimension beziehen (Coverage-Codes) oder<br />

aus Occurence-Codes, die sich nicht gegenseitig ausschließen (Petko u.a. 2003).<br />

84


WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Hoch-inferente Ratings hingegen beziehen sich auf Merkmale der Unterrichtsqualität, etwa die<br />

Strukturierung oder den Grad der kognitiven Aktivierung. Zur Erfassung derart globaler Unterrichtsqualitätsmerkmale<br />

werden im Auswertungsprozess interpretative Prozesse (Inferenzen)<br />

seitens des Beobachters explizit eingeschlossen. Diese auf der Tiefenstruktur beobachteten<br />

Qualitätsmerkmale integrieren verschiedene Aspekte und Kriterien gleichzeitig.<br />

Beide Verfahren zusammen erlauben eine differenzierte Sicht auf die Unterrichtsqualität, wobei<br />

vor allem für die didaktische Forschung berücksichtigt werden muss, dass die ermöglichten<br />

indikatorischen Rückschlüsse durch reflexive der Lehrpersonen ergänzt werden sollten (Hugener<br />

u.a. 2006).<br />

2.3.2 Methodik und Stichprobe<br />

Maßgeblichen Einfluss auf die Wahl der Methoden hatten die umfangreichen Vorarbeiten in<br />

Form einer längsschnittlichen Videostudie zur Untersuchung der Entwicklung unterrichtlicher<br />

Handlungskompetenzen angehender LehrerInnen (Küster 2008). Die dort konzipierten hochund<br />

niedrig-inferenten Kodier- und Raterinventare zur Erfassung der Unterrichtsqualitätsmerkmale<br />

wurden ergänzt durch neu generierte Manuale zur nicht-teilnehmenden Beobachtung, mit<br />

denen etwa die Dimensionen der Öffnung des Unterrichts erfasst wurden. Somit konnten die<br />

Vorteile beider Beobachtungsverfahren und den damit verbundenen Auswertungsstrategien<br />

kombiniert werden: Die weitgehend hypothesenfreien, nicht an Theorien gebundenen videobasierten<br />

Beobachtungsverfahren (Petko u.a. 2003), bei denen im Auswertungsprozess die Analyseformen<br />

adaptiert werden können, jedoch durch den Kameraausschnitt ein selektiver Blick<br />

auf den Wirklichkeitsausschnitt erfolgt, werden ergänzt durch nicht-teilnehmende Beobachtungen<br />

im Feld, die die Komplexität des sozialen Geschehens im Klassenraum ganzheitlicher erfassen<br />

können.<br />

Für die Beobachtungsverfahren wurden Schulungen und Reliabilitätsüberprüfungen durchgeführt.<br />

Für die nicht-teilnehmende Beobachtung wurden im Rahmen eines hochschulischen Seminars<br />

insgesamt neun studentische Hilfskräfte geschult um sicherzustellen, dass pro Standort<br />

genügend Beobachter zur Verfügung stehen. Die Schulung galt dann als abgeschlossen, wenn<br />

ein Wert (Cronbachs Kappa bzw. Intraklassenkoeffizient) von .7 erreicht war. Teilnehmer, die<br />

diese Übereinstimmungsmaße nicht erreichen konnten, wurden nicht für die Beobachtung eingesetzt.<br />

2.3.3 Beschreibung des Instrumentariums<br />

Videobasierte Bebachtungsverfahren<br />

Bei der Entwicklung der niedrig-inferenten Ratings wurden in Anlehnung an Seidel (2003) und<br />

Kocher & Wyss (2006) folgende Kategorien gebildet:<br />

� Unterrichtsstatus (zur Klärung des genauen Unterrichtsbeginns und -endes)<br />

� Unterrichtliche Arbeitsformen (etwa ob Klassenunterricht, Stillarbeit/ Einzelarbeit, Partnerarbeit,<br />

Gruppenarbeit etc. durchgeführt wurde)<br />

85


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

� Allgemeindidaktische Unterrichtsphasen (Differenzierung etwa der Einführungs-, Arbeitsoder<br />

Vertiefungsphase)<br />

� Aktivitäten im Klassenzimmer (Zur Erfassung der Tätigkeiten von Lehrperson und SchülerInnen)<br />

� Unterrichtskommunikation (Zur Klärung der Gesprächsanteile von SchülerInnen und LehrerInnen)<br />

� Strukturierung (Lernorganisation während des Klassenunterrichts hinsichtlich Ziel und Ablauf<br />

der Stunde und weiterer Stunden)<br />

� Differenzierung (Lernorganisation während des Klassenunterrichts hinsichtlich Leistungsoder<br />

Neidungsdifferenzierung)<br />

Zwei KodiererInnen wurden in das disjunkte Kategoriensystem eingewiesen und kodierten mit<br />

Hilfe der Software Videograph (Rimmele 2004) die gesamte Unterrichtsstunde in zehnsekündigen<br />

Zeitstichproben.<br />

Für die hochinferente Einschätzung der Unterrichtsqualitätsmerkmale wurden die adaptierten<br />

Dimensionen der Videostudie von Clausen, Reusser & Klieme (2003) herangezogen. Die einzelnen<br />

Dimensionen lauten<br />

� Instruktionseffizienz (womit etwa der Umgang mit Unterrichtszeit oder die Qualität der Organisation<br />

gefasst wird),<br />

� Schülerorientierung (etwa der Umgang mit Fehlern oder die Motivierungsfähigkeit),<br />

� Kognitive Aktivierung (etwa das zur Verfügung stellen von genug Unterrichtszeit) und<br />

� Klarheit und Strukturierung (womit etwa die sprachliche Qualität und die Gesprächsführung<br />

erfasst wird).<br />

Für die Auswertung wurden zwei höhersemestrige Lehramtsstudierende nach einer Schulung in<br />

die Software Videograph (Rimmele 2004) in das Raterinventar eingewiesen. Auf einer sechsstufigen,<br />

bipolaren Ratingskala, deren Extremausprägungen mit „trifft überhaupt nicht zu“ und<br />

„trifft voll und ganz zu“ gekennzeichnet waren, wurde die gesamte Stunde getrennt beurteilt. Die<br />

Beurteilerübereinstimmung lag mit einem Intraklassenkoeffizienten von .6 im ausreichenden<br />

Bereich.<br />

Nicht-teilnehmende Beobachtungen<br />

Für die niedriginferente Kodierung der Unterrichtsstrukturen bei den nicht-teilnehmenden Beobachtungen<br />

kamen die folgenden Dimensionen zur Anwendung:<br />

� Unterrichtsmethode (etwa zur Erfassung der Tätigkeit von LehrerInnen und SchülerInnen<br />

oder auch der methodischen Großformen und damit verbundenen Unterrichtskonzepten wie<br />

der Stationenarbeit, Freiarbeit, Werkstattarbeit, Wochenplanarbeit)<br />

86


WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

� Arbeitsmaterial der SchülerInnen (etwa zur Nutzung von Arbeitsblättern, Büchern, Realien,<br />

Software)<br />

� Medien zur Demonstration (etwa Texte oder Bilder)<br />

� Differenzierung (mit den Facetten Lehrer- vs. Schülergesteuerte Differenzierung)<br />

� Sozialformen (etwa Frontalsituation, Gruppenarbeit, Partnerarbeit oder Einzelarbeit)<br />

� Unterrichtsphase (Einführung, Erarbeitung, Ergebnissicherung, Übung/ Vertiefung/ Anwen-<br />

dung)<br />

Anhand eines hochstrukturierten Beobachtungsbogens erfassten geschulte KodiererInnen in<br />

einem disjunkten Kategoriensystem minütlich die oben genannten Dimensionen und Facetten.<br />

Für die hoch-inferente Einschätzungen des Offenheitsgrades wurden in Anlehnung an die Untersuchung<br />

von Peschel (2006) fünf Dimensionen entwickelt.<br />

Folgende Dimensionen wurden erfasst:<br />

� Organisatorische Offenheit (Item: „Inwieweit können die Schüler Rahmenbedingungen ihrer<br />

Arbeit selbst bestimmen?“)<br />

� Methodische Offenheit (Item: „Inwieweit kann der Schüler seinem eigenen Lernweg folgen?“)<br />

� Inhaltliche Offenheit (Item: „Inwieweit kann der Schüler über seine Lerninhalte selbst bestimmen?“)<br />

� Soziale Offenheit (Item: „Inwieweit kann der Schüler in der Klasse (Unterrichtsablauf und -<br />

regeln) mitbestimmen?)<br />

� Persönliche Offenheit (Item: „Inwieweit besteht zwischen Lehrer und Schüler bzw. Schüler<br />

und Mitschülern ein positives Beziehungsklima?“)<br />

Die Items wurden von zwei Lehramtsstudierenden im fortgeschrittenen Semester auf einer<br />

sechsstufigen, bipolaren Ratingskala eingeschätzt, wobei die Extremausprägungen mit den<br />

Gegensätzen „weitestgehend“ und „überhaupt nicht“ belegt wurden. Der Intraklassenkoeffizient<br />

als Maß für die Übereinstimmung der Beurteilungen weist mit .8 gute Werte auf (Wirtz/ Caspar<br />

2002).<br />

2.4 Verlauf der Untersuchungen<br />

2.4.1 Erhebung der Stichprobe<br />

Zu Beginn des Projektes im August 2007 stand die Erhebung der Stichprobe. Dafür mussten<br />

zunächst Lehrerinnen und Lehrer ausgewählt werden, von denen bekannt war, dass sie regelmäßig<br />

offene Lehr-Lernformen in ihrem Unterricht einsetzen. Aufgrund dieser Maßgabe konnte<br />

die Auswahl nicht nach Zufallskriterien durchgeführt werden. Dabei bleibt festzuhalten, dass es<br />

insgesamt eine große Herausforderung für die empirische <strong>Bildungsforschung</strong> darstellt, geeigne-<br />

87


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

te Stichproben in der Lehrerschaft zu rekrutieren, besonders dann, wenn damit Auswahlkriterien<br />

verbunden sind. Trotzdem gelang es, drei Lehrpersonen zu finden, die bereit waren, an dem<br />

Forschungsprojekt teilzunehmen und ihren Unterricht aufzeichnen und beobachten zu lassen.<br />

Die Stichprobe bestand in der Videostudie aus insgesamt neun Unterrichtsstunden, die an drei<br />

unterschiedlichen Standorten aufgezeichneten wurden. An denselben drei Standorten wurden<br />

zudem 28 Unterrichtsstunden nicht-teilnehmend beobachtet.<br />

2.4.2 Technische Realisierung der Unterrichtsaufnahmen<br />

In der Projektgruppe lagen umfassende Erfahrungen mit Unterrichtsaufnahmen vor. Für die<br />

Aufzeichnung offener Unterrichtssituationen wurde angenommen, dass sie schwieriger zu realisieren<br />

seien, will man die Prozessqualität offener Lehr-Lernformen einfangen. Deshalb wurde<br />

eine aufwändige Aufzeichnungsmethodik gewählt. Diese bestand aus zwei Kameras mit Funkbzw.<br />

Richtmikrofon sowie drei externen Funkmikrofonen, die im Klassenraum verteilt und über<br />

ein Mischpult gesteuert wurden. Damit standen für die Auswertung insgesamt fünf Audio- und<br />

zwei Videoquellen zur Verfügung. Über eine Softwarelösung konnten die Datenquellen miteinander<br />

kombiniert werden. Aufgrund technischer Probleme, die Kompatibilität der verschiedenen<br />

Hardware und Software betreffend, konnte mit den Aufnahmen erst zu Beginn 2008 begonnen<br />

werden.<br />

2.4.3 Rückschlüsse aus dem Projektverlauf<br />

Die Studie war insgesamt explorativ angelegt, um das Feld offener Lehr-Lernformen genauer zu<br />

erkunden und auf dieser Basis ein neues Projektgesuch initiieren zu können. Damit war die<br />

These verbunden, dass sich Beobachtungsverfahren unter der Berücksichtigung verschiedener<br />

Dimensionen und Methoden am Besten für ein solch exploratives Ansinnen eignen. Diese These<br />

hat sich nur zum Teil bewahrheitet. Im Design der Studie war beabsichtigt, Prozesse offener<br />

Lehr-Lernformen möglichst umfassend erheben und analysieren zu können. Aus heutiger Sicht<br />

würden wir eher die Auffassung vertreten, dass die Analyse offener Lehr-Lernformen, besonders<br />

für Beobachtungsverfahren, einer stärkeren Eingrenzung der Untersuchungsperspektive<br />

z. B. auf bestimmte Unterrichtsprozesse oder Schülergruppen bedarf. Deutlich wurde zum Beispiel,<br />

dass den verwendeten Medien, Materialien und Aufgabenstellungen, denen in selbstgesteuerten<br />

Schülerarbeitsphasen eine große Bedeutung zukommt, mit Beobachtungsverfahren<br />

nur unzureichend zu erfassen sind. Ferner gelang es nur eingeschränkt mit Hilfe der eingesetzten<br />

Beobachtungsverfahren, die Lernprozesse auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler als<br />

Indikator für Qualitätsmerkmale offener Lernsituationen auf einer Mikroebene abzubilden (Lipowsky<br />

2002). Dagegen lassen sich Formen der Qualität und der Adaptivität der Lernberatung<br />

von Lehrpersonen gut einschätzen.<br />

88


2.5 Ergebnisse<br />

WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Im Folgenden werden die Ergebnisse der verschiedenen Beobachtungsverfahren dargestellt.<br />

Für die videogestützten hoch-inferenten Ratings werden nur grundsätzliche Auffälligkeiten berichtet,<br />

da trotz großen Aufwands mit der Analyse und Bearbeitung des Manuals das Ergebnis<br />

nicht zufrieden stellend erschien. Wie bereits oben angedeutet (vgl. Kap. 2.4) wird mittlerweile<br />

die Auffassung vertreten, dass eine Globaleinschätzung von Qualitätsmerkmalen über Unterrichtssequenzen<br />

in offenen Lehr-Lernformen problematisch einzuschätzen ist, weil ein solcher<br />

Unterricht von einer hohen Varianz an Verhaltensanteilen und Interaktionen zwischen Lehrpersonen<br />

und Schülerinnen und Schülern geprägt ist. Deshalb werden für dieses Verfahren nur<br />

Tendenzen zwischen den Standorten aufgezeigt ohne Kennwerte zu nennen.<br />

2.5.1 Nicht-teilnehmende Beobachtung - Dimensionen der Offenheit<br />

Für die Studie wurden an den drei Standorten insgesamt 28 Stunden nach den genannten Dimensionen<br />

nach Peschel (2006) auf einer sechs-stufigen Skala mit den Polen „weitestgehend“<br />

bzw. „überhaupt nicht“ eingeschätzt, d. h. je niedriger die Skalenwerte ausfallen desto offener<br />

wird der Unterricht eingeschätzt.<br />

Die folgenden Grafiken zeigen jeweils die Ergebnisse jeder Dimension über die drei Standorte.<br />

Abbildung 2.5.1 Organisatorische Offenheit<br />

Bezüglich der organisatorischen Offenheit fällt auf, dass die Einschätzungen sich eher im mittleren<br />

Bereich befinden, die grundsätzlichen Rahmenbedingungen der Lernumgebung nur teilweise<br />

als offen eingeschätzt wurden. Dieses Ergebnis gilt in der Tendenz für alle Standorte, allerdings<br />

mit Unterschieden in der absoluten Ausprägung. Bei allen Standorten findet sich eine<br />

Standardabweichung, die in etwa einen Skalenwert umfasst.<br />

89


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

Abbildung 2.5.2 Methodische Offenheit<br />

Mit Blick auf die Daten zur Einschätzung der methodischen Offenheit - bezeichnet wird damit<br />

die Möglichkeit der Schülerinnen und Schüler ihre Lernwege selbständig auszuwählen.-, wird<br />

deutlich, dass die absoluten Mittelwerte der Standorte sehr ähnlich ausfielen, während die Standardabweichung<br />

differierte. Bei Standort A konnte keine Varianz in den Einschätzungen festgestellt<br />

werden.<br />

Abbildung 2.5.3 Inhaltliche Offenheit<br />

Die Daten der Einschätzungen für den Grad der inhaltlichen Offenheit, also die Frage, inwieweit<br />

die Schülerinnen und Schüler ihre Lerninhalte selbst auswählen können, zeigen wiederum große<br />

Ähnlichkeiten in der Ausprägung der absoluten Mittelwerte, wobei (besonders bei Standort<br />

B) eine große Standardabweichung auf eine Varianz der Daten schließen lässt.<br />

90


Abbildung 2.5.4 Soziale Offenheit<br />

WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Bezüglich der Dimension „soziale Offenheit“ spiegeln die Daten z.T. sehr hohe Skalenwerte,<br />

d.h. der Unterricht wird (wiederum gilt dies besonders für Standort B) als vergleichsweise wenig<br />

offen eingeschätzt. In dieser Untersuchungsdimension wird eingeschätzt, inwieweit Regeln und<br />

Routinen, die den Unterrichtsablauf festlegen, von den Schülerinnen mitbestimmt werden.<br />

Abbildung 2.5.5 Persönliche Offenheit<br />

Hinsichtlich der Ergebnisse für die Dimension „persönliche Offenheit“ - beschrieben wird damit<br />

das positive oder negative Beziehungsklima zwischen der Lehrperson und den Schülerinnen<br />

und Schülern, ist auffällig, dass zwei Standorte keine Varianz aufweisen und das Beziehungsklima<br />

positiv eingeschätzt wird. Bei einem Standort wird das Beziehungsklima weniger positiv<br />

eingeschätzt, wobei sich eine Varianz der Daten findet lässt.<br />

Vergleicht man zusammenfassend die Ergebnisse zwischen den Standorten, so fällt die z.T.<br />

hohe Varianz der Daten auf. Wird an allen Standorten ein vermeintlich offener Unterricht kon-<br />

91


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

zeptualisiert, so kommen die Einschätzungen externer Beobachter zu deutlich differierenden<br />

Ergebnissen. Teilweise gilt diese Varianz pro Dimension auch für die einzelnen Standorte, insgesamt<br />

bilden sich aber vergleichsweise stabile Muster ab.<br />

Peschel (2006) legt mit seiner Dimensionierung der Offenheit des Unterrichts einen prototypischen<br />

Vorschlag der Differenzierung vor, wobei er selbst davon ausgeht, dass sich die Dimensionen<br />

untereinander beeinflussen. Die Ergebnisse unserer Studie, wenn auch angesichts der<br />

kleinen Stichprobe nur im Ansatz generalisierbar, verweisen auf eine relative Unabhängigkeit<br />

der Dimensionen voneinander. Vorsichtig lässt sich dieses Ergebnis in Richtung einer Validität<br />

des Instruments interpretieren, weil die Dimensionen damit eine hinreichende Trennschärfe<br />

besitzen.<br />

2.5.2 Nicht-teilnehmende Beobachtung - Kodierung der Unterrichtsstrukturen<br />

Die Kodierung der Unterrichtsstrukturen wurde händisch in hochstandardisierten Beobachtungsbögen<br />

im Minutentakt durchgeführt. Untersucht wurden die Dimensionen Unterrichtsmethode,<br />

Arbeitsmaterial für Schülerinnen und Schüler, Medien zur Demonstration, Differenzierung,<br />

Sozialformen und Unterrichtsphase. Die folgenden Abbildungen verdeutlichen die Ergebnisse.<br />

Standort A<br />

Standort B<br />

Abbildung 2.5.2.1 Unterrichtsmethode<br />

Standort C<br />

Methodisch wurden vor allem Formen der Frei- bzw. Wochenplanarbeit favorisiert, die standortspezifisch<br />

mit z. B. Stationenarbeit oder Schülerpräsentationen kombiniert werden. Im Sinne<br />

der Offenheit des Unterrichts zeigten die Auswertungen, dass Lehrervorträge einen nur geringen<br />

zeitlichen Anteil hatten.<br />

92


Standort<br />

Standort B<br />

Abbildung 2.5.2.2 Arbeitsmaterial<br />

Standort C<br />

WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

An den drei Standorten wurden unterschiedliche Arbeitsmaterialien verwendet, wobei für den<br />

jeweiligen Standort spezifische Muster ausgemacht werden konnten. Insgesamt dominierten<br />

schulspezifische Materialien in Form von Arbeitsblättern oder Schulbüchern bzw. Material zur<br />

Bearbeitung der Aufgabenstellungen in schriftlicher Form. Zwischen den Standorten sind die<br />

Unterschiede in der Materialverwendung auffällig.<br />

Standort A<br />

Standort B<br />

Standort C<br />

Abbildung 2.5.2.3 Medien zur Demonstration<br />

Es fällt auf, dass kaum Medien zur Demonstration verwendet wurden (Arbeitsblätter sind in der<br />

Begriffsdefinition nicht berücksichtigt worden). Dies bedeutet, dass den Schülerinnen und Schü-<br />

93


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

lern nur wenige Medien zur Verfügung standen, um z. B. Aufgabenstellungen und Zusammenhänge<br />

zu visualisieren und damit evtl. eine neue Perspektivübernahme im eigenen Problemlöseprozess<br />

zu ermöglichen.<br />

Standort<br />

Standort B<br />

Abbildung 2.5.2.4 Differenzierung<br />

Standort C<br />

Differenzierungselemente wurden vor allem schülergesteuert vorgenommen, allerdings finden<br />

sich auch Ausnahmen, in denen die Lehrperson die Steuerung übernahm. Teilweise zeigen die<br />

Daten der Grafik auch Unterrichtsanteile, in denen keine Differenzierung festgestellt werden<br />

konnte.<br />

Standort Standort B Standort C<br />

Abbildung 2.5.2.5 Sozialformen<br />

94


WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Bezüglich der Sozialformen dominierten Mischformen, d.h. es konnte nicht entschieden werden,<br />

welche Sozialform überwog. In vielen Unterrichtsstunden konnten die Schüler selbst entscheiden,<br />

ob sie Aufgaben alleine, zu zweit oder in Gruppen bearbeiten wollten. Allerdings finden<br />

sich auch Beispiele, in denen Einzelarbeit die dominierende Sozialform war.<br />

Standort A<br />

Standort B<br />

Abbildung 2.5.2.6 Unterrichtsphase<br />

Standort C<br />

Im Bezug auf die Unterrichtsphase wurden die offenen Angebote vor allem dafür genutzt, um<br />

Inhalte zu üben, zu vertiefen oder anzuwenden. Mit Blick auf die jeweiligen Standorte liefern die<br />

Daten typisierbare Muster.<br />

Übergreifend über die sechs Dimensionen konnte festgehalten werden, dass zwischen den<br />

Standorten z.T. große Unterschiede in der Konzeptualisierung offenen Unterrichts vorlagen.<br />

Auch innerhalb der Standorte zeigte sich partiell eine Varianz, allerdings ließen sich auch hier<br />

stabile Muster über die Unterrichtsstruktur aufzeigen. Man kann daraus schlussfolgern, dass<br />

innerhalb der Standorte eine grundlegende Konzeption zur Realisierung offenen Unterrichts<br />

vorlag, diese jedoch zwischen den Standorten z.T. deutlich variierten.<br />

An allen Standorten wurden offene Lehr-Lernformen dazu genutzt, Inhalte über einen längeren<br />

Zeitraum zu bearbeiten. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss deshalb berücksichtigt werden,<br />

dass die beobachteten Stunden die Weiterführung vorangegangener Instruktionsprozesse<br />

waren, welche nicht systematisch untersucht wurden.<br />

Die Kodierungen der Unterrichtsstrukturen sollten ein basales Bild darüber vermitteln, wie offener<br />

Unterricht an den Untersuchungsorten realisiert wurde. Die Daten geben wieder, dass in<br />

den meisten Stunden offener Unterricht praktiziert wurde, d.h. die Schülerinnen und Schüler<br />

hatten die Möglichkeit ihren Lernprozess in großen Teilen selbst zu organisieren. Deutlich wur-<br />

95


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

de auch, dass zwischen den Standorten große Unterschiede vorhanden sind, während innerhalb<br />

der Standorte größtenteils klare Muster vorherrschten. Dieses Ergebnis lässt sich evtl.<br />

damit erklären, dass die Beobachtungen im wöchentlichen Rhythmus zum selben Zeitpunkt<br />

statt fanden und hier bestimmte Routinen vorlagen. Es bleibt allerdings der Eindruck bestehen,<br />

dass die beobachteten Stunden die typische Vorstellung der jeweiligen Lehrpersonen zur Gestaltung<br />

offener Lehr-Lernformen darstellten. Die Dominanz von Freiarbeits- und Wochenplanformen<br />

ist evtl. typisch für die Gestaltung offener Lehr-Lernformen.<br />

2.5.3 Videogestützte Beobachtung – niedrig inferente Kodierungen<br />

Mit den niedrig-inferenten Kodierungen sollten die Sichtstrukturen des Unterrichts untersucht<br />

werden. Neben der Frage, was sich niedrig-inferent über Indikatoren beobachten lässt, sind<br />

damit Strukturierungselemente des Unterrichts angesprochen, die sich positiv oder negativ auf<br />

Lehr-Lernprozesse auswirken; insofern könnte man auch im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik<br />

von Gelegenheitsstrukturen sprechen. Die folgenden Abbildungen veranschaulichen die Befunde:<br />

Abbildung 2.5.4.1 Unterrichtsstatus<br />

Die Kodierung des Unterrichtsstatus dient als Basiskodierung, um die eigentlichen Unterrichtstunden<br />

als Ereignisstichprobe festzulegen. Dabei wurden bei zwei Aufnahmen während der<br />

Unterrichtseinheit Störungen kodiert, die als Abbruch des Unterrichts für einen kurzen Zeitraum<br />

gewertet wurden.<br />

96


Abbildung 2.5.4.2 Allgemeindidaktische Unterrichtsphasen<br />

WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

In einer allgemeindidaktischen Betrachtung der Unterrichtsphasen wurden die offenen Lehr-<br />

Lernformen funktional zur Anwendung und Vertiefung eingesetzt. Prüfungselemente wurden<br />

nicht kodiert.<br />

Abbildung 2.5.4.3 Unterrichtliche Arbeitsformen<br />

Größtenteils konnte das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Arbeitsformen beobachtet werden.<br />

In vielen Stunden finden sich Elemente des Klassenunterrichts, wenn auch z.T. nur für<br />

kurze zeitliche Einheiten.<br />

97


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

Abbildung 2.5.4.4 Strukturierung<br />

Strukturierungselemente im Sinne metakognitiver Adressierungen fanden sich nur vereinzelt zu<br />

Beginn der Stunden. Hin und wieder konnten inhaltliche Arbeitsaufträge kodiert werden.<br />

Abbildung 2.5.4.5 Differenzierung<br />

Im Bereich der Differenzierung wurden nur Neigungsdifferenzierungen gefunden, d. h. die<br />

Schüler konnten die Aufgabenstellungen selbst auswählen. In großen Teilen der aufgenommenen<br />

Unterrichtsstunden konnten keine Differenzierungselemente kodiert werden.<br />

98


Abbildung 2.5.4.6 Unterrichtskommunikation<br />

WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

Die Untersuchung der Unterrichtskommunikation spiegelt die Heterogenität des offenen Unterrichts<br />

wider. Neben Mischformen, bei denen nicht entschieden werden konnte, wer den jeweils<br />

größeren Gesprächsanteil innehatte, wurden auch Unterrichtsanteile kodiert, bei den Schülerinnen<br />

und Schüler bzw. die Lehrperson den größeren Redeanteil ausübten.<br />

Abbildung 2.5.4.7 Aktivitäten im Klassenzimmer<br />

Bezüglich der Aktivitäten im Klassenzimmer wurde überwiegend das Vorhandensein mehrer<br />

Aktivitäten gleichzeitig kodiert. Auch hier zeigte sich die offene Anlage des Unterrichts. Vereinzelt<br />

wurden Spielformen oder Schülervorträge kodiert. Im Vergleich der Standorte fällt auf, dass<br />

die Verwendung von Residualkategorien die Varianz zwischen den Standorten verringert.<br />

99


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass niedrig-inferente Kodierungsverfahren in der<br />

eingesetzten Form von der Komplexität bzw. Heterogenität offener Lehr-Lernformen überfordert<br />

sind, weil in vielen Fällen auf Residualkategorien zurückgegriffen werden musste, deren Aussagewert<br />

begrenzt ist.<br />

Eine mögliche Lösung könnte in der Verwendung kumulativer Kodes liegen, die über die Addition<br />

der verschiedenen Handlungsoptionen versuchen, trotzdem eine eindeutige Zuweisung zu<br />

erlauben. Allerdings wird ein solches Kategoriensystem sowohl für die Analyse als auch für die<br />

Interpretation der Ergebnisse sehr unübersichtlich. In der eigenen Studie wurde deshalb darauf<br />

verzichtet, weil über die Verfahren der nicht-teilnehmenden Beobachtung bereits eine hinreichende<br />

Datenbasis vorlag. Die Daten stützen tendenziell die Befunde der nicht-teilnehmenden<br />

Beobachtung, wenngleich sie sich nicht immer auf die gleichen Unterrichtseinheiten beziehen.<br />

Sie liefern Aufschluss über Unterrichtsrealitäten in offenen Lehr-Lernformen, gleichzeitig wird<br />

aber die im Kap. 2.4.3 bereits angesprochene Notwendigkeit einer Einschränkung der Untersuchungsperspektive<br />

deutlich.<br />

2.5.5 Videogestützte Beobachtung – hoch-inferentes Rating<br />

Neben den niedrig-inferenten Kodierungen wurden auch hoch-inferente Ratings für die Analyse<br />

der Unterrichtsvideos eingesetzt. Untersucht wurden die Dimensionen Instruktionseffizienz,<br />

Schülerorientierung, Kognitive Aktivierung sowie Klarheit und Strukturierung (Clausen, Reusser<br />

& Klieme 2002). Die genannten Dimensionen sind auch in der Vergangenheit von Vertretern der<br />

Projektgruppe in Videostudien eingesetzt worden (Baer et al. 2007; Küster 2008; Dörr, Kucharz<br />

& Küster 2009) und sind einem konstruktivistischen Unterrichtsverständnis verpflichtet, fokussieren<br />

aber verstärkt die Lehrerrolle im Rahmen der Lernumgebung. Für die Untersuchung offener<br />

Lehr-Lernformen wurden diese Dimensionen trotzdem eingesetzt und brachten auf den<br />

ersten Blick zufrieden stellende Ergebnisse. Reliabilitätsuntersuchungen ergaben einen hinreichenden<br />

Wert von .6 (Intraklassenkoeffizient). Die bereits über die anderen Beobachtungsverfahren<br />

dargestellten Unterschiede zwischen den Standorten spiegeln sich auch auf der Ebene<br />

von Qualitätseinschätzungen wider. Zwischen den untersuchten Standorten ergaben sich vergleichsweise<br />

große Unterschiede, während die Einschätzungen für den jeweiligen Standort<br />

stabil ausfielen.<br />

2.6 Offene Fragestellungen<br />

In der Anlage der Studie wurde angenommen, dass vor allem die hoch-inferenten Schätzverfahren<br />

gewinnbringende Einblicke in die komplexe Struktur offener Unterrichtssettings ermöglichen.<br />

Dabei wurde durch die Videostudie deutlich, dass hoch-inferente Raterinventare, die zur<br />

Erfassung klassischer Unterrichtsqualitätsmerkmale in lehrergesteuerten Unterrichtssituationen<br />

eingesetzt werden, den Bedingungen und Anforderungen im offenen Unterricht nicht ausreichend<br />

gerecht werden. Es bleibt die Frage, wie diese Merkmale entsprechend adaptiert werden<br />

können, um Kriterien der Unterrichtsqualität auch in offenen Settings abbilden zu können. Zwei<br />

mögliche Stellgrößen seien genannt:<br />

100


WOLLF<br />

Wirkung offener Lehr-Lernformen<br />

1. Da die Lehrkraft im Offenen Unterricht im Sinne eines konstruktivistischen Lernverständnisses<br />

(Reinmann-Rothmeier/ Mandl 2001) eher die Rolle des/ der LernbegleiterIn einnimmt, zeigen<br />

sich Unterrichtsqualitätsmerkmale nicht allein im unterrichtlichen Handeln der Lehrkraft.<br />

Vielmehr gewinnt sowohl das zur Verfügung gestellte Material als auch die didaktisch gestaltete<br />

Lernumgebung zunehmend an Bedeutung. So sind etwa Strukturierungsmaßnahmen oder der<br />

Grad der kognitiven Aktivierung über die zum Einsatz kommenden Aufgaben und Arbeitsmaterialien<br />

repräsentiert (Kleinknecht 2009). Zum anderen zeichnet sich ab, dass mit der Verringerung<br />

frontaler Unterrichtsgespräche im Klassenverband die Interaktionen zwischen Lehrperson<br />

und den einzelnen SchülerInnen relevanter werden. Im Kontext der Lernbegleitung und -<br />

beratung könnten im Offenen Unterricht auch hier Unterrichtsqualitätsmerkmale wie etwa Adaptivität<br />

oder Instruktionseffizienz auf der Ebene didaktischer Mikroprozesse beobachtbar gemacht<br />

werden.<br />

2. Mit den niedrig-inferenten Kodierungen in der Videostudie und der nicht-teilnehmenden Beobachtung<br />

konnte das unterrichtliche Geschehen in den offenen Unterrichtsformen nicht hinreichend<br />

erfasst werden. Die unterrichtlichen Sichtstrukturen lieferten zwar Hinweise darauf, dass<br />

es stabile Muster in der Konstitution offenen Unterrichts gibt, jedoch konnte die Variabilität der<br />

unterschiedlichen Formen nur unzureichend abgebildet werden. Hier muss die Frage geklärt<br />

werden, ob eine Erhöhung des Abstraktionsgrades der niedrig-inferenten Kodierungen durch<br />

mittel-inferente Kategorien die Oberflächenstruktur des Offenen Unterrichts eher zu verdeutlichen<br />

vermag.<br />

Um die Komplexität Offenen Unterrichts methodisch angemessen erfassen zu können scheinen<br />

daher folgende Gesichtspunkte aussichtsreich:<br />

1. Eine stärkere Berücksichtigung der im Offenen Unterricht zum Einsatz kommenden Materialien<br />

und Aufgaben: Neben den Dimensionen Instruktionseffizienz, Schülerorientierung,<br />

Klarheit und Strukturiertheit könnte sich die in Materialien und Aufgaben enthaltenen Möglichkeiten<br />

der kognitiven Aktivierung sowie der adaptiven Steuerung von Lernprozessen<br />

(Corno & Snow 1986, Snow & Swanson 1992, Leutner 1992; 2002) aufschlussreiche Hinweise<br />

auf Qualitätsmerkmale im Offenen Unterricht liefern. Für die Datenerhebung denkbar<br />

wäre eine Dokumentenanalyse.<br />

2. Verstärkte Fokussierung der didaktischen Mikroprozesse im Sinne der Lernberatung und –<br />

begleitung: Insbesondere die Interaktionen zwischen Lehrperson und einzelnen SchülerInnen<br />

könnten anhand inhaltsanalytischer Auswertungsverfahren in den Blick genommen<br />

werden, um auch hier neben den unter 1. genannten Qualitätskriterien Adaptationszweck, -<br />

rate, und -maßnahme (Leutner 1992; 2002) bei der individuellen Lernbegleitung durch die<br />

Lehrperson zu erfassen. Denkbar wäre, relevante Beratungssituationen durch gezieltes<br />

Ziehen von Ereignisstichproben in der Videostudie ausfindig zu machen und diese einer<br />

fallrekonstruktiven, mikrodidaktischen Analyse zugänglich zu machen.<br />

3. Das bereits bestehende Instrumentarium wird den Bedingungen und Anforderungen geöffneter<br />

Unterrichtssettings angepasst. Durch Erhöhung des Inferenzgrades der niedriginferenten<br />

Kodiersysteme etwa ist möglicherweise die Variabilität Offener Unterrichtsformen<br />

eher abbildbar.<br />

101


Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

3 Auflistung projektrelevanter Vorträge<br />

Kucharz, D./Küster, O./Müller, K. (2009): Die Wirksamkeit offener Lehr-Lernformen (WOLLF).<br />

Vortrag auf der Tagung „Videobasierte Methoden der <strong>Bildungsforschung</strong>“ am 20. Juni 2009<br />

an der Universität Hildesheim.<br />

Kucharz, D./Schnebel, S./Reinhoffer, B. (2008): Die Wirksamkeit offener Lehr-Lernformen<br />

(WOLLF). Vortrag beim Workshop der Landesstiftung <strong>Baden</strong> <strong>Württemberg</strong> am 17.4.2008 in<br />

Stuttgart.<br />

4 Geplantes weiteres Vorgehen<br />

Bei dem dargestellten Projekt handelte es sich um eine Pilotstudie, in der versucht wurde, die<br />

Möglichkeiten von Beobachtungsverfahren für die Untersuchung offener Lehr-Lernformen auszuloten<br />

und gleichzeitig erste Ergebnisse zu liefern. Dabei wurden die Chancen und Grenzen<br />

von Beobachtungsverfahren für die Untersuchung deutlich. Herausgearbeitet werden konnte,<br />

dass in offenen Settings den Aufgabenformaten eine größere Bedeutung zukommt, als das in<br />

einem eher instruktionalen Unterricht der Fall ist, weil die Aufgabenformate z.T. Funktionen<br />

übernehmen, die ansonsten im Lehrerhandeln angelegen sind. Als ein weiteres wichtiges Ergebnis<br />

wurde die Bedeutung der Lernberatung durch die Lehrperson in offenen Settings deutlich.<br />

Da die Untersuchung der Aufgabenqualitäten methodisch nicht in erster Linie durch Videostudien<br />

geleistet werden kann, soll im weiteren Vorgehen zunächst die Qualität der Lernberatung<br />

näher untersucht werden.<br />

Die Vorstudie wurde im Auftrag der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> mit dem Ziel durchgeführt,<br />

auf den Ergebnissen der Studie basierend, einen Drittmittelantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

einzureichen. Dieser Antrag wird zurzeit fertig gestellt und berücksichtigt<br />

neben den genannten Ergebnissen auch die Notwendigkeit einer Präzisierung des Beobachtungsfokus.<br />

Deshalb werden aus dem vorliegenden, aufwendig erhobenen Videomaterial, Ereignisstichproben<br />

gezogen, in denen die Qualität der Lernberatung, gemessen an Qualitätskriterien<br />

der Beratungstheorie und der Unterrichtsqualität (Adaptivität), gesprächsanalytisch präzise<br />

untersucht werden kann.<br />

102


Literatur:<br />

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105


106


V Förderung schwächerer Auszubildender in der schulischen<br />

Berufsausbildung<br />

Teilprojekt I: Förderung der Lesekompetenz<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Dipl.-Gwl. Stephan Abele, Dipl.-Gwl. Tobias Gschwendtner, Prof. Dr. Reinhold Nickolaus, Dipl.-<br />

Gwl. Cordula Petsch (alle Universität Stuttgart, Institut für Erziehungswissenschaften und Psychologie;<br />

Abteilung Berufs-, Wirtschafts- und Technikpädagogik), Prof. Dr. Birgit Ziegler (RWTH<br />

Aachen, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehr- und Forschungsgebiet Didaktik – Technik)<br />

2 Einbettung in die Forschungslandschaft<br />

Seit der ersten PISA-Erhebungswelle im Frühsommer 2000 und den ernüchternden Befunden<br />

zum Abschneiden deutscher SchülerInnen (Baumert et al. 2001) ist die Lesekompetenzförderung<br />

ein zentrales Thema bildungspolitischer und wissenschaftlicher Aktivitäten (vgl. BMBF<br />

2007; Schiefele et al. 2004) geworden und die Frage nach geeigneten Förderkonzepten, Entwicklungs-<br />

und Erklärungsmodellen in das öffentliche Interesse gerückt. Den Ergebnissen der<br />

PISA-Studie zufolge mussten im Jahr 2000 9,9% der 15jährigen SchülerInnen in Deutschland<br />

zur sogenannten Risikogruppe gezählt werden, also der Gruppe, die nicht einmal die unterste<br />

der fünf Kompetenzstufen erreichte. Diese SchülerInnen waren nicht in der Lage, einem Text<br />

ausdrücklich gegebene Informationen zu entnehmen oder einfache Verbindungen zwischen<br />

Textinformationen und weit verbreitetem Alltagswissen herzustellen. Da davon ausgegangen<br />

werden kann, dass jede qualifizierte Tätigkeit solche Fähigkeiten abfordert, ist der berufliche<br />

Erfolg dieser Jugendlichen stark gefährdet (Baumert et al. 2001). Auch wenn sich im Vergleich<br />

dazu in der PISA-Studie von 2006 leicht positive Tendenzen erkennen lassen, umfasste die<br />

Risikogruppe zu diesem Zeitpunkt immer noch 8,3% der getesteten SchülerInnen (Prenzel et al.<br />

2007). Bezogen auf die Gruppe, die lediglich Kompetenzstufe 1 erreichte und deren Lesefähigkeit<br />

allenfalls als rudimentär bezeichnet werden kann, konnte ebenfalls nur ein leichter Rückgang<br />

von 12,7% (2000) auf 11,7% (2006) verzeichnet werden (Baumert et al. 2001; Prenzel et<br />

al. 2007).<br />

Verschiedene Studien aus der Berufsbildungsforschung (Efing 2006; Lehmann et al. 2006;<br />

Gschwendtner/ Ziegler 2006a und 2006b) betonen, dass der Anteil der leseschwachen SchülerInnen<br />

auch bzw. insbesondere in der beruflichen Ausbildung nicht zu unterschätzen ist. Befunde<br />

aus ULME II (vgl. Lehmann et al. 2006, S.47f.) dokumentieren beispielsweise, dass zu Beginn<br />

der zweijährigen Berufsfachschule nur ein Anteil von ca. 25% der SchülerInnen mit hinreichender<br />

Sicherheit auf einem höheren Schwierigkeitsniveau Informationen aus einem Text rekonstruieren<br />

kann 1 . Nach Ergebnissen des Modellversuchs „Vocational Literacy - Methodische<br />

1 Höheres Schwierigkeitsniveau heißt, (1) dass bei den zu bearbeitenden Aufgaben die Formulierung der Aufgabenstellung<br />

nicht exakt der Formulierung im Text entspricht und (2) dass ein textbezogenes Interpretieren zur Lösung der<br />

Aufgabe erforderlich ist.<br />

107


Universität Stuttgart<br />

und sprachliche Kompetenzen in der beruflichen Bildung“ 2 , beherrschen BerufsschülerInnen<br />

zwar weitgehend problemlos das Auffinden von Einzelinformationen, die explizit im Text genannt<br />

werden, an exponierter Stelle stehen und/ oder sich lediglich auf einen Satz bzw. maximal<br />

einen Abschnitt beziehen (Efing 2006, S.37), haben jedoch enorme Schwächen beim Erfassen<br />

impliziter Informationen an nichtexponierter Stelle, dem Verknüpfen verstreuter Informationen,<br />

dem Erkennen der Textstruktur und daraus folgend dem Aufbau globaler Kohärenz und<br />

der Bildung eines mentalen Modells des Textes, das den im Text beschriebenen Sachverhalt<br />

adäquat und anschaulich repräsentiert (ebd., S.44). Diese Defizitdiagnose sollte auch in der<br />

Berufsbildung zur Suche nach geeigneten Förderansätzen anregen, denn eine ausreichend<br />

hohe Lesekompetenz ist nicht nur im kulturellen, gesellschaftlichen und/ oder allgemeinbildenden<br />

Kontext eine unumgängliche Grundlage zur erfolgreichen Teilhabe (Baumert et al. 2001,<br />

S.69f.; Hurrelmann 2002b, S.137f.), sondern auch aus der Perspektive der beruflichen Handlungsfähigkeit<br />

unentbehrlich. Studien belegen, dass nicht nur zwischen Lesekompetenz und<br />

mathematischer Leistung ein enger Zusammenhang besteht (Baumert et al 2001, S.184; Lehmann<br />

et al. 2006, S.92; Lehmann/ Seeber 2007, S.68), sondern die Lesekompetenz auch für<br />

den Erwerb von Fachwissen (hier im gewerblich-technischen Bereich) von hoher Bedeutung ist<br />

(Nickolaus/ Gschwendtner/ Geißel 2008). Die selbstständige Wissensaneignung durch das<br />

Lernen aus Texten ist jedoch nicht nur für berufliche Lernprozesse während der Ausbildung von<br />

Relevanz, sondern sichert auch aus der Perspektive der beruflichen Fort- und Weiterbildung die<br />

Fähigkeit zum lebenslangen Lernen und zur kontinuierlichen Aneignung von neuem berufsrelevantem<br />

Wissen (vgl. Baumert et al. 2001, 69f.; Grundmann 1997, 92; Hurrelmann 2002b, 137f.).<br />

Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass die berufliche Ausbildung für viele SchülerInnen<br />

die letzte Möglichkeit darstellt, ihre Sprach- und Lesekompetenz in einem systematischen<br />

schulischen Kontext zu verbessern und Defizite zu kompensieren, wird der Bedarf an geeigneten<br />

Ansätzen zur Lesekompetenzförderung (auch!) im Berufsbildungssystem deutlich. In der<br />

Berufsbildungsforschung wird das Thema „Lesekompetenzförderung“ trotz alledem nur marginal<br />

behandelt und es liegen nur wenige empirische Befunde zur methodischen Gestaltung und<br />

Wirksamkeit von Förderansätzen vor 3 , an die an dieser Stelle angeknüpft werden kann.<br />

Das Förderkonzept Reciprocal Teaching<br />

Die im Folgenden beschriebene Interventionsstudie folgt dem theoretischen Ansatz Reciprocal<br />

Teaching, der bereits in anderen institutionellen Kontexten positiv evaluiert wurde, und versucht,<br />

diesen für den berufsbildenden Bereich zu erschließen. Das Förderkonzept wurde bereits<br />

in den 80er Jahren von Palincsar und Brown in den USA entwickelt (Palincsar/ Brown 1984).<br />

Sie orientierten sich bei der Konzeption an Befunden aus der Experten-Novizen-Forschung zu<br />

Merkmalen guter Leser, aus welchen hervorgeht, dass gute Leser das Lesen als sinnstiftenden<br />

Prozess auffassen, beim Lesen eigenes Vorwissen aktivieren, planvoll vorgehen und darüber<br />

2<br />

Untersucht wurden mittels eines Problemtypentests 415 BerufsschülerInnen (v.a. aus der Grundstufe) aus 10 Berufsfeldern<br />

(Efing 2006, S.36)<br />

3<br />

Zu nennen wären die eigenen empirischen Vorgängerstudien zur Lesekompetenzförderung (vgl. Gschwendtner 2004;<br />

Gschwendtner/ Ziegler 2006a und 2006b) sowie Arbeiten im Kontext des Modellversuchsprogramms „Verlas“ zur Basiskompetenzförderung<br />

im Kontext berufsfachlichen Lernens (Kitzig/ Paetzold/ Von der Burg/ Koesel 2008). Im Rahmen<br />

der letztgenannten Studie liegen primär auf formativen Evaluationen beruhende Aussagen vor.<br />

108


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

hinaus vor allem während des Lesens das eigene Verständnis ständig überwachen (Brown/<br />

Campione 1990, Demmrich/ Brunstein 2004). Grundgedanke des Konzeptes ist daher folgerichtig,<br />

die Lesekompetenz im Sinne des verständnisorientierten und sinnentnehmenden Lesens<br />

durch direkte Instruktion von vier Lesestrategien zu fördern, die die Text-Leser-Interaktion, den<br />

Informationsverarbeitungsprozess und den Aufbau eines adäquaten Textverständnisses unterstützen.<br />

Im Einzelnen beinhalten die Strategien (1) das Aufstellen von Vorhersagen zum Inhalt<br />

des Textes, (2) das Klären unbekannter Begriffe, (3) die Formulierung von Fragen zum Text<br />

und (4) das Zusammenfassen des Textes. Durch das „Vorhersagen“ wird für das Lesen relevantes<br />

Vorwissen aktiviert und Inferenzbildung angeregt, durch das „Klären“ werden Verständnisprobleme<br />

bewusst gemacht und behoben und durch das „Fragenstellen“ und das „Zusammenfassen“<br />

wird die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Aussagen des Textes gelenkt, der<br />

Inhalt reorganisiert und das eigene Leseverständnis überprüft (Palincsar/ Brown 1984). Die<br />

Strategieinstruktion erfolgt direkt, d.h. durch gezieltes Einüben und unter expliziter Vermittlung<br />

von Wissen über Nutzen und Anwendungsbedingungen der Strategien.<br />

Das Konzept, welches an die kognitive Meisterlehre (cognitive apprenticeship) anschließt und<br />

deren Begrifflichkeiten übernimmt, sieht vor, dass die Lehrkraft die Strategien im ersten Schritt<br />

erläutert und deren Anwendung selbst laut denkend vorführt (modelling). Anschließend üben<br />

die SchülerInnen die Strategien in der Gruppe ein, wobei zunächst die Lehrkraft die SchülerInnen<br />

zur Strategieanwendung auffordert und ihnen gezielte Unterstützung und Anregungen zur<br />

Verbesserung gibt (scaffolding). Sobald die SchülerInnen mit den Strategien hinreichend vertraut<br />

sind, übernimmt – in Orientierung am Modell der Lehrkraft – jeweils abwechselnd einer der<br />

SchülerInnen die leitende Rolle des sogenannten „Schülerlehrers“ (Demmrich/ Brunstein 2004,<br />

283f.). Durch den reziproken Rollentausch, von welchem sich der Name des Förderkonzepts<br />

ableitet, entsteht eine interaktive und kooperative Lernumgebung, die im Sinne des cognitive<br />

apprenticeship zu einem sozialen Umfeld führt, in dem die SchülerInnen sich gegenseitig als<br />

der jeweils „kompetente Andere“ unterstützen (Palincsar/Brown 1984) und durch das Beobachten<br />

anderer SchülerInnen während der Strategieausübung und dem Vergleich mit dem eigenen<br />

Vorgehen kognitives und metakognitives Wissen über Lesestrategien erwerben sollen (Straka/<br />

Macke 2002, 122f.). Die Lehrkraft beobachtet die Gruppe bei der Umsetzung des reziproken<br />

Lehrens und unterstützt sie bei Bedarf mittels adaptiver Lehrgriffe. Mit zunehmender Eigenständigkeit<br />

der SchülerInnen nimmt die Lehrkraft ihre Unterstützung schließlich bewusst zurück<br />

(fading). Eingeübt werden die Lesestrategien in multiplen Kontexten, d.h. unter Verwendung<br />

verschiedener Textgattungen wie Sachtexte, prosaische Texte oder Gebrauchstexte, die durch<br />

ihre differenten Textfunktionen jeweils unterschiedliche Leseanforderungen an die SchülerInnen<br />

stellen.<br />

Forschungsstand zu Reciprocal Teaching<br />

Palincsar und Brown bestätigten in zwei Initialstudien (Palincsar/ Brown 1984; Brown/ Palincsar<br />

1987) die Wirksamkeit der Lesestrategieinstruktion mittels Reciprocal Teaching. 12-jährigen<br />

leseverständnisschwachen SchülerInnen konnte nach einer 20-tägigen Intervention in Kleingruppen<br />

eine Verbesserung des Leseverständnisses um ca. 2 Schuljahre attestiert werden und<br />

auch nach 6 Monaten waren noch deutliche Trainingseffekte feststellbar. Eine 16 Studien um-<br />

109


Universität Stuttgart<br />

fassende Metaanalyse von Rosenshine und Meister (1994) repliziert die hohen Effekte für ein<br />

breiteres Untersuchungsfeld (Rosenshine/ Meister 1994), ermittelte jedoch bezogen auf den<br />

Einsatz standardisierter Lesekompetenztests geringere Effektstärken (.32) als bei selbst entwickelten<br />

Instrumenten (.88). Die Metaanalyse von Galloway (2003, S.106f.) belegt zudem den<br />

Einfluss der Gruppengröße und weist in kleineren Gruppen höhere Effekte des Treatments auf<br />

die Lesekompetenzentwicklung aus. Beide Einflussgrößen werden auch in dieser Studie zu<br />

berücksichtigen sein, da (1) die Lesekompetenz der SchülerInnen mit einem standardisierten<br />

Test erfasst und (2) das Lesetraining aufgrund der schulischen Praktikabilität nicht in Kleingruppen<br />

sondern im gesamten Klassenverband umgesetzt wurde.<br />

Im deutschsprachigen Raum wurde reciprocal teaching u.a. von Spörer, Brunstein und Arbeiter<br />

(2007) adaptiert und zur Verbesserung des Leseverständnisses von leseschwachen RealschülerInnen<br />

der 6.Klasse in einer tutoriellen Variation mit Lerntandems und der klassischen Kleingruppenvariante<br />

eingesetzt. Gemäß der Befundlage der Metaanalysen werden in beiden Trainingsbedingungen<br />

mit selbst konstruierten Lesetests hohe bis mittlere Effektstärken von .86<br />

(Trainingsbedingung: tutorielle Gruppe) und .69 (Trainingsbedingung: Kleingruppe) erreicht, die<br />

sich auch zum Zeitpunkt des Follow-up Tests noch relativ stabil zeigen (ebd., S.308).<br />

Eigene Interventionsstudien in Klassen verschiedener beruflicher Schularten zeigen hingegen,<br />

dass eine Übertragbarkeit dieser tendenziell positiven Befunde auf den berufsbildenden Bereich<br />

nicht unproblematisch sind (Gschwendtner 2004; Gschwendtner/ Ziegler 2006a; Gschwendtner/<br />

Ziegler 2006b). Global betrachtet konnten kaum Zuwächse in der Lesekompetenz ermittelt werden,<br />

nur in der Gruppe der leseverständnisschwachen Schüler zeigten sich stark positive, wenn<br />

auch keine zeitstabilen Effekte 4 (Gschwendtner/ Ziegler 2006a). Die motivationale Entwicklung<br />

verlief v. a. bezogen auf die nichtaktiven Schüler ungünstig; bei dieser Gruppe konnte ein signifikanter<br />

Anstieg amotivierten Lernens festgestellt werden (Gschwendtner 2004). Zudem kann<br />

bei einer Umsetzung des Lesetrainings in Berufsschulklassen nicht von homogen leseschwachen<br />

SchülerInnen (wie z. B. in den Initialstudien von Palincsar/ Brown 1984; 1987) ausgegangen<br />

werden, sondern es muss mit einer z.T. enormen Leistungsheterogenität gerechnet werden<br />

(Badel 2002, Lehmann et al. 2006; Nickolaus/ Knöll/ Gschwendtner 2006; Nickolaus/<br />

Gschwendtner/ Geißel 2008). Diese kann sowohl bei der Lehrkraft als auch bei den Schülerlehrern<br />

zur Überforderung der Unterstützungskapazitäten führen.<br />

3 Fragestellung<br />

Für die vorliegende Interventionsstudie waren folgende Hypothesen forschungsleitend:<br />

H1: Werden Unterrichtsgegenstände des Fachunterrichts Deutsch in der beruflichen Grundbildung<br />

über vier Monate hinweg durch Reciprocal Teaching begleitend instruiert, bewirkt dies<br />

positive Effekte auf die Lesekompetenz.<br />

H2: Je besser die Umsetzungsqualität von Seiten der SchülerInnen eingeschätzt wird, desto<br />

günstiger entwickelt sich die Motivation (H2 (1)) und die Lesekompetenz (H2 (2)).<br />

4 Bei Gschwendtner und Ziegler (2006b, S.62) konnten innerhalb der Gruppe der leseschwachen SchülerInnen hohe<br />

Interaktionseffekte (aus Treatment*Zeit: η 2 =.495; p=.002) ausgewiesen werden.<br />

110


4 Design und Instrumente<br />

Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

In die Untersuchung wurden 7 Experimentalklassen (N=119) und 6 Kontrollklassen (N=80) einbezogen,<br />

die sich jeweils aus 2 BVJ-Klassen sowie Berufsschulklassen des 1. Ausbildungsjahrs<br />

(Duales System) aus dem Berufsbereich „Nahrung“ und des gewerblich-technischen Bereichs<br />

zusammensetzten. Die Interventionszeit, über die sich die Lesestrategieinstruktion erstreckte,<br />

betrug 4 Monate, wobei jedoch die Umsetzungshäufigkeit, d.h. diejenige Unterrichtszeit, die die<br />

Lehrenden effektiv auf Reciprocal Teaching verwandten, laut den Lehrertagebüchern relativ<br />

stark variierte (von 10 bis zu 21 Unterrichtsstunden bei einem Durchschnittswert von 15,3<br />

U.std. 5 ). Diese großen Differenzen lassen eine unterschiedliche Trainingsintensität in den einzelnen<br />

Klassen vermuten, die bei der Ergebnisinterpretation zu berücksichtigen sein wird.<br />

Vor dem Interventionsstart erhielten die Lehrenden zur Sicherung der Umsetzungsqualität eine<br />

intensive Schulung, die ausgehend von Erkenntnissen der Vorläuferstudie (Gschwendtner/<br />

Ziegler 2006b) (1) für die Ausgangsproblematik „defizitäre Lesekompetenz“ sensibilisierte, (2)<br />

die theoretische Modellierung von Reciprocal Teaching vorstellte, (3) das pädagogische Hintergrundwissen<br />

zum Einsatz, Nutzen sowie den Umsetzungsbedingungen und Qualitätskriterien<br />

der Strategieinstruktion betonte sowie (4) die methodische Umsetzung in die Unterrichtspraxis<br />

einübte. Entsprechend der vereinbarten Richtlinien vermittelten alle Lehrenden die Lesestrategien<br />

anhand unterschiedlicher Textarten (v.a. aber an Sachtexten) und -schwierigkeitsstufen<br />

und setzten die Methode im Fachunterricht Deutsch sowie in anderen allgemeinbildenden Unterrichtsfächern<br />

(wie Gemeinschaftskunde) ein. Durch den fächerübergreifenden Einsatz sollte<br />

eine breitere und tiefere Verankerung der Lesestrategien angebahnt werden.<br />

Erhoben wurden in einer Pre-, Post- und Follow-up-Testung die Lesekompetenz sowie mit dem<br />

Instrument von Prenzel et al. (1996) die motivationalen Zustände (in 6 Ausprägungen von amotiviert<br />

bis interessiert) und die von den SchülerInnen wahrgenommene Unterrichtsqualität. Diese<br />

wird operationalisiert durch die wahrgenommene Überforderung, Kompetenz- und Autonomieunterstützung,<br />

Klarheit der Instruktion, inhaltliche Relevanz, soziale Einbindung sowie das<br />

wahrgenommene inhaltliche Interesse beim Lehrenden (Prenzel et al. 1996). Außer bei der<br />

Skala zur Autonomieunterstützung (Cronbachs α = .54) sind die internen Konsistenzen sowohl<br />

bei den Skalen zu den motivationalen Zuständen als auch zu den wahrgenommenen Unterrichtsqualitäten<br />

zu allen Messzeitpunkten zufriedenstellend bis gut im Bereich von .60 ≤ α ≤ .88.<br />

Zur Lesekompetenzmessung wurde der aus dem englischsprachigen Raum stammende standardisierte<br />

Lesekompetenztest von Gates-MacGinitie Level 7/9 (MacGinitie et al. 2000) eingesetzt,<br />

der zuvor kulturadäquat übersetzt und auf Trennschärfe und Retestreliabilität geprüft<br />

wurde. Der Test liegt in Pre-Posttestform vor und besteht je Testform aus 48 multiple choice<br />

Fragen zu insgesamt 11 kurzen Texten. Die Trennschärfen der insgesamt 96 Items liegen fast<br />

ausnahmslos im Wertebereich von .30 bis .62 und sprechen für eine gute Testdifferenzierung<br />

zwischen leistungsstarken und -schwachen Lesern. Neben der wahrgenommenen Interventionsqualität<br />

durch die SchülerInnen wurde die Umsetzungsqualität durch zwei Unterrichtshospi-<br />

5<br />

Folgende Umsetzungshäufigkeiten wurden in den einzelnen Klassen realisiert: Klasse 2: 21 U.std.; Klasse 1 und 5:<br />

17U.std.; Klasse 7: 15U.std.; Klasse 4 und 6: 10U.std.<br />

111


Universität Stuttgart<br />

tationen und zwei Videomitschnitte je Klasse dokumentiert sowie durch das Lehrertagebuch<br />

und Audiomitschnitte festgehalten.<br />

5 Ergebnisse<br />

Lesekompetenzentwicklung (H1)<br />

Die Hypothese H1 und somit die Wirksamkeit der 4-monatigen Lesestrategieinstruktion mit Reciprocal<br />

Teaching kann leider auf globaler Betrachtungsebene nicht bestätigt werden. Experimental-<br />

und Kontrollgruppe starten mit nahezu identischen (Lese-)Eingangsvoraussetzungen<br />

und erreichen im Pretest im Gruppenmittel eine Punktzahl von annähernd 31 (von 48 maximal<br />

möglichen Punkten), womit beide Gruppen deutlich unter dem in dieser Jahrgangsstufe zu erwartenden<br />

Wert liegen (Gates-MacGinitie 2000). Entgegen der Erwartungen zu H1 kann zum<br />

Zeitpunkt des Posttests jedoch kein Vorteil zugunsten der Interventionsgruppe verzeichnet werden:<br />

In beiden Gruppen stagniert die Lesekompetenzentwicklung (bei Mittelwerten von ca. 30<br />

Punkten), d.h. weder durch den regulären Deutschunterricht noch durch das Lesetraining konnte<br />

(gemessen in standardisierten Lesetests) die Lesekompetenz der SchülerInnen gefördert<br />

werden.<br />

Verlässt man die Ebene der globalen Experimental-Kontrollgruppen-Vergleiche und betrachtet<br />

die Mittelwertsunterschiede auf Klassenebene, so zeigen sich deutliche klassenspezifische<br />

Veränderungen in der Lesekompetenzentwicklung, die sich in zwei Subgruppen unterteilen<br />

lassen: In Subgruppe 1, bestehend aus den beiden BVJ-Klassen und einer Klasse aus dem<br />

Berufsbereich „Nahrung“, ergeben sich rückläufige Effekte, wohingegen in Subgruppe 2 (jeweils<br />

eine Klasse aus dem Berufsbereich „Nahrung“ und aus dem gewerblich-technischen Bereich)<br />

eine positive Lesekompetenzentwicklung beobachtbar ist 6 . Da aufgrund der schwachen Eingangsvoraussetzungen<br />

in Subgruppe 1 nicht von mathematantischen Effekten 7 ausgegangen<br />

werden kann, ist der Grund für die Leistungsminderung zum Zeitpunkt des Posttests wahrscheinlich<br />

eher in den ungünstigen motivationalen, emotionalen und/ oder volitionalen Voraussetzungen<br />

der SchülerInnen zu suchen. Anhand der erhobenen Daten kann diese Vermutung<br />

zumindest für die motivationalen Zustände bestätigt werden, die sich in dieser Subgruppe von<br />

Pre- zu Posttest signifikant verschlechtern. Hinsichtlich der Umsetzungshäufigkeiten bzw. der<br />

daraus ableitbaren Trainingsintensitäten kann anhand der Lehrertagebücher zudem nachvollzogen<br />

werden, dass die Subgruppe 2 (mit positiver Lesekompetenzentwicklung) auch das zeitlich<br />

intensivste Training erhalten hat und 21 bzw. 17 Unterrichtsstunden auf Reciprocal Teaching<br />

verwandt wurden, wohingegen in Subgruppe 1 (mit rückläufigen Effekten) die geringsten<br />

Umsetzungshäufigkeiten (10 U.std.) zu finden sind.<br />

Die besondere Eignung von Reciprocal Teaching für leseschwache SchülerInnen kann - wie in<br />

den Initialstudien von Palincsar und Brown (1984/ 1987) und der eigenen Vorläuferstudie<br />

6 Die Lesekompetenzentwicklung der kognitiv starken Elektronikerklasse (Klasse 1) kann aufgrund messtechnischer<br />

„Deckeneffekte“ nicht sicher beurteilt werden und muss aus den Betrachtungen ausgeschlossen werden. Eine weitere<br />

Klasse aus dem Berufsbereich „Nahrung“ zeigt eine stagnierende Lesekompetenz und wird daher ebenfalls keiner der<br />

beiden Subgruppen zugeordnet.<br />

7 Verschlechtert sich die Lesekompetenz eines guten Lesers aufgrund des Konflikts zwischen dem „aufgezwungenen“<br />

Lesestrategietraining und den eigenen bisher erfolgreichen Leseroutinen, spricht man von mathematantischen Effekten.<br />

112


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

(Gschwendtner/ Ziegler 2006b) - auch in dieser Untersuchung tendenziell bestätigt werden: die<br />

Gruppe der leseverständnisschwachen ExperimentalschülerInnen verbessert ihre Leseleistung<br />

von Pre- zu Posttest signifikant um 2,55 Punkte (was ca. dem Zuwachs von einem Schuljahr<br />

entspricht (p=.029)). Muss H1 aus einer globalen Perspektive auch zurückgewiesen werden, so<br />

ergeben sich zumindest unter Berücksichtigung des bei Palincsar und Brown ausgewiesenen<br />

Adressatenkreises deutlich positive Entwicklungstrends, die jedoch über die Zeit nicht konstant<br />

bleiben und im Follow-up Test auf einen Wert knapp über dem Ausgangsniveau zurückgehen.<br />

Der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Unterrichtsqualität, Motivations- und<br />

Lesekompetenzentwicklung (H2)<br />

Anhand der erhobenen Daten zur Motivationsentwicklung kann bestätigt werden, dass sowohl<br />

die introjizierte, die identifizierte und die interessierte Motivationsvariante in Subgruppe 1 (rückläufige<br />

Lesekompetenzentwicklung) vom Zeitpunkt des Pre- zum Posttest signifikant (p=.031,<br />

p=.012, p=.003) abnimmt, als auch die wahrgenommene inhaltliche Relevanz sowie die soziale<br />

Einbindung signifikant (p=.002, p=.039) schlechter bewertet werden. In Subgruppe 2 (mit positivem<br />

Kompetenzverlauf) sind hingegen keine signifikanten Veränderungen in den Motivationsausprägungen<br />

bzw. der wahrgenommenen Umsetzungsqualität zu bemerken, was die Annahme<br />

unterstützt, dass „Verschlechterungen“ im Lesekompetenztest zum Zeitpunkt des Posttests<br />

eher auf motivationale als auf kognitive Faktoren zurückzuführen sind.<br />

Trotz dieser Befunde auf Subgruppenebene zeigt sich innerhalb der gesamten Treatmentgruppe<br />

kein systematischer Zusammenhang zwischen Motivations- und Lesekompetenzentwicklung<br />

bzw. zwischen wahrgenommener Unterrichtsqualität und Lesekompetenzentwicklung (H2(2)).<br />

Theoriekonform (H2(1)) stellen sich jedoch die Beziehungen zwischen wahrgenommener Unterrichtsqualität<br />

und den unterschiedlichen Motivationsausprägungen dar, d.h. die Ausprägung der<br />

Motivation am Ende der Interventionszeit hängt stark davon ab, wie die SchülerInnen die einzelnen<br />

Qualitätsmerkmale der Intervention wie z. B. die Kompetenz- und Autonomieunterstützung<br />

beim Erlernen und Ausüben der Lesestrategien oder die Relevanz des Strategietrainings<br />

einschätzen und entwickelt sich umso günstiger je positiver die Wahrnehmung der Interventionsqualität<br />

ausfällt.<br />

Videobasierte Analyse der klassenspezifischen Interventionsqualitäten<br />

Aufgrund der erwartungswidrigen Befunde zur Lesekompetenzentwicklung und dem durch die<br />

Unterrichtsbeobachtungen gewonnen Eindruck der hohen Umsetzungsvarianzen bei der unterrichtlichen<br />

Implementierung von Reciprocal Teaching, wurden die in der Treatmentgruppe aufgezeichneten<br />

Videomitschnitte der ersten Interventionshälfte 8 kriteriengeleitet von zwei unabhängigen<br />

Ratern 9 bewertet und analysiert. Die Unterrichtsaufnahmen umfassen jeweils eine 90-<br />

8 Die Unterrichtsaufnahmen der zweiten Interventionshälfte liegen leider aufgrund von terminlichen Abstimmungsschwierigkeiten<br />

mit den Lehrenden nicht vollständig vor und wurden aus der Analyse ausgeschlossen.<br />

9 Die videobasierten Unterrichtsanalysen wurden im Rahmen von zwei Qualifikationsarbeiten (Koßbiel 2008; Kundt<br />

2008) vorgenommenen. Den beiden Diplomanden Koßbiel und Kundt sei an dieser Stelle herzlichst für ihre engagierte<br />

und ernsthafte Arbeit gedankt.<br />

113


Universität Stuttgart<br />

minütige Reciprocal Teaching-Sitzung im Fach Deutsch oder Gemeinschaftskunde, die in allen<br />

Klassen zeitgleich, ca. 6 Wochen nach Trainingsbeginn erfasst wurde. Zentrales Ziel der Analyse<br />

war die Aufklärung der in den Experimentalklassen realisierten Interventionsqualitäten, wozu<br />

ein differenziertes Bewertungsinstrument mit 15 Analysedimensionen in folgenden 6 übergreifenden<br />

Bereichen entwickelt wurde 10 : (1) Art und Quantität der Strategieanwendung, (2) Qualitätsfaktoren<br />

der Strategieumsetzung in den 4 Lesestrategien, (3) Lernatmosphäre, (4) Lehrerverhalten<br />

während des Strategietrainings, (5) Verhalten des Schülerlehrers während des Strategietrainings<br />

sowie (6) Schülerverhalten während des Strategietrainings.<br />

Als zentrales Ergebnis der Unterrichtsanalysen geht hervor, dass Reciprocal Teaching nach<br />

den errechneten Mittelwerten in den einzelnen Analysedimensionen nur in 3 der beobachteten<br />

Experimentalklassen zufriedenstellend umgesetzt wird. Bedeutsam erscheint, dass sich die<br />

Vorteile in diesen Klassen fast ausnahmslos über alle Bewertungsdimensionen erstrecken. In<br />

den übrigen Treatmentklassen werden eher unterdurchschnittliche Mittelwerte erreicht, wobei<br />

v.a. die geringen Werte in den für die Lesestrategieinstruktion relevanten Kerndimensionen wie<br />

„Qualitätsfaktoren der Strategieumsetzung“ und „Lehrer- bzw. Schülerverhalten während des<br />

Strategietrainings“ und die mangelnden Unterstützungsleistungen durch den Lehrenden bedenklich<br />

sind.<br />

Hinsichtlich der adäquaten Umsetzung und zielgerichteten Anwendung der 4 Lesestrategien<br />

scheint das „Klären unbekannter Wörter und Kohärenzlücken“ in fast allen Treatmentgruppen<br />

gut zu gelingen und die begrifflichen, semantischen oder syntaktischen Verständnisprobleme<br />

der SchülerInnen werden hinreichend ausgeräumt. Deutlich mehr Umsetzungsschwierigkeiten<br />

werden bei den Strategien „Eigene Fragen zum Text stellen“ und „Zusammenfassen von Textabschnitten“<br />

beobachtet, die zentral für den Aufbau des globalen Textverständnisses sind. Beim<br />

„Zusammenfassen“ werden die strategieanwendenden SchülerInnen z. B. kaum auf die Merkmale<br />

einer guten Strategieanwendung (wie Zusammenfassung in eigenen Worten formuliert,<br />

das Wesentliche enthaltend, etc.) aufmerksam gemacht und nur selten werden die vorgetragenen<br />

Zusammenfassungen hinsichtlich dieser Qualitätsmerkmale bewertet bzw. verbessert. Die<br />

Strategie „Fragen Stellen“ gelingt zwar in der formalen Umsetzung (SchülerInnen stellen und<br />

beantworten Fragen zum Text), allerdings beziehen sich nur die wenigsten Fragen auf ein tieferes<br />

Textverständnis oder regen eine kognitive Auseinandersetzung mit dem Text an. Die SchülerInnen<br />

formulieren überwiegend einfache z. B. inverse Fragen 11 , die sich nur auf einen Satz<br />

und zudem meist auf eher unwichtige Detailinformationen konzentrieren. Häufigkeitsauszählungen<br />

ergeben, dass 80,36% der Schülerfragen einfacher und nur 19,64% komplexer Art, d.h.<br />

Anwendungs-, Analyse- oder Synthesefragen sind, die zum Verständnis- und Wissensaufbau<br />

beitragen (vgl. Neber 2006, S.53; Fragenkategorisierung in Anlehnung an Bloom 1973, S.217).<br />

Zur Umsetzungsqualität der Strategie „Vorhersagen“ können kaum Aussagen getroffen werden,<br />

da diese Lesestrategie in vier der untersuchten Treatmentgruppen nicht eingesetzt wurde.<br />

10<br />

Die Interraterreliabilitäten (gewichtetes Cohens Kappa vgl. Bortz 2005, S.581) sind trotz der kleinen Stichprobe (2<br />

Rater bei 6 Untersuchungseinheiten) befriedigend bis sehr gut.<br />

11<br />

Zu der Aussage „Tom wollte früher einmal Schriftsteller werden.“ hieße die inverse Frage „Was wollte Tom früher<br />

einmal werden?“.<br />

114


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

Resümierend belegen die Unterrichtsanalysen, dass (1) die Intervention unter Einbezug aller<br />

Analysedimensionen nur in 3 der untersuchten Klassen als gelungen gelten kann, (2) die<br />

durchschnittlichen Unterstützungsleistungen durch den Lehrenden deutlich zu gering ausfallen<br />

und (3) die Umsetzungsqualität bei zwei von drei im Unterricht eingesetzten Lesestrategien<br />

defizitär ist und nur die Maßgabe formaler Oberflächenkriterien nicht aber die eines reflektiert<br />

zielgerichteten Lesetrainings erfüllen. Die Verankerung von Reciprocal Teaching im Klassenverband<br />

mit einer leistungsheterogenen Schülerschaft scheint demnach deutlich mehr Schwierigkeiten<br />

aufzuwerfen als angenommen und führt zu vielfältigen von den Lehrenden vorgenommenen<br />

Modifikationen des ursprünglichen Strategietrainings.<br />

6 Offene Fragestellungen - Bedingungen einer gelingenden Lese-<br />

strategieinstruktion<br />

Obwohl sich die erwünschten Effekte des Lesetrainings leider nicht auf Gesamtebene, sondern<br />

nur für bestimmte Subgruppen bestätigt haben, können aus den Befunden wichtige Anhaltspunkte<br />

zu einer gelingenden Implementierung von Reciprocal Teaching in die berufliche Bildung<br />

abgeleitet werden. Diese „Gelingensbedingungen“ sollten in Nachfolgeuntersuchungen systematisch<br />

als weitere Forschungsfragen (bzw. Kontrollvariablen) einbezogen werden, wie dies<br />

zum Grossteil im bereits angelaufenen DFG-Nachfolgeprojekt (Nickolaus/ Ziegler 2007) geschieht.<br />

Resümierend wären als identifizierte Gelingensbedingungen von Reciprocal Teaching<br />

im berufsbildenden Bereich zu nennen:<br />

(1) Motivationale Zustände: Das Scheitern der Intervention ist besonders deutlich in Subgruppe<br />

1 bemerkbar, in der die selbstbestimmt-interessierten Motivationszustände zum Zeitpunkt des<br />

Posttests signifikant abnehmen. Da in dieser Gruppe gleichzeitig Aspekte der wahrgenommenen<br />

Unterrichtsqualität sinken, sollte die Lesestrategieinstruktion unbedingt von motivationalen<br />

Anreizen begleitet und unterstützt werden. Die inhaltliche Relevanz des Lesetrainings könnte<br />

z. B. verstärkt werden durch den Einbezug berufstheoretischer Fächer, wodurch die SchülerInnen<br />

die „praktische“ Relevanz und den Nutzen der Lesestrategien unmittelbar und in unterschiedlichen<br />

Kontexten erfahren können.<br />

(2) Eingangsvoraussetzungen/ Gruppenzusammensetzung: Ferner zeigt sich, dass die schwächeren<br />

SchülerInnen der Experimentalklassen ihr Lesekompetenzniveau zum Posttest deutlich<br />

steigern können, während die Leistungen der überdurchschnittlich guten SchülerInnen leicht<br />

absinken. Ein verändertes Forschungsdesign, das „Heterogenität“ systematisch variiert, indem<br />

sowohl leistungshomogene als auch -heterogene Gruppen gebildet werden, könnte mehr Aufschluss<br />

über den Einfluss der Kompetenzstreuung geben.<br />

(3) Gruppengröße: Im Gegensatz zu den Pilotstudien von Palincsar und Brown oder aktuellen<br />

Studien aus dem deutschsprachigen Raum (vgl. Spörer/ Brunstein/ Arbeiter 2007) wurde Reciprocal<br />

Teaching nicht in Kleingruppen sondern im Klassenverband eingesetzt. Hierdurch sinkt<br />

für den einzelnen Schüler die Möglichkeit zur Strategiebeteiligung und infolgedessen die Intensität<br />

des Trainings und damit auch die Effektstärke des Trainingserfolgs (vgl. Galloway 2003,<br />

S.106f.). Zusätzlich ergaben die qualitativen Unterrichtsanalysen, dass der Einsatz der Lese-<br />

115


Universität Stuttgart<br />

strategieinstruktion im Klassenverband zu methodischen Modifikationen führte, wie z. B. der<br />

relativ häufigen Ausblendung des reziproken Elements oder der Verschiebung von Lehrer- und<br />

Schüleraktivität zu Ungunsten der Auszubildenden 12 .<br />

(4) Umsetzungsqualität und -quantität: Die Auswertung der Unterrichtsaufnahmen belegt, dass<br />

unter den oben genannten Bedingungen (Gruppengröße; Heterogenität) lediglich in 3 der beobachteten<br />

Trainingslassen Reciprocal Teaching zufriedenstellend umgesetzt wurde und besonders<br />

bei der tiefenorientierten Anwendung der Lesestrategien sowie der diesbezüglichen Unterstützung<br />

und Rückmeldung durch den Lehrenden Schwächen erkennbar sind. Zudem variiert<br />

die Umsetzungshäufigkeit des Lesetrainings erheblich. Beide Bedingungen, Umsetzungsqualität<br />

und -quantität, sollten demnach stärker kontrolliert werden (z. B. durch verbindliche Inhaltsund<br />

Zeitvorgaben).<br />

(5) Testverfahren: Der Einfluss des Testverfahrens (standardisierte vs. selbst entwickelte Instrumente)<br />

auf die Effektstärke wurde einleitend bereits erwähnt und deutet sich auch in dieser<br />

Studie an, in der der Trainingserfolg mit einem standardisierten Leseverständnistest ermittelt<br />

wurde, für welche Metaanalysen (Rosenshine/ Meister 1994; Galloway 2003) deutlich niedrigere<br />

durchschnittliche Trainingseffekte ausweisen. Eine mögliche Erklärung für den Effektstärkenunterschied<br />

könnte sein, dass die meist sehr kurzen Texte der standardisierten Tests (Rosenshine/<br />

Meister 1994, S.509) weniger geeignet sind, die zuvor trainierten Fähigkeiten des strategischen<br />

Lesens zu erfassen und eher oberflächliche Informationssuche als tiefes Textverständnis<br />

abfragen. Ein ähnliches Befundmuster zeigen auch Studien aus dem deutschsprachigen Raum<br />

(vgl. Schreblowski/ Hasselhorn 2001; Souvignier/ Mokhlesgerami 2006), nach denen die Lesestrategieinstruktionen<br />

zwar häufig in einer interventionsnahen Testung zu einer signifikanten<br />

Verbesserung des Strategiewissens führen, die Effekte auf die Lesekompetenz jedoch ausbleiben.<br />

Neben den Merkmalen der eingesetzten Testverfahren kann hieraus als ein weiterer Erklärungsansatz<br />

für den beschränkten Trainingserfolgs auch die unzureichende Automatisierung<br />

(Produktionsdefizit) und infolgedessen der ineffektive Einsatz der erlernten Strategien (Nutzungsdefizit)<br />

geschlossen werden (vgl. Hasselhorn 1996). Sinnvoll erscheint vor diesem Hintergrund<br />

neben den Effekten auf die Lesekompetenz zusätzlich die Veränderungen hinsichtlich<br />

Strategiewissen und -anwendung zu erfassen, was im Nachfolgeprojekt durch den Einsatz des<br />

Würzburger-Lesestrategie-Wissenstests (WLST 7-12) und einen selbst entwickelten Kriterientest<br />

realisiert wird.<br />

12 Die videobasierten Unterrichtsanalysen zeigen, dass in 4 der beobachteten Klassen die Lehrenden einen deutlich<br />

höheren Anteil der Redezeit einnehmen als die Auszubildenden. Anteil der Redezeit in % (SchülerInnen/ Lehrender): Kl<br />

1 20/80, Kl 6 25/75, Kl 5 30/70, Kl 7 5/95.<br />

116


7 Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

An Veröffentlichungen wurden bisher publiziert Petsch et al 2008; Petsch 2009.<br />

Tagungsbeiträge:<br />

Petsch, C./ Nickolaus, R.: Förderung schwächerer Auszubildender in der schulischen Berufsausbildung<br />

- Zwischenstand und Untersuchungsergebnisse. Vortrag im Rahmen des<br />

Symposiums <strong>Bildungsforschung</strong> im Ministerium Kultus, Jugend und Sport, Stuttgart<br />

(17.04.2008)<br />

Petsch, C./ Nickolaus, R.: Lesekompetenzförderung mittels „Reciprocal Teaching“. Ergebnisse<br />

einer Interventionsstudie. Vortrag im Rahmen des berufspädagogischen Kolloquiums an der<br />

Universität Stuttgart (25.04.2008)<br />

Petsch, C./ Nickolaus, R.: Lesekompetenztraining durch direkte Strategieinstruktion - Ansätze<br />

und Befunde. Vortrag anlässlich der Herbsttagung der Sektion BWP in Darmstadt<br />

(26.11.2008)<br />

8 Sonstiges<br />

In Anschluss an die aus diesem Teilprojekt gewonnen Erkenntnisse konnte ein DFG finanziertes<br />

Nachfolgeprojekt zum Thema „Lesekompetenzförderung in der beruflichen Bildung“ erfolgreich<br />

beantragt werden (Laufzeit: September 2008 bis August 2010), in welchem insbesondere<br />

die hier identifizierten Gelingensbedingungen der Lesestrategieinstruktion aufgegriffen wurden<br />

und die Wirksamkeit des modifizierten Forschungsdesigns an einer größeren Stichprobe überprüft<br />

wird.<br />

Literatur<br />

BMBF (Hrsg.) (2007): Förderung von Lesekompetenz - Expertise. <strong>Bildungsforschung</strong> Band 17.<br />

Bonn, Berlin<br />

Badel, S. (2002): Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler in MDQM I und in berufsvorbereitenden<br />

Bildungsgängen ausgewählter Oberstufenzentren. Unveröffentlichtes Manuskript<br />

der Philosophischen Fakultät IV, Abteilung Wirtschaftspädagogik. Berlin<br />

Baumert, J. et al. (Deutsches PISA-Konsortium, Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen<br />

Bloom, B. (Hrsg.)(1973): Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich. 3. Aufl., Weinheim,<br />

Basel<br />

Bortz, J. (2005): Statistik für Human – und Sozialwissenschaftler. 6. Aufl., Berlin<br />

Brown, A.L. /Palincsar, A.S. (1987): Reciprocal teaching of comprehension strategies: A natural<br />

history of one program for enhancing learning. In Day, J.D./ Borkowski, J.G. (Hrsg.): Intelli-<br />

117


Universität Stuttgart<br />

gence and exceptionality: New directions for theory, assessment and instructional practices.<br />

Norwood, S.81-132<br />

Brown, A.L./ Campione, J.C. (1990): Communities of Learning and Thinking, or Context by Any<br />

Other Name. In: Kuhn, D. (Hrsg.): Developmental Perspectives on Teaching and Learning<br />

Thinking Skills. Basel et al., S.108- 126<br />

Demmrich, A./ Brunstein, C. (2004): Förderung sinnverstehenden Lesens durch „Reziprokes<br />

Lehren“. In: Lauth, G.W./ Grünke, M./ Brunstein, J.C. (Hrsg.): Intervention bei Lernstörungen:<br />

Förderung, Training und Therapie in der Praxis. Göttingen, S.279-290<br />

Efing, C. (2006): „Viele sind nicht in der Lage, diese schwarzen Symbole da lebendig zu machen.”<br />

- Befunde empirischer Erhebungen zur Sprachkompetenz hessischer Berufschüler.<br />

In: Efing, C./ Janich, N. (Hrsg.): Förderung der berufsbezogenen Sprachkompetenz. Befunde<br />

und Perspektiven. Paderborn, S.33-71<br />

Galloway, A. M. (2003): Improving Reading Comprehension Through Metacognitive Strategy<br />

Instruction: Evaluating the Evidence for the Effectiveness of the Reciprocal Teaching Procedure.<br />

Lincoln (Unpublished Dissertation)<br />

Gschwendtner, T. (2004): Lesestrategieinstruktion durch „reciprocal teaching“. Evaluation der<br />

Implementation des pädagogischen Handlungsprogramms im Deutschunterricht in einer<br />

Klasse des Berufsvorbereitungsjahres an der Carl-Schaefer-Schule Ludwigsburg. Stuttgart<br />

(Diplomarbeit)<br />

Gschwendtner, T./ Ziegler, B. (2006a): Kompetenzförderung durch reciprocal teaching. In: Gonon,<br />

P./ Klauser, F./ Nickolaus, R. (Hrsg.): Bedingungen beruflichen Lernens und beruflicher<br />

Moralentwicklung. Wiesbaden, S.101-111<br />

Gschwendtner, T./ Ziegler, B. (2006b): Möglichkeiten und Grenzen der Lesekompetenzentwicklung<br />

durch kurzfristige Intervention: Eine Frage des Adressatenkreises? In: Gonon, P./<br />

Klauser, F./ Nicklolaus, R. (Hrsg.): Kompetenz, Qualifikation und Weiterbildung im Berufsleben.<br />

Opladen, S.55-68<br />

Grundmann, H. (1997): Der Beitrag des Deutschunterrichts zur Entfaltung beruflicher Handlungsfähigkeit.<br />

In: Schanz, H. (Hrsg.): Didaktik allgemeiner Fächer an beruflichen Schulen.<br />

Stuttgart, S.87-104<br />

Hasselhorn, M. (1996): Kategoriales Organisieren bei Kindern. Göttingen<br />

Hurrelmann, B. (2002): Sozialhistorische Rahmenbedingungen von Lesekompetenz sowie soziale<br />

und personale Einflussfaktoren. In: Groeben, N./ Hurrelmann, B. (Hrsg.): Lesekompetenz.<br />

Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, München, S. 123-149<br />

Lehmann, R.H. et al. (2006): ULME II. Untersuchung von Leistungen, Motivation und Einstellungen<br />

der Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der teilqualifizierenden Berufsfachschulen.<br />

Hamburg<br />

118


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt I<br />

Lehmann, R.H./ Seeber, S. (2007): ULME III. Untersuchungen von Leistungen, Motivation und<br />

Einstellungen der Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der Berufsschulen.<br />

Hamburg<br />

MacGinitie, W. H. et al. (2000): Gates-MacGinitie Reading Tests Level 7/9. Itasca<br />

Neber, H. (2006): Fragenstellen. In: Mandl, H./ Friedrich, H.F. (Hrsg.): Handbuch Lernstrategien.<br />

Göttingen et al., S.51-57<br />

Nickolaus, R./ Ziegler, B. (2007): Die Förderung von Lesekompetenz in beruflichen Schulen<br />

mittels „Reciprocal Teaching“. Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft auf Gewährung<br />

einer Sachbeihilfe<br />

Nickolaus, R./ Knöll, B./ Gschwendtner,T. (2006): Methodische Präferenzen und ihre Effekte auf<br />

die Kompetenz- und Motivationsentwicklung – Ergebnisse aus Studien in anforderungsdifferenten<br />

elektrotechnischen Ausbildungsberufen in der Grundbildung. In: Zeitschrift für Berufs-<br />

und Wirtschaftspädagogik, H.4, S.552-577<br />

Nickolaus, R./ Gschwendtner, T./ Geißel, B. (2008): Entwicklung und Modellierung beruflicher<br />

Fachkompetenz in der gewerblich-technischen Grundbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und<br />

Wirtschaftspädagogik, H.1, S.48-73<br />

Palincsar, A.S./ Brown, A.L. (1984): Reciprocal Teaching of Comprehension Fostering and<br />

Comprehension-Monitoring Activities. In: Cognition and Instruction, 2, H. 1, 117-175<br />

Petsch, C./ Ziegler, B./ Gschwendtner, T./ Abele, S./ Nickolaus, R. (2008): Lesekompetenzförderung<br />

in der beruflichen Bildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online,<br />

Ausgabe 14. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe14/petsch_etal_bwpat14.pdf (06-11-<br />

2008)<br />

Petsch, C. (2009): Reciprocal Teaching - Implementierung einer Lesestrategieinstruktion in die<br />

berufliche Grundausbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW),<br />

H.2, S. 198-220<br />

Prenzel, M. et al. (1996): Selbstbestimmt motiviertes und interessiertes Lernen in der kaufmännischen<br />

Erstausbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik Beiheft 13.,<br />

S.108-127<br />

Prenzel et al. (Deutsches PISA-Konsortium, Hrsg.) (2007): PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten<br />

internationalen Vergleichsstudie. Münster et al.<br />

Rosenshine, B./ Meister, C. (1994): Reciprocal Teaching. In: Review of Educational Research,<br />

64, H. 4, S.479-530<br />

Schiefele, U./ Artelt, C./ Schneider, W./ Stanat, P. (Hrsg.) (2004): Struktur, Entwicklung und<br />

Förderung von Lesekompetenz. Wiesbaden<br />

Schreblowski, S. /Hasselhorn, M. (2001): Zur Wirkung zusätzlicher Motivänderungskomponenten<br />

bei einem metakognitiven Textverarbeitungstraining. In: Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie. H.19, S.249-261<br />

119


Universität Stuttgart<br />

Souvignier, E./ Mokhlesgerami, J. (2006): Using self-regulation as a framework for implementing<br />

120<br />

strategy-instruction to foster reading comprehension. In: Learning & Instruction, H.16, S.57-<br />

71<br />

Spörer, N. /Brunstein, J.C. / Arbeiter, K. (2007): Förderung des Leseverständnisses in Lerntan-<br />

dems und in Kleingruppen: Ergebnisse einer Trainingsstudie zu Methoden des reziproken<br />

Lehrens. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, H.1, S.298-313<br />

Straka, G.A./ Macke, G. (2002): Lern-Lehr-Theoretische Didaktik. New York u.a.


V Förderung schwächerer Auszubildender in der schulischen<br />

Berufsausbildung<br />

Teilprojekt II: Förderung der fachspezifischen Problemlösefähigkeit<br />

in der elektrotechnischen Grundbildung<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Prof. Dr. Reinhold Nickolaus, Dr. Bernd Geißel (Universität Stuttgart, Institut für Erziehungswissenschaft<br />

und Psychologie, Abteilung Berufs-, Wirtschafts- und Technikpädagogik)<br />

2 Das Forschungsprojekt - Ausgangsproblematik und theoretische<br />

Orientierung<br />

Ziel des Projektes war es, zu prüfen, ob und inwieweit bei Auszubildenden des Berufs Elektroniker<br />

für Energie- und Gebäudetechnik die Fehleranalyse- und die darauf bezogene Transferfähigkeit,<br />

die sich in der beruflichen Praxis als besonders leistungskritisch erweisen, durch zeitlich<br />

relativ kurz andauernde Unterrichtssequenzen gefördert werden können.<br />

Ausgehend von der Annahme, dass handlungsorientierte bzw. durch Selbststeuerung gekennzeichnete<br />

Lehr-Lernarrangements substantielle Vorteile gegenüber traditionellen, eher direktiven<br />

Lehrformen im Hinblick auf die Entwicklung fachspezifischer Problemlösefähigkeit aufweisen,<br />

wurden im Bereich beruflicher Bildung bereits in den 80er und 90er Jahren in allen Bundesländern<br />

weitreichende didaktische und curriculare Reformen eingeleitet. Die Umsetzung<br />

dieser Reformen wurde durch vielfältige Maßnahmen gestützt, die Begleitforschung beschränkte<br />

sich allerdings lange Zeit auf formative Evaluationsansätze, wie beispielsweise im Modellversuchsprogramm<br />

„Neue Lehr-Lernformen in der beruflichen Bildung“ (BLK 2004). Erst Ende der<br />

90er bzw. Anfang des neuen Jahrtausends wurden erste vergleichende Untersuchungen zur<br />

Kompetenzentwicklung vorgelegt, deren Ergebnisse zwar partiell geeignet waren, die Ausgangsannahme<br />

zu stützen, z. T. jedoch auch zu erwartungswidrigen Befundlagen führten. Vor<br />

allem für kaufmännische Berufe stützten die durchgeführten Untersuchungen die Ausgangsthese<br />

und dokumentierten nicht zuletzt auch wesentlich positivere motivationale Entwicklungen in<br />

den durch verstärkte Selbststeuerung gekennzeichneten Lehr-Lernarrangements (Sembill u.a.<br />

1998, 2007; Bendorf 2002; Seifried 2004). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass in diesen Untersuchungen<br />

zunächst nur relativ schmale Untersuchungseinheiten einbezogen waren. Inzwischen<br />

liegen denn auch für dieses Berufsfeld gegenteilige Befunde vor (Beyen 2003; Neef<br />

2008), die sowohl die positiven Effekte der Reformkonzepte in der Kompetenz- als auch der<br />

Motivationsentwicklung in Frage stellen. Im gewerblich-technischen Bereich entstanden einerseits<br />

Arbeiten, in welchen durch gezielte Interventionsprogramme die Problemlöse- und Transferfähigkeit<br />

gefördert werden sollte (im Überblick Sonntag/Schaper 1997) und andererseits breiter<br />

angelegte Vergleichsstudien zum Einfluss der Gestaltung von Lehr-Lernarrangements auf<br />

die Kompetenz- und Motivationsentwicklung (Bünning 2007; Neber 2000; Nickolaus/Bickmann<br />

2002; Nickolaus/Heinzmann/Knöll 2005; Nickolaus/Knöll /Gschwendtner 2006; Geißel/Gschwendtner/Nickolaus/<br />

Ziegler 2007; Knöll 2007; Geißel 2008; Wülker 2004).<br />

121


Universität Stuttgart<br />

Die Interventionsstudien der Forschergruppe um Sonntag, die mit Auszubildenden und Facharbeitern<br />

des Berufs Industriemechaniker durchgeführt wurden, belegen einerseits Interventionseffekte<br />

zur Förderung der Fehleranalysefähigkeit in produktionstechnischen Anlagen, andererseits<br />

bleiben diese Effekte auf den Anlagetyp beschränkt, positive Transfereffekte auf andere<br />

Anlagen lassen sich im Vergleich zu den Kontrollgruppen nicht nachweisen (Sonntag/Schaper<br />

1997). Die Studien der Forschergruppe um Nickolaus stellen die positiven Effekte der Reformkonzepte<br />

in der elektrotechnischen Grundbildung sowohl für die Kompetenz- als auch die Motivationsentwicklung<br />

substantiell in Frage. Zum Teil – insbesondere bei schwächeren Auszubildenden<br />

– ergeben sich eher Vorteile direktiven Unterrichts für die Kompetenzentwicklung. Das<br />

gilt z.T. auch für die Fehleranalysefähigkeit. Generell bleiben die durch methodische Entscheidungen<br />

erklärten Varianzanteile sehr gering, ein Befund, welcher sich auch in Metaanlaysen zu<br />

Determinanten der Schulleistung bestätigt (Helmke/Weinert 1997; Wang/Haertel/Walberg<br />

1993). Insgesamt zeigen sich erhebliche Probleme der Auszubildenden etwas anspruchsvollere<br />

Aufgaben zu bewältigen. Bezogen auf die Förderung der hier im Zentrum stehenden Kompetenzaspekte<br />

der Fehleranalyse- und Transferfähikgeit bestätigen sich in eigenen, dieser Studie<br />

vorausgegangen Untersuchungen (vgl. Gschwendtner/Geißel/Nickolaus 2007) weitgehend die<br />

Befunde von Sonntag u.a. Innerhalb der Systeme erwiesen sich z.T. auch relativ kurze systembezogene<br />

Interventionen als wirksam, auf den generellen Strategieeinsatz zielende Interventionen<br />

blieben im Hinblick auf den Transfer ohne Effekt (vgl. Knöll 2007; Nickolaus/Gschwendtner/Knöll<br />

2007).<br />

Als stärkste Prädiktoren der fachspezifischen Problemlösefähigkeit erweisen sich das Fachwissen,<br />

mit deutlich geringeren Anteilen gehen partiell auch der IQ und motivationale Variablen in<br />

die Erklärungsmodelle ein (Knöll 2007; Nickolaus/Heinzmann/Knöll 2005; Nickolaus/Knöll/Gschwendtner<br />

2006). Besonders auffällig sind auch in diesen Untersuchungen gravierende<br />

Transferprobleme, die auch durch verschieden ausgerichtete Interventionen nicht überwunden<br />

werden konnten.<br />

Neber ging ebenfalls in der elektrotechnischen Domäne der Frage nach, wie durch die didaktisch-methodische<br />

Gestaltung von Lehr-Lernarrangements der Erwerb anwendungsfähigen<br />

Wissens begünstigt werden kann. Neber kommt zum Ergebnis, dass der generativ-entdeckende<br />

Erwerb des Wissens zu den funktionalen Zusammenhängen der elektrotechnischen Systeme<br />

sowohl zu einem signifikant umfangreicheren Wissen als auch besseren Transferleistungen<br />

dieses Wissens in Fehleranalysen führt als die rezeptive Form des Wissenserwerbs. Bei näherer<br />

Betrachtung zeigt sich allerdings, dass es sich beim generativ-entdeckenden Lernen, wie<br />

Neber es arrangierte (Neber 2000), eher um eine aktivierende Variante direktiven Unterrichts<br />

handelte als um ein komplexes, durch Handlungsorientierung und Selbststeuerung gekennzeichnetes<br />

Lehr-Lernarrangement berufspädagogischer Provenienz.<br />

Mit entscheidend für solche unterschiedlichen Befundlagen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

auch die Problemcharakteristiken, die sich auch in der „allgemeinen“ Problemlöseforschung als<br />

relevant für die Generierung der Erklärungsmodelle erwiesen (Strohschneider 1991). Die bei<br />

Facharbeitertätigkeiten in der elektrotechnischen Domäne anfallenden Fehlerdiagnoseprobleme<br />

können im Sinne von Dörner (1987, S. 14) in der Regel als Interpolationsbarrieren klassifiziert<br />

122


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

werden. Das Ziel der Fehlersuche, die korrekte Diagnose der Fehlerursache und das (wieder)<br />

funktionierende System als auch die Hilfsmittel zur Störungsdiagnose (Messtechnik) sind prin-<br />

zipiell bekannt. Notwendig für eine systematische Fehlerdiagnose scheinen (1) ein Wissen über<br />

die Elemente des elektrotechnischen bzw. elektromechanischen Systems und deren Zusammenspiel,<br />

(2) gegebenenfalls ein Wissen über die Funktionsweise einzelner Systemelemente,<br />

um deren Funktion überprüfen zu können, (3) das Wissen, bei welchen Eingangs- bzw. inneren<br />

Zuständen des Systems welche äußere Funktion zu erwarten ist, (4) gegebenenfalls die Fähigkeit,<br />

von äußeren Fehlerfunktionen (z. B. unzureichende Leistungsabgabe) auf eine innere<br />

Fehlfunktion schließen zu können und (5) die Fähigkeit, Fehlfunktionen messtechnisch eingrenzen<br />

zu können, was einerseits das oben angeführte Wissen und andererseits messtechnische<br />

Fähigkeiten voraussetzt. Letztlich setzt die Fehlerdiagnosefähigkeit das „Verstehen“ des technischen<br />

Systems voraus, wobei in der Literatur z. T. auch konträre Thesen zur Rolle des Wissens<br />

um die Funktion der Systemelemente und deren Zusammenspiel (innere Funktionalität) und die<br />

äußere Funktion des Gesamtsystems vertreten werden (Brown/Dekleer 1981; Greeno/Berger<br />

1987; Neber 2000). Dies scheint vor dem Hintergrund, dass durch die zunehmende Integration<br />

von Systemen partiell lediglich fehlerhafte Systemkomponenten diagnostiziert und ausgetauscht<br />

werden müssen, ohne dass die innere Funktion des Systemelements verstanden sein muss,<br />

erklärbar. Dieser Integrationsprozess dominiert gegenwärtig vor allem im Bereich der Elektronik,<br />

im Bereich der Starkstromtechnik ist er weniger fortgeschritten. Unseres Erachtens kann die<br />

Frage, ob ein detailliertes Wissen über die innere Funktionalität eines Systems für die Diagnose<br />

notwendig ist, nicht generell beantwortet werden, sondern ist abhängig von der Systemcharakteristik.<br />

Je nach Aufbau, Funktionsweise und Komplexität des elektrotechnischen/elektromechanischen<br />

Systems und der Fehlercharakteristik stellen sich bei der Fehlerdiagnose<br />

je eigene Anforderungen (s. u.). Gegebenenfalls genügt Erfahrungswissen, um aus<br />

einer äußeren Fehlfunktion des Systems auf die Fehlerursache schließen oder eine einschlägige<br />

Hypothese generieren zu können.<br />

Die Fehler- und Systemcharakteristiken (ausführlicher Abschnitt 4), die in der hier im Mittelpunkt<br />

stehenden Untersuchung zum Einsatz kamen, variieren deutlich, insbesondere im Hinblick auf<br />

die in den Systemen gegebenen Freiheitsgrade und die damit verknüpften Anforderungen,<br />

Messtrategien zur Eingrenzung der Fehlermöglichkeiten zu entwickeln, sowie die dafür z. T.<br />

notwendig werdenden Modellierungsleistungen. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke nahe<br />

liegend, dass die auf das technische System bzw. die Fehlercharakteristik bezogene Adaptivität<br />

der Intervention effektrelevant werden kann. Im Anschluss an die Ergebnisse der Transferforschung<br />

kann zudem unterstellt werden, dass prinzipiell die Verfügbarkeit relevanten Systemwissens,<br />

der auf Flexibilisierung dieses Wissens in multiplen Kontexten gerichtete Wissenseinsatz,<br />

das Ausmaß gemeinsamer Elemente der Anwendungsbedingungen, metakognitive Strategien,<br />

die Motivation und gegebenenfalls relevante einschlägige Vorerfahrungen für die Transferleistung<br />

bedeutsam werden (Bendorf 2002; Gschwendtner/Geißel/Nickolaus 2007).<br />

123


Universität Stuttgart<br />

3 Fragestellung<br />

Ausgehend von dem Sachverhalt, dass (1) in der beruflichen Praxis die eigenständige Bewältigung<br />

problemhaltiger Anforderungen auch auf Facharbeiterebene besonders leistungskritisch<br />

ist, (2) die bisherige Befundlage zeigt, dass die Bewältigung solcher Anforderungen besondere<br />

Probleme bereitet und (3) gezielte Interventionen zur Förderung der Fehleranalysefähigkeit<br />

bisher zwar systembezogene Effekte zeigten, jedoch beim Transfer auf andere technische Systeme<br />

effektlos blieben, sollte geprüft werden, ob modifizierte Interventionsansätze geeignet sind<br />

auch das Transferproblem zu mildern.<br />

4 Untersuchungsdesign und eingesetzte Instrumente<br />

Durchgeführt wurde eine Interventionsstudie mit zwei Interventionsvarianten (NEG1 = 46; NEG2<br />

= 42) und einer Kontrollgruppe (NKG = 45). Zu bearbeiten waren insgesamt sieben Fehlerfälle<br />

in drei unterschiedlichen elektrotechnischen Systemen (Akkubohrschrauber, Kochplatte und<br />

Wechselschaltung), die realitätsgerecht simuliert wurden. Eine inzwischen parallel durchgeführte<br />

Validitätsstudie zeigt, dass die Fehleranalyseleistungen im simulierten und realen System<br />

vergleichbar sind (Gschwendtner/Abele/Nickolaus 2009; Nickolaus/Gschwendtner/Abele 2009;<br />

Wiesner 2009). Die Fehlercharakteristiken wiesen folgende Merkmale auf:<br />

a) Akkubohrschrauber: Bei den beiden ersten simulierten Störungsursachen (defekte Steuerung,<br />

defekter Motor) genügt für die Analyse der Fehlerursache funktionales Wissen zu den<br />

elektrotechnischen Komponenten des Systems, gepaart mit dem Wissen bei welchen Messwerten<br />

an den Ein- und Ausgängen der Systemkomponenten auf eine (Fehl-)Funktion geschlossen<br />

werden kann sowie die in allen Fällen notwendige Fähigkeit, relevante Werte messtechnisch<br />

angemessen zu erfassen. Der Fehlerfall des defekten Akkus erfordert zusätzlich ein topologisches<br />

Wissen, d.h. Wissen über die Funktionsweise dieses Elements und die Fähigkeit, Messwerte<br />

in belastetem/unbelastetem Betriebsfall bezogen auf das Funktionsmodell zu interpretieren.<br />

b) Kochplatte: Hier stellen die beiden Fehlervarianten strukturell gleiche Anforderungen. Für<br />

eine erfolgreiche Bearbeitung muss die Topologie bzw. der Funktionszusammenhang des Systems<br />

von der Funktion/Fehlfunktion des Systems ausgehend erschlossen werden. Dazu ist es<br />

erforderlich, die Funktion des Schalters zu modellieren, die bei den verschiedenen Schalterstellungen<br />

erwartungsgemäße Wirkungen (gestufte Leistungsaufnahme) hervorruft. Das bedeutet,<br />

dass nicht nur eine vorgegebene Schaltung in ihrer Wirkungsweise erfasst, sondern, sofern im<br />

Vorfeld nicht bekannt, selbst eine funktionsgemäße Schaltung entworfen und auf diesen Entwurf<br />

aufbauend analysiert werden muss. Topologisches und funktionales Wissen müssen hier<br />

in konstruktiver Perspektive aufeinander bezogen werden. Bei der Analyse muss primär auf das<br />

selbst generierte topologische Wissen rekurriert werden.<br />

124


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

c) Wechselschaltung: In diesem Fall sind die Anforderungen so gestaltet, dass das funktionale<br />

Wissen zu den Elementen und der Gesamteinheit eher auf der Ebene des allgemein zugänglichen<br />

Alltagswissens angesiedelt ist. Komplexer und anforderungsreich stellt sich hingegen die<br />

Topologie dar. Zwar kann das schaltplanmäßig dargestellte Funktionsprinzip, das im Curriculum<br />

fest verankert ist, als bekannt vorausgesetzt werden, die realitätsgerechte Simulation bietet<br />

jedoch keinesfalls die Transparenz der symbolischen Schaltungsdarstellung und setzt eine systematische<br />

Relationierung der symbolischen Schaltungsdarstellung mit der realitätsgerechten<br />

Simulation voraus. Diese muss im Verlauf des Analysevorgangs präsent gehalten werden oder<br />

ist abschnittsweise erneut zu generieren. Auch wenn dies gelingt, bietet das System für die<br />

Analyse weit mehr Freiheitsgrade als die Simulationen des Akkubohrschraubers und der Kochplatte.<br />

Daraus resultieren höhere Anforderungen an das systematische, messtechnische Erschließen<br />

des Fehlers.<br />

Einen Einblick in die Simulation gibt Abb. 1, die am Beispiel der Wechselschaltung bei teilweise<br />

geöffneten elektrotechnischen Komponenten die Messmöglichkeiten andeutet. Zur Durchführung<br />

der Messungen stand ein Digitalmultimeter zur Verfügung. Ohne eigenständige Modellierung<br />

der Funktionszusammenhänge und eine daran ausgerichtete Messtrategie besteht keine<br />

Chance, die Fehlerfälle in diesem System zu diagnostizieren. Die Simulation bietet jenseits von<br />

messtechnischen Zugriffen nicht die Möglichkeit, durch Austausch (potentiell) fehlerhafter Komponenten<br />

die eigene Fehlerdiagnose zu verifizieren. Dies ist beabsichtigt, da trial-and-error<br />

Strategien unterbunden werden sollten.<br />

Abb. 1: System Wechselschaltung<br />

Die Intervention in der Experimentalgruppe 1 (EG1) bestand aus Unterrichtssequenzen, die (1)<br />

systembezogen zur Thematisierung der im jeweiligen System prinzipiell möglichen Fehlerquellen<br />

und den Auswirkungen von diesen Fehlern auf das Gesamtsystem und (2) zur Besprechung<br />

von Messverfahren (z. B. Funktionsprüfung einzelner Elemente durch Soll-Ist-Wertvergleiche)<br />

und die Erläuterung der Funktionsweise des Systems genutzt wurden. In der Experimentalgruppe<br />

2 (EG2) wurden die messtechnischen Verfahren nicht nur besprochen sondern auch<br />

durchgeführt sowie systemübergreifende messtechnische Strategien besprochen.<br />

125


Universität Stuttgart<br />

Hintergrund der so gestalteten Inverventionen waren Ergebnisse in den weiter oben bereits<br />

erwähnten vorgelagerten Untersuchungen, die zeigten, dass systembezogene Interventionen,<br />

die den Modellierungsprozess unterstützen, die größten Effekte zeigten und die Erörterung und<br />

der illustrative Einsatz von metakognitiven Kontrollstrategien effektlos blieb (Gschwendtner/Geißel/Nickolaus<br />

2007; Nickolaus/Knöll/Gschwendtner 2006).<br />

Die Test- und Interventionszeit zur Fehleranalysefähigkeit erstreckte sich auf drei Schulstunden,<br />

ergänzend wurden ein Fachwissenstest (Eigenentwicklung in gekürzter Form), ein IQ-Test CFT<br />

3 (Weiß 1999) und Erhebungen zur Motivation und den motivationalen Bedingungen (im Anschluss<br />

an Prenzel u.a. 1996) durchgeführt.<br />

Untersuchungsdurchführung<br />

Einbezogen wurden insgesamt 8 Klassen des Ausbildungsberufs Elektroniker für Energie- und<br />

Gebäudetechnik, die sich ausschließlich aus männlichen Probanden zusammen setzten.<br />

Durchgeführt wurde die Untersuchung in der Zeit vom 15.09. bis 31.10.2007 zu Beginn des<br />

zweiten Ausbildungsjahres. Eine ergänzend einbezogene Klasse der zweijährigen Berufsfachschule<br />

für Elektrotechnik wurde erst Ende April 2008 getestet, da erst zu diesem Zeitpunkt die<br />

curriculare Absicherung der Testinhalte gewährleistet war.<br />

Vor der Testphase wurden die Auszubildenden in die Simulationen der technischen Systeme<br />

jeweils mittels einer Demonstration aller Funktionalitäten und selbst durchzuführenden Übungsaufgaben<br />

eingeführt. Die Interventionen in den beiden Experimentalgruppen EG1 und EG2<br />

erfolgten jeweils im Anschluss an die Bearbeitung des ersten Fehlerfalls innerhalb des Systems<br />

(vgl. Abb. 2).<br />

Intervention<br />

EG 1, EG 2<br />

Allgemeine<br />

Einführung<br />

Kochplatte,<br />

Rep. 1<br />

Intervention<br />

EG 1, EG 2<br />

Einführung<br />

Akkubohrschrauber<br />

Kochplatte,<br />

Rep. 2<br />

Akkubohrschrauber,<br />

Rep. 1<br />

Einführung<br />

Wechselschaltung<br />

Abb. 2: Zeitlicher Ablauf der Untersuchung<br />

126<br />

Akkubohrschrauber,<br />

Rep. 2<br />

Wechselschaltung,<br />

Rep. 1<br />

Akkubohrschrauber,<br />

Rep. 3<br />

Intervention<br />

EG 1, EG 2<br />

Einführung<br />

Kochplatte<br />

Wechselschaltung,<br />

Rep. 2


5 Zentrale Ergebnisse<br />

Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

Erwartet wurde, (1) dass die mittleren Lösungsquoten der Untersuchungsgruppen in der Rei-<br />

henfolge KG, EG1, EG2 ansteigen und die Leistungseinbrüche im Übergang zum nächsten<br />

System in der EG 2 gemildert werden können und (2), dass sich das Fachwissen als stärkster<br />

Prädiktor der Fehleranalysefähigkeit erweist sowie der IQ und die Motivation ebenfalls prädiktive<br />

Kraft entfalten.<br />

Gemessen am Fachwissen und am IQ ergeben sich keine statistisch signifikanten Differenzen<br />

(5 % Niveau) zwischen den Untersuchungsgruppen. Tendenzielle Vorteile weist die Kontrollgruppe<br />

allerdings im Vorwissen auf. Die KG unterscheidet sich in der Wahrnehmung einiger<br />

motivationaler Bedingungsfaktoren des Fachunterrichts (wahrgenommene Klarheit, inhaltliche<br />

Relevanz, inhaltliches Interesse des Lehrenden) signifikant positiv von der EG 2, bezogen auf<br />

das letzte Merkmal auch von der EG 1. In der Lösungsquote des ersten Reparaturauftrages<br />

(Akkubohrschrauber) ergeben sich keine signifikanten Gruppendifferenzen (Chi2 – Test;<br />

p=.560; vgl. Abb. 3)<br />

Abbildung 3 gibt einen Überblick zu den gruppenspezifischen Lösungsquoten über alle zur Bearbeitung<br />

vorgelegten Reparaturaufträge. Als „richtig“ wurden die Lösungen nur dann gewertet,<br />

wenn sowohl die Diagnose des fehlerhaften Bauteils als auch die dafür gegebene Begründung<br />

korrekt waren.<br />

Abb. 3: Lösungsquoten in den Reparaturaufträgen nach Untersuchungsgruppen (NKG=45,<br />

NEG1=46; NEG2=42)<br />

Der Schwierigkeitsgrad der Fehlerfälle steigt, wie vorgelagerte Untersuchungen zeigen, im ersten<br />

System an und bleibt in den beiden anderen Systemen in etwa gleich. Die mittleren Lösungsquoten<br />

im jeweils ersten Fehlerfall des Systems zeigen sowohl in dieser als auch den<br />

vorgelagerten Untersuchungen sinkende Tendenzen (Gschwendtner/Geißel/Nickolaus 2007).<br />

127


Universität Stuttgart<br />

Trotz Intervention sinken die Lösungsquoten im ersten System auch in den Experimentalgruppen,<br />

vor allem in EG1 ab, die Leistungsdifferenzen zwischen EG2 und EG1 sind beim zweiten<br />

Fehlerfall signifikant (Chi2-Test; p =.039). Beim Reparaturauftrag 3 können sich alle Gruppen,<br />

d.h. auch die Kontrollgruppe trotz steigenden Schwierigkeitsgrades substantiell steigern, signifikante<br />

Differenzen zwischen den Gruppen sind nicht mehr feststellbar. Dass auch die KG in<br />

diesem System einen signifikanten Leistungszuwachs zu verzeichnen hat zeigt, dass sich in<br />

leicht überschaubaren Systemen auf der Basis relevanten Funktionswissens auch ohne Unterstützung<br />

von außen bei intensiverer und länger andauernder Auseinandersetzung die Diagnoseleistung<br />

verbessern kann. Im Übergang zum zweiten System bricht wider Erwarten auch die<br />

Diagnoseleistung der EG 2 in gleicher Weise wie in den beiden anderen Gruppen ein, gleiches<br />

gilt für den zweiten Systemübergang.<br />

Völlig erwartungswidrig ist die Leistungsentwicklung der EG 1 im zweiten elektrotechnischen<br />

System, die im Vergleich zur EG 2 und zur KG bei diesem Fehlerfall hochsignifikant schlechtere<br />

Leistungen erzielt (Chi2-Test; p=.004). Die Leistungszuwächse der EG 2 und der KG zeigen,<br />

dass auch bei diesem, etwas komplexeren und eigene Modellierungsleistungen erfordernden<br />

System bei günstigem Vorwissen und günstigen motivationalen Voraussetzungen noch ohne<br />

Intervention von außen bei intensiverer und länger andauernder Auseinandersetzung mit dem<br />

System substantielle Leistungszuwächse möglich sind.<br />

Im dritten System, der Wechselschaltung, gilt dies – zumindest bei nur zwei Fehlerfällen – nur<br />

noch eingeschränkt. Der Verlauf der Diagnoseleistung in den Untersuchungsgruppen im dritten<br />

System scheint typisch. Auch in den vorgelagerten Untersuchungen ergab sich bezogen auf<br />

dieses System, dass, im Gegensatz vor allem zum ersten System, ohne Intervention keine wesentliche<br />

Steigerung der Diagnoseleistung erzielt werden kann. Wir nehmen an, dass dies primär<br />

durch die System- und Fehlercharakteristik verursacht ist und ab einem gewissen Komplexitätsgrad<br />

die Notwendigkeit (systembezogener) Schulungen steigt. Denkbar wäre auch, dass<br />

der Effekt durch das Zusammenspiel der Interventionen und die in multiplen Kontexten gesammelte<br />

Erfahrung begünstigt wird.<br />

Zur Generierung von Erklärungsmodellen wurden zwei Regressionsanalysen vorgenommen: a)<br />

mit dem Fachwissen, dem IQ, motivationalen Variablen und der Gruppenzugehörigkeit als Bedingungs-<br />

und der gesamten Diagnoseleistung als Kriteriumsvariable und b) der Diagnoseleistung<br />

im ersten Fehlerfall, dem Fachwissen, dem IQ, motivationalen Variablen und der Gruppenzugehörigkeit<br />

als Bedingungs- und dem aus den Fehlerfällen 2 – 7 gebildeten Summenscore<br />

als Kriteriumsvariable. Für die ergänzende Berechnung der zweiten Variante spricht, dass damit<br />

jene Diagnoseleistungen aggregiert werden, die nach der ersten Intervention ermittelt wurden.<br />

In das erste Modell, das eine Varianzaufklärung von 17 % erbringt, geht wider Erwarten der IQ<br />

als stärkster Prädiktor ein (12.1 % Varianzaufklärung). Der IQ korreliert bivariat mit r=.35** geringfügig<br />

höher mit der Kriteriumsvariable als das Fachwissen (r=.33**) und wird daher zuerst in<br />

die Regressionsgleichung aufgenommen. Der IQ selbst korreliert mit dem Fachwissen zu<br />

r=.34**, so dass aufgrund dieser hohen Interkorrelation das Fachwissen zwar nicht mit in die<br />

Modellbildung eingeht, aber dennoch ein bedeutsamer Zusammenhang mit der Problemlösefähigkeit<br />

zu konstatieren bleibt. Weitere 4.9 % Varianzaufklärung erbringt in erwartungskonformer<br />

128


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

Richtung das Überforderungsempfinden. Wir vermuten, dass die etwas geringere Korrelation<br />

der Fachwissensleistung durch den Einsatz einer aus Gründen der verfügbarenTestzeit deutlich<br />

gekürzten Variante des Fachwissenstests verursacht ist.<br />

In die zweite Modellgenerierung geht die Diagnoseleistung im ersten Fehlerfall als stärkster<br />

Prädiktor ein (22.2 % Varianzaufklärung), das Fachwissen erbringt weitere 4.8 %. Die Gruppenzugehörigkeit<br />

wird weder in das Modell 1 noch in Modell 2 integriert. Die Interkorrelationen zwischen<br />

den Diagnoseleistungen der verschiedenen Fehlerfälle sind, mit Ausnahme des dritten<br />

Systems, innerhalb der Systeme relativ hoch, zwischen den Systemen jedoch deutlich geringer.<br />

Insbesondere die Anforderungen im dritten System unterscheiden sich von jenen der anderen<br />

besonders stark. Dies macht deutlich, dass die Anforderungen an die Diagnosefähigkeit in der<br />

beruflichen Praxis erheblich variieren. Zur verlässlichen Abschätzung der Personenfähigkeiten<br />

sind auch vor diesem Hintergrund wesentlich breiter angelegte Testbatterien notwendig. In einer<br />

Folgeuntersuchung (DFG NI 606/6-1), die im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms<br />

„Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse“ angesiedelt ist, werden derzeit<br />

weitere Aufgaben auf Simulationsbasis entwickelt.<br />

Für die Förderpraxis unterstützen die Befunde die Strategie systembezogen zu schulen, den<br />

Aufbau des Fachwissens zu unterstützen und für günstige motivationale Voraussetzungen zu<br />

sorgen. Die zweite Interventionsvariante, in die die praktische Anwendung von systemübergreifend<br />

thematisierten Messstrategien einbezogen ist, scheint sich besser als die erste Interventionsvariante<br />

zu bewähren. Bezogen auf den nach der ersten Intervention gebildeten Summenscore<br />

weist die EG 2 eine signifikant bessere Leistungsbilanz als die EG 1 auf. Die in einer Voruntersuchung<br />

in eine weitere Interventionsvariante zusätzlich integrierten metakognitiven Leitfragen<br />

hatten gegenüber stärker systembezogenen Interventionsstrategien keine Vorteile erbracht.<br />

6 Offene Fragestellungen<br />

Auch mit den in dieser Untersuchung zum Einsatz kommenden Interventionsansätzen gelingt<br />

es nicht, die Transferproblematik zu mildern. Offen ist, ob sich durch eine Ausweitung der Interventionen<br />

wünschenswerte Effekte erzielen lassen. Denkbar wäre, dass z. B. durch den Einbezug<br />

weiterer Systeme und die damit eröffnete Möglichkeit, die Fehleranalysestrategien in unterschiedlichen<br />

Kontexten mit Erfolg einzusetzen, wünschenswerte Effekte erreichbar sind. Zu<br />

prüfen wäre ebenfalls, ob die für die erfolgreiche Diagnose zu erbringenden Teilleistungen (Modellierung<br />

des Funktionszusammenhangs; Entwicklung einer adäquaten Messtrategie) in angemessener<br />

Weise erbracht und durch die Interventionen in ihrer Qualität beeinflusst werden.<br />

Generell scheinen für das bessere Verständnis der Transferproblematik (qualitativ ausgerichtete)<br />

Mikroanalysen erforderlich, die genauere Auskunft über die relevant werdenden Barrieren<br />

und die Voraussetzungen zu deren Überwindung geben. Das schließt auch andere potentielle<br />

Barrieren, wie z. B. defizitäre Kontrollstrategien und fehlendes fachliches Wissen für den Modellierungsprozess<br />

ein. Wenn man unterstellt, dass ohne das relevante Fachwissen keine angemessene<br />

Modellierung gelingt und damit auch Diagnoseversuche notwendigerweise fehlschla-<br />

129


Universität Stuttgart<br />

gen, wofür es überzeugende Gründe gibt 1 , wäre die Sicherung dieses Wissens auch notwendiger<br />

Bestandteil der Interventionen. Für Transferprozesse impliziert dies, dass Strategiewissen<br />

und die Fähigkeit, dieses Wissen situationsadäquat einzusetzen, vermutlich nur wirksam werden,<br />

wenn das notwendige Fachwissen für den Modellierungsprozess vorhanden ist und aktualisiert<br />

werden kann.<br />

7 Projektrelevante Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

Dieses Projekt stellt ein (kleineres) Element in einer Reihe von Arbeiten dar, die auf die Erfassung,<br />

Modellierung und Erklärung der fachlichen Kompetenzentwicklung in der gewerblichtechnischen<br />

Berufsbildung zielen. In diesem Kontext entstanden zahlreiche Veröffentlichungen,<br />

wovon hier nur eine Auswahl angeführt wird: Gschwendtner/Geißel/Nickolaus 2007; Knöll 2007;<br />

Nickolaus/Gschwendnter/Geißel 2008; Nickolaus/Gschwendtner/Abele 2009; Gschwendtner/Abele/Nickolaus<br />

2009.<br />

8 Folgeprojekte<br />

Im Anschluss an diesen Projektteil wurden in diesem Forschungssegment von der (erweiterten)<br />

Projektgruppe verschiedene Projekte durchgeführt, ein DFG-Projekt befindet sich noch in der<br />

Durchführungsphase.<br />

• DFG NI 606/3-1: Reinhold Nickolaus/Bernd Geißel/Tobias Gschwendtner: Einflüsse<br />

betrieblicher und schulischer Ausbildungsvarianten auf die Kompetenz- und<br />

Motivationsentwicklung (abgeschlossen)<br />

• Reinhold Nickolaus/Tobias Gschwendtner/Stephan Abele: Die Validität von<br />

Simulationsaufgaben am Beispiel der Diagnosekompetenz von Kfz-Mechatronikern.<br />

Vorstudie zur Validität von Simulationsaufgaben im Rahmen eines VET-LSA<br />

(abgeschlossen)<br />

• Eigenprojekt (Qualifikationsarbeit): Katharina Wiesner: Erstellung eines<br />

Simulationsprogramms zur Überprüfung von Leistungen in computersimulierten<br />

Umwelten (abgeschlossen)<br />

• Eigenprojekt (Qualifikationsarbeit): Ulf Langner: Qualitative Untersuchung der<br />

Problemlösefähigkeit von Berufsschülern im Elektrobereich (Arbeitstitel, laufend)<br />

• DFG NI 606/6-1: Kompetenzmodellierung und Kompetenzentwicklung in der<br />

gewerblich-technischen Ausbildung (laufend)<br />

1 Dafür sprechen z. B. hohe (latente) Korrelationen zwischen problembezogen erhobenem Fachwissen und der Diagnoseleistung,<br />

die z. T. Größenordnungen von r=.7 – .8 erreichen (Gschwendtner 2008; Nickolaus/Gschwendtner/ Abele<br />

2009).<br />

130


Literatur<br />

Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

Baethge, M. (2004): Ordnung der Arbeit – Ordnung des Wissens: Wandel und Widersprüche im<br />

betrieblichen Umgang mit Humanressourcen. In: SOFI-Mitteilungen, Nr. 32, 7-21<br />

Beck, K./Heid, H. (Hrsg.) (1996): Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Erstausbildung –<br />

Wissenserwerb, Motivierungsgeschehen und Handlungskompetenzen. Zeitschrift für Be-<br />

rufs- und Wirtschaftspädagogik. Beiheft 13. Stuttgart: Steiner<br />

Bendorf, M. (2002): Bedingungen und Mechanismen des Wissenstransfers. Lehr- und Lern-<br />

Arrangements für die Kundenberatung in Banken. Wiesbaden: DUV<br />

Betzler, J. (2006): Vergleich zwischen schülerzentriertem und lehrerzentriertem Unterricht an<br />

einer Fachschule für Technik. In: Die berufsbildende Schule (BbSch) 58. Jg., H. 2, S. 56-60<br />

Beyen, W. (2003): Von der „Handlungsorientierung“ zum Konstruktivismus“? - Perspektiven<br />

eines neuen Paradigams. In: Wirtschaft und Erziehung, 55. Jg., H. 12, S. 421-427<br />

BLK (Hrsg.) (2004): Neue Lernkonzepte in der dualen Berufsbildung. Abschlussbericht des<br />

<strong>Programm</strong>trägers. Bonn: BLK-Heft 113<br />

Brown, J. S./Dekleer, J. (1981): Towards a theory of qualitative reasoning about mechanisms<br />

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131


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132


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt II<br />

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Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Beiheft 14. Stuttgart: Steiner<br />

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133


Universität Stuttgart<br />

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134<br />

Erstausbildung in Zimmererklassen – eine empirische Studie. Aachen: Shaker. Hannover,<br />

Univ., Diss. 2003 (Stuttgarter Beiträge zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Bd. 26)


V Förderung schwächerer Auszubildender in der schulischen<br />

Berufsausbildung<br />

Teilprojekt III: Ein Strategietraining zur Förderung berufsfachlicher<br />

und mathematischer Kompetenzen<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Prof. Dr. Reinhold Nickolaus, Dipl.-Gwl. Kerstin Norwig, Dipl.-Gwl. Cordula Petsch (Universität<br />

Stuttgart, Institut für Erziehungswissenschaften und Psychologie, Abteilung Berufs-, Wirtschafts-<br />

und Technikpädagogik)<br />

2 Ausgangslage und Einbettung in die Forschungslandschaft<br />

Im Fokus des dritten Teilprojektes steht die Förderung der beruflichen Fachkompetenz sowie<br />

der dazu notwendigen mathematischen Grundlagen von schwächeren Auszubildenden des<br />

Handwerks in der einjährigen Berufsfachschule (BFS) Bautechnik anhand des selbstentwickelten<br />

berufsbezogenen Strategietrainings BEST. Hintergrund der Fördermaßnahme bilden die<br />

erheblichen Probleme der Auszubildenden, den schulischen Anforderungen der einjährigen<br />

Grundausbildung zu genügen. Grundmann (2008, S. 377) führt die problematischen Übergangsverläufe<br />

an der ersten Schwelle (Übergang zwischen allgemeinbildender Schule und Berufsbildung)<br />

u.a. darauf zurück, dass immer mehr Absolventen der allgemeinbildenden Schulen<br />

(und hier v.a. der Hauptschulen) immer seltener über die in der Ausbildung geforderten kognitiven<br />

Voraussetzungen und Kompetenzen verfügen. Diese Defizite, die sich auch im erreichten<br />

Bildungsabschluss bzw. in den Abschlussnoten widerspiegeln, führen (1) immer häufiger zum<br />

unmittelbaren Scheitern an der ersten Schwelle und damit zur Einmündung dieser Jugendlicher<br />

in das berufsvorbereitende Übergangssystem und drücken sich (2) in den steigenden Zahlen an<br />

Auszubildenden aus, die ihre Ausbildung abbrechen oder die Abschlussprüfungen nicht bestehen<br />

(ebd., S. 380). Laut Nationalem Bildungsbericht 2008 1 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung<br />

2008) konnten 2006 nur zwei Fünftel der Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss<br />

einen Platz im dualen System finden, gut 50% der Hauptschulabsolventen mündeten hingegen<br />

in das berufliche Übergangssystem ein (ebd., S. 157), worunter berufsvorbereitende Maßnahmen<br />

außerschulischer Träger (z. B. BvB-Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit) sowie alle<br />

schulischen Bildungsgänge fallen, die nicht zu einem qualifizierten Berufsabschluss führen, d.h.<br />

neben BVJ/ BEJ oder BGJ auch die in Vollzeit organisierte (ein-/ zweijährige) teilqualifizierende<br />

Berufsfachschule, auf der unser Projektfokus liegt. Dass trotzdem immer noch ein erheblicher<br />

Teil der hier einmündenden Jugendlichen Schwierigkeiten mit dem geforderten Leistungsniveau<br />

hat, zeigen Daten zu Wiederholungs-, Durchfall- und Abbrecherquoten: Durchschnittlich 2 müssen<br />

an kaufmännischen und gewerblichen Berufsfachschulen in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> 7,9% ei-<br />

1 Die Daten und Zahlen des nationalen Bildungsberichts „Bildung in Deutschland 2008“ beziehen sich allesamt auf das<br />

Jahr 2006. Schwerpunktthema dieses Bildungsberichts sind indikatorengestützte Analysen zu Übergängen im Anschluss<br />

an die Sekundarstufe I.<br />

2 Die Durchschnittswerte wurden anhand von Daten aus 5 Schuljahren (01/02 - 05/06) ermittelt.<br />

135


Universität Stuttgart<br />

nes Jahrgangs ein Schuljahr wiederholen, 14,7% bestehen die Abschlussprüfung nicht und<br />

10,7% brechen die Ausbildung vorzeitig ab (Landtag von <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> 2007).<br />

Zusätzlich zu den eklatanten Passungsproblemen zeigen die statistischen Berichtsdaten, dass<br />

auch 2006 kein Rückgang der bildungsspezifischen Selektion bzw. Segmentation im berufsbildenden<br />

System zu erkennen ist: Die Jugendlichen mit (und ohne) Hauptschulabschluss haben<br />

gegenüber Absolventen mit einem mittleren Abschluss oder einer (Fach-)Hochschulreife nicht<br />

nur die geringsten Chancen, in eine berufsqualifizierende Ausbildung einzumünden, und bilden<br />

somit prozentual den größten Anteil im Übergangssystem (ebd., S. 162f.), sondern ihnen bleiben<br />

aufgrund der Segmentation der Ausbildungsberufe nach schulischer Vorbildung viele Berufe<br />

(und zwar oftmals die prestigeträchtigeren wie z. B. Fachinformatiker/-in oder Bankkaufmann/-frau)<br />

gänzlich versperrt. Von insgesamt vier Berufssegmenten, bleibt diesen bildungsbenachteiligten<br />

Jugendlichen hauptsächlich das unterste Segment offen, in das v.a. die handwerklichen<br />

Bau- und Bauhilfsberufe, Berufe des Ernährungsgewerbes und wenige Dienstleistungsberufe<br />

fallen (ebd. S.110f.). Im Bereich Bautechnik, auf den unsere Fördermaßnahmen gerichtet<br />

sind, ist daher anteilsmäßig mit einem sehr hohen Prozentsatz bildungsbenachteiligter und<br />

lernschwacher Jugendlicher mit tendenziell geringer Motivation bzw. beruflichem Interesse sowie<br />

negativ ausgeprägtem Selbstkonzept und Attribuierungsmustern zu rechnen (Strasser<br />

2008, S. 18ff.). Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese Gruppe wiederum sehr heterogen<br />

zusammensetzt (Bojanowski/ Eckardt/ Ratschinski 2005, S. 12) und daher individuell ganz unterschiedlicher<br />

Förderbedarf besteht. Eigene Vorstudien in der BFS Bautechnik (Lutz 2007)<br />

verweisen darauf, dass innerhalb dieses eher leistungsschwachen Segments nochmals Selektionsprozesse<br />

in Kraft treten und sich beispielsweise erhebliche Unterschiede zwischen den<br />

leistungsstärkeren Zimmerern und den leistungsschwächeren Maurern abzeichnen.<br />

Einem Großteil der Jugendlichen im gewerblich-technischen Bereich bereiten v.a. ihre gering<br />

ausgeprägten mathematischen Grundfähigkeiten große Probleme, denen innerhalb der Selektionsprozesse<br />

ebenfalls erhebliche Relevanz zukommt (vgl. im Überblick: Nickolaus/ Norwig<br />

2009). Nicht zuletzt seit ULME I ist bekannt, dass in den teilqualifizierenden Berufsfachschulen -<br />

verglichen mit vollqualifizierenden BFS oder Berufsschulen - die geringsten mathematischen<br />

Eingangsvoraussetzungen vorliegen: Fast 80% der Jugendlichen erreichen zu Beginn der beruflichen<br />

Ausbildung nicht einmal die erste von vier Kompetenzstufen, d.h. das Niveau alltagsbezogener<br />

(mathematischer) Schlussfolgerungen, auf dem „keine expliziten mathematischen<br />

Operationen verlangt [werden], sondern lediglich intuitive, alltagsnahe Schlussfolgerungen“<br />

(Ivanov/ Lehmann 2005, S. 6). Da zur Lösung vieler beruflicher Aufgaben mathematische Basiskompetenzen<br />

eine notwendige Voraussetzung darstellen, gewinnt deren Förderung besondere<br />

Bedeutsamkeit. In der einjährigen Berufsfachschule Bautechnik ist der Fachrechenunterricht<br />

mittlerweile jedoch im Lernfeldkonzept aufgegangen, wodurch systematische unterrichtliche<br />

Fördermöglichkeiten drastisch verringert wurden. Eigene Studien in der beruflichen Grundbildung<br />

von Elektronikern für Energie- und Gebäudetechnik und Kfz-Mechatronikern zeigen,<br />

dass die mathematischen Kompetenzen der Auszubildenden im 1. Lehrjahr unter diesen Förderbedingungen<br />

nahezu stagnieren und kaum eine Leistungsentwicklung zwischen Schuljahresbeginn<br />

und -ende zu verzeichnen ist (Schürg 2007; Nickolaus/ Geißel/ Gschwendtner 2008).<br />

Bezogen auf die Berufsfachschule Bautechnik liegen aus eigenen Vorstudien zur Ermittlung des<br />

136


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

mathematischen Anforderungsniveaus und Förderbedarfs (Averweg 2007) zudem qualitative<br />

Aussagen über die gegen Ende der einjährigen BFS Bautechnik erreichten mathematischen<br />

Kompetenzen vor, nach denen die SchülerInnen bereits Schwierigkeiten bei anforderungsniedrigen<br />

Aufgaben im Bereich der Grundrechenarten oder der Umrechnung von Einheiten haben,<br />

einfache mathematische Grundbegriffe (wie Produkt, Differenz oder Durchschnitt) nicht beherrschen,<br />

erhebliche Probleme bei Bruch- und Prozentrechenaufgaben zeigen sowie kaum in der<br />

Lage sind, algebraische Umformungen oder Textaufgaben mit eigenständigen mathematischen<br />

Modellierungsleistungen erfolgreich zu lösen (Averweg et al. 2009; Nickolaus/ Geißel/<br />

Gschwendtner 2008). Diese Defizitdiagnose gewinnt zusätzlich an Bedeutung, wenn berücksichtigt<br />

wird, dass sich die mathematische Leistungsfähigkeit als einer der stärksten Einflussfaktoren<br />

der Fachkompetenzentwicklung erweist. Dieser Befund zeigt sich in eigenen Untersuchungen<br />

in der gewerblich-technischen Grundbildung (Nickolaus/ Gschwendtner/ Geißel 2008),<br />

als auch in den breit angelegten Hamburger Längsschnittuntersuchungen mit 17 einbezogenen<br />

Ausbildungsberufen (ULME I, II, III; vgl. Lehmann/ Seeber 2007; Hoffmann/ Lehmann 2007, S.<br />

189).<br />

Aussagekräftig evaluierte Förderansätze zur Behebung von Lern- und Leistungsschwächen<br />

entstammen vorwiegend dem Bereich der allgemeinen Lehr-Lernforschung: Hier existiert eine<br />

Vielzahl an theoretischen Konzepten zur Lernförderung (vgl. im Überblick z. B. Lauth/ Grünke/<br />

Brunstein 2004; Neber 1996; Zielinski 1996), deren Wirksamkeit in unterschiedlichen Kontexten<br />

(wie etwa Jahrgangsstufen oder Schularten des allgemeinbildenden Bereichs) bereits bestätigt<br />

werden konnte. Zu nennen sind beispielsweise allgemeine Ansätze zur Förderung von Metakognition<br />

und Lernstrategien (vgl. Guldiman/ Lauth 2004; Mandl/ Friedrich 2006) sowie zur Interessens-<br />

und Motivationsförderung (vgl. Schiefele 2004) als auch auf die Förderung von Basiskompetenzen<br />

zielende Interventionen wie z. B. Reciprocal Teaching zur Förderung des verstehenden<br />

Lesens (Demmrich/ Brunstein 2004) oder Konzepte zur Förderung der (strategischen)<br />

Rechenfähigkeit (Stern/ Hasemann/ Grünke 2004). Teilweise wurden diese und andere<br />

Förderansätze auch auf den berufsbildenden Bereich übertragen, allerdings blieb deren systematische<br />

Überprüfung oftmals aus (vgl. Bojanowski/ Eckardt/ Ratschinski 2005, S. 27). Unser<br />

Strategietraining BEST zur Förderung der bautechnischen Fach- und mathematischen Basiskompetenzen<br />

orientiert sich daher an den im allgemeinbildenden Bereich erprobten Ansätzen.<br />

Relevanz erhalten dabei insbesondere das „Lernen aus Fehlern“ (im Überblick siehe Althoff<br />

(1999)); in mathematischen Kontexten siehe Chott (1999), Katzenbach (2004)) sowie das in<br />

Anlehnung an das Modell des guten Strategieanwenders konzipierte kombinierte Training metakognitiver<br />

Strategien und bereichsspezifischer Lösungsstrategien zur Bearbeitung mathematischer<br />

Probleme (Hasselhorn 1992; Komorek et al. 2006; Perels/ Schmitz/ Bruder 2005).<br />

Als relevante Umsetzungs- und Gelingensbedingungen einer auf lernschwache Schüler ausgerichteten<br />

Förderpädagogik konnten in unterschiedlichen Forschungsarbeiten (Matthes 2004;<br />

Bojanowski 2005; EL-Mafaalani 2009; Metzger/ Nüesch in Druck) zudem identifiziert werden:<br />

(1) eine individuelle Eingangsdiagnostik, die Lernstand und -bedarf der einzelnen Schüler ermittelt,<br />

um den weiteren Förderplan bzw. geeignete Lernaufgaben zu bestimmen, (2) eine fortlaufende<br />

Diagnostik zur Überprüfung des Lernerfolgs sowie zur Ermöglichung einer individuellen<br />

und kontinuierlichen Feedbackkultur, (3) deutliche inhaltliche Anknüpfungspunkte des Trainings<br />

137


Universität Stuttgart<br />

an den jeweiligen Fachunterricht, um notwendige Transferleistungen zu reduzieren und die<br />

Relevanzzuschreibung seitens der Schüler zu erhöhen, sowie (4) weitere motivationsfördernde<br />

Trainingsbedingungen wie z. B. die Ermöglichung von Kompetenzerleben durch adaptive Lernaufgaben<br />

und Unterstützungsleistungen (scaffolding) des Trainers.<br />

3 Fragestellung<br />

Untersucht werden soll, ob durch das berufsbezogene Strategietraining BEST die lernschwächeren<br />

Schüler der einjährigen BFS Bautechnik in ihrem Lernprozess gestützt und der Anschluss<br />

an den berufsfachlichen Unterricht gesichert werden kann. Als Lehrende kommen fortgeschrittene<br />

Lehramtsstudierende (mit Hauptfach Bautechnik) zum Einsatz, die zuvor intensiv<br />

geschult und im Verlauf der Intervention unterstützt werden.<br />

Geprüft werden in der Interventionsstudie zwei zentrale Hypothesen, die sich zum einen auf die<br />

Förderung der Auszubildenden, zum anderen auf den Lehreinsatz der studentischen Tutoren<br />

beziehen:<br />

Hypothese 1:<br />

Das tutorengeleitete und in Kleingruppen durchgeführte berufsbezogene Strategietraining<br />

(BEST) führt zu positiven Effekten auf (a) die bautechnische Fachkompetenzentwicklung<br />

und (b) die Motivationsentwicklung der Auszubildenden.<br />

Hypothese 2:<br />

Die wissenschaftlich betreute Lehrtätigkeit der Studierenden führt zu positiven Effekten in<br />

deren Studienmotivation.<br />

4 Design und Instrumente<br />

Durch den Lehreinsatz studentischer Tutoren konnte das Strategietraining in Kleingruppen (3-4<br />

Auszubildende je Tutor) durchgeführt und das Konzept einer individuellen Förderung, ausgehend<br />

von individuellen Lernschwächen und -bedürfnissen realisiert werden. Über eine Interventionsdauer<br />

von sieben Monaten (Oktober 2008 - April 2009) erhielt jede Kleingruppe insgesamt<br />

20 Fördersitzungen (á 45min.), die in regelmäßigen - den jeweiligen schulorganisatorischen<br />

Rahmenbedingungen angepassten - Abständen erteilt wurden. Um die Abstimmung der Fachinhalte<br />

mit dem regulären Unterricht zu gewährleisten, hospitierten die studentischen Tutoren<br />

zweiwöchentlich im berufsfachlichen Unterricht der jeweiligen Klasse, wobei sie zusätzlich mittels<br />

eines halbstandardisierten Beobachtungsbogens den Unterricht (Inhalt, Ablauf, Methoden<br />

und wichtige Unterrichtsmerkmale) sowie das Lernverhalten ihrer Förderschüler (Aktivität vs.<br />

Passivität, Qualität der Unterrichtsbeiträge, Aufmerksamkeit/ Konzentration, konkrete fachliche<br />

Lernschwierigkeiten, etc.) erfassten. Zur Koordination und Reflexion fanden regelmäßige Tutorentreffen<br />

unter wissenschaftlicher Leitung und klassenbezogene Teamsitzungen mit den beteiligten<br />

Lehrenden statt.<br />

138


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

In die Experimental-Kontrollgruppen-Untersuchung wurden insgesamt 13 Klassen (N = 262)<br />

der einjährigen (in Vollzeit organisierten) Berufsfachschule Bautechnik einbezogen. Obwohl die<br />

Auszubildenden der teilqualifizierenden BFS Bautechnik eine gemeinsame bautechnische<br />

Grundausbildung 3 erhalten, die nicht nach Berufen differenziert ist, werden die Klassen bereits<br />

in der BFS berufsspezifisch zusammengesetzt. Unsere Untersuchungsstichprobe umfasste fünf<br />

Stuckateur-/ Fliesenlegerklassen, zwei Maurerklassen, fünf Zimmererklassen und eine Bau-<br />

zeichnerklasse. Die Experimentalgruppe wurde im Kern durch zwei Stuckateur-/ Fliesenleger-<br />

klassen (N = 40) gebildet, in die erfahrungsgemäß (neben den Maurern) die schwächsten Auszubildenden<br />

einmünden. Alle Schüler dieser zwei Klassen nahmen aufgeteilt auf elf Kleingruppen<br />

am Fördertraining teil. Aufgrund schulorganisatorischer Rahmenbedingungen musste der<br />

Förderunterricht in das Zeitkontingent (Neun Wochenstunden) des berufsfachlichen Bereichs<br />

integriert werden, d.h. die Förderschüler erhielten im Vergleich zu den Kontrollgruppen keine<br />

zusätzliche Lernzeit. Neben den elf Fördergruppen der Stuckateur-/ Fliesenlegerklassen wurden<br />

drei weitere Fördergruppen (N = 12) mit einem leicht veränderten Untersuchungsdesign in<br />

das Treatment einbezogen: Hierbei wurden jeweils nur die lernschwächeren Auszubildenden<br />

einer Maurer- und einer Zimmererklasse aufgenommen, die zuvor von den Lehrenden mittels<br />

eines Eingangstests ausgewählt wurden. Dieses Design ermöglicht zusätzlich die Überprüfung<br />

von klasseninternen Effekten.<br />

Zur Evaluation der Fördermaßnahme als auch zur Validierung oben beschriebener Übergangsbzw.<br />

Ausgangsproblematiken wurden zu drei Zeitpunkten, nämlich vor Interventionsbeginn,<br />

nach Interventionsende und als Follow-Up zum Schuljahresende folgende kognitive und motivationale<br />

Variablen erfasst:<br />

Einmalig zu Beginn der Intervention wurden erhoben: (1) die kognitive Grundfähigkeit (CFT 20-<br />

R; Weiß 2006), (2) das räumliche Vorstellungsvermögen als eine für Bauberufe wesentliche<br />

Fähigkeit (Kombination aus Testteilen des ISA/ SokraTest) sowie (3) das fachspezifische Interesse,<br />

d.h. das Interesse der Schüler an der gewählten beruflichen Fachrichtung (FSI in beruflicher<br />

Adaption; Schiefele et al. 1993). 4<br />

Zum Zeitpunkt des Eingangs- und Abschlusstests, d.h. vor und nach der Intervention wurden<br />

als treatmentrelevante Variablen erhoben: (1) die mathematischen Fähigkeiten (geschlossene<br />

Testaufgaben aus dem ULME-Repertoire (SL-HAM 10/11), die nach den geltenden Bildungsstandards<br />

für die Hauptschule und nach bautechnischem Anforderungskontext ausgewählt<br />

wurden) sowie (2) die Schülermotivation (differenziert in 6 Motivationsvarianten von amotiviert<br />

bis interessiert; in Anlehnung an Prenzel et al. 1996) und (3) motivationsrelevante Unterrichtsmerkmale<br />

in der Wahrnehmung der Schüler (wie Autonomie- oder Kompetenzerleben; ebd.).<br />

3 Die einjährige BFS Bautechnik kann den Auszubildenden als erstes Lehrjahr angerechnet werden. Eine Differenzierung<br />

nach Berufen findet erst ab dem 2. Lehrjahr im dualen Ausbildungssystem statt.<br />

4 Obwohl die längsschnittliche Betrachtung des räumlichen Vorstellungsvermögens und des fachspezifischen Interesses<br />

sicherlich auch wissenswert wäre, haben wir auf einen weiteren Einsatz dieser Testformen verzichtet, um der sich<br />

bereits zum Zeitpunkt des Abschlusstests anbahnenden Übertestung (insbesondere der schwächeren Schüler) entgegenzuwirken.<br />

139


Universität Stuttgart<br />

Zu allen drei Messzeitpunkten wurde als Kriteriumsvariable die bautechnische Fachkompetenz<br />

(zwei Testteile: BTKI und BTKII5) erfasst. In dem aufbauend auf Vorarbeiten (Lutz 2007)<br />

selbstkonstruierten Test wurden alle sechs in der Grundstufe (im Theorie und Praxisunterricht)<br />

behandelten Lernfelder zu gleichen Teilen in offenen Aufgaben (mit kurzen Antwortformaten)<br />

abgedeckt. Ausgehend von den ursprünglichen Fächerstrukturen sind mit den Aufgaben in isolierter<br />

als auch kombinierter Form die Fähigkeitsanforderungen (1) technologisches Wissen, (2)<br />

technisches Zeichnen und (3) technische Mathematik abgebildet, die nach der Einführung des<br />

Lernfeldansatzes zum Anforderungskonglomerat bautechnische Fachkompetenz verschmolzen<br />

sind. Zur raschbasierten Auswertung der Daten, die ausgehend von der Kompetenzmodellierung<br />

auch kriteriumsorientierte Aussagen über die Stärken und Schwächen der Schüler erlauben,<br />

wurden die Testaufgaben in Anlehnung an schwierigkeitsbestimmende Aufgabenmerkmale<br />

konstruiert. Leitend war u.a. die Bloomsche Taxonomie (Bloom 1973), die sich in den vorliegenden<br />

Kompetenzmodellierungen im gewerblich-technischen Bereich (Gschwendtner 2008;<br />

Geißel 2008; Nickolaus/ Gschwendtner/ Geißel 2008) als bedeutsam für die Aufgabenschwierigkeit<br />

erwiesen hat.<br />

Zur Überprüfung der zweiten Hypothese wurden die beteiligten Tutoren mittels eines standardisierten<br />

Fragebogens (FSI; Schiefele et al. 1993) zu ebenfalls drei Messzeitpunkten zu ihrem<br />

Studieninteresse 6 sowie mittels einer formativen Evaluation zu ihren Erfahrungen, (Umsetzungs-)Schwierigkeiten<br />

und dem persönlichem Nutzen der Tutorentätigkeit befragt.<br />

Das von den studentischen Tutoren umgesetzte berufsbezogene Strategietraining kombiniert<br />

dem Forschungsstand entsprechend kognitive, metakognitive und motivationale Elemente und<br />

integriert unterschiedliche Ansätze zu einem umfassenden 4-stufigen Förderkonzept. In Orientierung<br />

am „Lernen aus Fehlern“ (Oser, Hascher, Spychiger 1999) werden Fehlersituationen der<br />

Auszubildenden positiv als Lernchancen und Ausgangslage des anschließenden Strategietrainings<br />

genutzt, wobei sowohl die kognitiven (Fehlkonzepte erkennen, beheben und reflektieren)<br />

als auch die affektiven Komponenten des Ansatzes (Hinwendung zu einer positiven Fehlerkultur)<br />

aufgegriffen werden. Das darauf folgende Strategietraining zur kombinierten Förderung<br />

metakognitiver und kognitiver Strategien (vgl. Hasselhorn 1992; Komorek et al. 2006) soll den<br />

Auszubildenden sowohl eine allgemeine Heuristik in Anlehnung an die metakognitiven Strategien<br />

der Planung, Überwachung und Bewertung als auch bereichsspezifische Lösungsstrategien<br />

zur erfolgreichen Bearbeitung komplexer beruflicher Lernaufgaben vermitteln. Der Förderansatz<br />

bezieht sich hierbei auf bekannte therapeutische Mittel der Lernstrategieforschung wie<br />

(1) Think Aloud (auch Lautes Denken oder Cognitive Lab genannt; vgl. American Institutes for<br />

Research 2000), bei dem durch Selbstverbalisierungsprozesse interne Problemlöse- und Denkstrukturen<br />

der Schüler während der Aufgabenbearbeitung offen gelegt werden sowie (2) Modelling<br />

und Scaffolding in Anlehnung an den Cognitive Apprenticeship Ansatz (Collins/ Brown/<br />

Newman 1989; Lauth 1993), wobei der Tutor als Strategieexperte die erfolgreiche Strategieanwendung<br />

laut denkend modelliert und die Schüler bei der anschließenden selbstständigen Strategieanwendung<br />

bedarfsgerecht unterstützt. Als zusätzliche Hilfsmittel wurden die Visualisie-<br />

5 BTKII kam nur zum Abschlusstest und Follow-Up zum Einsatz.<br />

6 Umfangreiche Kontrolldaten (zum Vergleich der Studieninteressen bzw. deren Entwicklung) liegen bereits aufgrund<br />

von regelmäßig durchgeführten FSI-Befragungen aller Lehramtsstudierenden in Stuttgart vor.<br />

140


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

rung der allgemeinen Problemlöseheuristik über Lernposter und das schülereigene Führen ei-<br />

nes Strategiehefts (Katzenbach 2004) eingesetzt. Die eingangs erwähnten Kontextbedingungen<br />

eines gelingenden Trainings wurden in der Förderkonzeption - soweit es der schulorganisatorische<br />

Rahmen zuließ - aufgegriffen. Durch Kleingruppen konnte dem Anspruch einer individuellen<br />

Förderung, adaptiven Aufgabenauswahl und individuellen Eingangs- und Prozessdiagnostik<br />

(Bojanowski 2005; Matthes 2004) entsprochen werden, letztere wurde von wissenschaftlicher<br />

Seite durch Eingangstests sowie den Einsatz evaluativer Testaufgaben während der Interventionslaufzeit<br />

als auch durch diagnostische Beobachtungsinstrumente (standardisierter Beobachtungsbogen)<br />

und -aufgaben (Reflektion der Schülerentwicklung im „Tutorentagebuch“) angeleitet<br />

und unterstützt. Um negativen Relevanzzuschreibungen und Motivationsentwicklungen der<br />

Schüler entgegenzuwirken sowie erforderliche Transferleistungen eines ausschließlich allgemeinen<br />

Strategietrainings soweit als möglich zu reduzieren (vgl. Metzger/ Nüesch in Druck),<br />

wurden zusätzlich eine enge Anbindung an den berufsfachlichen Unterricht sowie die inhaltliche<br />

Orientierung des Strategietrainings an beruflichen Lernaufgaben (durch das direkte Einüben<br />

bereichsspezifischer Strategien) realisiert.<br />

Die vier Phasen des berufsbezogenen Strategietrainings stellen sich im Einzelnen wie folgt dar:<br />

Phase 1 „Lernchancen schaffen“: Die Auszubildenden bearbeiten selbstständig offene, problemorientierte<br />

Lernaufgaben, die von den Tutoren in Rückgriff auf einen von wissenschaftlicher<br />

Seite konzipierten umfangreichen Aufgabenpool ausgewählt wurden und den jeweiligen Fachinhalten,<br />

diagnostizierten Lernschwierigkeiten bzw. Fähigkeitsniveau der Auszubildenden angepasst<br />

sind. 7 Während des selbstständigen Lösungsversuchs, der den Auszubildenden ermöglicht,<br />

ihre eigenen Lernstrategien anzuwenden und damit Vorrausetzung jeglicher positiver Fehlerkultur<br />

und -diagnose darstellt, ist es Aufgabe der Tutoren, das Schülervorgehen nach (in der<br />

Tutorenschulung fixierten) Diagnosekriterien zu beobachten, um die jeweiligen motivationalen,<br />

emotionalen und/ oder kognitiven Vorrausetzungen der Förderschüler besser beurteilen zu können.<br />

8<br />

Phase 2 „Lernchancen nutzen - kooperative Fehleranalyse“: Um die angewendeten Lösungsstrategien<br />

sowie deren zugrunde liegenden Denk- und Begründungsmuster und mögliche Fehlkonzepte<br />

der Auszubildenden aufzudecken, initiieren die Tutoren durch gezielte Leitfragen,<br />

dass die Schüler ihr Vorgehen verbalisieren (Think Aloud), um anschließend im Gruppengespräch<br />

die einzelnen Konzepte und Strategien zu reflektieren, zu verbessern und auf Anwendungsbedingungen,<br />

Vor- und Nachteile sowie persönliche Strategiepassung hin zu bewerten.<br />

Ziel ist neben der Fehleranalyse, gemeinsamer Reflexion und Entwicklung der bereichsspezifischen<br />

Lösungsstrategie(n) auch die schrittweise Einführung der allgemeinen Heuristik zur Aufgaben-<br />

und Problemlösung durch explizite Erklärungen der Tutoren zum Vorgehen und Nutzen<br />

strategischer Aufgabenbearbeitung, durch kooperativ erstellte Lernposter sowie nicht zuletzt<br />

durch die sich wiederholenden Modellierungsdialoge, die einen allgemeinen Ablauf innerhalb<br />

unterschiedlicher bereichsspezifischer Lösungsstrategien erkennen lassen.<br />

7<br />

Adaptive Aufgabenauswahl bzw. zu beachtende Auswahlkriterien war ein zentrales Element der Tutorenschulung.<br />

8<br />

Im Fokus der Beobachtung standen Motivation/ Interesse, Anstrengungsbereitschaft/ Konzentrationsfähigkeit sowie<br />

das Selbstwirksamkeitskonzept der Schüler.<br />

141


Universität Stuttgart<br />

Phase 3 „Modelling“: Die Konsolidierung der gefundenen Lösungsstrategien als auch des metakognitiven<br />

Vorgehens wird durch das Modelling angeregt: Der Tutor bearbeitet die Lernaufgabe<br />

nochmals laut denkend und verbalisiert hierbei nicht nur sein Vorgehen, sondern insbesondere<br />

seine (sonst intern ablaufenden) metakognitiven Denkprozesse zur Vorgehensweise. Als zusätzliches<br />

Hilfsmittel kommt in dieser Phase das Strategieheft zum Einsatz, in das die Auszubildenden<br />

ihre individuellen Lösungsstrategien sowie aufgetretene Schwierigkeiten und mögliche<br />

Hilfestellungen in eigenen Worten eintragen und das sie für die Lösung folgender Trainingsaufgaben<br />

nutzen.<br />

Phase 4 „Training und Transfer“: Der Strategieeinsatz wird zunächst durch strukturgleiche und<br />

im weiteren Lernverlauf variierende (Transfer erfordernde) Aufgaben trainiert und das Strategieheft<br />

dementsprechend erweitert. Aufgabe der Tutoren ist hierbei wiederum, eine adäquate<br />

Aufgabenauswahl zu treffen sowie die einzelnen Schüler beim Strategieanwenden adaptiv zu<br />

unterstützen (Scaffolding) und regelmäßig an die „Merkregeln“ der strategischen Aufgabenbearbeitung<br />

und den Nutzen der strategischen Anstrengung für den Lernerfolg zu erinnern. Wichtig<br />

ist in dieser Phase v.a. auch, das Erfolgserleben der Schüler zu unterstützen, um Trainingsmotivation<br />

und Strategierelevanz zu stärken sowie eventuell negativ ausgeprägten Selbstkonzepten<br />

und Attribuierungsmustern entgegenzuwirken.<br />

5 Ergebnisse<br />

Da das vorliegende Teilprojekt noch nicht abgeschlossen ist (Laufzeit bis Dezember 2009),<br />

kann im Folgenden nur auf die Eingangsdiagnostik sowie erste Befunde zur Kompetenz- und<br />

Motivationsentwicklung (Hypothese 1) bis zum Zeitpunkt des Abschlusstests eingegangen werden.<br />

Eingangsdiagnostik<br />

Die Eingangs beschriebenen Selektionsmechanismen an der ersten Schwelle lassen sich auch<br />

für unsere Stichprobe (N=240) bestätigen: Zwei Drittel aller in die einjährige BFS Bautechnik<br />

einmündenden Auszubildenden verfügen über einen Hauptschulabschluss (67,1%), nur etwa<br />

30% erlangten einen mittleren oder höheren Abschluss, wobei der Anteil der Schüler mit Abitur<br />

oder Fachhochschulreife mit nur 6 Schülern (2,5%) erwartungsgemäß gering ausfällt. Für Jugendliche,<br />

die die Schule ohne Abschluss verlassen, bestehen offensichtlich auch in diesem<br />

unteren Berufssegment wenige Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen; ihr Anteil ist<br />

mit 5 Auszubildenden ebenfalls marginal.<br />

Darüber hinaus zeigen sich, wie erwartet, auch innerhalb der Berufsgruppe deutliche Unterschiede<br />

bezogen auf die schulische Vorbildung: Während der weitaus größte Anteil der Schüler<br />

in der Bauzeichnerklasse über einen mittleren Bildungsabschluss verfügt (81,0%), beträgt in<br />

den Stuckateur/Fliesenleger- und Maurerklassen der Anteil der Schüler mit Hauptschulabschluss<br />

jeweils mehr als 80%. Einzig in die Zimmererklassen münden ähnlich viele Jugendliche<br />

mit Hauptschulabschluss (55,7%) wie mit Realschulabschluss (40,9%) ein. Rein formell be-<br />

142


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

trachtet lassen sich somit bereits auf Basis der Schulabschlüsse Hinweise für die angedeuteten<br />

Selektionsprozesse erkennen. 9<br />

Die in den Eingangstests erhobenen kognitiven und motivationalen Merkmale erlauben eine<br />

differenziertere Betrachtung der Eingangsvoraussetzungen, die die im Anschluss an die formalen<br />

Schulabschlüsse angestellten Vermutungen für die einzelnen Ausbildungsberufe insgesamt<br />

bestätigt. Bezogen auf die kognitive Grundfähigkeit (IQ) zeigen sich die Stuckateure/ Fliesenleger<br />

und Maurer im Vergleich zu den Zimmerern und Bauzeichnern signifikant schwächer (siehe<br />

Tabelle 1). 10 Während die stärkere Gruppe einen durchschnittlichen Wert jeweils knapp über<br />

dem Populationsmittel von 100 Punkten erreicht, bleiben die Auszubildenden der beiden anderen<br />

Berufe insbesondere im Fall der Maurer deutlich darunter. Für das räumliche Vorstellungsvermögen,<br />

ein für Bauberufe besonders wichtiger Teilaspekt der allgemeinen kognitiven Fähigkeit,<br />

deuten sich weniger bedeutsame Unterschiede an, jedoch wird auch hier eine entsprechende<br />

Überlegenheit der Zimmerer und Bauzeichner erkennbar.<br />

Ausbildungsberuf<br />

Merkmal<br />

Kognitive<br />

Grundfähigkeit<br />

Räumliches<br />

Vorstellungsvermögen<br />

(max.<br />

Punktzahl: 22)<br />

Fachspezifisches<br />

Interesse (Skala<br />

von 0 bis 4 / geringes<br />

bis hohes<br />

Interesse)<br />

Mathematische<br />

Fähigkeiten<br />

(max. Punktzahl:<br />

9)<br />

Bautechnische<br />

Fachkompetenz I<br />

(max. Punktzahl:<br />

29)<br />

Stuckateure/<br />

Fliesenleger<br />

Maurer Zimmerer Bauzeichner<br />

N M SD N M SD N M SD N M SD<br />

82 93.7 15.9 45 91.6 14.5 82 101.1 12.3 20 105.7 11.2<br />

79 13.8<br />

5<br />

4.53 44<br />

14.3<br />

4<br />

3.67 84 16.07 4.05 20 16.60 4.12<br />

80 2.52 .53 44 2.31 .65 85 2.56 .43 20 2.82 .28<br />

76 3.46 2.11 21 3.67 2.01 83 5.10 1.90 20 5.70 2.00<br />

81 5.70 3.71 22 5.32 3.65 81 11.58 4.56 20 9.70 2.42<br />

Tabelle 8: Eingangsdiagnostik – kognitive, motivationale und leistungsbezogene<br />

Merkmale nach Ausbildungsberufen<br />

9 Auch statistisch kann ein schwacher bis mittlerer Zusammenhang (asymmetrisches λ = .184, p ≤ .05) zwischen<br />

Schulabschluss und Ausbildungsberuf ermittelt werden.<br />

10 Die Mittelwertunterschiede zwischen Zimmerern und Maurern sowie zwischen Bauzeichnern und Stuckateuren/Fliesenlegern<br />

bzw. Maurern sind jeweils hoch signifikant (p ≤ .01), zwischen Zimmerern und Stuckateuren/Fliesenlegern<br />

immer noch signifikant (p ≤ .05); die Effektstärken liegen durchgängig bei d ≥ .50.<br />

143


Universität Stuttgart<br />

Das Interesse am Ausbildungsberuf selbst ist bei den Auszubildenden aller Berufe ähnlich und<br />

tendenziell positiv ausgeprägt, so dass bezogen auf das Fachinteresse zunächst nicht von motivational<br />

ungünstigen Startbedingungen ausgegangen werden muss. Dass die Bauzeichner als<br />

die kognitiv stärkste Gruppe mit der höchsten allgemeinen Schulbildung auch das größte Interesse<br />

am Ausbildungsberuf zeigen, überrascht wenig, bedenkt man, dass diesen Auszubildenden<br />

aufgrund der weniger eingeschränkten Wahlmöglichkeiten der Einstieg in die Wunschausbildung<br />

eher möglich ist als leistungsschwächeren Jugendlichen. 11<br />

Größere Differenzen zeigen sich wiederum in der vergleichenden Betrachtung der mathematischen<br />

Basisfähigkeiten, bei welchen die kognitiv stärkere Gruppe (Zimmerer und Bauzeichner)<br />

ebenfalls deutlich besser abschneidet (durchschnittliche Lösungsquote: 60%) als die Stuckateur/<br />

Fliesenleger- und Maurerklassen (durchschnittliche Lösungsquote 40%). 12 Das verhältnismäßig<br />

bessere Testergebnis der leistungsstärkeren Gruppe soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass die Testleistungen aller Probanden eher schwach waren und die in den<br />

Bildungsstandards der Hauptschule festgelegten mathematischen Inhalte keineswegs nur den<br />

schwächeren Schülern Probleme bereiteten. Eine einfache Aufgabe zur Kommutativität von<br />

Rechenoperationen konnte zum Beispiel in der stärkeren Gruppe nur etwas mehr als ein Viertel,<br />

in der schwächeren Gruppe ein knappes Sechstel der Schüler lösen. Die linksschiefe Verteilung<br />

der Lösungshäufigkeiten sowie geringe Aufgabentrennschärfen 13 deuten zusätzlich darauf<br />

hin, dass die Aufgaben aus den ULME-Tests für viele der Auszubildenden deutlich zu schwer<br />

waren, was teilweise zu Überforderung und anschließendem „Lösungsraten“ bei der Bearbeitung<br />

der Multiple Choice Aufgaben führte.<br />

Die Überprüfung der Eingangsvoraussetzungen im Bereich bautechnische Fachkompetenz<br />

führt ebenfalls zu erwartungskonformen Resultaten. Es existieren durchaus einige Vorkenntnisse,<br />

die Gruppe der Zimmerer erreicht mit durchschnittlich 11,58 von 29 Punkten das in absoluten<br />

Zahlen höchste Ergebnis, die Bauzeichner liegen knapp dahinter. Über deutlich geringere<br />

Fähigkeiten verfügen auch in diesem Bereich die Stuckateure/ Fliesenleger und Maurer, sie<br />

erreichen im Mittel jeweils etwa 5 Punkte und können somit zu Beginn der Ausbildung nur etwa<br />

17% des bautechnischen Tests richtig lösen. 14<br />

Die Eingangsdiagnostik zeichnet ein klares Bild: Bezogen auf die kognitiven und leistungsrelevanten<br />

Ausgangsbedingungen ergibt sich eine relativ deutliche Zweiteilung zwischen den leistungsstärkeren<br />

Zimmerern und Bauzeichnern auf der einen und der leistungsschwächeren<br />

Gruppe der Fliesenleger/ Stuckateure und Maurer auf der anderen Seite, die sich auch in den<br />

erreichten Bildungsabschlüssen der jeweiligen Schüler widerspiegelt. Dies bestätigt nicht nur<br />

die oben angesprochenen Befunde (Bildungsbericht 2008, Lutz 2007), sondern zeigt auch, dass<br />

mit der für die Fördermaßnahmen getroffenen Auswahl von Experimentalklassen tatsächlich die<br />

lernschwächsten Auszubildenden erfasst wurden. Förderbedarf kann vor allem im mathemati-<br />

11<br />

Die Mittelwertdifferenzen zwischen Bauzeichnern und den anderen hier betrachteten Berufen sind ebenfalls signifikant<br />

(p ≤ .05) mit Effektstärken von d ≥ .70.<br />

12<br />

Sowohl Zimmerer als auch Bauzeichner schneiden signifikant (p ≤ .05) besser ab, als die Auszubildenden der drei<br />

anderen Berufe (d ≥ .70).<br />

13<br />

Items mit einem Trennschärfekoeffizienten < 0.2 wurden ausgeschlossen.<br />

14<br />

Die Mittelwertdifferenzen zwischen den Berufen Zimmerer und Bauzeichner auf der einen und Stuckateur/ Fliesenleger<br />

und Maurer auf der anderen Seite sind hier hoch signifikant (p ≤ .01; Effektstärke d ≥ 1.20).<br />

144


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

schen Bereich attestiert werden, dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass die mathematische<br />

Kompetenz sich auch in unserer Eingangsdiagnostik als stärkster Prädiktor für die erbrachten<br />

beruflichen Fachleistungen zeigt und etwas mehr als 18% der Varianz der bautechnischen<br />

Fachkompetenz aufklärt (korr. R² = .184). 15<br />

Abbau von Lerndefiziten und positive motivationale Entwicklung durch individuelle Förderung<br />

zum Zeitpunkt des Abschlusstests (Hypothese 1)<br />

Aufgrund der erst kürzlich abgeschlossenen Datenerhebung können in der folgenden Darstellung<br />

nur erste Befunde zur Leistungs- und Motivationsentwicklung der Auszubildenden (im Experimental-<br />

und Kontrollgruppenvergleich) bis zum Zeitpunkt des Abschlusstests einbezogen<br />

werden. 16 Aufgrund der großen Leistungsunterschiede wird die Kontrollgruppe in 2 Untergruppen<br />

geteilt: Kontrollgruppe 1 (KG1) umfasst die schwächeren und der Experimentalgruppe vergleichbaren<br />

Klassen (Stuckateure/ Fliesenleger und Maurer), Kontrollgruppe 2 (KG2) bezieht<br />

die stärkeren Zimmerer und Bauzeichner ein und wird daher eher als Referenzgruppe leistungsstarker<br />

Schüler betrachtet.<br />

Für den Zeitraum bis zum Abschlusstest zeigen sich für die Entwicklung der bautechnischen<br />

Fachkompetenz erwartungskonforme Tendenzen. Alle Gruppen, d.h. sowohl die Schüler aus<br />

der Experimental- (EG) als auch aus den Kontrollgruppen (KG1 und KG2) konnten sich im ersten,<br />

überwiegend wissens- und problemorientierten Teil des Bautechniktests (BTKI), signifikant<br />

auf ein – nach Punkten bewertetes - mittleres Leistungsniveau verbessern. Neben den Zeiteffekten,<br />

die auf einen allgemeinen Lernzuwachs aller BFS-Schüler durch den regulären berufsfachlichen<br />

Unterricht schließen lassen, zeigen sich auch deutliche Treatmenteffekte: Obwohl<br />

die Experimentalgruppe (N=24) von einem wesentlich niedrigeren Fähigkeitsniveau startet als<br />

die berufsgleiche Kontrollgruppe 1 (N=38), kann sie die zu Anfang bestehenden Leistungsdifferenzen<br />

bis zum Zeitpunkt des Abschlusstests ausgleichen und den Leistungsstand der Kontrollgruppe<br />

1 erreichen, was bedeutet, dass sich in der Treatmentgruppe ein deutlich höherer Lernzuwachs<br />

einstellt.<br />

15 Als weitere wichtige Einflussfaktoren wurden die kognitive Grundfähigkeit und das fachspezifische Interesse in das<br />

Modell aufgenommen, diese können weiter (mit 3,3% bzw. 1,6%) zur Varianzaufklärung beitragen.<br />

16 In der längsschnittlichen Auswertung nehmen besonders die bei den schwächeren Gruppen häufig zu beobachtenden<br />

Fehlzeiten negativen Einfluss auf den Umfang der Stichprobe, dementsprechend verbleiben für die Experimentalgruppe<br />

von N = 40 Schülern zum Abschlusstest nur N = 24.<br />

145


Universität Stuttgart<br />

Abbildung 1: Entwicklung der bautechnischen Fachkompetenz<br />

Dieser Vorteil zugunsten der Interventionsgruppe ist auch statistisch bedeutsam: Es zeigen sich<br />

auf einem Niveau von .05 signifikante Interaktionseffekte mittlerer Stärke (partielles η² = .073),<br />

was die Wirksamkeit der Strategietrainings insgesamt bestätigt. Trotz der Fördereffekte können<br />

die Auszubildenden der Experimentalgruppe jedoch noch nicht an die Leistung der stärkeren<br />

zweiten Kontrollgruppe anschließen. Ob es durch das Training gelang, die Auszubildenden<br />

auch über die Förderdauer hinaus nachhaltig in ihrer Leistungsentwicklung zu stützen, kann<br />

erst mit den im Follow-Up erhobenen Daten beantwortet werden.<br />

Zum Zeitpunkt des Abschlusstests wurde erstmals der zweite interventionsnähere Testteil zur<br />

bautechnischen Fachkompetenz (BTKII) eingesetzt, der sich stärker auf komplexe berufsfachliche<br />

Lernaufgaben (bestehend aus Kombinationen mehrerer bautechnischer Fähigkeitsanforderungen)<br />

konzentriert, zu deren Lösung die Schüler vermehrt auf Lern- und Lösungsstrategien<br />

zurückgreifen müssen. In den Querschnittsdaten zeigt sich, dass die Experimentalschüler bei<br />

diesem Test deutlich höhere Punktzahlen erlangen (MEG = 6.24) als die Kontrollgruppe 1 (MKG1<br />

= 3.12) und damit fast auf Augenhöhe mit der „stärkeren“ Kontrollgruppe 2 liegen, die einen<br />

Mittelwert von 6.57 erreicht. 17 Durch die gezielte Förderung konnte offensichtlich bewirkt werden,<br />

dass auch die schwächeren Schüler anforderungsübergreifende und komplexe Aufgaben,<br />

wie sie häufig im Berufsalltag auftreten, ebenso gut zu lösen vermochten, wie ihre kognitiv stärkeren<br />

Kollegen. Das positive Abschneiden der Experimentalgruppe kann wohl insbesondere auf<br />

das im Förderunterricht stattfindende intensive Training bereichsspezifischer Lösungsstrategien<br />

anhand von komplexen technisch-mathematischen Aufgaben zurückgeführt werden, denn auch<br />

zum zweiten Messzeitpunkt wird die mathematischen Kompetenz für die in beiden Tests erfass-<br />

17 Insgesamt konnten in diesem Test (BTKII) 11,5 Punkte erreicht werden.<br />

146


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

te bautechnische Fachkompetenz als die Variable mit der stärksten prädiktiven Kraft ausgewiesen<br />

(BTKI 18 : korr. R² = .276; BTKII 19 : korr. R² = .242).<br />

Auf der Ebene der Motivationsentwicklung steht eine differenzierte Analyse der erhobenen Daten<br />

noch aus, es können jedoch auch hier erste positive Tendenzen für die Experimentalgruppe<br />

konstatiert werden. So nimmt die Amotivation innerhalb der Experimentalgruppe deutlich weniger<br />

zu als in den beiden Kontrollgruppen und bleibt auch zum Zeitpunkt des Abschlusstests<br />

noch unter deren Anfangsniveau. Auch das generelle Absinken der intrinsischen Motivation<br />

verläuft im Fall der Experimentalschüler weit weniger ausgeprägt als in Kontrollgruppe 1. Bemerkenswert<br />

ist, dass die Experimentalgruppe bezogen auf die interessierte Motivationsvariante<br />

zu Anfang einen deutlich geringeren Wert erreicht, sie aber als einzige Gruppe einen leichten<br />

Zuwachs verzeichnen kann, während die Entwicklung in den Kontrollgruppen stagniert (KG2)<br />

bzw. negativ verläuft (KG2). Die über das Schuljahr häufig zu beobachtende negative Motivationsentwicklung<br />

der Auszubildenden konnte somit bei der Interventionsgruppe deutlich abgeschwächt<br />

bzw. sogar umgekehrt werden.<br />

6 Offene Fragen<br />

Nach den Ergebnissen des Abschlusstests kann Hypothese 1 und somit die Wirksamkeit unseres<br />

berufsbezogenen Strategietrainings BEST für lernschwache Schüler bestätigt werden. Da<br />

die Datenauswertung des Follow-Up, der erfassten Studieninteressen sowie sämtlicher quantitativer<br />

und qualitativer Prozessdaten (wie Videoaufnahmen von einzelnen Trainingssitzungen,<br />

unterschiedliche von den Tutoren eingesetzte Beobachtungsbögen, Tutorentagebücher, Strategieheft-<br />

und Trainingsmaterialien) noch andauert, kann die Leistungs- und Motivationsentwicklung<br />

der Schüler nicht abschließend bewertet werden und weitere zentrale Fragen stehen noch<br />

offen, wie z. B.:<br />

(1) Konnte das <strong>Programm</strong> als ein Versuch projektförmiger und praxisorientierter Lehre im Studium<br />

das Studieninteresse der beteiligten Tutoren steigern? Welche Erfahrungen empfinden die<br />

Studenten als besonders wertvoll bzw. welche Schwachstellen sehen sie an der <strong>Programm</strong>organisation<br />

und -umsetzung (formative Evaluation)?<br />

(2) Welche Umsetzungs- und Interaktionsqualitäten lassen sich anhand der Videodaten in den<br />

Trainingssitzungen unterschiedlicher Tutoren identifizieren? Welche Unterschiede bestehen<br />

zwischen den Tutoren und wie hängen diese mit dem Studieninteresse zusammen?<br />

(3) Welche Klassen- und Gruppenunterschiede lassen sich innerhalb der Treatmentgruppe in<br />

Abhängigkeit unterschiedlicher Kontrollvariablen (wie Eingangsvoraussetzungen, Wahrnehmung<br />

unterrichtlicher und trainingsbezogener Qualitätsmerkmale, standardisierte Beobachtungsdaten<br />

der Tutoren während des Unterrichts und des Trainings, etc.) erkennen? Sprich,<br />

unter welchen Bedingungen gelingt das Training besonders gut?<br />

18<br />

In dieses Modell gingen noch das Vorwissen (korr. R² = .112), die wahrgenommene Überforderung (korr. R² = .044)<br />

und die kognitive Grundfähigkeit (korr. R² = .024) ein.<br />

19<br />

Als weitere bedeutsame Einflussvariable wurde das fachspezifische Interesse ermittelt (korr. R² = .040)<br />

147


Universität Stuttgart<br />

(4) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Leistungs- und Motivationsentwicklung der<br />

beteiligten Schüler? Und weiter: Lassen sich auch Zusammenhänge zwischen dem Studieninteresse<br />

der Tutoren und den jeweiligen Gruppenentwicklungen zeigen?<br />

(5) Welche kognitiven, metakognitiven und motivationalen Entwicklungen nehmen die Tutoren<br />

bei ihren jeweiligen Förderschülern wahr (Beobachtungsbögen und Tutorentagebücher)?<br />

Stimmt die Wahrnehmung der Tutoren mit den in den standardisierten Tests erhobenen Entwicklungen<br />

überein, d.h. wie ist die Diagnosefähigkeit der Tutoren ausgeprägt?<br />

Zusätzlich sollen mit Hilfe des generalisierten Rasch-Modells die Leistungsdaten des bautechnischen<br />

Fachkompetenztests skaliert sowie Struktur- und Niveaumodellierungen vorgenommen<br />

werden, um schließlich die individuellen Kompetenzausprägungen (und -entwicklungen) der<br />

Auszubildenden in der bautechnischen Grundstufe kriterienorientiert beschreiben zu können.<br />

7 Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge<br />

Tagungsbeitrag:<br />

Nickolaus, R./ Norwig, K./ Petsch, C. : Die Förderung schwächerer Auszubildender in der gewerblich-technischen<br />

Bildung - Eine Interventionsstudie im Baubereich. Vortrag anlässlich<br />

der Frühjahrstagung der Sektion BWP in Mannheim (23.01.2009)<br />

8 Sonstiges<br />

Angesichts der Interventionseffekte, die ohne zusätzliche Unterrichtszeit erzielbar waren, stellt<br />

sich v.a. die Frage, wie es gelingen kann, den Interventionsansatz auf breiter Fläche zu implementieren,<br />

woran sowohl das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport als auch die Handwerkskammer<br />

ein ausgeprägtes Interesse signalisieren. Für den breiten Einsatz ist eine Modifikation<br />

des Förderkonzepts notwendig, das dessen Etablierung im Stütz- und Ergänzungsprogramm<br />

ermöglicht. Die Forschergruppe bereitet derzeit in Abstimmung mit dem Ministerium und<br />

der Handwerkskammer ein Folgeprojekt vor, in dem der Transfer vorbereitet und die Wirksamkeit<br />

des modifizierten, in halben Klassen realisierten und durch die Lehrer selbst umgesetzten<br />

Förderkonzepts geprüft werden soll.<br />

148


Literatur<br />

Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

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– Verortung und Strukturierung. In: Bojanowski, A./ Ratschinski, G./ Straßer, P.<br />

(Hrsg.): Diesseits vom Abseits. Bielefeld, S. 10-40<br />

Bojanowski, A./ Ratschinski, G./ Straßer, P. (Hrsg.) (2005): Diesseits vom Abseits. Bielefeld<br />

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und Erziehung, H. 1-2, S.13-19<br />

Geißel, B. (2008): Ein Kompetenzmodell für die elektrotechnische Grundbildung: Kriteriumsorientierte<br />

Interpretation von Leistungsdaten. In: Nickolaus, R./ Schanz, H. (Hrsg.): Didaktik<br />

der gewerblich-technischen Berufsbildung. Baltmannsweiler, S. 121- 141<br />

Grundmann, H. (2008): Ohne Abschluss kein Anschluss: Zu den Ergebnissen des nationalen<br />

Bildungsberichts ,Bildung in Deutschland 2008’. In: Wirtschaft und Erziehung, H.11, S. 376-<br />

381<br />

149


Universität Stuttgart<br />

Grundmann, H. (2009): Die lernschwachen Hauptschulabsolventen - die größte Herausforderung<br />

für die berufsbildenden Schulen? In: Die berufsbildende Schule, H. 6, S. 183-189<br />

Gschwendtner, T. (2008): Ein Kompetenzmodell für die kraftfahrzeugtechnische Grundbildung.<br />

In: Nickolaus, R./ Schanz, H. (Hrsg.): Didaktik der gewerblich-technischen Berufsbildung.<br />

Baltmannsweiler, S. 103-119<br />

Guldimann, T./ Lauth, G.W. (2004): Förderung von Metakognition und strategischem Lernen. In:<br />

Lauth, G.W./ Grünke, M./ Brunstein, J.C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen<br />

et al., S. 176-186<br />

Hasselhorn, M. (1992): Metakognition und Lernen. In: Nold, G. (Hrsg.): Lernbedingungen und<br />

Lernstrategien: Welche Rolle spielen kognitive Verstehensstrukturen? Tübingen, S.35-63<br />

Hoffmann, E./ Lehmann, R. (2007): Berufsspezifische Fachleistungen in gewerblichtechnischen<br />

und handwerklichen Berufen am Ende der Ausbildung. In: Lehmann, R. H./<br />

Seeber, S. (2007) (Hrsg.): ULME III. Untersuchung von Leistungen, Motivation und Einstellungen<br />

der Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der Berufsschulen. Hamburg,<br />

S. 159-190<br />

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http://www.bwpat.de/ausgabe8/ivanov_lehmann_bwpat8.pdf (31-08-2009).<br />

Katzenbach, M. (2004): Dem Fehler auf der Spur – Kinder als Fehlerdetektive. In: Die neue<br />

Schulpraxis, 12, S. 4-8<br />

Komorek, E./ Bruder, R./ Collet, C./ Schmitz, B. (2006): Inhalte und Ergebnisse einer Intervention<br />

im Mathematikunterricht der Sekundarstufe I mit einem Unterrichtskonzept zur Förderung<br />

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M./ Allolio-Naecke, L : Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Abschlussbericht<br />

des DFG-Schwerpunktprogramms. Münster, S. 240-267<br />

Landtag von <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> (2007): Förderkultur an den beruflichen Schulen. Stellungnahme<br />

des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport. Landtagsdrucksache 14/1177.<br />

http://www.landtag-bw.de/WP14/Drucksachen/1000/14_1177_d.pdf (31-08-2009)<br />

Lauth, G.W./ Grünke, M./ Brunstein, J.C. (Hrsg.) (2004): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen<br />

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Motivation und Einstellungen zu Beginn der beruflichen Ausbildung. Hamburg.<br />

Lehmann, R./ Seeber, S/ Hunger,S. (2006): ULME II. Untersuchung von Leistungen, Motivation<br />

und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der teilqualifizierenden<br />

Berufsfachschulen. Hamburg<br />

Lehmann, R./Seeber, S. (Hrsg.) (2007): ULME III. Untersuchung von Leistungen, Motivation<br />

und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der Berufsschulen.<br />

Hamburg<br />

150


Förderung schwächerer Auszubildender<br />

in der schulischen Berufsausbildung / Teilprojekt III<br />

Lutz, D. (2007): Fehleranalyse im Hinblick auf Ansatzpunkte zur Förderung schwächerer Aus-<br />

zubildender des Handwerks. Stuttgart (Diplomarbeit)<br />

Mandl, H./ Friedrich, H.F. (Hrsg.) (2006): Handbuch Lernstrategien. Göttingen et al.<br />

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J.C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen et al., S. 411- 421<br />

Metzger/ C./ Nüesch, C. (2009): Lernkompetenzen und ihr Zusammenhang mit motivationalen<br />

Überzeugungen und Lernleistungen in der kaufmännischen Berufsausbildung In: Zeitschrift<br />

für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (in Druck)<br />

Neber, H. (1996): Psychologische Prozesse und Möglichkeiten zur Steuerung remedialen Lernens.<br />

In: Weinert, F. (Hrsg.): Psychologie des Lernens und der Instruktion. Enzyklopädie<br />

der Psychologie (Band 2). Göttingen, S. 403-444<br />

Nickolaus, R./ Geißel, B./ Gschwendtner, T. (2008): Die Rolle der Basiskompetenzen Mathematik<br />

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Fähigkeiten im ersten Ausbildungsjahr. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online,<br />

Ausgabe 14. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe14/nickolaus_etal_bwpat14.pdf (31-<br />

08-2009).<br />

Nickolaus, R./ Gschwendtner, T./ Geißel, B. (2008): Entwicklung und Modellierung beruflicher<br />

Fachkompetenz in der gewerblich-technischen Grundbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und<br />

Wirtschaftspädagogik, 104(1), S. 48-73<br />

Nickolaus, R./ Norwig, K. (2009): Mathematische Kompetenzen von Auszubildenden und ihre<br />

Relevanz für die Entwicklung der Fachkompetenz – ein Überblick zum Forschungsstand. In:<br />

A. Heinze, M. Grüßing (Hrsg.): Mathematiklernen vom Kindergarten bis zum Studium.<br />

Münster, S. 205-216<br />

Oser, F./ Hascher, T./ Spychiger, M. (1999): Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des „negativen“<br />

Wissens. In: Althof, W. (Hrsg.): Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus<br />

Fehlern. Opladen, S. 11-41<br />

Perels, F./ Schmitz, B./ Bruder, R. (2005): Lernstrategien zur Förderung von mathematischer<br />

Problemlösekompetenz. In: Artelt, C./ Moschner, B.: Lernstragetien und Metakognition. Implikationen<br />

für Forschung und Praxis. Münster, S. 155-175<br />

Prenzel, M. et al. (1996): Selbstbestimmt motiviertes und interessiertes Lernen in der kaufmännischen<br />

Erstausbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik Beiheft 13.,<br />

S.108-127<br />

Schiefele, U./ Krapp, A./ Wild, K.-P./ Winteler, A. (1993): Der "Fragebogen zum Studieninteresse"<br />

(FSI). Diagnostica, 39, 335-351<br />

Schiefele, U. (2004): Förderung von Interessen. In: Lauth, G.W./ Grünke, M./ Brunstein, J.C.<br />

(Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen et al., S. 134-144<br />

151


Universität Stuttgart<br />

Schürg, U. (2007): Die mathematische Leistungsfähigkeit von Berufsschülern und ihre Entwick-<br />

152<br />

lung im ersten Halbjahr ihrer Ausbildung. Stuttgart (Diplomarbeit)<br />

Stern, E./ Hasemann, K./ Grünke, M. (2004): Aufbau elaborierter Rechenfertigkeiten. In: Lauth,<br />

G.W. / Grünke, M. / Brunstein, J.C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen et<br />

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Straßer, P. (2008): Können erkennen – reflexives Lehren und Lernen in der beruflichen Benach-<br />

teiligtenförderung. Bielefeld<br />

Weiß, R. H. (2006): Grundintelligenztest Skala 2 : CFT 20-R - Revision. Göttingen<br />

Zielinski, W. (1996): Lernschwierigkeiten. In: Weinert, F. (Hrsg.): Psychologie des Lernens und<br />

der Instruktion. Enzyklopädie der Psychologie (Band 2). Göttingen, S. 369-402


VI SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext (Serelisk)<br />

1 Vorstellung des Teams des Forschungsprojektes „Serelisk“<br />

Die Längsschnittstudie „Selbstreflexives Lernen im schulischen Kontext“ wurde in einem interdisziplinären<br />

Forschungsteam der Pädagogischen Hochschule Freiburg realisiert. Verantwortet<br />

wurde die Studie von:<br />

• Prof. Dr. Katharina Maag Merki, Professorin für Schulpädagogik mit den Schwerpunkten<br />

Schulentwicklung und empirische Schul- und Unterrichtsforschung (PH Freiburg), seit 2009<br />

Professorin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse<br />

an der Universität Zürich.<br />

• Prof. Dr. Alfred Holzbrecher, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Allgemeine<br />

Didaktik (PH Freiburg) und<br />

• Prof. Dr. Hans-Georg Kotthoff, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt international<br />

vergleichende <strong>Bildungsforschung</strong> (PH Freiburg).<br />

Die Hauptleitung der Studie hatte Frau Prof. Dr. Katharina Maag Merki inne. Als wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterinnen arbeiteten im Projekt Frau Dr. Antje Ehlert und Frau Dipl.-Päd. Silke Werner.<br />

Des Weiteren gehörten als assoziierte Projektmitglieder folgende Personen der Pädagogischen<br />

Hochschule Freiburg zum Forschungsteam:<br />

• Prof. Dr. Timo Leuders, Professor für Mathematik und ihre Didaktik<br />

• Dr. Heike de Boer, Akademische Rätin am Institut für Erziehungswissenschaft<br />

• Dr. Ulrike Wolff-Jontofsohn, Leiterin der Abteilung Lehrerfortbildung am Zentrum für Weiterbildung<br />

und Hochschuldidaktik.<br />

• Andreas Schulz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mathematik und Informatik<br />

und ihre Didaktiken und<br />

• Marion Degenhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Weiterbildung und<br />

Hochschuldidaktik.<br />

2 Darstellung des Forschungsprojekts<br />

Nachfolgend wird das Forschungsprojekt Serelisk mit seinem theoretischen Hintergrund, der<br />

Forschungsmethodik und den durchgeführten Interventionen vorgestellt. Darüber hinaus wird<br />

ein Überblick über die zentralen Forschungsergebnisse gegeben und eine Projektbilanz zur<br />

Bedeutung und zu Konsequenzen der Ergebnisse für die Schulpraxis formuliert.<br />

153


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

2.1 Hintergrund der Studie und Fragestellungen<br />

Ausgangspunkt der Studie „Selbstreflexives Lernen im schulischen Kontext“ (Serelisk) bildeten<br />

theoretische Modelle und empirische Ergebnisse zum selbstregulieren Lernen sowie eine Analyse<br />

des Bildungsplanes von <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>. Diese Analysen zeigen, dass sowohl in den<br />

wissenschaftlichen Diskussionen als auch im Bildungsplan <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> die hohe Bedeutung<br />

der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen als fachliches und überfachliches Bildungsziel<br />

betont wird (vgl. Baumert et al. 2000; Bastian & Merziger 2007; Boekaerts 1999; Schiefele &<br />

Pekrun 1996; Mandl & Friedrich 2006; Merziger 2007; Witthaus, Wittwer & Espe 2002; Zimmermann<br />

& Schrunk 2001).Verschiedene Studien verweisen jedoch darauf, dass die Fähigkeiten<br />

der SchülerInnen, den eigenen Lernprozess zu planen, zu steuern, zu überwachen und zu<br />

beurteilen, nur in geringem Maße ausgeprägt sind (vgl. Artelt, Baumert & Julius-McElvany 2003;<br />

Artelt, Baumert, Julius-McElvany & Peschar 2003; Maag Merki 2006). Darüber hinaus zeigen<br />

weitere Untersuchungen, dass die schulische Unterrichtspraxis den Anforderungen einer diese<br />

Fähigkeiten fördernden Lernumgebung zumeist nicht gerecht wird (vgl. Gruehn 2000; Klieme &<br />

Rakoczy 2003; Leutwyler 2006; Tillmann & Meier 2001).<br />

Bisherige Studien (vgl. z. B. Artelt & Moschner, 2005; Horstkemper, 1995; Landmann &<br />

Schmitz, 2007; Leutwyler & Maag Merki, 2009; Mandl & Friedrich, 2006; Bastian & Merziger,<br />

2007; Witthaus, Wittwer & Espe 2002) verweisen darauf, dass in Bezug auf die Förderung des<br />

selbstregulierten Lernens der SchülerInnen der Gestaltung des Unterrichts und den Kompetenzen<br />

der Lehrpersonen ein hoher Stellenwert zukommt. Die Entwicklung der Professionalität der<br />

Lehrperson hinsichtlich der Umsetzung einer für das selbstregulierte Lernen der SchülerInnen<br />

produktiven Lernumgebung muss somit im Zentrum des Implementations- und Unterrichtsentwicklungsprozesses<br />

stehen. Die Frage, die sich somit stellt, ist: Wie kann eine entsprechende<br />

Unterrichtskompetenz bei den Lehrpersonen entwickelt und das selbstregulierte Lernen der<br />

SchülerInnen im Unterricht gefördert werden?<br />

In bisherigen Forschungen wurden in diesem Zusammenhang kooperativ-reflexive Prozesse<br />

zwischen Lehrpersonen, wie sie die professionelle Lerngemeinschaft vorsieht, als ein Werkzeug<br />

der Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung diskutiert (Gräsel, Fussangel & Parchmann<br />

2006; Helsper & Combe 2002; Koch-Priewe, Kolbe & Wildt 2004; Ostermeier 2004; Prenzel et<br />

al. 2005; Seitz 2008; Reh 2008). Merkmale der professionellen Lerngemeinschaft sind: ein reflektierter<br />

Dialog, die De-Privatisierung der Unterrichtspraxis, der gemeinsame Fokus auf Lernen<br />

statt Lehren; gemeinsame handlungsleitende Ziele und Zusammenarbeit (vgl. Bonsen &<br />

Rolff 2006). Damit ist eine Form von Kooperation angesprochen, die sich vom reinen Austausch<br />

oder bloßer Arbeitsteilung im Kollegium abhebt und auf der Ebene der Ko-Konstruktion ansetzt.<br />

Praktisch bedeutet dies, dass jede Lehrperson ihr individuelles Wissen und ihre Fähigkeiten in<br />

das Team einbringt, mit dem Ziel, die Qualität der eigenen Unterrichtsarbeit durch gegenseitige<br />

Anregungen und gemeinsame Reflexion zu verbessern sowie die eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln.<br />

Als Beispiele solcher Kooperation können das Teamteaching, die gemeinsame<br />

Unterrichtsplanung, die gemeinsame Entwicklung von Klassenarbeiten und die gemeinsame<br />

Reflexion von Unterrichtsepisoden angeführt werden. (vgl. Gräsel, Fussangel & Pröbstel 2006).<br />

154


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

Aus theoretischer Perspektive scheinen somit Kooperationen von Lehrpersonen auf dem Niveau<br />

der Ko-Konstruktion ein Potenzial zu haben, die Kompetenzen der Lehrpersonen in Bezug<br />

auf die Förderung des selbstregulierten Lernens zu fördern. Allerdings liegen bislang keine Studien<br />

vor, die den Zusammenhang zwischen den reflexiven Prozessen der Lehrpersonen in Kooperationsteams<br />

und der Gestaltung einer lernförderlichen Unterrichtsgestaltung sowie der<br />

Förderung des selbstregulierten Lernens der SchülerInnen untersucht haben.<br />

Aufbauend auf diesen Überlegungen standen im Rahmen von „Serelisk“ zwei zentrale Fragen<br />

im Zentrum (vgl. Abb.1):<br />

(a) Inwiefern kann durch unterrichtszentrierte Kooperation von Lehrpersonen die Unterrichtsgestaltung<br />

mit dem Ziel der Förderung des selbstregulierten Lernens beeinflusst werden?<br />

(b) Inwiefern beeinflusst die in diesem Rahmen realisierte Unterrichtsgestaltung das selbstregulierte<br />

Lernen der SchülerInnen?<br />

Abbildung 1: Ziele und Forschungsfragen von „Serelisk“<br />

2.2 Forschungsmethodik und Interventionen<br />

Die Untersuchung genannter Fragestellungen erfolgte an 13 Realschulen im Regierungspräsidium<br />

Freiburg exemplarisch für das Fach Mathematik im 7. und 8. Schuljahr. Die Teilnahme<br />

erfolgte sowohl auf der Schul- wie auch auf der Lehrpersonenebene auf freiwilliger Basis. Voraussetzung<br />

war eine Zustimmungsquote von mind. 75 % des gesamten Kollegiums sowie von<br />

100 % der Mathematiklehrpersonen und der Schulleitung. Es nahmen insgesamt 64 Mathematiklehrpersonen<br />

und 1598 SchülerInnen teil.<br />

Um die Forschungsfragen zu untersuchen, wurde „Serelisk“ als Quasi-Experiment im Kontrollgruppendesign<br />

angelegt (vgl. Abb. 2). Dies bedeutet:<br />

155


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

Es existierten zwei Untersuchungsgruppen: eine Experimentalgruppe (hier: Kooperationsgruppe)<br />

und eine Kontrollgruppe (hier: Individualgruppe). Pro Schule wurden jeweils Lehrpersonen<br />

nach spezifischen Kriterien (empirische Daten zur Unterrichtsgestaltung, zur Kooperationsintensität<br />

und dem individuellen Interesse einer Projektteilnahme sowie Kontextbedingungen) zu<br />

beiden Gruppen zugeordnet. Die Kooperationsgruppe bestand dabei aus Mathematiklehrpersonen<br />

(hier: KooperationslehrerInnen; N=36), die an den Interventionen teilnahmen, sowie aus<br />

deren SchülerInnen der 7. und 8. Klasse (N=924). Die Individualgruppe setzte sich demgegenüber<br />

aus Lehrpersonen (hier: IndividuallehrerInnen; N=28) zusammen, die nicht in die Interventionen<br />

einbezogen wurden und ihre Arbeit somit in gewohnter Weise fortsetzten, und deren<br />

SchülerInnen der 7. und 8. Klasse (N=674).<br />

Es wurden Datenerhebungen an zwei Messzeitpunkten durchgeführt: vor Beginn (Oktober<br />

2007) und nach Abschluss der Interventionen (Juli 2008). Zum Einsatz kamen primär standardisierte<br />

Fragebögen, wobei die Lehrpersonen unter anderem zu Aspekten von Kooperation und<br />

zur Gestaltung ihres Unterrichts befragt wurden. Der Fragebogen für die SchülerInnen umfasste<br />

Items zur Beurteilung der Unterrichtsgestaltung sowie zur Beurteilung von spezifischen, für das<br />

selbstregulierte Lernen bedeutsamen Aspekten des eigenen Lernverhaltens. 1 Informationen<br />

über die Umsetzung der Projektinterventionen zwischen den Erhebungszeitpunkten wurden<br />

über Protokolle erfasst, welche die Lehrpersonen von ihren Kooperationssitzungen anfertigen<br />

und dem Projektteam zusenden sollten. Nach Abschluss des Projektes wurden die Lehrpersonen<br />

im Rahmen einer Bilanztagung zum Zwecke der retrospektiven Erfassung subjektiv wahrgenommener<br />

Chancen und Grenzen der Umsetzung von (a) Lehrerkooperation und (b) der<br />

Selbstregulationsförderung im Unterricht befragt. Dazu wurden eine Einzelarbeits- und zwei<br />

Gruppenarbeitsphasen (im Team und im Plenum) mit Reflexionsfragestellungen zu beiden<br />

Kernthemen durchgeführt.<br />

Abbildung 2: Das Forschungsdesign von „Serelisk“<br />

1 Außerdem wurde zu beiden Erhebungszeitpunkten ein mathematischer Problemlösetest bei den SchülerInnen beider<br />

Gruppen durchgeführt, welcher die Erfassung des selbstregulierten Lernens mittels Selbsteinschätzung der SchülerInnen<br />

ergänzt. Dieser Test ist Teil eines ergänzenden Teilprojektes und nicht Gegenstand des Hauptprojektes, das über<br />

die Landesstiftung finanziert worden ist.<br />

156


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

Um die zu untersuchenden Merkmale in die Projektschulen zu implementieren, wurden im<br />

Rahmen von Serelisk, verteilt über ein Schuljahr, verschiedene Interventionen durchgeführt.<br />

Diese bestanden aus Fortbildungen (zu Beginn und in der Mitte des Schuljahres), einer Online-<br />

Lernplattform und des Aufbaus von Kooperationsteams, bestehend aus zwei bis vier Lehrpersonen.<br />

Die Konzeption und Realisierung der Interventionen erfolgte in enger Kooperation mit<br />

dem/der Experten/in zu Fachdidaktik (Prof. Dr. Timo Leuders) und Professionalisierung (Marion<br />

Degenhardt). Die inhaltlich jeweils zweidimensionale Ausrichtung der Interventionen fokussierte<br />

(a) die Initiierung unterrichtszentrierter Kooperation zwischen Lehrpersonen nach den Prinzipien<br />

der professionellen Lerngemeinschaft und (b) die Befähigung der Lehrpersonen zur Gestaltung<br />

eines selbstaktivierenden, die Selbstregulation der SchülerInnen fördernden Mathematikunterrichts<br />

durch die systematische Integration von Problemlöseaufgaben und/ oder selbstaktivierenden<br />

Unterrichtsmethoden (z. B. auf der Basis folgender Literatur: Barzel, Büchter & Leuders<br />

2007; Bruder, Leuders & Büchter 2008; Büchter & Leuders 2007).<br />

2.3 Ergebnisse<br />

Die nachfolgende Darstellung ausgewählter zentraler Ergebnisse der Studie erfolgt entlang der<br />

beiden Forschungsfragen und schlieβt mit einer Analyse der Implementationsbedingungen aus<br />

Perspektive der Projektlehrpersonen. Weitergehende und differenzierende Auswertungen (z. B.<br />

Strukturgleichungsmodelle, Mehrebenenanalyen) werden über das Projektende hinaus durchgeführt,<br />

liegen zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht vor.<br />

2.3.1 Der Einfluss unterrichtszentrierter Kooperation von Lehrpersonen<br />

auf die Förderung selbstregulierten Lernens im Unterricht<br />

Die erste Fragestellung von „Serelisk“ fokussierte die Untersuchung des Einflusses unterrichtszentrierter<br />

Kooperation im Rahmen professioneller Lerngemeinschaften auf eine Unterrichtsgestaltung<br />

zur Förderung des selbstregulierten Lernens im Unterricht. Dabei wurde davon ausgegangen,<br />

dass die Interventionen im Projekt zu einer Veränderung der Unterrichtsgestaltung<br />

(Leuders 2001, 2007; Bruder, Leuders & Büchter 2008) führen, die durch Merkmale gekennzeichnet<br />

ist, welche für eine Förderung des selbstregulierten Lernens als maßgeblich erachtet<br />

werden (vgl. z. B. Artelt & Moschner, 2005; Horstkemper, 1995; Landmann & Schmitz, 2007;<br />

Leutwyler & Maag Merki, 2009; Mandl & Friedrich, 2006).<br />

2.3.1.1 Die Entwicklung der Kooperation<br />

Zur Beantwortung dieser Fragestellung wurden zunächst die Merkmale der unterrichtszentrierten<br />

Kooperation zwischen den Lehrpersonen und deren Entwicklung im Projektverlauf analysiert.<br />

Die Analyse ergab projektintendierte bedeutsam positive Entwicklungen in Bezug auf die allgemeine<br />

Einstellung zur Kooperation zwischen Lehrpersonen (z. B. zur Bedeutung der Kooperation<br />

für die eigene Unterrichtsqualität), die Einstellung zu einer verbindlichen Kooperation zwi-<br />

157


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

schen Lehrpersonen (z. B. die Einstellung zu regelmäßig wechselseitigen Unterrichtsbesuchen)<br />

sowie die Kooperationsintensität zum Thema Unterrichtsgestaltung (z. B. Häufigkeit der Kooperation<br />

bezüglich der gemeinsamen Erstellung neuer Mathematikaufgaben oder des Austausches<br />

von Unterrichtserfahrungen). Der größte Effekt (Interaktionseffekt) ergab sich erwartungsgemäß<br />

für die Veränderung der Kooperationsintensität zum Thema Unterrichtsgestaltung<br />

(vgl. Abb. 3).<br />

Abbildung 3: Entwicklung der Intensität der Kooperation zum Thema Unterrichtsgestaltung<br />

Kooperation zur<br />

Unterrichtsgestaltung<br />

Kooperationsgruppe<br />

Individualgruppe<br />

5<br />

2.10<br />

1.94<br />

Mittelwerte<br />

Antwortskalierung:<br />

5 = ca. einmal täglich, 4 = ca. einmal wöchentlich, 3 = ca. einmal monatlich,<br />

2= ca. 1-2 mal halbjährlich, 1 = ca. 0-1 mal jährlich<br />

4<br />

3<br />

2<br />

2.78<br />

2.09<br />

1 2 3 4 5<br />

t1 (vor Projekt)<br />

t2 (nach Projekt)<br />

Die implementierte Kooperation wurde mehrheitlich als offen, gerecht, helfend und wenig konfliktbehaftet<br />

eingeschätzt. Von der Wirksamkeit der Kooperation sind die Kooperationslehrpersonen<br />

vor allem in Bezug auf eine bessere Unterrichtsgestaltung (z. B. die Überzeugung durch<br />

die Kooperation den eigenen Unterricht abwechslungsreicher zu gestalten), weniger in Bezug<br />

auf einen besseren Umgang mit schwierigen und belastenden Situationen im Lehrberuf überzeugt<br />

(z. B. die Überzeugung durch die Kooperation besser mit schwierigen SchülerInnen umzugehen).<br />

Hierzu zeigt sich allerdings ein Zusammenhang zur Kooperationsintensität der Lehrpersonen.<br />

Je häufiger Lehrpersonen zu Unterrichtsfragen kooperiert haben, desto stärker sind<br />

sie der Ansicht, dass sich dies auf den Umgang mit belastenden und schwierigen Situationen<br />

im Lehrberuf positiv ausgewirkt hat.<br />

Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass der Aufbau professioneller Lerngemeinschaften durch<br />

die offerierten Impulse im Projektverlauf auf den Weg gebracht werden konnte. Die Tatsache,<br />

dass die Kooperationslehrpersonen zum Projektende bedeutsam positiver gegenüber einer<br />

verbindlichen Kooperation eingestellt sind und sich diese darüber hinaus in stärkerem Maße<br />

entwickelt hat als bei den Individuallehrpersonen, kann dahingehend interpretiert werden, dass<br />

sich die praktische Kooperation im Rahmen des Projektes aus Sicht der Lehrpersonen bewährt,<br />

d.h. als gewinnbringend erwiesen hat. Entsprechend wahrgenommene Effekte wurden von den<br />

Lehrpersonen explizit in Bezug auf die Unterrichtsgestaltung artikuliert. Die Dominanz wahrgenommener<br />

Effekte dieser Dimension ist positiv zu werten, da unterrichtszentrierte Kooperation<br />

der Fokus der Interventionen und damit den intendierten Erfahrungshorizont der Lehrpersonen<br />

bildete. Es deutet sich jedoch auch an, dass, wenn es gelingt, Kooperation in hoher Intensität in<br />

den Schulalltag zu integrieren, positive Effekte hinsichtlich des Umgangs mit schwierigen und<br />

belastenden Situationen im Lehrberuf möglich sind, was wiederum z. B. zu einer Reduktion von<br />

Burnout führen könnte.<br />

158


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

2.3.1.2 Die Entwicklung des Förderangebots für selbstreguliertes Lernen<br />

im Unterricht<br />

In einem zweiten Schritt wurden verschiedene Aspekte zur Unterrichtsgestaltung, welche für<br />

eine Förderung von selbstreguliertem Lernen im Unterricht als bedeutsam angenommen wurden,<br />

und deren Entwicklung im Projektverlauf untersucht. Hierbei konnte auf Daten zurückgegriffen<br />

werden, die sowohl die LehrerInnenperspektive als auch die SchülerInnenperspektive<br />

auf den Unterricht widerspiegeln. Es wurde zum einen davon ausgegangen, dass sich eine<br />

stärkere Kompetenzorientierung im Mathematikunterricht in der Form zeigt, dass offenentdeckende<br />

Unterrichtsgestaltungselemente (z. B. die Erarbeitung individueller Lösungswege)<br />

gestärkt und deduktiv-schematische Unterrichtsgestaltungselemente (z. B. Bearbeitung von<br />

Aufgaben entlang von Musterlösungen) geschwächt werden. Zum anderen wird eine stärkere<br />

auf das selbstregulierte Lernen bezogene Kompetenzorientierung in einer stärkeren Fokussierung<br />

auf die Vermittlung von Lernstrategien erkennbar werden, dh. die Vermittlung kognitiver<br />

(z. B. die Unterstützung bei der inhaltlichen Erfassung einer schwierigen Aufgabe), metakognitiver<br />

(z. B. die Unterstützung bei der Planung und Überwachung des Lösungswegs einer schwierigen<br />

Aufgabe) oder motivationaler Regulationsstrategien (z. B. die Ermunterung von SchülerInnen,<br />

für sie schwierige Aufgaben zu bearbeiten).<br />

Die Ergebnisse verweisen darauf, dass im Projektverlauf deduktiv-schematische Unterrichtsgestaltungselemente<br />

für die Kooperationslehrpersonen im Vergleich zu den Individuallehrpersonen<br />

stärker an Bedeutung verloren haben. Auch aus Sicht der SchülerInnen hat sich die<br />

diesbezügliche Wahrnehmung der Unterrichtsgestaltung deutlich projektintendiert für die Kooperationsgruppe<br />

minimiert. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass eine unterrichtsbezogene<br />

Kooperation mit Fokus auf die Herstellung eines für das selbstregulierte Lernen<br />

lernförderlichen Kontextes wirksam ist und wichtige Unterrichtsveränderungen durch das Projekt<br />

angestoßen wurden. Eine im Gegenzug stärkere Fokussierung einer offen-entdeckenden<br />

Unterrichtsgestaltung konnte auf der Basis der SchülerInnendaten empirisch nicht deutlich<br />

nachgewiesen werden. Allerdings zeigt sich, dass sich in der Tendenz die Einstellungen der<br />

Lehrpersonen gegenüber offen-entdeckenden Gestaltungselementen des Mathematikunterrichts<br />

im Projektverlauf positiv entwickelt haben, während diese bei den Lehrpersonen der Individualgruppe<br />

stabil geblieben sind. Insbesondere in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen<br />

der SINUS-Studie, die gerade für die Realschulen keine Effekte der implementierten Kooperation<br />

von Lehrpersonen in Bezug auf die Unterrichtsentwicklung aufgezeigt haben (Prenzel et al.<br />

2005), kann das erreichte Ergebnis als gute Basis für die Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten<br />

Unterrichtsgestaltung interpretiert werden. Wichtig wäre allerdings, die weiteren<br />

Entwicklungen der Unterrichtspraxis in den beiden Projektgruppen zu verfolgen, um das langfristige<br />

Potenzial von Kooperationen zwischen Lehrpersonen auch für die Entwicklung einer<br />

offen-entdeckenden Unterrichtsgestaltung abschätzen zu können.<br />

Eine im Unterricht gezieltere Vermittlung eines Lernstrategieeinsatzes der SchülerInnen durch<br />

die Projektinterventionen zeigt sich weniger. So können keine und nur tendenzielle Entwicklungen<br />

zwischen den beiden Messzeitpunkten auf die Projektgruppenzuordnung und damit auf die<br />

Interventionen zurückgeführt werden. Unter Berücksichtigung von Ergebnissen zu anderen<br />

159


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

Unterrichtsentwicklungsprojekten (z. B. Biologie im Kontext, vgl. Lücken & Prechtl, 2009) könnte<br />

eine mögliche Erklärung, sein, dass es im Rahmen des einjährigen Projektes zwar möglich<br />

gewesen ist, Einstellungen der Lehrpersonen projektintendiert zu verändern und diese von den<br />

SchülerInnen auch in der Form einer Reduktion deduktiv-schematischer Gestaltungselemente<br />

im Unterricht wahrgenommen wurden, die Projektzeit jedoch für eine gezieltere Vermittlung des<br />

Strategieeinsatzes zu knapp war. Eine andere These ist, dass das Förderausmaß in einem<br />

systematischen Zusammenhang mit dem Projektengagement der Kooperationslehrpersonen<br />

steht. So variiert das Projektengagement der Lehrpersonen der Kooperationsgruppe deutlich<br />

und hat damit die Umsetzungsqualität deutlich beeinflusst. Dies wird im nächsten Abschnitt<br />

dargelegt.<br />

2.3.1.3 Der Zusammenhang zwischen der Kooperation und dem Förderangebot<br />

für selbstreguliertes Lernen im Unterricht<br />

Da nicht alle Kooperationslehrpersonen die Projektimpulse und -ziele gleichermaßen umgesetzt<br />

haben, stand im weiteren Verlauf die Frage im Zentrum, inwiefern das Projektengagement die<br />

Entwicklung der Unterrichtsgestaltung unter Kontrolle des Geschlechts, des Dienstalters und<br />

der Arbeitszufriedenheit der Lehrpersonen getrennt nach den zwei Projekthalbjahren beeinflusst<br />

hat. Das erfasste Projektengagement kann als Globalindikator für die zeitlichen, motivationalen<br />

und kooperationsbezogenen Aktivitäten der Kooperationslehrpersonen in Bezug auf das Kooperationsteam<br />

und die Unterrichtsentwicklung verstanden werden.<br />

Die Analysen ergaben positive Befunde im Sinne der Projektintentionen. Aus Perspektive der<br />

Lehrpersonen hat sich gezeigt: Je stärker sich die Lehrpersonen im zweiten Projekthalbjahr<br />

engagierten, umso positiver entwickelte sich im Projekt ihre Einstellung zur Gestaltung eines<br />

offen-entdeckenden Unterrichts und desto stärker reduzierte sich die Einschätzung der Bedeutsamkeit<br />

einer deduktiv-schematischen Unterrichtsgestaltung. Kongruent hierzu stellt sich die<br />

Wahrnehmung des Unterrichts aus Sicht der SchülerInnen dar, denn SchülerInnen von Kooperationslehrpersonen,<br />

die sich im zweiten Projekthalbjahr stärker engagierten, nehmen eine stärkere<br />

Reduktion deduktiv-schematischer Unterrichtsgestaltungselemente wahr, als SchülerInnen<br />

von Lehrpersonen, die sich im zweiten Projekthalbjahr weniger engagierten.<br />

Ebenfalls von Bedeutung ist das Projektengagement der Lehrpersonen für die wahrgenommene<br />

Vermittlung von Lernstrategien im Unterricht (v.a. für die Vermittlung von Korrekturstrategien,<br />

Elaborationsstrategien, Transformationsstrategien) durch die SchülerInnen. Dabei gilt: SchülerInnen<br />

von Kooperationslehrpersonen, die sich im ersten Projekthalbjahr stärker engagiert haben,<br />

nehmen eine diesbezügliche Entwicklung im Projektverlauf in stärkerem Maße wahr als<br />

SchülerInnen von Lehrpersonen, die sich im ersten Projekthalbjahr weniger engagiert haben.<br />

Das Projektengagement steht somit in einem systematischen Zusammenhang mit der Entwicklung<br />

einer kompetenzunterstützenden Unterrichtsgestaltung. Dabei ist interessant, dass das<br />

Projektengagement der Lehrpersonen im zweiten Halbjahr für die Indikatoren aus LehrerInnenperspektive<br />

von besonderer Bedeutung ist, während auf der Basis der SchülerInnendaten das<br />

Projektengagement im ersten Halbjahr in einem stärkeren Zusammenhang mit der Entwicklung<br />

160


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

des Förderangebotes steht. Dies könnte damit erklärt werden, dass nach der ersten Impulsver-<br />

anstaltung die Lehrpersonen interessiert und motiviert waren, die neuen Unterrichtsansätze<br />

umzusetzen, was die SchülerInnen auch konkret im Unterricht wahrgenommen haben. Hingegen<br />

ist davon auszugehen, dass sich die Einstellungen einer Lehrperson zum Unterricht erst<br />

nach einer erfolgten Erprobungs- und Bewährungsphase verändern (vgl. Schnebel 2005; Wahl<br />

2002), was für eine höhere Bedeutung des zweiten Projekthalbjahres für die Einstellung der<br />

Lehrpersonen zur Unterrichtsgestaltung spricht.<br />

2.3.2 Der Einfluss der Förderung selbstregulierten Lernens im Unterricht<br />

auf die Entwicklung des selbstregulierten Lernens der SchülerInnen<br />

Die zweite Kernfrage von „Serelisk“ zielt auf die Analyse des Einflusses der Förderung von<br />

selbstreguliertem Lernen im Rahmen der Unterrichtsgestaltung auf das selbstregulierte Lernen<br />

der SchülerInnen. In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass eine Unterrichtsgestaltung<br />

nach Prinzipien des selbstregulierten Lernens einen Effekt auf die Entwicklung entsprechender<br />

Fähigkeiten bei den SchülerInnen hat. Unter der Annahme, dass durch die Interventionen<br />

in der Kooperationsgruppe eine stärkere Förderung des selbstregulierten Lernens<br />

erfolgen kann, wurde vermutet, dass sich das selbstregulierte Lernen der SchülerInnen der<br />

Kooperationsgruppe stärker entwickelt als in der Individualgruppe. Aufgrund der nur kurzen<br />

Interventionsdauer von einem Schuljahr wurde jedoch einschränkend von lediglich ansatzweise<br />

nachweisbaren Effekten ausgegangen (vgl. z. B. Fullan 1991, 1993).<br />

2.3.2.1 Die Entwicklung der Fähigkeiten zum selbstreguliertes Lernen bei<br />

den SchülerInnen<br />

Ein erster Schritt zur Beantwortung der Fragestellung lag in der Analyse der Entwicklung des<br />

selbstregulierten Lernens der SchülerInnen, d.h. ihres Einsatzes kognitiver, metakognitiver und<br />

motivationaler Regulationsstrategien (vgl. Baumert et al. 2000) während des Projektes im<br />

Gruppenvergleich.<br />

Die Analyse sowohl kognitiver Strategien (z. B. zur Verarbeitung und Übertragung der Inhalte<br />

einer schwierigen Aufgabe), metakognitiver Strategien (z. B. zur Planung und Reflexion des<br />

Lösungsvorgangs einer schwierigen Aufgabe) als auch motivationaler Aspekte des Lernens<br />

(z. B. die Anstrengung, Bereitschaft und Ausdauer, sich mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen)<br />

hat gezeigt, dass differenzielle Entwicklungen für den Einsatz von Transformationsstrategien<br />

(kognitive Lernstrategien; vgl. Abb. 4), z. B. das Anfertigen einer Skizze zur Lösung einer<br />

schwierigen Aufgabe sowie für Selbstwirksamkeitserwartungen (motivationale Strategien), z. B.<br />

die Erwartungshaltung, eine schwierige Aufgabe lösen zu können, statistisch nachweisbar sind.<br />

Somit haben die SchülerInnen der Kooperationsgruppe im Rahmen von „Serelisk“ in stärkerem<br />

Maße den Einsatz von Transformationsstrategien bei der Bearbeitung von Mathematikaufgaben<br />

sowie ihre Selbstwirksamkeitserwartungen entwickelt als SchülerInnen der Individualgruppe.<br />

Bei den anderen Dimensionen zeigen sich keine signifikanten Effekte.<br />

161


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

Die Förderung dieser zwei Teilbereiche von Selbstregulation im Projekt „Serelisk“ kann vor dem<br />

Hintergrund bisheriger Studien (vgl. z. B. Fullan 1991, 1993) positiv gewertet werden. Es ist zu<br />

vermuten, dass im Rahmen der Einführung neuer Unterrichtsmethoden und/ oder von Problemlöseaufgaben<br />

zunächst kognitive Aspekte der Bearbeitung und entsprechend auch der Förderung<br />

im Zentrum standen und folglich die Entwicklung des Einsatzes von Transformationsstrategien<br />

positiv beeinflussten. Aufgrund der Rückmeldungen der Lehrpersonen sind zudem auch<br />

die Effekte auf die Selbstwirksamkeitserwartungen der SchülerInnen plausibel. Die fehlenden<br />

Effekte in Bezug auf die Entwicklung der weiteren Aspekte des selbstregulierten Lernens könnten<br />

erklärt werden durch die geringeren Förderaktivitäten der Lehrpersonen in den Teildimensionen<br />

Elaboration und metakognitive Strategien im zweiten Projekthalbjahr (siehe oben).<br />

Abbildung 4: Entwicklung der Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen am Beispiel des<br />

Einsatzes der Transformationsstrategien aus Perspektive der SchülerInnen<br />

Einsatz von Transformations-<br />

strategien<br />

Kooperationsgruppe<br />

Individualgruppe<br />

4 3 2 1 2<br />

Mittelwerte<br />

Antwortskalierung:<br />

4= trifft genau zu, 3= trifft eher zu, 2= trifft eher nicht zu, 1= trifft gar nicht zu<br />

2.3.2.2 Der Zusammenhang zwischen der Förderung selbstregulierten Ler<br />

nens im Unterricht und der Entwicklung der Fähigkeiten der SchülerInnen<br />

zum selbstregulierten Lernen<br />

Im nächsten Analyseschritt wurde untersucht, inwiefern die Entwicklung ausgewählter Aspekte<br />

der Selbstregulation der SchülerInnen durch Aspekte der Unterrichtsgestaltung (offenentdeckende<br />

bzw. deduktiv-schematische Unterrichtsgestaltung, gezielte Förderung kognitiver,<br />

metakognitiver und motivationaler Regulationsstrategien) beeinflusst werden. Dabei konnte<br />

gezeigt werden, dass das Ausgangsniveau der Dimensionen der Selbstregulation der SchülerInnen<br />

jeweils die Ausprägung der Selbstregulation nach Projektende beeinflusst. Je stärker die<br />

entsprechende Regulation zu Beginn des Schuljahres ausgeprägt war, desto stärker ist sie<br />

auch am Ende des Schuljahres vorzufinden. Dies war zu erwarten (Maag Merki 2006), da davon<br />

ausgegangen werden muss, dass auf bereits bestehende Fähigkeiten der SchülerInnen<br />

aufgebaut wird und diese einen Einfluss auf die Entwicklung nehmen.<br />

Aber auch eine gezielte Förderung des selbstregulierten Lernens im Unterricht ist bedeutsam<br />

für die Entwicklung des selbstregulierten Lernens von SchülerInnen (Baumert et al. 2000), wobei<br />

unterschiedliche Effekte in Abhängigkeit der Regulationsstrategien identifiziert werden konnten.<br />

Ein kompetenzunterstützender Unterricht erweist sich insbesondere wirkungsvoll für die<br />

Entwicklung motivationaler Aspekte wie Selbstwirksamkeit (z. B. die Erwartungshaltung, eine<br />

162<br />

2.23<br />

2.19<br />

2.35<br />

2.24<br />

3<br />

4<br />

t1 (vor Projekt)<br />

t2 (nach Projekt)


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

schwierige Aufgabe lösen zu können), Persistenz (z. B. das Durchhaltevermögen, eine schwie-<br />

rige Aufgabe zu Ende zu lösen) und Volition (z. B. der Wille, sofort mit dem Lösen einer Aufga-<br />

be zu beginnen). Die Förderung metakognitiver und kognitiver Strategien ist wirkungsvoll für die<br />

Entwicklung der jeweiligen Regulationsstrategien und darüber hinaus auch für motivationale<br />

Dimensionen des Lernens, insbesondere die Volition der SchülerInnen. Weiterhin haben Analy-<br />

sen gezeigt, dass eine offen-entdeckende Unterrichtsgestaltung förderlich für die Entwicklung<br />

des Einsatzes von Planungsstrategien bei der Bearbeitung schwieriger Mathematikaufgaben ist.<br />

Eine deduktiv-schematische Unterrichtsgestaltung hingegen beeinflusst keine der untersuchten<br />

Regulationsdimensionen. In weiteren Analysen ist zu untersuchen, in welchem Verhältnis offenentdeckende<br />

und strategiefördernde Unterrichtsansätze für die Förderung des selbstregulierten<br />

Lernens der SchülerInnen zueinander stehen. Hierzu werden Strukturgleichungsmodelle, auch<br />

unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur der Datensätze, spezifiziert.<br />

2.3.3 Potenziale und Bedingungen der Implementation<br />

Die Implementation unterrichtszentrierter Kooperation zwischen Lehrpersonen einerseits und<br />

die Förderung selbstregulierten Lernens im Mathematikunterricht andererseits sowie die Ausschöpfung<br />

der damit intendierten Mehrwerte, weist spezifische Potenziale auf und ist an Bedingungen<br />

geknüpft. Im Folgenden werden ergänzend zu den zuvor dargestellten Projektresultaten<br />

Reflexionsergebnisse der Projektlehrpersonen zu Chancen und Grenzen der Implementation<br />

(a) von Lehrerkooperation und (b) der Förderung selbstregulierten Lernens im Mathematikunterricht<br />

präsentiert, welche einige zentrale Ableitungen für praxisorientierte Implementationsbedingungen<br />

zulassen. Datengrundlage bilden dabei die Produkte der Gruppenarbeitsphasen aus<br />

der Bilanztagung (vgl. Abs. 2.2).<br />

2.3.3.1 Potenziale und Bedingungen der Implementation von Lehrerkooperation<br />

Die Kooperationslehrpersonen sehen nach Abschluss des Projektes unterschiedliche Potentiale<br />

unterrichtszentrierter Kooperation. Hier vor allem zu nennen sind: der Austausch von Ideen,<br />

Materialien aber auch Erfahrungen, die gegenseitige Unterstützung hinsichtlich der Bewältigung<br />

von Problemen im Schulalltag und durch die Schaffung einheitlicher Vorgehensweisen im Kollegium.<br />

Weitere Chancen werden im Rahmen der Möglichkeit zur Selbstreflexion und der eigenen<br />

Professionalisierung gesehen. Darüber hinaus wird auch die motivierende Wirkung eines<br />

gemeinsamen Handelns betont. Zur Entfaltung dieser Potentiale müssen in der Schule jedoch<br />

zunächst Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche eine effektive Kooperation ermöglichen.<br />

(a) Problembereich „Kooperationsspezifische Zeitkonflikte“<br />

Als besonders einschränkend für die Implementation von Kooperation wurden Zeitkonflikte, vor<br />

allem in Verbindung mit der Findung von Terminen zur Kooperation und in Bezug auf den für<br />

die Kooperationssitzungen erforderlichen Zeitaufwand wahrgenommen. Entsprechend ist es,<br />

163


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

soll Kooperation eingeführt werden, als unerlässlich zu erachten, zeitgleich Kooperationszeitfenster<br />

an der Schule zu schaffen. Dies meint (a) die Berücksichtigung von Teamkonstellationen<br />

bei der Stundenplangestaltung, so dass Teammitglieder über gemeinsame Freistunden<br />

verfügen, die sie konstant nutzen können. (b) Vor allem zu Beginn der Implementation von Kooperation<br />

(z. B. während des ersten Schuljahres) ist die Entwicklung zeitlicher Entlastungsmodelle<br />

zu diskutieren. Diese können sich sowohl auf eine Reduktion von Unterrichtsstunden oder<br />

die Entlastung von z. B. Gremienarbeit, Zusatzfunktionen in der Schule oder hinsichtlich der<br />

Übernahme von Vertretungsstunden beziehen. (c) Die Realisierung dieser Bedingungen setzt<br />

voraus, dass die Schulleitung und das gesamte Kollegium hinter der Implementation unterrichtszentrierter<br />

Kooperation stehen und die Entlastung bzw. Berücksichtigung der Teamkonstellation<br />

Akzeptanz finden. Ein Weg zur Anerkennung der Vorhaben im Kollegium ist die Einbindung<br />

des Kooperationsteams in die Fach- und Gesamtkonferenzen der Schule, um Transparenz<br />

hinsichtlich der Vorhaben, Aktivitäten und der Zielerreichung zu schaffen. In diesem Zusammenhang<br />

kann auch die Berücksichtigung der Kooperationsarbeit im Rahmen schulkonzeptioneller<br />

Überlegungen gefördert werden. Da die Implementation unterrichtszentrierter Kooperation<br />

nur als ein langfristiger Prozess gedacht werden kann, der viel Zeit und Ausdauer von den<br />

Akteuren erfordert, ist davon auszugehen, dass im Falle einer Nicht-Realisierung entsprechender<br />

Rahmenbedingungen mit einer Diskontinuität der Kooperation zu rechnen ist, welche zu<br />

einem Motivationsverlust und damit verbunden zu einem Verlust des Engagements der Lehrpersonen<br />

führen kann.<br />

(b) Problembereich „Persönliche und fachliche Differenzen im Team“<br />

Aber auch personelle Aspekte, wie persönliche oder fachliche Differenzen im Team (z. B. nicht<br />

vorhandene Sympathie zwischen Lehrpersonen oder unterschiedliche Unterrichtsstile) und die<br />

Teamzusammensetzung stehen der Ausschöpfung der Kooperationspotentiale entgegen. Hinsichtlich<br />

der Zusammensetzung der Teams wurde es teilweise als problematisch empfunden,<br />

wenn die Kooperation klassenstufenübergreifend stattfand, da in diesem Fall das Finden gemeinsamer<br />

Kooperationsschwerpunkte als erschwert wahrgenommen wurde. Um eine solche<br />

Situation zu vermeiden, ist es notwendig: (a) im Vorfeld Absprachen mit bzw. zwischen den<br />

betreffenden Lehrpersonen zu treffen. Das Kooperationssetting muss dabei den Zielen und<br />

Interessen der Lehrpersonen entsprechen, da andernfalls von einem Motivationsverlust auszugehen<br />

ist. Im Rahmen von Serelisk hat sich vor allem die fach- und jahrgangshomogene Kooperation<br />

zwischen Lehrpersonen als produktiv erwiesen. Auch sollte die personelle Zusammensetzung<br />

auf Zustimmung in der Gruppe stoßen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass weder<br />

Sympathie noch gleiche Vorstellungen von Unterricht die maßgebliche Basis der Kooperation<br />

bilden muss. Vielmehr lebt eine produktive unterrichtszentrierte Kooperation von der Heterogenität<br />

seiner Mitglieder. Um mögliche Konflikte, die sich daraus ergeben könnten, einzudämmen,<br />

könnten (b) in regelmäßigen Abständen Rücksprachen mit bzw. in dem Team geführt und moderierte<br />

Reflexionen der Kooperationsarbeit durchgeführt werden. Die Moderatorenfunktion<br />

könnte sowohl durch einen externen Supervisor übernommen werden oder durch eine festgelegte<br />

Person aus dem Kollegium. Aufgabe der Schulleitung ist es an dieser Stelle, entsprechende<br />

Supportleistungen zu unterstützen.<br />

164


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

2.3.3.2 Potenziale und Bedingungen der Implementation eines selbstregulationsfördernden<br />

Unterrichts<br />

Die durch die Kooperationslehrpersonen wahrgenommenen Potentiale der Förderung selbstregulierten<br />

Lernens erstrecken sich einmal auf Aspekte der SchülerInnenförderung, indem vor<br />

allem Möglichkeiten der Förderung kognitiver und metakognitiver Fähigkeiten (z. B. die Merkfähigkeit<br />

oder das Einschätzen von Stärken und Schwächen) artikuliert werden. Darüber hinaus<br />

wird dem selbstregulierten Lernen eine motivierende Wirkung auf das SchülerInnenlernen zugesprochen.<br />

Ein zweiter Bereich, der dem Entwicklungspotential im Rahmen der Förderung<br />

selbstregulierten Lernens angerechnet wird, ist die Entwicklung der eigenen Unterrichtsgestaltung<br />

(z. B. durch die Möglichkeit zur Differenzierung im Unterricht, die Option eines Rollenwechsels<br />

vom Unterweiser zum Berater oder der methodischen Vielfalt). Der Ausschöpfung<br />

genannter Mehrwerte stehen mitunter jedoch schulpraktische Barrieren entgegen.<br />

(a) Problembereich „Unterrichtsspezifische Zeitkonflikte“<br />

Erschwert wurde den Kooperationslehrpersonen die Umsetzung ihrer Vorhaben zur Förderung<br />

von Selbstregulation insbesondere durch den hohen Zeit- bzw. Mehraufwand, welchen die Veränderung<br />

von Unterricht mit sich bringt. Dieses Problem wurde noch potenziert durch das Fehlen<br />

einer KlassenlehrerInnenstunde, da dieses strukturelle Defizit zumeist innerhalb des Fachunterrichts<br />

kompensiert wird. Mögliche diesbezügliche Empfehlungen könnten sein: (a) Die<br />

Einführung einer festen KlassenlehrerInnenstunde, die die Bearbeitung von organisatorischen<br />

Aufgaben ermöglicht, damit der Fachunterricht vollständig für das fachliche Lernen eingesetzt<br />

werden kann. (b) Will ein Kollegium selbstreguliertes Lernen systematisch im Unterricht fördern,<br />

so wird dies zumindest bis zur Ausbildung von Handlungsroutinen bei den Lehrpersonen und<br />

bei den SchülerInnen immer zusätzliche Zeit erfordern und mitunter Verzögerungen im Stoffplan<br />

mit sich bringen. Daher ist zeitgleich mit der Implementation zu überlegen, die Förderung<br />

selbstregulierten Lernens im Schulprogramm zu verankern und somit zu einem Profilmerkmal<br />

der Schulentwicklung zu machen. Ein anderer Weg wäre, ein Curriculum zu entwickeln, welches<br />

die Förderung selbstregulierten Lernens über mehrere Klassenstufen und/ oder fachübergreifend<br />

explizit als Unterrichtsbestandteil vorsieht und es folglich nicht zu Konflikten hinsichtlich<br />

der inhaltlichen Prioritätensetzung im Unterricht kommen muss. (c) Bestehen keine entsprechenden<br />

Bestrebungen in Richtung Schulprogramm- oder Curriculumentwicklung, so kann es<br />

hilfreich sein, wenn kooperierende Lehrpersonen von Seiten der Schulleitung die Möglichkeit<br />

bzw. Freiräume erhalten, gemeinsam Jahrespläne zu entwickeln und praktisch einzusetzen.<br />

(b) Problembereich „Fachdidaktische Problemen bzw. Unsicherheiten“<br />

Fachdidaktische Probleme oder Unsicherheiten, die aus den Neuerungen im Unterricht resultieren<br />

(z. B. hinsichtlich der Leistungsbewertung offener Aufgabenstellungen) können ebenfalls<br />

deren langfristige Etablierung blockieren, es sei denn, sie werden aktiv als Lernchance genutzt<br />

und bearbeitet. Die Schulleitung kann hierzu aktiv den Austausch zwischen Lehrpersonen stärken.<br />

Aber auch die Leistungsheterogenität der SchülerInnen, und Defizite in Bezug auf grundlegende<br />

Fähigkeiten wie z. B. das Textverständnis, wurden im Rahmen der Umsetzung problematisiert.<br />

Im Falle einer dementsprechenden Klassensituation wurde der Unterricht von einigen<br />

Kooperationslehrpersonen als Gratwanderung zwischen Über- und Unterforderung der Schüle-<br />

165


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

rInnen erlebt und führte zu Unsicherheiten hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung. Zu beachten<br />

ist jedoch, dass den SchülerInnen ausreichend Raum und Zeit offeriert werden muss, um sich<br />

an die neuen Unterrichtsmethoden und Aufgabenformen gewöhnen und entsprechende Fähigkeiten<br />

entwickeln zu können. Der hierzu nötige Freiraum muss sowohl den Lehrpersonen von<br />

Seiten der Schulleitung aber auch den SchülerInnen von Seiten der Lehrpersonen eingeräumt<br />

werden. Der Hinweis der Lehrpersonen, dass gerade SchülerInnen, die bislang erfolgreiche<br />

MathematikschülerInnen waren, bei der Umstellung der Aufgabenkultur und Methoden frustriert<br />

werden können, zeigt eine weitere Problematik der Einführung neuer Unterrichtsmethoden auf.<br />

Wesentlich ist hier, dass die SchülerInnen von den Lehrpersonen unterstützt werden, sich mit<br />

den neuen Anforderungen mutig auseinanderzusetzen und ihnen aufzuzeigen, wie sie Sicherheit<br />

im Umgang mit den neuen Aufgaben- und/ oder Methodenformen gewinnen können. Zudem<br />

sind ein gezielter Austausch mit den Eltern und entsprechende Informationen notwendig,<br />

damit diese nicht beunruhigt werden und hinter den Neuerungen stehen.<br />

2.4 Projektbilanz: Bedeutung und Konsequenzen der Ergebnisse für<br />

die Praxis<br />

Im Folgenden werden die zuvor dargestellten Projektresultate hinsichtlich ihrer Bedeutungen für<br />

die Schulpraxis diskutiert und Konsequenzen für diese abgeleitet. Die Darstellung der Bedeutung<br />

und Konsequenzen erfolgt entlang von drei zentralen Aspekten: (a) der praktischen<br />

Implementation von Kooperation, (b) der praktischen Förderung selbstregulierten Lernens im<br />

Fach Mathematik sowie (c) der Praxis der Schulorganisation.<br />

2.4.1 Bedeutung und Konsequenzen für die praktische Implementation<br />

von Kooperation<br />

Im Rahmen von „Serelisk“ konnte gezeigt werden, dass es möglich ist, innerhalb eines Schuljahres<br />

die Aktivitäten unterrichtszentrierter Kooperation zwischen Lehrpersonen zu erhöhen.<br />

Kooperationslehrpersonen sind nach Projektende mehrheitlich von der Wirksamkeit der Kooperation<br />

hinsichtlich einer besseren Unterrichtsgestaltung sowie weiterer Möglichkeiten (Austausch<br />

von Ideen, Materialien und Erfahrungen; Möglichkeit gegenseitiger Hilfestellung und<br />

Unterstützung), überzeugt, was die praktische Relevanz der implementierten unterrichtszentrierten<br />

Kooperation aus Lehrersicht unterstreicht. Im Rahmen der qualitativen Erhebung wird zudem<br />

die Möglichkeit zur Selbstreflexion und zur eigenen Professionalisierung als Chance von<br />

Kooperation herausgestellt. Diese bildet neben der Entwicklung des Lernens im Unterricht eine<br />

weitere Zieldimension des Konzeptes der professionellen Lerngemeinschaft (Bonsen & Rolff<br />

2006). Konform mit den Erkenntnissen anderer Studien (z. B. Gräsel, Fussangel & Pröbstel<br />

2006; Gräsel, Fussangel & Parchmann 2006) konnte im Rahmen von „Serelisk“ unterstrichen<br />

werden, dass Lehrpersonen durch Kooperation zudem eine Arbeitsentlastung erfahren. Genannte<br />

Aspekte könnten ein wirkungsvoller Faktor sein, um das allgemeine Schulklima, aber<br />

auch die Arbeitszufriedenheit im Kollegium zu steigern. Dies ist umso wichtiger, als dass die<br />

166


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

Arbeitszufriedenheit in einem systematischen Zusammenhang mit der Förderung einer selbst-<br />

regulierten Unterrichtgestaltung steht.<br />

Die Implementation von Kooperation bzw. die Ausschöpfung genannter Mehrwerte, ist jedoch<br />

an Bedingungen geknüpft. So wurde deutlich, dass das Engagement, mit dem Lehrpersonen<br />

dieses Ziel verfolgen, einen Einfluss auf die Erreichung dieses Ziels ausübt, d.h. die Unterrichtsgestaltung<br />

nach Prinzipien der Förderung selbstgesteuerten Lernens. Dies bedeutet in der<br />

Konsequenz, dass die Motivation zur Kooperation zwischen Lehrpersonen als eine zentrale<br />

Voraussetzung postuliert werden kann, ebenso wie das Aufbringen von Eigenaktivität, aber<br />

auch das Ausschöpfen eigener zeitlicher Ressourcen. Da im Rahmen der qualitativen Auswertung<br />

vor allem Zeitkonflikte als Barriere der Kooperationsimplementation angegeben werden,<br />

müssen in der Schule kooperationsgünstige Bedingungen geschaffen werden. Die Forderung<br />

der Lehrpersonen nach einer verlängerten Projektzeit spiegelt des Weiteren wider, dass die<br />

Implementation von Kooperation zwischen Lehrpersonen nur als ein langfristiger Prozess gedacht<br />

werden kann, da dieser viel Zeit und Ausdauer von den Akteuren erfordert. Die Hinweise<br />

von fast der Hälfte der Kooperationslehrpersonen, dass eine intensivere Unterstützung der Forschungsgruppe<br />

während der Kooperationsarbeit in der eigenen Schule die Zielerreichung begünstigt<br />

hätte, weist darauf hin, dass der Unterstützungsfaktor, wie in vielen anderen Studien<br />

(vgl. z. B. Gräsel, Fussangel & Pröbstel 2006; Maag Merki, Emmerich & Kotthoff 2008), die<br />

nachhaltige Implementation von Reformen begünstigt. Hier wäre zu überlegen, in welcher Form<br />

eine bessere Unterstützung hätte realisiert werden können. In anderen Studien zeigt eine stärkere<br />

„Vor-Ort“-Unterstützung positive Effekte auf die Entwicklung metakognitiver Strategien (vgl.<br />

z. B. Houtveen & van de Grift 2007) oder die Entwicklung von Unterricht (Kreis & Staub 2009).<br />

Der jeweils verbindliche Charakter dieser Unterstützung verweist allenfalls auf die Tatsache,<br />

dass einzig das Unterstützungsangebot, wie dies im Rahmen der Serelisik-Studie der Fall war,<br />

nicht genügend ist, damit es auch in Anspruch genommen wird.<br />

2.4.2 Bedeutung und Konsequenzen für die Förderung selbstregulierten<br />

Lernens im Fach Mathematik<br />

Intention von „Serelisk“ war es, mittels der Implementation unterrichtszentrierter Kooperation<br />

zwischen Lehrpersonen das selbstregulierte Lernen von SchülerInnen im Mathematikunterricht<br />

zu fördern. Entlang der Ergebnisse der Studie zeigen sich erste erwartungskonforme Erfolge,<br />

die sich auf die Intervention zurückführen lassen und vor dem Hintergrund der geringen Zeit<br />

sowie der Komplexität des Prozesses der Unterrichtsveränderung (vgl. Schnebel 2005) als ein<br />

relevantes Ergebnis zu interpretieren sind. Die Förderung der Selbstregulation im Unterricht<br />

wirkt dabei in einer komplexen Weise auf die Entwicklung des selbstregulierten Lernens von<br />

SchülerInnen. Zudem erweist sich eine offen-entdeckende Unterrichtsgestaltung sowohl als<br />

direkte wie auch indirekte Einflussgröße als zentral.<br />

Positiv wahrgenommene Effekte bezüglich der Förderung von Selbstregulation im Mathematikunterricht<br />

lassen sich auch hier aus den qualitativen Daten herausfiltern. Hier verbinden die<br />

Lehrpersonen die Förderung selbstregulierten Lernens vor allem mit einer Förderung kognitiver<br />

und metakognitiver Fähigkeiten bei den SchülerInnen (z. B. die Merkfähigkeit oder das Ein-<br />

167


Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

schätzen von Stärken und Schwächen beinhalten). Chancen werden aber auch für die eigene<br />

Unterrichtsgestaltung gesehen (z. B. die Möglichkeit der Differenzierung im Unterricht, einen<br />

Rollenwechsel vom Unterweiser zum Berater oder die methodische Vielfalt). Aus Sicht der<br />

Lehrpersonen wird die Förderung selbstregulierten Lernens somit als effektiv sowohl für die<br />

SchülerInnen als auch für die eigene Unterrichtsgestaltung erlebt und folglich die hohe Bedeutung<br />

der Berücksichtigung in der Unterrichtsgestaltung unterstrichen.<br />

Eine praktische Konsequenz hieraus ist, dass der gezielten Fokussierung der verschiedenen<br />

Förderdimensionen im Unterricht eine hohe Bedeutung im Hinblick auf die Zielerreichung zukommt,<br />

eine offen-entdeckende Unterrichtsgestaltung zudem als relevanter methodischer Kontext<br />

zu interpretieren ist.<br />

Auf der anderen Seite haben die Lehrpersonen im Rahmen von „Serelisk“ auch Erfahrungen<br />

gesammelt, welche die Förderung selbstregulierten Lernens durch den Einsatz von Problemlöseaufgaben<br />

und/ oder selbstaktivierenden Unterrichtsmethoden erschwerten. Hierbei zu nennen<br />

sind bezüglich der SchülerInnen vor allem das Ausgangsleistungsniveau bzw. Fähigkeitsdefizite<br />

und bezüglich der Lehrpersonen insbesondere zeitliche Umsetzungsprobleme, aber<br />

auch Schwierigkeiten bei der Leistungsbewertung im Rahmen offener Aufgabenstellungen.<br />

Diese Probleme können vor allem vor dem Hintergrund fehlender zeitlicher Rahmenbedingungen,<br />

anfänglicher Barrieren sowie fehlender Rückkopplungsoptionen (z. B. Feedback) interpretiert<br />

werden. Für das Lernen der SchülerInnen ist es zudem wichtig, dass diesen ausreichend<br />

Raum offeriert wird, sich an die neuen Unterrichtsmethoden und Aufgabenformen zu gewöhnen<br />

und die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln. Der Hinweis der Lehrpersonen, dass gerade<br />

SchülerInnen, die bislang erfolgreiche MathematikschülerInnen waren, bei Umstellung der<br />

Aufgabenkultur und Methoden frustriert werden können, zeigt die Problematik der Einführung<br />

neuer Unterrichtsmethoden auf. Hierzu sind ebenfalls ein gezielter Austausch mit den Eltern<br />

und entsprechende Informationen notwendig, damit diese nicht beunruhigt werden.<br />

2.4.3 Bedeutung und Konsequenzen für die Schulorganisation<br />

Welche Bedeutung und Konsequenzen können aus den Ergebnissen von „Serelisk“ für die Organisation<br />

Schule abgeleitet werden? Es ist zu konstatieren, dass ein Forschungsprojekt wie<br />

„Serelisk“ mittels externer Impulse und Weiterbildungen Grundlagen schaffen kann, um zum<br />

einen kooperative Aktivitäten zwischen Lehrpersonen zu initiieren und teilweise zu etablieren.<br />

Zum anderen kann die Entwicklung der Unterrichtsgestaltung gefördert, aber auch erste positive<br />

Effekte in Bezug auf die SchülerInnenfähigkeiten erzielt werden. Der Hinweis von mehr als<br />

80% der Kooperationslehrpersonen, dass über die Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen<br />

(gemeinsame Freistunden im Stundenplan, Entlastung zusätzlicher Gremienarbeit)<br />

eine bessere Zielerreichung möglich gewesen wäre, weist darauf hin, dass die Realisierung<br />

schulinterner Bedingungen, die eine feste Etablierung und effektive Weiterarbeit der bestehenden<br />

Teams bewirken bzw. den Aufbau unterstützen, eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende<br />

Voraussetzung für effektive Kooperation ist. „Serelisk“ diente für die beteiligten Schulen<br />

als Initialmotor für eine Unterrichts- und Personalentwicklung. Soll diese jedoch fest verankert<br />

werden, bedarf es parallel systematischer Entwicklung auf der Schulebene (vgl. Shachar &<br />

168


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

Sharan 1993; Holtappels & Rolff 2004). Inwiefern Projekte wie Serelisk solche Prozesse der<br />

Organisationsentwicklung anstoßen, wäre in einem Folgeprojekt zu untersuchen.<br />

Literatur<br />

Artelt, C., Baumert, J. & Julius-McElvany, N. (2003). Selbstreguliertes Lernen: Motivation und<br />

Strategien in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. In J. Baumert, C. Artelt, E.<br />

Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, K.-J. Tillmann & M. Weiss<br />

(Hrsg.), PISA 2000 – Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland<br />

(S. 131-164). Opladen: Leske+Budrich.<br />

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3 Projektpublikationen und Tagungsbeiträge<br />

Im Rahmen der Projektdurchführung sind Publikationen entstanden. Zudem wurden die Ergebnisse<br />

an verschiedenen Tagungen und Kongressen vorgestellt.<br />

3.1 Projektpublikationen<br />

Ehlert, A., Maag Merki, K. & Werner, S. (in Vorbereitung). Selbstregulation im Unterricht fördern:<br />

Möglichkeit – Überforderung. H.-U. Grunder, H. Moser & K. Kansteiner-Schänzlin (Hrsg.).<br />

LehrerInwissen kompakt – Grundlagen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und<br />

Lehrern. Sozialisations- und Entwicklungsaufgaben von Heranwachsenden (Bd. 1). Hohengehren:<br />

Schneider-Verlag (voraussichtlich: 2011)<br />

Ehlert, A., Maag Merki, K. & Werner, S. (eingereicht). Die Förderung des selbstregulierten Lernens<br />

von SchülerInnen durch die Kooperation von Lehrpersonen. Ausgangsbedingungen<br />

eines Interventionsprojektes (Serelisk) im Mathematikunterricht an Realschulen in <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong>. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft.<br />

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Ehlert, A., Werner, S., Maag Merki, K. & Leuders, T. (2009). Serelisk – Selbstreflexives Lernen<br />

im schulischen Kontext. Tools für die Entwicklung der eigenen Unterrichtsarbeit aufgrund<br />

von kooperativ-selbstreflexiven Prozessen zwischen Lehrpersonen (S. 78-93). In K. Maag<br />

Merki (Hrsg.), Kooperation und Netzwerkbildung. Strategien zur Qualitätsentwicklung in<br />

Einzelschulen. Seelze: Klett-Kallmeyer.<br />

3.2 Tagungsbeiträge<br />

„Unterrichtszentrierte Kooperation als Lernsetting von Lehrpersonen. Analysen am Beispiel des<br />

Projektes Serelisk“ (ReferentInnen: Silke Werner, Katharina Maag Merki & Antje Ehlert,).<br />

Referat im Symposium „Kooperation zwischen Lehrpersonen und Schulen als Handlungskoordination.<br />

Empirische Analysen“ (geleitet durch: Maag Merki, K., Universität Zürich) am<br />

Jahreskongress der SGBF (Schweizerische Gesellschaft für <strong>Bildungsforschung</strong>) und der<br />

SGL (Schweizerische Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung), Universität Zürich,<br />

01. Juli 2009.<br />

„Effekte unterrichtszentrierter Kooperation von Lehrpersonen auf die Förderung von Selbstregulation<br />

im Unterricht. Ergebnisse einer Interventionsstudie im Fach Mathematik an Realschulen<br />

in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>“ (ReferentInnen: Antje Ehlert, Silke Werner & Katharina Maag<br />

172


Serelisk<br />

SelbstreflexivesLernen im schulischen Kontext<br />

Merki). 72. Tagung der AEPF (Arbeitsgruppe Empirische Pädagogische Forschung), Universität<br />

Koblenz-Landau, Landau, 25.03.2009.<br />

„Professionalisierung durch LehrerInnenkooperation. Ausgangsbedingungen und Zwischenstand<br />

eines Interventionsprojektes an Realschulen in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>“ (ReferentInnen:<br />

Antje Ehlert, Silke Werner & Katharina Maag Merki). Referat an der Tagung der Kommission<br />

"Professionalisierung und Lehrerbildung" der DGFE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft),<br />

Justus-Liebig-Universität Gießen, Rauischholzhausen, 20. September<br />

2008.<br />

„Förderung von Selbstregulationskompetenzen bei SchülerInnen durch LehrerInnenkooperation.<br />

Ausgangsbedingungen einer Interventionsstudie an Realschulen in <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong>“ (ReferentInnen: Antje Ehlert, Silke Werner & Katharina Maag Merki). Referat<br />

an der 71. Tagung der AEPF (Arbeitsgruppe Empirische Pädagogische Forschung), IPN -<br />

Leibnitz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel, 27. August 2008.<br />

„Selbstreflexives Lernen und Kooperation zwischen Mathematiklehrpersonen. Eine Interventionsstudie<br />

in 7. und 8. Klassen an Realschulen in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>“ (ReferentInnen: Katharina<br />

Maag Merki, Antje Ehlert & Silke Werner). Referat im Symposium „Kulturen der Kooperation<br />

und Konkurrenz in Schulentwicklungsprozessen“ (geleitet durch: Horstkemper, M.<br />

& Killus, D., Universität Potsdam) der DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft),<br />

Technische Universität Dresden, 17. März 2008.<br />

Serelisk – Eine Interventionsstudie zum selbstreflexiven Lernen im schulischen Kontext in Realschulen<br />

in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> (ReferentInnen: Katharina Maag Merki, Antje Ehlert & Silke<br />

Werner, Alfred Holzbrecher & Hans-Georg Kotthoff) Posterpräsentation, 70. Tagung der Arbeitsgruppe<br />

Empirische Pädagogische Forschung, Leuphana Universität Lüneburg, 11.<br />

September 2007.<br />

4 Sonstiges<br />

Es ist geplant, die Ergebnisse mit weiterführenden Analysen zu konkretisieren und in einem<br />

Sammelband sowie in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Hierzu gehört<br />

auch, Teilergebnisse im Rahmen einer Dissertation zu publizieren. Direkt im Zusammenhang<br />

mit der realisierten Studie sollen zudem Nachbefragungen bei den KooperationslehrerInnen<br />

durchgeführt werden, um die Nachhaltigkeit der Interventionen zu prüfen und allfällige Langzeiteffekte<br />

zu identifizieren. Zudem wird das Thema „Selbstreguliertes Lernen“ und die in dieser<br />

Studie beobachteten Effekte und Prozesse im Rahmen eines geplanten Drittmittelantrages an<br />

den Schweizerischen Nationalfonds in einer weiteren Interventionsstudie vertieft.<br />

173


174


VII Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens bei<br />

3- bis 4-jährigen Kindern<br />

1 Vorstellung des Forscherteams<br />

Jens Holger Lorenz, Dipl.-Math. Dipl.-Psych. Dr. phil. habil. Professor (C4) für Didaktik der Mathematik<br />

/ Pädagogische Hochschule Heidelberg / Fakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften<br />

Andrea Einig, Diplom-Pädagogin, Abgeordnete Lehrerin GHS / Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

/ Fakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften / Fach Mathematik<br />

2 Darstellung des Forschungsprojektes<br />

2.1 Theoretischer Hintergrund<br />

Bisher ist sehr wenig bekannt über die Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten und die<br />

Entwicklung des mathematischen Denkens in der frühen Kindheit. Denn gerade diese Zielgruppe<br />

stand bisher wenig im Mittelpunkt der mathematikdidaktischen Forschung.<br />

Untersuchungen zu Vorkenntnissen von Schulanfängern wurden in den 80er und 90er Jahren<br />

vermehrt durchgeführt (vgl. z. B. Hengartner, E. & Röthlisberger, H. 1995/ Knapstein, K. & Spiegel,<br />

H. 1995/ Schmidt/ Weiser 1987 und Selter, C. 1995). Dabei wurde deutlich, dass die Kinder<br />

im Alter von 5-6 Jahren bereits über große mathematische Fähigkeiten verfügen. Allerdings<br />

zeigen diese Studien auch, dass das Wissen sehr heterogen ist und die Kinder daher mit sehr<br />

unterschiedlichen Voraussetzungen ihre Schulbiografie beginnen.<br />

Für die Kinder im Alter zwischen 5 - 7 ½ Jahren liegt mit dem OTZ seit 2005 ein Testinstrument<br />

in deutscher Version vor, mit dem das aktuelle Niveau der Zahlbegriffsentwicklung eines Kindes<br />

festgestellt werden kann. Dieser Test wurde in Holland von Mitarbeitern der Fachgruppe Pädagogik<br />

an der Universität Utrecht entwickelt. Als Komponenten des frühen Zahlbegriffs wurden<br />

folgende acht Bereiche identifiziert: Vergleichen, Klassifizieren, Eins-zu-eins-Zuordnen, nach<br />

Reihenfolge ordnen, Zahlwörter benutzen, synchrones und verkürztes Zählen, resultatives Zählen<br />

und das Anwenden von Zahlenwissen.<br />

Ein weiterer Forschungszweig beschäftigt sich mit der Früherkennung von Rechenstörungen<br />

(vgl. Kaufmann 2001/ Krajewski 2003 und Lorenz 2003). Hier wurde gezeigt, dass durch die<br />

Identifikation von Vorläuferfähigkeiten bereits im Kindergarten recht zuverlässig Aussagen über<br />

Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Fähigkeiten in der Grundschule gemacht werden<br />

können. Allerdings stehen auch hier die Kinder im Alter von 5-6 Jahren im Fokus wissenschaftlicher<br />

Forschung.<br />

Auch in der internationalen Forschung beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Entwicklung<br />

von diagnostischen Verfahren für den vorschulischen Bereich. Ende der neunziger Jahre wurde<br />

175


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

dazu ein diagnostisches Interview im Rahmen des australischen Early Numeracy Research<br />

Project (ENRP, Clarke 1999) konzipiert. Ziel dieses Projekts war es, die mathematischen Kompetenzen<br />

von Vor- und Grundschulkindern bis zum Ende der zweiten Klasse zu erfassen. In<br />

diesem materialbasierten Interview werden wesentliche Bereiche der mathematischen Entwicklung<br />

berücksichtigt. Zudem wurde für die Kinder der Eingangsklasse ein so genannter „P-Teil“<br />

entwickelt, der auf die mathematischen Vorläuferfähigkeiten abzielt. Mit diesem Interview soll<br />

festgestellt werden, welche Aspekte des Zahlbegriffs bereits von den Kindern erworben wurde,<br />

allerdings ist dieses diagnostische Interview erst für Kinder ab fünf Jahren konzipiert. Das Interview<br />

wird in Australien bereits flächendeckend eingesetzt, in Oldenburg und Kassel in verschiedenen<br />

Projekten erprobt und ist nun unter dem Namen Elementar mathematisches Basisinterview<br />

(EMBI) in Deutschland erschienen.<br />

Diese Ausführungen zeigen, dass der Fokus der mathematikdidaktischen und psychologischen<br />

Forschung national wie international bisher kaum oder nur partiell auf der Entwicklung des mathematischen<br />

Denkens der Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren lag und liegt.<br />

Hier setzt das vorliegende Forschungsvorhaben an: Es soll eine Lücke in der aktuellen Forschung<br />

schließen, um mehr über das mathematische Denken und die mathematischen Bildungsprozesse<br />

von Kindern im Alter von 3-4 Jahren zu erfahren. Dabei steht die kompetenzorientierte<br />

Sichtweise im Mittelpunkt: Es soll festgestellt werden, über welche mathematischen<br />

Fähigkeiten die Kinder im Alter von 3-4 Jahren bereits verfügen und wie diese sich weiterentwickeln.<br />

Dabei stehen ihre subjektiven, individuellen Bildungsprozesse im Mittelpunkt dieser Forschungsarbeit.<br />

Im Bereich der Entwicklung des Zahlbegriffs kann man zwei Modelle zur Zahlbegriffsentwicklung<br />

unterscheiden:<br />

• das Logical Foundations Modell von Piaget<br />

• das Skills integration Modell von Clements<br />

Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich der Schweizer Entwicklungspsychologe<br />

Jean Piaget mit der Entwicklung des Zahlbegriffs im frühen Kindesalter auseinander. Er ging<br />

davon aus, dass sich der Zahlbegriff auf der Basis von logisch-formalen Operationen entwickelt<br />

und dass diese Voraussetzungen sind für ein Verständnis der Zahl. Neben der kardinalen und<br />

ordinalen 1zu1-Zuordnung und der additiven bzw. multiplikativen Komposition, schien ihm hier<br />

vor allem die Erhaltung der Quantitäten und Invarianz der Mengen bedeutsam.<br />

Invarianz bedeutet, dass sich die Anzahl der Elemente einer Menge nicht verändert, wenn man<br />

lediglich deren räumliche Anordnung ändert. Der Erwerb der Zahlinvarianz vollzieht sich nach<br />

Piaget in drei Stufen und erst im Alter von 6-7 Jahren sei ein vollständiges Verständnis der Invarianz<br />

vorhanden. Er folgerte weiter, dass das Zählen für den Erwerb der Invarianz und somit<br />

der Zahl irrelevant ist und dass Kleinkinder über keinerlei „Zahlensinn“ verfügen. Sein Einfluss<br />

prägte den Erstrechenunterricht im 20. Jahrhundert entscheidend. Die Folgerungen aus seinen<br />

Erkenntnissen waren, dass die Vorschulkinder zuerst mit Logik und Beziehungen zwischen<br />

Mengen konfrontiert wurden. Nach heutiger Forschungslage gibt es aus verschiedenen Forschungsrichtungen<br />

berechtigte Zweifel an Piagets Theorien. Diese betreffen neben einer gene-<br />

176


Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

rellen Kritik bezüglich seiner wissenschaftlichen Methodik und der Unklarheit seiner Sprache,<br />

die Homogenität der Stufen. Auch seine Annahmen bezüglich der relativ späten Zahlbegriffskompetenz,<br />

die Piaget den Kindern in ihrer Entwicklung zuschreibt, können in dieser Form nicht<br />

stimmen (vgl. Moser Opitz 2002).<br />

Ein sich deutlich von den Theorien Piagets abgrenzendes Modell stellte Clements auf (vgl. Clements<br />

1984). Er bezog neue entwicklungspsychologische und fachdidaktische Befunde in seine<br />

Studie mit ein. So konnte er in einer Interventionsstudie zeigen, dass Kinder bezüglich der<br />

Zahlbegriffsentwicklung von einem number skills basierten Training mehr profitieren konnten als<br />

Kinder, die ein Training mit Aufgaben zu den logischen Operationen absolvierten. Number skills<br />

meint dabei Fähigkeiten, die im Bereich des Zählens und der Zahl anzusiedeln sind, wie z. B.<br />

Zählen oder Subitizing. Erstaunlich war, dass die Kinder, die vornehmlich mit number skills Aufgaben<br />

gefördert wurden, auch im Bereich der logischen Operationen ebenso gut abschnitten<br />

wie die Kinder, die mit Aufgaben zu den logischen Operationen gefördert wurden. Die Ergebnisse<br />

der Studie machten also deutlich, dass Kinder beim Training der Zählfertigkeiten implizit<br />

die logischen Operationen mittrainiert wurden.<br />

Auch Moser Opitz (2002, 62) stellte fest, dass „das operative Zahlverständnis nach Piaget nicht<br />

Voraussetzung ist für mathematisches Lernen, sondern in der Auseinandersetzung mit dem<br />

mathematischen Gegenstand erworben wird“. Entsprechend ist ein spezielles Training in logischen<br />

Operationen eher unnötig, während ein gut strukturiertes Training von Zählkompetenzen<br />

nicht nur die Entwicklung dieser Fähigkeiten fördert, sondern auch die Grundlage für den Erwerb<br />

eines umfassenden Zahlbegriffs bildet (Grüßing & Peter-Koop 2007).<br />

2.2 Bezug zum Orientierungsplan für die baden-württembergischen<br />

Kindergärten<br />

Auch das bildungspolitische Interesse am Kindergarten als erste Stufe im Bildungsprozess ist in<br />

den letzten Jahren deutlich gestiegen. Nachdem einige internationale Studien Deutschland<br />

bescheinigt haben, dass sozial schwache Kinder auch die schlechtesten Bildungschancen in<br />

unserem Schulsystem haben, wurde dem Kindergarten als Bildungseinrichtung nun auch in<br />

Deutschland mehr Bedeutung geschenkt. Gerade benachteiligten Kindern sollten dadurch bessere<br />

Startchancen beim Übergang in die Grundschule und somit eine positivere Bildungsbiographie<br />

ermöglicht werden. Im Zuge dieser Entwicklung wurden in verschiedenen Bundesländern<br />

„Lehrpläne“ für den Kindergartenbereich entwickelt, so auch in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>, wo<br />

der „Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten“<br />

im Jahre 2006 erschienen ist. In diesem Orientierungsplan finden sich auch einige Aussagen<br />

zur mathematischen Bildung im Entwicklungsfeld „Denken“, wie z. B.<br />

„Kinder<br />

• erkennen Muster, Regeln und Symbole, um die Welt zu erfassen<br />

• entwickeln Mengenvorstellung und erkennen Ziffern<br />

• erstellen Pläne (.... Bauplan und Wegskizze)“<br />

177


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Im Weiteren werden Fragen als Denkanstöße gegeben, wie z. B.<br />

• „Welche Materialien stehen den Kindern zur Verfügung, um Ordnungen und Kategorien<br />

zu finden?<br />

• Wie werden sie den Kindern zu diesem Zweck nahe gebracht?“<br />

Nun liegt es im Ermessen der einzelnen Einrichtungen, auf welche Art und Weise sie Kindern<br />

Angebote zur mathematischen Bildung machen. Dabei wird nicht nur die Auswahl, sondern<br />

auch die Durchführung der einzelnen Angebote sowohl von der Sichtweise der Erzieherinnen<br />

von Mathematik bzw. mathematischem Lernen als auch von ihrem Wissen über mathematisches<br />

Denken von Vorschulkindern beeinflusst werden. Diese beiden Aspekte standen bislang<br />

selten im Zentrum mathematikdidaktischer Forschung.<br />

2.3 Fragestellung<br />

Das Forschungsvorhaben verfolgt mehrere Zielsetzungen:<br />

Es soll untersucht werden, wie die Kinder mit den ihnen gestellten Aufgaben zu den verschiedenen<br />

mathematischen Fähigkeiten umgehen. Teilaspekte dabei sind:<br />

• Wie verdeutlichen die Kinder ihre Denkwege am Material?<br />

• Inwiefern können die Kinder ihre Denkwege sprachlich erläutern?<br />

• Wie verändert sich die Qualität ihrer Handlungen und Äußerungen?<br />

Die Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten im Zeitraum zwischen 3 und 4 Jahren sollen<br />

dokumentiert werden. Dabei ist besonders die Fragestellung interessant ob es kontinuierliche<br />

Entwicklungslinien gibt oder diskontinuierliche Verläufe zu beobachten sind.<br />

Auch der Einfluss der sprachlichen Fähigkeiten, vor allem im Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund,<br />

für die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten steht im Interesse des Forschungsprojekts.<br />

2.4 Konzeption des Leitfadeninterviews<br />

Bei dem vorliegenden Interview handelt es sich um ein halbstandardisiertes Leitfadeninterview,<br />

das im Rahmen des Projekts entwickelt wurde. Die Methode des Leitfadeninterviews ist eine<br />

geeignete Form, um mehr über das kindliche Wissen zu erfahren und einen Zugang zum kindlichen<br />

Wissen zu erlagen. Dabei bietet der Leitfaden eine Orientierung und ermöglicht die Vergleichbarkeit<br />

der Daten. Aber durch die Offenheit der Fragen wird auch individuelles Vorgehen<br />

ermöglicht.<br />

Außerdem wurden bei der Konzeption des Interviews Aspekte der revidierten klinischen Methode<br />

nach Piaget berücksichtigt, da es neben der Feststellung der mathematischen Fähigkeiten in<br />

diesem Alter auch darum ging, mehr über das mathematische Denken der Kinder zu erfahren.<br />

Piagets Anliegen war es mit dem klinischen Interview eine Methode zu finden, die eine Alterna-<br />

178


Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

tive bietet zur freien Beobachtung und zu standardisierten Tests. Vorteil dieser Methode, die<br />

ursprünglich aus der Psychiatrie stammt, ist es, dass sie zum einen Vergleichbarkeit bietet<br />

durch die im Leitfaden festgelegten Fragen, aber auch Freiheiten lässt, um auf die Patienten<br />

bzw. die Kinder einzugehen. Dabei muss der Interviewer zu Beginn in das zu bearbeitende<br />

Problem oder die Aufgabe einführen und anschließend immer wieder Hypothesen über die Gedanken<br />

der Kinder bilden um in flexibler Weise Fragen zu stellen, die sich auf Fragen und<br />

Handlungen beziehen. Hauptintention dabei ist es nicht möglichst schnell zur richtigen Lösung<br />

zu kommen, sondern herauszufinden, wie die Kinder denken. Außerdem ist es wichtig, dass der<br />

Interviewer sich mit Bewertungen zurückhält, um das Kind nicht in irgendeiner Weise zu beeinflussen.<br />

Das Anliegen des Projekts ist es Vorgehensweisen, Strategien, Erklärungen und<br />

Denkmuster der Kinder festzustellen aber auch, ob die Kinder Aufgaben lösen können oder<br />

nicht. In diesem Zusammenhang sei auf Selter/ Spiegel (2001) verwiesen, die die klinische Methode<br />

von Piaget für die mathematikdidaktische Forschung im Grundschulbereich modifiziert<br />

haben. Diese revidierte klinische Methode und deren Grundsätze, wie „Annahme von Rationalität“<br />

oder auch „Zielgerichtete Flexibilität“ kann in Ansätzen auch bei Interviews mit Kindern im<br />

Kindergartenalter berücksichtigt werden.<br />

Für das in der Studie eingesetzte Leitfrageninterview wurden auf der Basis aktueller fachdidaktischer<br />

und entwicklungspsychologischer Literatur relevante pränummerische und nummerische<br />

Fähigkeiten identifiziert und diese in kontext- und materialgebundene Aufgabenformate in Form<br />

von Bausteinen zusammengefasst. Die Auswahl der Items erfolgte aus verschiedenen Tests,<br />

Studien und Modellen zur Zahlbegriffsentwicklung und Vorläuferfähigkeiten, wie z. B. Osnabrücker<br />

Test zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ), Early Numeracy Research Project (ENRP), Neuropsychologische<br />

Testbatterie für Zahlverarbeitung und Rechnen bei Kindern (ZAREKI-K),<br />

Früherfassung von Lernstörungen im Mathematikunterricht, Triple – Code – Modell der Zahlenverarbeitung,<br />

Identifikation von mathematischen Vorläuferfähigkeiten, Children´s counting and<br />

concepts of number und Training Effects on the Development and Generalization of Piagetian<br />

Logical Operations and Knowledge of number.<br />

Beim Interview mit Kleinkindern gibt es einige methodische Besonderheiten und Schwierigkeiten<br />

zu beachten. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden und entsprechende Maßnahmen<br />

beschrieben werden, die bei der Konzeption des Interviews berücksichtigt wurden:<br />

2.4.1 Sprachlicher, kognitiver und emotionaler Entwicklungsstand der<br />

Kinder<br />

Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Kinder in diesem Alter ist noch nicht so ausgeprägt, so<br />

dass es den Kindern kaum möglich ist alle Fragen auf rein sprachlicher Basis zu beantworten.<br />

Auch ist es für die Kinder schwer sich rein kognitiv mit Aufgaben auseinanderzusetzen, zu denen<br />

sie auch kaum einen emotionalen Bezug haben. Daher wurden im Vorfeld einige Maßnahmen<br />

ergriffen, um dem Entwicklungsstand der Kinder im Alter von 3-4 Jahren gerecht zu werden.<br />

179


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Dafür war es wichtig eine kindgerechte Gestaltung des Untersuchungsmaterials, der Untersuchungsbedingungen<br />

und der Anforderungen zu konzipieren und dies in einen kindgerechten<br />

Kontext einzubetten. Zum einen wurden die Aufgaben in Geschichten „verpackt“. Dazu wurden<br />

die Bilderbücher von Annette Langen & Constanza Droop rund um den Hasen Felix genutzt. In<br />

den Büchern geht es um eine Familie mit drei Kindern und den Stoffhasen Felix, der die Welt<br />

erkundet und immer wieder viele Abenteuer bestehen muss. Außerdem schreibt Felix auch<br />

immer wieder Briefe an Sophie, ein Kind der Familie, damit sie sich keine Sorgen macht und sie<br />

immer weiß wo er sich gerade aufhält. Diese Bücher waren den Kindern bereits bekannt und in<br />

der Hospitationsphase wurden einige Bücher den Kindern auch noch mal vorgelesen. Außerdem<br />

wurde beim Interview auch ein ca. 80 cm großer Stoffhase eingesetzt. Neben dem emotionalen<br />

Bezug der Kinder zu dem Stoffhasen und die Vertrautheit der Figur, war es so auch möglich,<br />

den Kindern durch diesen Rückfragen zu stellen. Wären diese vom Interviewer gestellt<br />

worden, wären sie von den Kindern evtl. nicht so ernst genommen worden bzw. sie hätten sie<br />

verunsichert, weil eine erwachsene Person diese Nachfragen stellt und die Kinder dadurch beeinflusst<br />

werden könnten. Durch das Medium des Stoffhasen war es auch möglich auf andere<br />

Art und Weise mit den Kindern zu agieren und auch Fehler zu begehen. Hätte der Interviewer<br />

so gehandelt, wäre es den Kindern komisch vorgekommen. Bereits Petillion (1987) hat den<br />

positiven Einfluss des Einsatzes von Handpuppen bei Interviews mit ausländischen Grundschülern<br />

beschrieben.<br />

Zum anderen standen den Kindern bei jeder Aufgabe eine Reihe von Materialien (wie z. B.<br />

Muggelsteine, Würfel, Rechenbärchen usw.) zur Verfügung, an denen sie ihr Vorgehen zeigen<br />

konnten und mit deren Hilfe sie durch ihre Handlungen leichter und verständlicher Sachverhalte<br />

schildern und erklären konnten.<br />

2.4.2 Einzelinterview außerhalb der vertrauten Kindergartengruppe<br />

Als die Kinder im Alter von 3 ½ Jahren zum ersten Mal interviewt wurden, waren sie erst kurze<br />

Zeit im Kindergarten und hatten sich zum Großteil gerade erst in ihren Kindergartengruppen<br />

eingelebt. Die Schwierigkeit bestand nun darin, zu den Kindern ein gewisses Vertrauensverhältnis<br />

aufzubauen, so dass sie gerne und ohne Angst ihre gewohnte Umgebung für die Zeit<br />

des Interviews verließen und mit einer neuen, für sie fremden Person alleine in einen anderen<br />

Raum gingen. Aus diesem Grund wurden die Interviews auch alle von einer Person geführt, so<br />

dass sich die Kinder nicht immer an neue Interviewer gewöhnen mussten. Damit die Kinder die<br />

Interviewerin kennen lernen konnten, wurden einige Stunden der Hospitation mit der Kindergartenleitung<br />

vereinbart in denen sie am Kindergartenalltag teilnehmen konnte. So war es zum<br />

einen möglich die Kinder näher kennen zu lernen und zum anderen konnten auch die Kinder die<br />

für sie fremde Person kennen lernen. Außerdem wurden den Kindern in dieser Hospitationsphase<br />

auch schon mehrere „Felix“ Bücher vorgelesen und auch der große Stoffhase war bereits<br />

mit dabei.<br />

180


2.4.3 Einsatz einer Videokamera<br />

Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Ein weiteres Problem stellte der Einsatz von Videokameras beim Interview dar. Die Kamera war<br />

zwar sehr klein, musste aber aus Ton- und Bildqualitätsgründen gegenüber von den Kindern<br />

platziert werden und war somit ständig im Blickfeld der Kinder. Die meisten Kinder kannten aber<br />

bereits eine solche Kamera aus dem privaten Umfeld, so dass sie eher interessiert als verängstigt<br />

waren. Zu Beginn des Interviews durften die Kinder außerdem durch die Kamera schauen<br />

und sogar einmal selbst filmen. So verloren sie auch die letzte Scheu vor dieser ungewohnten<br />

Situation.<br />

2.4.4 Geringe Konzentrationsspanne der Kinder in diesem Alter<br />

Kinder in diesem Alter weisen eine entsprechend kürzere Konzentrationsspanne als Erwachsene<br />

auf. Das Interview musste aber sehr umfassend konzipiert werden, denn es sollten ja möglichst<br />

viele mathematische Fähigkeiten darin abgebildet werden. Da dies große Anforderungen<br />

an die Konzentrationsfähigkeit der Kinder stellte, wurden einige methodische Maßnahmen ergriffen,<br />

um die Konzentration und Aufmerksamkeit der Kinder so lange wie möglich aufrecht zu<br />

erhalten. Dazu gehörte der Einsatz von Material mit denen die Kinder spielen und handeln<br />

konnten, aber auch der Einsatz von spielerischen Elementen, wie z. B. ein Würfelspiel, bei dem<br />

es auch etwas zu gewinnen gab. Ein ganz wesentliches Element dabei war, dass die einzelnen<br />

Fähigkeiten in verschiedene „Bausteine“ gepackt und diese je in einem anderen Kontext eingebunden<br />

wurden und so sieben „Episoden“ entstanden. Dies hatte zwei Vorteile: zum einen<br />

konnten die Bausteine in den sechs Interviews immer wieder neu arrangiert und in einer anderen<br />

Reihenfolge dargeboten werden. Und zum anderen erzeugte der Kontextwechsel bei den<br />

Kindern immer wieder Spannung und Neugier, so dass ihre Aufmerksamkeit über weite Strecken<br />

erhalten werden konnte. Folgende Kontexte wurden in den einzelnen Bausteinen gewählt:<br />

E Einstieg<br />

Hier wurden die Kinder gefragt wie alt sie sind und gebeten ihr Alter mit den Fingern auf unterschiedliche<br />

Weise zu zeigen. Außerdem wurden sie gefragt ob und wie weit sie zählen können.<br />

Anschließend ging es darum, ob die Kinder von einer Startzahl aus weiter bzw. rückwärts zählen<br />

können.<br />

B 1 Hasenrennen<br />

Bei einem Wettrennen sollen die Kinder mit Ihrer Figur über ein Spielfeld bis ins Ziel fahren.<br />

Gewürfelt wird dabei mit einem Augenwürfel. Auf den Sieger wartet im Ziel eine Siegprämie in<br />

Form von Gummibären. Den Kindern werden zwei Teller mit einer unterschiedlichen Anzahl von<br />

Gummibären gezeigt, von denen sie die größere Menge (im Falle eines Sieges) auswählen<br />

sollen.<br />

B2 Post von Felix/ Autorennen<br />

Die Ziffernkenntnis und das Ordnen der Zahlen erfolg in zwei Kontexten: zum einen erhalten die<br />

Kinder einen Brief von Felix, in dem sich Ziffernkärtchen befinden, die sie benennen und sortieren<br />

sollen. Und zum anderen bekommen sie Rennautos, auf deren Motorhaube sich die Ziffern<br />

181


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

befinden. Auch hier besteht die Aufgabe darin die Ziffern zu benennen und in einer richtigen<br />

Reihe aufzustellen.<br />

B3 Am Strand<br />

Hier erhalten die Kinder den Koffer von Felix, in dem sich sehr viele unterschiedliche Gegenstände<br />

befinden, die er auf seiner Reise gefunden hat. Die Kinder werden aufgefordert, die Gegenstände<br />

zu benennen, sie zu sortieren und weitere Aufgaben zur Invarianz und den Operationen<br />

durchzuführen.<br />

B4 Stäbe und Stifte<br />

Bei dieser Aufgabe bekommen die Kinder zum einen unterschiedlich lange Buntstifte von Felix<br />

vorgelegt und zum anderen unterschiedlich lange farbige Stäbe mit denen er gerne baut. In<br />

beiden Situationen geht es darum, die Stifte in eine auf- oder absteigende Reihe zu sortieren,<br />

Gegenstände einzusortieren, die Farben zu benennen und den Rangplatz der Stifte in der Reihe<br />

zu ermitteln.<br />

B5 Gläser und Schachteln<br />

Zum einen geht es darum, dass Felix und Sophie Marmelade kochen wollen und die benötigten<br />

Deckel zunächst der Größe nach sortiert werden müssen. Anschließend werden die passenden<br />

Gläser gesucht und den Deckeln zugeordnet. Und zum anderen geht es um Geschenkschachteln,<br />

in die Felix Geschenke verpacken will. Die Deckel werden wiederum zunächst der Größe<br />

nach sortiert und dann den passenden Schachteln zugeordnet.<br />

B6 Liege und Schaukel<br />

In der Situation muss sich der kleine Felix nach einer anstrengenden Reise etwas ausruhen und<br />

legt sich in einen Liegestuhl bzw. in eine Schaukel. Die Aufgabe der Kinder besteht nun zunächst<br />

darin, den Hasen auf Anweisung an bestimmte Positionen (z. B. unter oder in die Schaukel)<br />

zu legen und anschließend die Position des Hasen zu benennen.<br />

B7 Marienkäfer<br />

Der Interviewer erzählt den Kindern in diesem Baustein, dass Felix auf einer Insel war, auf der<br />

es viele kleinen Käferchen gab. Die Kinder sollen den vorgelegten Marienkäfer (mit drei Punkten)<br />

zunächst benennen und beschreiben. Anschließend werden den Kindern weitere acht Marienkäfer<br />

kurz gezeigt und sie sollen schnell die Anzahl der Punkte auf dem Rücken erkennen<br />

und benennen. Zum Abschluss des Bausteins geht es noch darum, dass die Kinder sich zwischen<br />

zwei vorgelegten Marienkäfern für den entscheiden, der mehr Punkte auf dem Rücken<br />

hat.<br />

182


2.5 Verlauf der Studie<br />

2.5.1 Durchführung der Pilotstudie<br />

Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Um die Relevanz und Dauer des konzipierten Leitfadeninterviews zu überprüfen, wurde im September<br />

2006 eine Pilotstudie mit je 4 Kindern im Alter von 3 ½, 4 und 4 ½ Jahren durchgeführt.<br />

Diese wurde im Rahmen der Erstellung von Wissenschaftlichen Hausarbeiten an der Pädagogischen<br />

Hochschule in Heidelberg von Studierenden des Lehramts Grund- und Hauptschule<br />

durchgeführt. Dabei standen folgende Fragestellungen im Fokus der Arbeiten:<br />

Wie lange dauert das Interview?<br />

Die Pilotstudie hat gezeigt, dass die Interviewdauer im Durchschnitt 25-30 min beträgt. Das ist<br />

für die Kinder dieses Alters ein angemessener Zeitrahmen.<br />

Bleibt die Konzentration der Kinder erhalten?<br />

Die meisten Kinder waren während der gesamten Dauer des Interviews bei fast allen Bausteinen<br />

sehr konzentriert und ausdauernd. Lediglich der Baustein 3 (Am Strand) war etwas zu lang,<br />

daher wurde er etwas gekürzt.<br />

Sind die Kinder motiviert?<br />

Die Motivation der Kinder sich mit den einzelnen Aufgaben zu beschäftigen war sehr hoch. Oft<br />

baten sie darum die Spiele nach Beendigung des Interviews noch einmal spielen zu dürfen.<br />

Zeigen sie Interesse und Neugier?<br />

Alle Kinder zeigten in den Interviews der Pilotstudie großes Interesse und Neugier. Bereitwillig<br />

hörten sie den Geschichten rund um Felix zu und waren stolz, wenn sie ihm und der Interviewerin<br />

ihr Wissen kundtun konnten.<br />

Sind die Aufgabenstellungen alters- und kindgerecht?<br />

Alle Kinder der Pilotstudie wussten, was sie bei den entsprechenden Aufgabenstellungen tun<br />

sollten. Sie verstanden sowohl den Kontext als auch die Fragen und konnten entsprechend<br />

darauf antworten.<br />

Welche Qualität und Quantität haben die Antworten der Kinder?<br />

Die Qualität der Kinderantworten war sehr aussagekräftig und oftmals überraschend. In vielen<br />

Situationen zeigten die Kinder interessante und unerwartete Vorgehensweisen. Die Quantität<br />

der Aussagen war sehr individuell. Einige Kinder waren eher zurückhaltend, andere sehr mitteilungsfreudig.<br />

183


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Ist das Material ansprechend und auf dem Video sichtbar?<br />

Das Material war insgesamt sehr ansprechend und eröffnete den Kindern vielfältige Handlungsmöglichkeiten.<br />

Sie nutzten das angebotene Material gerne und häufig. Probleme zeigten<br />

sich bei der Sichtbarkeit einiger Materialien auf dem Video. Dies betraf hauptsächlich die Marienkäfern<br />

und den Würfel. Daher wurde bei den Marienkäfern eine feste Reihenfolge festgelegt<br />

und ein größerer Spielwürfel verwendet, dessen Würfelaugen zusätzlich mit schwarzem Edding<br />

verstärkt wurden.<br />

Sind die Kontexte kindgemäß und verständlich?<br />

Die Kontexte waren an die Geschichten rund um den Hasen Felix angelehnt und waren den<br />

Kindern aus dem Kindergartenalltag sowie aus der Hospitationsphase bekannt, daher waren sie<br />

den Kindern vertraut und verständlich. Auch empfanden die Kinder die Spielsituationen nicht<br />

gekünstelt, sondern konnten die Situationen nachvollziehen.<br />

Sind Entwicklungsverläufe erkennbar?<br />

Die Pilotstudie war als Querschnittstudie angelegt. Es wurden Kinder im Alter von 3 ½, 4 und 4<br />

½ Jahren befragt. Somit konnte man bei den unterschiedlichen Alterstufen sehr gut erkennen,<br />

dass Unterschiede in der Entwicklung der Fähigkeiten bei den Kindern bestanden.<br />

Ist die Sprache auf dem Video deutlich?<br />

Ein zusätzliches Richtmikrophon und das Durchführen des Interviews in einem separaten Raum<br />

gewährleisteten, dass die Qualität der Tonaufnahmen so war, dass sie im Anschluss gut transkribiert<br />

werden konnten.<br />

2.5.2 Durchführung der Hauptstudie<br />

Das Interview wurde in zwei Kindergärten im Raum Heidelberg mit insgesamt 25 Kindern<br />

durchgeführt. Die Kinder waren zu Beginn der Studie ca. 3 ½ bis 4 Jahre alt.<br />

Da das Interview über die Dauer von einem Jahr sechsmal mit den Kindern durchgeführt wurde,<br />

wurde zum einen das Material zum Teil variiert, so dass der Wiedererkennungseffekt bei den<br />

Kindern nicht zu hoch ist. Und zum anderen wurden die Bausteine in jedem Interview neu angeordnet<br />

und somit immer in einer anderen Reihenfolge dargeboten. Das hat den Vorteil, dass<br />

nicht immer die gleiche Aufgabe z. B. am Ende des Interviews behandelt wird, wo die Kinder<br />

evtl. Konzentrationsprobleme haben könnten. Folgende Übersicht zeigt die Reihenfolge der<br />

sieben Bausteine in den sechs Interviews. Um den Kindern eine gewisse Sicherheit zu geben,<br />

wurde immer mit der Einleitung (E) begonnen.<br />

184


2.6 Ergebnisdarstellung<br />

Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Die Datenauswertung wurde auf zweierlei Arten vorgenommen. Zum einen wurden einige weni-<br />

ge Kinder für die Fallstudien (Hinweis: im Folgenden wird der Begriff Fallstudien durch Kinderportraits<br />

ersetzt) ausgewählt, um ihre Entwicklung differenziert und ausführlich beschreiben zu<br />

können und zum anderen wurden einige Fähigkeiten bei einer größeren Anzahl Kinder qualitativ<br />

ausgewertet. Am Anfang der Studie beteiligten sich 25 Kinder an der Studie, durch Wegzug,<br />

Krankheit und Tod eines Kindes verblieben dann noch 20 Kinder für die Auswertung. Der Anteil<br />

der Jungen und der Mädchen war dabei gleich hoch.<br />

2.6.1 Die Kinderportraits<br />

Für die Kinderportraits wurden von den 20 Kindern insgesamt vier Kinder ausgewählt, zwei<br />

Jungen und zwei Mädchen. Bei der Fallbeschreibung wurden alle sechs Interviews, die über<br />

den Zeitraum von einem Jahr geführt wurden, mit einbezogen. Bei den Kindern handelt es sich<br />

um leistungsstarke Kinder ohne Migrationshintergrund, weil bei der Einzelfallbeschreibung vor<br />

allem die hohen Kompetenzen der Kinder im Alter von 3-4 Jahren im Mittelpunkt stehen sollten.<br />

Die Kinderportraits ermöglichen eine sehr differenzierte Sicht auf die Fähigkeiten der Kinder in<br />

diesem Alter. Es zeigt sich bei den ausgewählten Kindern eine sehr hohe Kompetenz in vielen<br />

Bereichen. Besonders deutlich wird das in den Bereichen des Zählens, der Simultanerfassung<br />

und bei den Operationen. Gerade hier lässt sich auch sehr viel erfahren über die Denkwege der<br />

einzelnen Kinder, die auf den ersten Blick nicht immer zu erkennen sind und eine genauere<br />

Betrachtung und Analyse erfordern. Dabei hat es sich als vorteilhaft erwiesen die Kinder nicht<br />

nur zu beobachten, sondern auch das Medium der Videoaufnahme als Möglichkeit der Entwicklungsdokumentation<br />

mit einzubeziehen. Denn viele Aussagen der Kinder konnten erst nach<br />

Sichtung der Videos und das Übersetzen der Filme in Transkripte verstanden und interpretiert<br />

werden. In der direkten Interviewsituation sind solche Analysen kaum möglich.<br />

Bei den vier ausgewählten Kindern für die Fallstudien konnte eine große Entwicklung innerhalb<br />

dieses Jahres beobachtet werden. Die Erfolgsquoten stiegen immer weiter an und auch die<br />

Qualität ihrer sprachlichen Äußerungen und Argumentationen verbesserte sich deutlich. Exemplarisch<br />

soll an dieser Stelle die Entwicklung der Fähigkeit „Simultanerfassung“ bei Emilia dokumentiert<br />

werden. Unter Simultanerfassung oder Subitizing versteht man die Fähigkeit, Elementen<br />

einer Menge auf einen Blick zu erfassen. Dies ist ein Wahrnehmungsprozess, bei dem<br />

visuelle Muster, ohne sie zu zählen, simultan erkannt und benennt werden können. Man geht<br />

davon aus, dass Kleinkinder über eine Subitizing-Kapazität von drei Elementen verfügen, Erwachsene<br />

hingegen bis zu vier oder fünf Elemente gleichzeitig wahrnehmen können. Uneinigkeit<br />

herrscht noch darüber, was bei der Simultanerfassung genau vor sich geht. Einige Forscher<br />

gehen davon aus, dass es sich um einen schnellen Aufzählprozess handelt. Der Prozess verläuft<br />

nonverbal und unbewusst durch einen im Gehirn verankerten Zählprozess. Andere Forscher<br />

hingegen gehen von einem reinen Wahrnehmungsprozess aus, der ohne Zählen verläuft.<br />

Im vorliegenden Interview werden in diesem Baustein Marienkäfer verwendet, da sich dieser<br />

Kontext für die Fähigkeit der Simultanerfassung besonders gut eignet. Die Kinder sollen die<br />

185


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Anzahl der Punkte auf dem Rücken der Marienkäfer simultan erfassen sollen. Dazu ist es notwendig,<br />

dass die Marienkäfer nur kurz vor dem Kind verweilen. Dies kann besonders authentisch<br />

durchgeführt werden, da auch die Marienkäfer in der Natur oft schnell wieder weiterfliegen.<br />

Als Marienkäfer wurden Fingerpuppen aus Filz verwendet, die auf den Zeigefinger aufgesteckt<br />

werden, so können realistische Flugsimulationen durchgeführt werden und die Verweildauer der<br />

Marienkäfer kann flexibel gehandhabt werden.<br />

Die Marienkäfer wurden in Anlehnung an die strukturierten Zahlbilder von Wittmann/ Müller<br />

konzipiert. Im kleinen Zahlenbuch Band 2 werden vier unterschiedliche Tiermotive (Schmetterlinge,<br />

Ameisen, Bienen und Marienkäfer) bis zur Zahlzerlegung der Zahl 6 verwendet. Insgesamt<br />

gibt es also 24 Tierkarten. Im Unterschied zu den strukturierten Zahlbildern werden im<br />

vorliegenden Interview nur Mengen bis maximal fünf Elemente verwendet. Folgende Punktbilder<br />

werden im Interview nacheinander dem Kind vorgelegt und in folgender Reihenfolge verwendet:<br />

Probe M 1 M 2 M 3 M 4 M 5 M 6 M 7 M 8<br />

Auszug aus dem Kinderportrait von Emilia<br />

Bereits im ersten und zweiten Interview zeigt Emilia, dass sie Mengen bis 3 simultan erfassen<br />

kann. Im ersten Interview überträgt sie die Darstellung der Punkte von sich aus in die Fingerdarstellung.<br />

Auf die Frage woher sie das weiß, begründet sie es durch ihr Alter:<br />

I: Und jetzt habe ich noch einen. Wie viele Punkte hat der denn? (zeigt kurz M7)<br />

E: (steckt Finger aus) Drei.<br />

I: Oh. Woher weißt du das?<br />

E: Weil so wie ich alt bin! (zeigt drei Finger der rechten Hand)<br />

Bei Mengen größer drei formuliert sie „das habe ich nicht gemerkt“ und zählt bei erneuter Vorlage<br />

die Punkte ab (im ersten Interview) oder errät bzw. schätze die Anzahl (sechs, fünf, vier,<br />

fünf, sieben).<br />

Im dritten Interview erkennt Emilia wiederum die Mengen 3 am Anfang des Interviews in folgender<br />

Darstellung simultan:<br />

186


Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Eine neue Variante zeigt sich allerdings beim Marienkäfer M2 (4 Punkte): sie zählt, obwohl der<br />

Marienkäfer nicht mehr vor ihr liegt, die Punkte aus der Erinnerung leise ab „1,2,3“ und sagt<br />

dann etwas lauter und betonter „4“.<br />

Interessant ist, dass sie in Analogie dazu bei der Menge 3 dieses Mal aus der Erinnerung 1,2,3<br />

„zählt“ und dabei rhythmisch auf den Tisch schlägt. Das könnte daran liegen, dass die Anordnung<br />

der Punkte bei diesen Marienkäfern sehr ähnlich ist wie folgende Darstellung zeigt:<br />

Die Menge 5 erfasst sie nicht simultan, sondern zählt nach erneuter Vorlage die Punkte ab.<br />

Im vierten Interview zeigen sich keine Veränderungen, Emilia erfasst alle Punktmengen bis 3<br />

simultan, darüber hinaus rät sie oder zählt die Punkte ab. Bei der Punktmenge 2 begründet sie<br />

einmal folgendermaßen:<br />

I: (zeigt kurz M1)<br />

E: 2!<br />

I: Woher weißt du das?<br />

E: (lacht) 1,2. (zuckt mit den Schultern)<br />

I: Aha.<br />

E: Habe ich gesehen.<br />

Im fünften Interview zeigen sich keine Veränderungen bezüglich der Fähigkeit Mengen simultan<br />

zu erfassen. Nach wie vor erfasst Emilia Mengen bis 3 simultan. Darüber hinaus zählt sie die<br />

Punkte, meist aus der Erinnerung. Interessant dabei ist die Begründung beim zweiten Marienkäfer.<br />

Hier gibt sie nicht nur die Anzahl der Punkte aus der Erinnerung wieder, sondern beschreibt<br />

genau die Anordnung in „3+1“.<br />

I: Wie viele Punkte hat der denn? (zeigt kurz M2)<br />

E: (hat Kopf auf Hände gestützt) 1,2,3,4! (richtet sich bei letzter Zahl auf und ruft laut)<br />

I: Woher weißt du, dass das 4 sind?<br />

E: Weil ich da drei gesehen habe (zeigt mit Finger in die Luft) und noch einen dazu (zeigt<br />

mit Finger ein Stück weiter rechts). Und dann habe ich gezählt (flüstert und tippt bei jeder<br />

Zahl in die Luft) 1,2,3...4<br />

I: Mhm.<br />

187


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

E: Und dann wusste ich wie viele das sind.<br />

Im letzten Interview bleibt die Fähigkeit der Simultanerfassung konstant. Emilia erkennt die<br />

Mengen bis 3 immer simultan und bei Mengen >3 zählt sie.<br />

Zunehmend differenziert und interessant werden ihre Begründungen, denn sie kann jetzt genau<br />

unterscheiden und auch begründen, wann sie etwas „gesehen“ hat und wann sie „im Kopf“ zählt<br />

wie folgende Zitate belegen:<br />

I: Und wie viele Punkte hat der denn drauf? (zeigt kurz Probe)<br />

3. (lacht)<br />

I: Woher weißt du das?<br />

Das habe ich gesehen.<br />

I: So schnell?<br />

(nickt zustimmend)<br />

I: Aha. Ok. Und der nächste, wie viele Punkte hat der? (zeigt M2)<br />

E: Äh.<br />

I: (zieht M2 weg)<br />

E: (6s)<br />

I: Mhm.<br />

E: Ich überlege. (legt Kopf auf den Tisch) (8s) 4!<br />

I: Echt?<br />

E: (nickt bejahend)<br />

I: Und woher weißt du das?<br />

E: Habe ich so - (hält Finger an den Mund, verzieht Gesicht zur Denkermiene) – gedacht.<br />

I: Und was hast du gedacht?<br />

E: Dass das 4 sind.<br />

I: Aha. Und du hast jetzt irgendwas zusammen gerechnet, glaube ich. Was hast du denn zusammen<br />

gerechnet?<br />

E: (lacht) 1 und 3.<br />

I: Warum denn 1 und 3?<br />

E: Weil da – das 4 sind.<br />

I: Und wie viele Punkte hat der? (zeigt kurz M3)<br />

188


E: 1.<br />

I: (lacht)<br />

E: 1 ist einfach.<br />

I: 1 ist einfach? Warum?<br />

Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

E: Ich kann das aber so sehen, wenn man das nur so schnell macht.<br />

I: Wie viele Punkte hat der denn? (zeigt M4)<br />

E: 1,2,3…<br />

I: (zieht M4 weg)<br />

E: …3 (lächelt) 5!<br />

I: 5?<br />

E: (nickt zustimmend)<br />

I: Und woher weißt du das?<br />

E: Habe ich gezählt.<br />

I: Gezählt?<br />

E: (nickt zustimmend)<br />

2.6.2 Die qualitative Auswertung der 20 Kinder<br />

Für diese Auswertung wurden die 20 Kinder in vier Gruppen aufgeteilt: zunächst in die Gruppe<br />

der Jungen und Mädchen, anschließend wurde eine weitere Unterteilung bzgl. des Migrationshintergrundes<br />

vorgenommen.<br />

Für die Analyse wurden insgesamt drei Interviews von jedem Kind ausgewählt: das erste Interview<br />

(A), ein mittleres Interview (B) und das letzte Interview (C). Hierdurch soll es möglich sein<br />

Entwicklungen in den einzelnen Kindergruppen zu dokumentieren. Da eine Analyse aller Teilbereiche<br />

des Interviews bei dieser Auswertung zu umfangreich wäre, wurden einige Fähigkeiten<br />

ausgewählt. Diese umfassen neben den zahlbezogenen number skills auch die logischformalen<br />

Operationen. Insgesamt wurden 20 Fähigkeiten ausgewählt. Neben den Zählfähigkeiten<br />

(vorwärtszählen, weiterzählen, abzählen) wurden auch Ziffernkenntnis, Simultanerfassung,<br />

Division und die klassischen Aufgaben von Piaget, wie Invarianz, Seriation, Klassifikation und<br />

1zu1-Zuordnung ausgewählt.<br />

Für diese Auswertung wurde die Software MAX QDA verwendet, die es erlaubt eine große Datenmenge<br />

in Form von Interviews qualitativ auszuwerten. Dazu ist zunächst notwenig alle Interviews<br />

zu transkribieren und als rtf-Dateien zu speichern, diese werden dann in MAX QDA eingelesen<br />

und können dann verwendet werden. Danach muss ein so genannter Codebaum erzeugt<br />

werden. Dieser beinhaltet neben der mathematischen Fähigkeit (z. B. zählen) weitere<br />

Kategorien (z. B. zählt bis 10 oder zählt bis 20), in die die Aussagen der Kinder „einsortiert“<br />

189


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

werden können. Die Kategorien wurden auf der Basis des Videomaterials und auf der Grundlage<br />

der Literatur ausgewählt und hierarchisch angeordnet. Die Ergebnisse zeigen, dass sich alle<br />

Fähigkeiten der Kinder im Laufe dieses Jahres weiterentwickelt haben. In allen Bereichen konnten<br />

mehr oder weniger stark ausgeprägte kontinuierliche Entwicklungsverläufe beobachtet werden.<br />

Einbrüche bzw. diskontinuierliche Entwicklungsverläufe gab es jedoch kaum. Deutliche<br />

Unterschiede gab es zwischen den number skills-Aufgaben und den klassischen Aufgaben von<br />

Piaget. Bei den Aufgaben von Piaget waren die Leistungen der Kinder besonders im Bereich<br />

der Seriation aber auch der Invarianz sehr schwach und diese entwickelten sich auch weniger<br />

deutlich als die anderen Fähigkeiten. Im Unterschied dazu schnitten die Kinder bei den number<br />

skills-Aufgaben, wie z. B. dem Zählen, der Simultanerfassung und der Division wesentlich besser<br />

ab und es konnte auch eine deutlichere Entwicklungssteigerung dokumentiert werden. Es<br />

scheint also so zu sein, dass die von Piaget definierten Fähigkeiten, die seiner Meinung nach<br />

Grundlage zum Erwerb des Zahlbegriffs sind, nicht unbedingt nötig sind um mathematische<br />

Aufgaben zu lösen bzw. mathematisch aktiv zu sein. Ein weiteres Ergebnis dieser Auswertung<br />

ist, dass die Leistungen der Kinder mit Migrationshintergrund fast in jedem Bereich hinter denen<br />

der deutschen Kinder liegen. Zwar findet auch hier eine Entwicklung statt, aber auf einem wesentlich<br />

niedrigeren Niveau. Das hat natürlich Konsequenzen für die Startchancen der Kinder in<br />

der Grundschule. Dieses Phänomen hat Brügelmann (2004) als „Karawaneneffekt“ bezeichnet.<br />

Denn für die Kinder, die sich am Ende (der Karawane) befinden, wird es schwer werden, diese<br />

zu überholen und an die Spitze zu kommen. In seiner Studie ging es zwar um Schulkinder, aber<br />

auch in dieser Studie mit den Kindergartenkindern ist diese Tatsache bereits erkennbar. Als<br />

Konsequenz daraus sollten gerade diese Kinder verstärkt im Kindergarten mathematisch gefördert<br />

werden und auch die Eltern miteinbezogen werden. Denn Eltern sollten schon so früh wie<br />

möglich damit beginnen, ihren Kindern mathematische Erfahrungen zu ermöglichen und Lernchancen<br />

zu bieten, wie z. B. in Form von gemeinsamen Würfelspielen oder auch Zählversen<br />

und -liedern.<br />

Exemplarisch soll auch hier die Entwicklung der Simultanerfassung aller Kinder in einem Jahr<br />

dargestellt werden. Wenn die Kinder die Anzahl nicht simultan erfassen konnten, wurde Ihnen<br />

der Marienkäfer länger vorgelegt und sie hatten dadurch die Möglichkeit die Mengen abzuzählen.<br />

Diese Aktivität wurde dann mit „zählt ab“ kodiert.<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

190<br />

Simultanerfassung Menge 1 alle Kinder zu den drei Zeitpunkten<br />

1 2 3<br />

Simultan_1 keine/falsche Antwort<br />

Simultan_1 zählt ab<br />

Simultan_1 erfasst simultan<br />

Bei der Simultanerfassung<br />

von einem Element ist zu<br />

erkennen, dass diese Fähigkeit<br />

stark zunimmt, das Abzählen<br />

der Mengen nimmt<br />

dagegen stark ab. Die falschen<br />

Antworten gehen bereits<br />

im mittleren Interview auf<br />

0 zurück.


20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Ein ähnliches Bild zeigt sich<br />

bei der Simultanerfassung<br />

der Menge 2. Auch hier<br />

steigt diese Fähigkeit an,<br />

das Abzählen geht zurück<br />

und die falschen Antworten<br />

gehen im letzten Interview<br />

bis auf 0 zurück.<br />

Simultanerfassung Menge 3 alle Kinder zu allen Zeitpunkten<br />

1 2 3<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Simultanerfassung Menge 2 alle Kinder zu allen Zeitpunkten<br />

1 2 3<br />

Simultan_3 keine/falsche Antwort<br />

Simultan_3 zählt ab<br />

Simultan_3 erfasst simultan<br />

Simultan_2 keine/flasche Antwort<br />

Simultan_2 zählt ab<br />

Simultan_2 erfasst simultan<br />

Weniger stark deutlich ist<br />

die Entwicklung bei der<br />

Menge 3. Hier nimmt die<br />

Fähigkeit zur Simultanerfassung<br />

zwar wiederum im<br />

Laufe des Jahres zu, die<br />

falschen Lösungen gehen<br />

aber nicht auf 0 zurück und<br />

auch die Anzahl der Kinder,<br />

die abzählen, bleibt<br />

fast konstant.<br />

191


20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Simultanerfassung 4 alle Kinder zu allen Zeitpunkten<br />

1 2 3<br />

Diese Entwicklung setzt<br />

sich bei der Menge 5<br />

fort. Hier sind es deutlich<br />

mehr Kinder, die abzählen<br />

als die, die simultan<br />

erfassen. Die Anzahl der<br />

Kinder mit falscher Lösung<br />

nimmt aber auch<br />

hier stark ab.<br />

20<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Simultan_4 keine/falsche Antwort<br />

Simultan_4 zählt ab<br />

Simultan_4 erfasst simultan<br />

Simultanerfassung Menge 5 zu allen Zeitpunkten<br />

1 2 3<br />

Bei der Menge 4 ist es<br />

sogar so, dass etwas<br />

mehr Kinder abzählen<br />

als simultan erfassen.<br />

Die Anzahl der Kinder,<br />

die eine falsche Lösung<br />

nennen, nimmt<br />

aber wiederum im Laufe<br />

des Jahres stark ab.<br />

Deutlich ist bei den Diagrammen zu erkennen, dass die Fähigkeit zur Simultanerfassung im<br />

Laufe dieses Jahres zunimmt und zwar bei allen Mengen von 1-5. Es ist aber auch zu erkennen,<br />

dass es deutliche Unterschiede bei den Mengen gibt. So können 90% der Kinder am Ende<br />

der Studie die Menge 1 erfassen und 80% die Menge 2. Danach ist ein deutlicher Schnitt zu<br />

erkennen, denn nur noch 40% der Kinder erfassen am Ende die Menge 3 simultan, bei der<br />

Menge 4 sind es 35% und bei der Menge 5 nur noch 25%.<br />

Diese Graphiken zeigen, dass sich die Fähigkeit zur Simultanerfassung im Alter zwischen 3 und<br />

4 Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. Weiter bleibt festzuhalten, dass fast alle Kinder dieses<br />

Alters Mengen bis zwei simultan erfassen können, größere Mengen aber nur von der Hälfte<br />

bzw. einem Viertel der Kinder erfasst werden.<br />

192<br />

Simultan_5 keine/falsche Antwort<br />

Simultan_5 zählt ab<br />

Simultan_5 erfasst simultan


Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

3 Auflistung der projektrelevanten Veröffentlichungen, Tagungsbeiträge<br />

und Vorträge<br />

3.1 Veröffentlichungen:<br />

Einig A. (2007): Mathematische Kompetenzen im Kindergarten. In: Perspektiven zur pädagogischen<br />

Professionalisierung (Pädagogische Hochschule Heidelberg) Heft 72. Landau: Empirische<br />

Pädagogik e.V.<br />

Einig, A. (2008): Welches mathematische Wissen haben 3- bis 4- jährige Kindergartenkinder?<br />

Mathematische Kompetenzen im Kindergarten.<br />

In: Grundschulunterricht Mathematik, Mathematischer Anfangsunterricht, 28-30<br />

Einig, A. (2008): Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter - eine Fallstudie zur Entwicklung<br />

des mathematischen Denkens bei 3- bis 4-jährigen Kindern. GDM Budapest, Veröffentlichung<br />

auf cd rom<br />

Einig, A. (2009): „Das sind drei...weil so wie ich alt bin“ - Mathematische Kompetenzen von 3-4<br />

jährigen Kindern – In: N. Flindt & K. Panitz (Hg.): Frühkindliche Bildung – Entwicklung und<br />

Förderung von Kompetenzen. Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften,<br />

5-10<br />

3.2 Vorträge:<br />

Ersten Kooperationstreffen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Universität<br />

Flensburg zum Thema „Naturwissenschaftliche Frühförderung im Kindergarten“ am<br />

22.07.2006 „Entwicklung mathematischer Kompetenzen im Vorschulalter Fallstudien zum<br />

Entwicklungsverlauf bei drei- bis vierjährigen Kindern“<br />

Arbeitskreis Psychologie und Mathematikdidaktik der GDM am 13./ 14. Oktober 2006 in Rauischolzhausen<br />

„Entwicklung mathematischer Kompetenzen im Vorschulalter – Fallstudien<br />

zum Entwicklungsverlauf bei drei- bis vierjährigen Kindern“<br />

Auftaktveranstaltung des <strong>Programm</strong>s „<strong>Bildungsforschung</strong>“ der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong> in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung am<br />

13.02.2007 in Stuttgart „Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter – eine Fallstudie zur<br />

Entwicklung des mathematischen Denkens bei 3- bis 4-jährigen Kindern“<br />

Kolloquium ForMad (Forum Mathematik-Didaktik) am 3.07.2007 an der Otto-Friedrich-<br />

Universität Bamberg „Das sind drei...weil so wie ich alt bin. Mathematische Kompetenzen<br />

von 3-4 jährigen Kindern“<br />

Zweites Kooperationstreffen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Universität<br />

Flensburg zum Thema „Naturwissenschaftliche Frühförderung im Kindergarten“ am<br />

21.02.2008. Titel: „Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter, eine Fallstudie zur Entwicklung<br />

des mathematischen Denkens bei drei- bis vierjährigen Kindern“<br />

Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik vom 13.-18. März 2008 in Budapest.<br />

Vortrag im Rahmen einer selbstmoderierten Sektion zum Thema „Mathematische Begeg-<br />

193


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

nungen im Elementarbereich“. Titel: „Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter, eine<br />

Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens bei drei- bis vierjährigen Kindern“<br />

Symposium der Landesstiftung <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut<br />

für Schulentwicklung am 17.04.2008 in Stuttgart. Titel: „Zahlbegriffsentwicklung im frühen<br />

Kindesalter – eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens bei 3- bis 4jährigen<br />

Kindern“<br />

Nachwuchstreffen der Kommission „Pädagogik der Frühen Kindheit“ (im Rahmen der DGfE) am<br />

23./ 24.10.2008 in Heidelberg. Mit dem Titel „Das sind drei...weil so wie ich alt bin- Mathematische<br />

Kompetenzen von 3-4 jährigen Kindern“<br />

4. Literatur<br />

Aster, M. v. & Lorenz, J.H. (2005) Rechenstörungen bei Kindern – Neurowissenschaft, Psychologie,<br />

Pädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

Beck, C. & Maier, H. (1993): Das Interview in der mathematikdidaktischen Forschung. In: Journal<br />

für Mathematik-Didaktik Jahrgang 14 Heft 2, 147-177.<br />

Brokmann-Nooren, C. et al. (Hg.) (2008): Bildung und Lernen der Drei- bis Achtjährigen. Bad<br />

Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

Brügelmann, H. (2000): Fallstudien in der Pädagogik. Perspektiven und Standards für die Forschung.<br />

Bericht No. 46 Projekt OASE Universität Siegen.<br />

Brügelmann, H. (2005): Der Karawaneneffekt. Eine Zwischenbilanz des Projekts LUST zum<br />

Lesenlernen. In: Neue Sammlung, 45. Jg., H. 1, 49-67.<br />

Caluori, F. (2004): Die numerische Kompetenz von Vorschulkindern- Theoretische Modelle und<br />

empirische Befunde. Hamburg: Dr. Kovac.<br />

Clarke, D. et al. (1999-2001): Early Numeracy Research Projekt (ENRP). Australien Catholic<br />

University & Monash University.<br />

Clements, D.H. (1984): Training Effects on the Development and Generalization of Piagetian<br />

Logical Operations and Knowledge of number. In: Journal of Educational Psychology, Vol.<br />

76, No. 5, 766-776.<br />

Fuhs, B. (2000): Qualitative Interviews mit Kindern – Überlegungen zu einer schwierigen Methode.<br />

In: F. Heinzel (Hg.): Methoden der Kindheitsforschung. Weinheim: Juventa Verlag,<br />

87-105.<br />

Fuson, K. C. (1988): Children´s counting and concepts of number. New York: Springer.<br />

Gelman, R. & Gallistel C. R. (1978): The Child´s Understanding of Number. Cambrigde, MA:<br />

Harvard University Press.<br />

Grüßing, M. & Peter-Koop, A. (Hg.) (2006): Die Entwicklung mathematischen Denkens in Kindergarten<br />

und Grundschule: Beobachten – Fördern – Dokumentieren. Offenburg: Mildenberger.<br />

194


Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter<br />

Eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens<br />

Grüßing, M. & Peter-Koop, A. (Hg.) (2007): EMBI – Elementar mathematisches Basisinterview.<br />

Offenburg: Mildenberger.<br />

Hengartner, E. & Röthlisberger, H. (1995): Rechenfähigkeit von Schulanfängern. In: Brügel-<br />

mann, H., Ballhorn, H. & Füssenich, I. (Hg.): Am Rande der Schrift. Lengwil: Libelle.<br />

Kaufmann, S. (2003): Früherkennung von Rechenstörungen in der Eingangsklasse der Grund-<br />

schule und darauf abgestimmte remediale Maßnahmen. Frankfurt: Peter Lang.<br />

Keller, H. (Hg.) (1989): Handbuch der Kleinkindforschung. Berlin: Springer.<br />

Knappstein, K. & Spiegel, H. (1995): Testaufgaben zur Erhebung arithmetischer Vorkenntnisse<br />

zu Beginn des 1. Schuljahres. IN: G. Müller & E.Ch. Wittmann (Hg.): Mit Kindern rechnen.<br />

Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule.<br />

Krajewski, K. (2003): Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. In: Studienreihe<br />

zur Kindheits- und Jugendforschung. Band 29. Hamburg: Verlag Dr. Krovac.<br />

Kuckartz, U. (2005): Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten. Wiesbaden:<br />

Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Lorenz, J.H. (2003): Überblick über Theorien zur Entstehung und Entwicklung von Rechenschwächen.<br />

In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.) Rechenschwäche – Lernwege,<br />

Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (144-162). Weinheim: Beltz.<br />

Lorenz, H.J. (2005): Mathematische Bildung im Kindergarten- Schwierigkeiten beim Mathematiklernen<br />

vorbeugen. In: Grundschule – Kinder reisen ins Internet. Mathematik am Schulanfang.<br />

Heft 10/Oktober 2005, 31-37.<br />

Lorenz, J.H. (2005): Überschlagen – die Entwicklung von Zahlensinn. Grundschule Mathematik,<br />

4, 4-5.<br />

Lorenz, J.H. (2005): Diagnostik mathematischer Basiskompetenzen im Vorschulalter. In M.<br />

Hasselhorn, H. Marx & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik von Mathematikleistungen (Tests<br />

und Trends, Bd. 8) Göttingen: Hogrefe, 29-48<br />

Luit, van J.E.H. et al. (2001): OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung. Göttingen:<br />

Hogrefe.<br />

Mayring, P. (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz.<br />

Mey, G. (2005): Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie. Köln: Kölner Studien Verlag.<br />

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport <strong>Baden</strong> <strong>Württemberg</strong> (2006): Orientierungsplan für<br />

Bildung und Erziehung für die baden- württembergischen Kindergärten. Weinheim: Beltz.<br />

Moser Opitz, E. (2002): Zählen, Zahlbegriff, Rechnen – Theoretische Grundlagen und eine empirische<br />

Untersuchung zum mathematischen Erstunterricht in Sonderklassen. Bern: Haupt.<br />

Moser, H. (1995): Grundlagen der Praxisforschung. Freiburg: Lambertus.<br />

Mühlfeld, C, et al. (1981): Auswertungsprobleme offener Interviews. In: Soziale Welt, Jahrgang<br />

32. Göttingen: Verlag Otto Schwarz, 325- 352.<br />

195


Pädagogische Hochschule Heidelberg<br />

Nunes, T. & Bayant, P. (1996): Children doing mathematics. Cambridge, Massachusetts:<br />

196<br />

Blackwell Publisher.<br />

Oers, van B. (2004): Mathematisches Denken bei Vorschulkindern. In: Fthenakis, W. & O-<br />

berhuemer (Hg.) (2004): Frühpädagogik international – Bildungsqualität im Blickpunkt.<br />

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 313-330.<br />

Oeveste, Hans zur (1987): Kognitive Entwicklung im Vor- und Grundschulalter. Göttingen:<br />

Hogrefe.<br />

Petillon, H. et al. (1987): Schulanfang mit ausländischen und deutschen Kindern. Mainz: v. Ha-<br />

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Rossbach, H.-G. (2005): Die Bedeutung der frühen Förderung für den domänenspezifischen<br />

Kompetenzaufbau. In: Sache- Wort- Zahl: Frühe Begegnungen mit Sachen, Worten und<br />

Zahlen (73), 4-7.<br />

Schmitt, S. & Weiser, W. (1982): Zählen und Zahlverständnis von Schulanfängern. IN: Journal<br />

für Mathematikdidaktik 3/4.<br />

Selter, S. & Spiegel, H. (2001): Wie Kinder rechen. Leipzig: Klett .<br />

Selter, C. (1995): Fiktivität der „Stunde null“ im arithmetischen Anfangsunterricht. In: Mathematische<br />

Unterrichtspraxis Heft 16, II. Quartal 1995.<br />

Singer, W. (2001): Was kann ein Mensch wann lernen? Vortrag im Rahmen des ersten Werkstattgesprächs<br />

der Initiative „McKinsey bildet“. http://www.mpihfrankfurt.mpg.de/global/Np/Pubs/mckinsey.pdf<br />

Steinweg, A. S. (2007): Lerndokumentation Mathematik. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft<br />

und Forschung.<br />

Steinweg, A.S. (2008): Zwischen Kita und Schule. Mathematische Basiskompetenzen im Überblick.<br />

In: Hellmich, F. & Köster, H. (Hg.): Vorschulische Bildungsprozesse in Mathematik<br />

und in den Naturwissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

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Weinert, F.E. (Hg.) (1998): Entwicklung im Kindesalter. Weinheim: Beltz.<br />

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Periode für die Entwicklung numerischer Fertigkeiten. Göttingen: Hogrefe Verlag.<br />

Wittmann, E. (1982): Mathematisches Denken bei Vor- und Grundschulkindern- Eine Einführung<br />

in psychologisch- didaktische Experimente. Braunschweig: Vieweg.<br />

Wittmann, E. Ch. (2006): Mathematische Bildung. In: L. Fried, & S. Roux.: Pädagogik der frühen<br />

Kindheit. Weinheim: Beltz.


VIII Sind innovative Lehr- und Lernformen für Schüler wie auch für<br />

Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Internationale Vergleichsstudie zum Zusammenhang von Lehr-<br />

/Lernformen, Unterrichtsqualität und psychischen Belastungen der<br />

Lehrkräfte<br />

Projekt der Arbeits- und Organisationspsychologie, Universität Freiburg<br />

1 Forschungsgruppe<br />

Die Forschungsgruppe des Projekts „Sind innovative Lehr- und Lernformen für Schüler wie<br />

auch für Lehrkräfte vorteilhaft?“ bestand aus Prof. Dr. Heinz Schüpbach (Projektleitung), der<br />

Projektmitarbeiterin Dipl.-Psych. Lilian Meder sowie zeitweise zwei wissenschaftlichen Hilfskräf-<br />

ten an der Universität Freiburg. Eine enge Kooperation bei Konzeption und Durchführung der<br />

Studie bestand mit dem Mitantragsteller Prof. Dr. Andreas Krause (Fachhochschule Nordwest-<br />

schweiz, Olten), der das Instrument RHIA-Unterricht im Vorfeld entwickelt und überprüft hat.<br />

Die verwendeten Videodaten waren ursprünglich Teil der TIMS-Studien (Trends in International<br />

Mathematics and Science Study) und wurden von den Kooperationspartnern am Max-Planck-<br />

Institut für <strong>Bildungsforschung</strong> in Berlin und am Pädagogischen Institut der Universität Zürich zur<br />

Verfügung gestellt. Zwischenergebnisse unseres Projekts wurden mit den Kooperationspartnern<br />

im Laufe des Projekts diskutiert.<br />

2 Forschungsprojekt „Sind innovative Lehr- und Lernformen für<br />

Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?“<br />

2.1 Einleitende Zusammenfassung<br />

Die Verbreitung innovativer Lehr- und Lernformen wird sich letztlich auch daran bemessen, ob<br />

durch sie nicht nur eine Verbesserung der Lernleistungen der Schüler/innen, sondern auch eine<br />

mindestens akzeptable Belastungssituation für die Lehrkräfte resultiert. Die aktuelle Belastungssituation<br />

von Lehrkräften und deren Einflussfaktoren werden unter Nicht-Fachleuten und<br />

in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Umstritten ist insbesondere die Frage, ob sich die<br />

behaupteten gravierenden Belastungen methodisch einwandfrei objektivieren lassen, oder ob<br />

es sich lediglich um subjektive Einschätzungen einer Vielzahl überforderter Lehrkräfte handelt.<br />

In der vorliegenden Studie wurde der Versuch unternommen, das Konzept und die Methodik<br />

der arbeitspsychologischen Belastungsforschung auf den schulischen Unterricht zu übertragen.<br />

Als Datenmaterial standen Unterrichtsvideos mit unterschiedlichen Lehr- und Lernformen aus<br />

Deutschland und der Schweiz zur Verfügung, welche bereits nach Merkmalen der Unterrichtsqualität<br />

eingeschätzt worden waren. Auch die Klassegröße wurde erfasst. Durch geschulte Beobachtende<br />

wurden objektiv sichtbare Belastungen durch Regulationsbehinderungen bestimmt.<br />

Anschließend wurden die Ergebnisse der beiden Analysen zueinander in Verbindung gebracht.<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass mit dem eingesetzten Instrument und dem gewählten Untersu-<br />

197


Universität Freiburg<br />

chungsdesign tatsächlich Effekte der Lehr- und Lernformen auf die objektiv sichtbare Belastungsebene<br />

im Unterricht belegt werden können.<br />

Die vier zentralen Ergebnisse dieser Studie sind:<br />

(1) Die eingesetzten Lehr- und Lernformen haben bedeutsame Auswirkungen auf die bedingungsbezogenen<br />

Belastungen im Unterricht. Dabei ist der traditionelle Unterricht mit einem<br />

Großteil Klassengespräch am wenigsten belastet, während Unterricht mit dominierender Einzelarbeit<br />

am höchsten belastet ist. Unterricht mit kooperativen Lehrformen weist ein ähnliches<br />

Belastungsniveau auf wie Unterricht mit dominierender Einzelarbeit.<br />

(2) Die bedingungsbezogenen Belastungen durch Hindernisse liegen im Schweizer Unterricht<br />

deutlich unter dem Niveau der deutschen Schulstunden. Lehrkräfte in der Schweiz sind dagegen<br />

stärker durch störende Geräusche belastet.<br />

(3) Unterrichtsqualität hat einen essentiellen Einfluss auf die bedingungsbezogenen Belastungen<br />

im Unterricht. In unserer Studie ersetzt Unterrichtsqualität den Landeseffekt auf die Belastungen<br />

durch Hindernisse. Möglicherweise könnte also eine verbesserte Unterrichtqualität (vor<br />

allem Instruktionseffizienz) die Belastungen durch Hindernisse in deutschen Unterrichtsstunden<br />

senken.<br />

(4) Eine steigende Klassengröße spielt für den Anteil störender Geräusche im schulischen Unterricht<br />

eine wesentliche Rolle. Auf die Belastungen durch Hindernisse während des Unterrichts<br />

hat sie hingehen keine Auswirkung.<br />

2.2 Einbettung des Projekts in die Forschungslandschaft <strong>Baden</strong>-<br />

<strong>Württemberg</strong>s<br />

Die Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Freiburg hat sich in den letzten<br />

Jahren zu Lehrergesundheit engagiert und entsprechende Instrumente und Maßnahmen zur<br />

Thematik weiterentwickelt. In <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> hat dies im schulpsychologischen Kontext<br />

erfreulicherweise bereits großen Anklang gefunden. Beispielsweise wurden Teile des von Andreas<br />

Krause und Stefanie Kaempf entwickelten Fragebogens zur Arbeitssituation an Schulen<br />

(FASS) in die Gefährdungsbeurteilung für Lehrkräfte in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> aufgenommen<br />

(Kaempf & Krause, 2004; Nübling et al., 2008).<br />

Die Frage, ob pädagogische Maßnahmen im Schulkontext positive oder negative Auswirkungen<br />

auf die Lehrkräfte selbst besitzen, kann in der <strong>Bildungsforschung</strong> als eher exotisch betrachtet<br />

werden. Aufgrund der beunruhigenden Entwicklung bei Frühpensionierungen und Burnout-<br />

Erkrankungen ist die Gesundheit des Lehrpersonals jedoch zu einem hochaktuellen Thema<br />

geworden. Lehrer und Lehrerinnen können sich weiterqualifizieren, neue Aufgaben übernehmen<br />

und die Schule als Ganzes voran bringen. Sie haben jedoch keine unendlichen Ressourcen<br />

zur Verfügung, sondern müssen in ihrer Gesundheit geschützt und gefördert werden, um<br />

nicht zu schnell aus dem Lehramt zu scheiden. Daher kann man dieses Projekt, das der Unterrichtsforschung<br />

nahe steht, aber mit arbeitspsychologischen Konzepten an das Thema herangeht,<br />

als eine interdisziplinäre Herausforderung mit großer aktueller Relevanz betrachten.<br />

198


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Die Arbeit der Lehrkräfte wird also von zwei Seiten betrachtet: Einerseits unter Aspekten des<br />

Gesundheitsschutzes der Lehrkräfte und der Belastungsmessung, andererseits im Hinblick auf<br />

den Einsatz innovativer Lehr- und Lernformen sowie erhöhter Unterrichtsqualität.<br />

2.2.1 Verfügbare Daten zur Schulleistung in Deutschland und der<br />

Schweiz (internationaler Vergleich)<br />

Ein Vergleich zwischen deutschen und Schweizer Schulstunden schien aufgrund der großen<br />

Unterschiede im Lernerfolg deutscher und Schweizer Schüler/innen interessant. In der TIMS-<br />

Studie 1995 zeigte sich, dass die mathematisch-naturwissenschaftlichen Testleistungen deutscher<br />

Schüler/innen im internationalen Vergleich im unteren Bereich lagen, während die<br />

Schweizer Schüler/innen durchweg im oberen Drittel rangierten. Baumert et al. (1998, S. 89f)<br />

resumieren: „Im internationalen Vergleich liegen die relativen Stärken der deutschen Schülerinnen<br />

und Schüler im mathematischen Bereich beim Lösen von Routineaufgaben …. Relative<br />

Schwächen werden bei Aufgaben sichtbar, die das selbständige Anwenden von Gelernte, die<br />

Übertragung in neue Kontexte oder ein flexibles Umstrukturieren von Problemkonstellationen<br />

erfordern…“.<br />

In den folgenden PISA-Studien lag die mathematische Kompetenz deutscher Schüler/innen<br />

zwar auf Höhe des OECD-Durchschnitts, dieser Rang veränderte sich jedoch trotz eingeleiteter<br />

Maßnahmen seit Mitte der 90er Jahre nicht grundlegend. Schweizer Schüler/innen schnitten<br />

hingegen schon bei der ersten PISA-Studie in allen mathematischen Kompetenzbereichen überdurchschnittlich<br />

ab, was sich in den folgenden Jahren wiederum bestätigte (PISA-Konsotium<br />

Deutschland, 2008; 2005).<br />

Die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien hatten zur Folge, dass Verbesserungen<br />

des schulischen Lernens in Deutschland von der Öffentlichkeit gefordert wurden. Welche<br />

Bedingungen im Unterricht die mathematischen Kompetenzen deutscher Schüler/innen verbessern<br />

können, wird im Abschnitt 2.3.2. erläutert.<br />

2.2.2 Verfügbare Daten zur Gesundheit der Lehrkräfte in Deutschland<br />

und der Schweiz<br />

Die Gesundheit und Belastung von Lehrerinnen und Lehrern wird aktuell intensiv beforscht und<br />

diskutiert (z. B. Bauer et al., 2006; Hacker & Looks, 2007; Hakanen et al., 2006; Klusmann et<br />

al., 2006; Krause et al., 2008; Schaarschmidt & Fischer, 2001). Dabei stehen die negativen<br />

Folgen des Lehrerberufs wie Burnout sowie die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und<br />

personalen Einflussfaktoren in den meisten Studien im Vordergrund. Diese Studie widmet sich<br />

dagegen dem bisher weniger untersuchten konkreten Arbeitshandeln von Lehrkräften und den<br />

dabei bedingungsbezogenen Belastungen (Krause & Dorsemagen, 2007a; Oesterreich, 2008).<br />

Wir folgen dabei der Aufforderung von Maslach und Leiter (1999), die Belastungen der Lehrkräfte<br />

auch durch Beobachtungsinstrumente zu erfassen. Für die Zukunft der Forschung zur<br />

Lehrergesundheit ist eine gleichzeitige Untersuchung der Belastungen sowie der Beanspru-<br />

199


Universität Freiburg<br />

chungsfolgen und Bewältigungsstrategien wünschenswert. Dies verspricht den größten Erfolg<br />

bei der Aufklärung des Einflusses personaler und situativer Faktoren auf die Gesundheit der<br />

Lehrkräfte.<br />

In der Forschung zur Lehrergesundheit finden sich kaum repräsentativen Befunde über den<br />

Gesundheitszustand der gesamten Lehrerschaft in Deutschland oder der Schweiz.<br />

Für Deutschland können Zahlen zur Pensionierung der Lehrkräfte des statistischen Bundesamtes<br />

zur Einschätzung herangezogen werden (Statistisches Bundesamt, 2009). Dabei fiel in den<br />

90er Jahren ein sehr hoher Anteil (zwischen 50 und 60 %) an Frühpensionierungen aufgrund<br />

gesundheitlich bedingter Dienstunfähigkeit im Lehrpersonal auf. Seit 2000 sanken diese jedoch<br />

wieder im Zuge der Einführung von Abschlägen bei der Pensionierung bei Dienstunfähigkeit<br />

sowie der stärkeren Nutzung der Alters-Teilzeit (siehe Abbildung 1). Die Gründe für die häufigen<br />

Frühpensionierungen untersuchten Weber, Weltle und Lederer (2004) auf Basis der<br />

Dienstunfähigkeitsbegutachtungen von Lehrkräften in Bayern von 1996 bis 2001. Es zeigte<br />

sich, dass über die Hälfte der Dienstunfähigkeiten aufgrund einer Hauptdiagnose im Bereich<br />

„Psyche/Verhalten“ ausgesprochen worden waren.<br />

Als eine weitere, wichtige Quelle für aktuelle Erkrankungen in verschiedenen Berufsgruppen<br />

dient der Fehlzeiten-Report (Badura et al., 2009). Daraus ist ersichtlich, dass im Bereich Erziehung<br />

und Bildung zwar der Krankenstand in den letzten Jahren ebenfalls zurückging, jedoch<br />

weiterhin um ca. 2 % höher liegt als im Branchendurchschnitt.<br />

In Prozent<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007<br />

Dienstunfähigkeit 60./63 Lebensjahr Regelaltersgrenze 65. Lebensjahr<br />

Abbildung 1: Übergang in den Ruhestand im Schuldienst (Stat. Bundesamt 2009)<br />

Um für die Schweiz ähnliche Angaben zu erhalten, greift Herzog (2007) auf die Invalidenstatistik<br />

der Lehrerversicherungskasse zurück. Er berichtet, dass sich „zum Beispiel im Kanton Bern die<br />

Anzahl der aus gesundheitlichen Gründen invalidisierten Lehrkräfte in den letzten 20 Jahren<br />

200


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

mehr als versechsfacht“ hat, und im Jahr 2003 rund 53 % der pensionierten Lehrkräfte aus gesundheitlichen<br />

Gründen vorzeitig in den Ruhestand gingen (zit. bei Herzog, 2007, S.126).<br />

Insgesamt gesehen sind Lehrkräfte in Deutschland sowie in der Schweiz eine Berufsgruppe mit<br />

erhöhtem Krankenstand und einer Tendenz aufgrund psychischer Erkrankungen vorzeitig aus<br />

dem Beruf zu scheiden.<br />

2.3 Theoretischer Hintergrund<br />

2.3.1 Der arbeitspsychologische Blick auf die Lehrertätigkeit: Belastungen<br />

als Regulationsbehinderungen<br />

In der Arbeitwissenschaft wird zwischen Belastungen (belastende Bedingungen) und Beanspruchungen<br />

(subjektive Auswirkung der Belastungen) klar getrennt und durch unterschiedliche<br />

Instrumente erfasst (Richter & Hacker, 1998; Rohmert & Rutenfranz, 1975). Ursprünglich standen<br />

Auswirkungen von z. B. Schichtarbeitszeit oder Hebetätigkeiten auf Muskel-Skelett-<br />

Erkrankungen oder den Schlafrhythmus im Mittelpunkt dieser Forschung. In der Arbeitspsychologie<br />

entwickelte sich jedoch bald ein allgemeines psychologisches Modell zur Beschreibung<br />

und Analyse der psychischen Regulation von Arbeitshandeln (Hacker, 1986; 2005; Oesterreich<br />

& Volpert, 1987). Darauf aufbauend entstand das bedingungsbezogene Verständnis von psychischen<br />

Belastungen bei der Arbeit (vgl. Oesterreich, 1999; Schüpbach & Zölch, 2004). Diese<br />

arbeitspsychologischen Konzepte wurden bereits auf den Lehrerberuf übertragen und im Rahmen<br />

des Gesundheitsschutzes von Lehrkräften angewendet (z. B. Rudow, 2002; Schönwälder<br />

et al., 2003).<br />

Arbeitshandeln, das zielgerichtet ist und dessen Ziel willentlich angestrebt wird (Hacker, 2005),<br />

erfordert bestimmte Regulationsmöglichkeiten für die arbeitende Person. Bedingungsbezogene,<br />

psychische Belastungen entstehen, wenn die Durchführungsbedingungen einer Arbeitsaufgabe<br />

im Widerspruch zur psychischen Regulation der Zielerreichung stehen (Krause & Dorsemagen,<br />

2007b).<br />

Grundsätzlich werden Regulationsbehinderungen in zwei Formen unterschieden:<br />

(1) Regulationshindernissen: „Dies sind Ereignisse, die das Arbeitshandeln direkt beeinträchtigen<br />

und in deren Folge Zusatzaufwand geleistet werden muss“ (Krause & Dorsemagen, 2007b,<br />

S.102), d.h. die arbeitende Person muss sofort und direkt auf das Ereignis reagieren, um das<br />

Arbeitsziel zu erreichen. In Abbildung 2 wird dieser Prozess veranschaulicht: Das Arbeitziel wird<br />

über einzelne, aufeinander aufbauende Handlungsschritte oder -aktivitäten angestrebt. Diese<br />

Handlungsschritte werden durch die Kästchen mit A, B, C, D und E symbolisiert. Das schwarze<br />

Kästchen stellt ein störendes Ereignis dar, das verschiedene Reaktionen der arbeitenden Person<br />

nach sich zieht, z. B. muss ein Handlungsschritt wiederholt werden oder zusätzliche Schritte<br />

sind notwendig. Dadurch entsteht zusätzliche Arbeit (= Zusatzaufwand).<br />

(2) Regulationsüberforderungen: Diese Arbeitsbedingungen beeinträchtigen erst „bei längerem<br />

Andauern die menschliche Handlungsfähigkeit“ (Krause & Dorsemagen, 2007b, S.102), z. B.<br />

Lärm oder Zeitdruck.<br />

201


Universität Freiburg<br />

Regulationsbehinderungen werden mit den so genannten RHIA-Verfahren erfasst (RHIA =<br />

Abkürzung für Regulationshindernisse in der Arbeit). Krause (2002) entwickelte RHIA-<br />

Unterricht, ein Instrument zur Erfassung von Regulationsbehinderungen während der Unterrichtstätigkeit<br />

von Lehrkräften (unter 2.4.3. ausführlich dargestellt). Zusammenhänge der bedingungsbezogenen<br />

psychischen Belastungen mit Befindens- und Gesundheitsindikatoren konnten<br />

mehrfach belegt werden (Greiner et al., 1998; Krause, 2002; Leitner & Resch, 2005).<br />

Abbildung 2: Regulationshindernisse auf dem Handlungsweg (nach Oesterreich et al.,<br />

2000)<br />

Bei der Betrachtung von Schulen als sozio-technische Gesamtsysteme stellt Schüpbach (2008)<br />

fest, dass Störungen ein relativ normaler Bestandteil des Schulalltags sind, und dass von den<br />

Lehrkräften erwartet wird, die Störungen neben ihrer Primäraufgabe der Wissensvermittlung zu<br />

verhindern oder zu regulieren. Das Regulieren von Störungen muss jedoch durch Zeit-, Raumressourcen<br />

oder soziale Unterstützung ermöglicht werden. Stehen diese Ressourcen nicht zu<br />

Verfügung, kommt es zu einer höheren Belastung der Lehrkräfte durch ungünstige Arbeitsbedingungen<br />

(= bedingungsbezogene Belastungen). Daher betrachtet RHIA-Unterricht störende<br />

Ereignisse während der konkreten Tätigkeit der Lehrkraft nur dann als Belastungen, wenn die<br />

Lehrkraft keine organisatorischen Ressourcen zur Behebung der Störungen nutzen kann wie<br />

z. B. einen aggressiven Schüler in einen „Auszeit-Raum“ zu schicken.<br />

2.3.2 Der Unterricht aus pädagogisch-psychologischer Perspektive<br />

In der pädagogischen Psychologie werden im Kontext Schule vor allem Lern- und Lehrprozesse<br />

betrachtet. Dabei sind kooperative Lernformen und Unterrichtsqualität in der letzten Zeit besonders<br />

stark ausgeprägte Forschungsbereiche (zum Überblick: Renkl, 2008; Shuell, 1996). Wir<br />

konzentrieren uns nun auf die in dieser Studie verwendeten Konzepte.<br />

202


Sozial-, Lehr- und Lernformen<br />

Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

„Sozialformen des Unterrichts … regeln die Beziehungsstruktur in der Klasse durch die Vorgabe<br />

des äußeren sozialen Rahmens“ (Köck, 2005, S.323). Sie besitzen jedoch auch methodische<br />

Funktionen, die im Folgenden näher erläutert werden.<br />

Im Frontalunterricht erfolgt die Wissensvermittlung durch die Lehrperson an alle Schüler/innen<br />

gleichzeitig. Meist geschieht dies durch eine Präsentation bestimmter Inhalte (darbietende Unterrichtsform)<br />

oder durch ein Frage-Antwort-Gespräch (fragend-entwickelnde Unterrichtsform)<br />

(Köck, 2005). Der Frontalunterricht stellt die „gebräuchlichste Form der Unterrichtsgestaltung“<br />

dar und gilt als ökonomisch und effizient, was die direkte Vermittlung von Wissensinhalten betrifft<br />

(Wiechmann, 2006). In dieser Studie wird der neutrale Begriff „Klassengespräch“ verwendet,<br />

wenn dieses frontale Arrangement gemeint ist.<br />

Während der Einzelarbeit bearbeiten die Schüler/innen eine Aufgabe selbständig und allein. Sie<br />

wird vor allem zum Zweck der Einübung und Anwendung von Fachwissen eingesetzt und kann<br />

eine individuelle Lernkontrolle ermöglichen. Bei der Partnerarbeit handelt es sich um gemeinsames<br />

Bearbeiten einer Aufgabe von jeweils zwei Schüler/innen. Beim Gruppenunterricht wird<br />

dagegen in mehreren Kleingruppen eine umschriebene Aufgabe für eine gewisse Zeit bearbeitet<br />

und anschließend gemeinsam mit der Lehrerin und der Klasse ausgewertet (Köck, 2005).<br />

Gruppenunterricht ist sinnvoll bei Aufgaben mit Problemcharakter und weniger zur Wiederholung<br />

von Wissensinhalten geeignet. Außerdem ist erfolgreicher Gruppenunterricht an bestimmte<br />

Bedingungen gebunden (z. B. Barth et al., 2005).<br />

Gruppenarbeit und kooperatives Lernen werden häufig synonym verwendet. Renkl und Beisiegel<br />

(2003) erläutern jedoch, dass kooperatives Lernen nur in denjenigen Gruppenarbeitsformen<br />

vorkommt, in denen alle Gruppenmitglieder dazu lernen und dabei gleichberechtigt miteinander<br />

interagieren. In dieser Studie erfassen wir die beobachtbaren Gelegenheiten für kooperatives<br />

Lernen, d.h. Gruppen- oder Partnerarbeit, als kooperative Lehrformen.<br />

Kooperative Lehrformen verbessern neben der Schülerleistungen auch meta-kognitive Strategien<br />

sowie motivationale Aspekte der Schüler/innen (Johnson et al., 2000; Slavin et al., 2003).<br />

Für Gruppenunterricht und erweiterte Lehr- und Lernformen konnte gezeigt werden, dass das<br />

Reproduktionswissen der Schüler/innen genauso gut war wie nach Frontalunterricht, während<br />

Anwendungswissen, die Motivation für das Fach und das fachliches Selbstkonzept der Schüler/innen<br />

deutlich verbessert waren (Haag & Hopperdietzel, 2000; Pauli et al., 2003).<br />

Unterrichtsstunden mit erweiterten Lehr- und Lernformen (ELF) wurden in dieser Studie zusätzlich<br />

einbezogen. Diese Schweizerische Unterrichtsmethodik beruht auf Erkenntnissen der kognitionspsychologischen<br />

Lehr- und Lernforschung (Baer et al., 2006) und „zielen … auf den stärkeren<br />

Einbezug individualisierter Unterrichtsformen“ ab (Pauli et al., 2003, S.293). Frontalunterricht<br />

wird dabei durch neue Unterrichtsformen wie z. B. Wochenplanunterricht oder Stationenlernen<br />

erweitert. Die Entwicklung überfachlicher Kompetenzen gilt bei den erweiterten Lehr- und<br />

Lernformen als besonders wichtiges Unterrichtsziel (Pauli et al., 2003).<br />

203


Universität Freiburg<br />

Unterrichtsqualität<br />

Unterrichtsqualität umfasst diejenigen Unterrichtsmerkmale, die eine positive Wirkung auf den<br />

Lernerfolg und die schulischen Erziehungsziele besitzen (Einsiedler, 2002). Die Forschungsgruppe<br />

um Klieme definiert drei wichtige Merkmale von Unterrichtsqualität (vgl. Ditton, 2006;<br />

auch Helmke et al., 2007): Klassenführung, Schülerorientierung und Kognitive Aktivierung. Die<br />

Bedeutung verschiedener Merkmalsbereiche der Unterrichtsqualität für die Lernentwicklung der<br />

Schüler/innen konnte nachgewiesen werden (Lipowsky, 2006).<br />

In dieser Studie wurde für eine Teilstichprobe der Einfluss der Unterrichtsqualität auf die bedingungsbezogenen<br />

Belastung der Lehrkräfte untersucht. Clausen et al. erfassten die Unterrichtsqualität<br />

mittels hoch-inferenter Beurteilungen, da diese „meist höhere Zusammenhänge zu<br />

schulischen Erfolgs- und Entwicklungskriterien aufweisen“ (2003, S.125) als direkt beobachtbare<br />

Aspekte wie die Sozialformen. Das entwickelte Beurteilungsinstrument wird unter 2.4.2. genauer<br />

beschrieben.<br />

Es konnte ein deutlicher Unterschied zwischen deutschen und Schweizer Schulstunden der<br />

TIMS-Studien in der Unterrichtsqualität nachgewiesen werden. Vor allem in den Merkmalsbereichen<br />

Instruktionseffizienz und Schülerorientierung lag der Schweizer Unterricht klar vorn. Da<br />

hoch-inferente Unterrichtsqualitätsbeurteilungen gute Zusammenhänge zur Schülerleistung<br />

aufweisen, könnte dies eine plausible Erklärung für die Unterschiede im Lernerfolg der beiden<br />

Länder sein.<br />

2.3.3 Einfluss der Lehr- und Lernformen und Unterrichtsqualität auf die<br />

Belastung und Beanspruchung der Lehrkräfte<br />

Vermehrte kooperative Lehrformen und erhöhte Unterrichtsqualität sind also Möglichkeiten, die<br />

Lernerfolge deutscher Schülerinnen und Schülern zu verbessern.<br />

In Bezug auf die Belastung und Beanspruchung der Lehrkräfte beim Einsatz unterschiedlicher<br />

Lehrformen existieren nur wenige und widersprüchliche Befunde.<br />

Die Studie von Ben-Ari, Krole und Har-Even (2003) konnte belegen, dass es beim Unterrichten<br />

mit individualisierter Instruktion zu weniger Disziplinproblemen kommt, und die quantitative sowie<br />

die qualitative Überforderung der Lehrkräfte geringer ausgeprägt sind. Die frontale Instruktion<br />

hing dagegen kaum mit den Stressindikatoren zusammen. In einer Pilotstudie von Kruse,<br />

Krause und Uffelmann (2006) unter Einsatz des Instruments RHIA-Unterricht wurde fragendentwickelnder<br />

Unterricht mit Gruppenunterricht bezüglich der bedingungsbezogenen Belastungen<br />

verglichen. Hier zeigte sich, dass der Gruppenunterricht mit signifikant mehr Unterrichtsstörungen<br />

und einem höherem Geräuschpegel einherging.<br />

Ein Merkmalsbereich der Unterrichtsqualität ist die Klassenführung. Sie soll allerdings nicht nur<br />

Effekte auf Lernleistung besitzen, sondern auch das Auftreten von Unterrichtsstörungen verhindern.<br />

Bereits Kounin (1976) leitete aus Unterrichtsbeobachtungen Dimensionen der Klassenführung<br />

ab, die auch disziplinierend wirken. Apel (2006) stellt fest, dass die aktuelle Forschung zur<br />

Klassenführung tatsächliche Effekte auf eine bessere Disziplinierung der Schüler/innen nach-<br />

204


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

weisen konnte. Klusmann et al. (2006) berichtet im Hinblick auf das Beanspruchungserleben<br />

der Lehrkräfte, dass sich gesunde und beanspruchte Lehrkräfte (erhoben mit AVEM,<br />

Schaarschmidt & Fischer, 2001) nicht bezüglich der Klassenführung unterscheiden. Insgesamt<br />

kann man daraus schlussfolgern, dass eine effektive Klassenführung disziplinierend wirkt und<br />

dadurch wahrscheinlich auf die beobachtbaren Unterrichtsstörungen Einfluss hat, jedoch nicht<br />

unbedingt mit dem Beanspruchungserleben der Lehrkräfte zusammenhängt.<br />

2.2.4 Weitere Aspekte: Klassengröße, Schulform, Alter und Geschlecht<br />

der Lehrkraft<br />

In der öffentlichen bildungspolitischen Diskussion werden auch weitere Einflussvariablen für die<br />

Belastungssituation der Lehrkräfte häufig diskutiert: die Klassengröße, Schulformen sowie Alter<br />

und Geschlecht der Lehrkraft. Diese Aspekte wurden daher ebenfalls in unsere Analysen einbezogen,<br />

und der Forschungsstand dazu soll im Folgenden kurz erläutert werden.<br />

Die Frage der Arbeitsbelastung der Lehrkräfte durch die Klassengröße wird in der Forschung<br />

eher am Rande betrachtet (vgl. Arnhold, 2005). Es wird jedoch ein Zusammenhang der Klassengröße<br />

zum Lärmpegel angenommen. Schönwälder (2005) nahm Schallpegelmessungen im<br />

Tagesverlauf an Schulen vor und schlussfolgerte: „Mehrere Menschen verursachen immer<br />

Schall, sei es durch ihre Bewegung, sei es durch ihre Kommunikation. Je mehr Menschen zusammenkommen,<br />

desto mehr Geräusch wird von ihnen verursacht werden“ (S.45). Es ist daher<br />

anzunehmen, dass die Klassengröße einen Einfluss auf störende Geräusche während des Unterrichts<br />

hat.<br />

Für die Aspekte Schulform sowie Alter und Geschlecht der Lehrkraft fehlen Befunde zu ihrem<br />

Einfluss auf bedingungsbezogene Belastungen. Zusammenhänge zum Beanspruchungserleben<br />

sollen hier nur kurz zusammengefasst werden. Geschlechtsunterschiede konnten als Prädiktor<br />

für allgemeines sowie lehrerspezifisches Belastungserleben ausgeschlossen werden (Abele &<br />

Candova, 2007). Jedoch kann man von einem Geschlechtsunterschied bei der Bewältigung<br />

ausgehen: Frauen nehmen tendenziell höhere emotionale Erschöpfung wahr, Männer neigen<br />

hingehen eher zu Depersonalisierung (Körner, 2003; Schmitz, 2001; Wagner et al., 2003). Auch<br />

Lebensalter oder Berufsjahre zeigen keine Zusammenhänge zu beruflicher Beanspruchung<br />

oder Burnout in neueren Studien (z. B. Abele & Čandová, 2007; Körner, 2003; Kramis-<br />

Aebischer, 1995). Unterschiede zwischen den Schulformen in Bezug auf Burnout fanden sich<br />

teilweise. An welcher Schulform Lehrer/innen grundsätzlich stärker belastet sind, kann jedoch<br />

aufgrund der unklaren Befunde nicht eindeutig bestimmt werden (Körner, 2003).<br />

2.4 Fragestellungen<br />

Betrachtet man nun die verschiedenen Einflussvariablen auf die Belastungen während des Unterrichts,<br />

können insgesamt folgende Fragestellungen formuliert werden:<br />

Exploration: Einfluss des Alters und Geschlechts der Lehrkraft, sowie der Schulformen auf die<br />

bedingungsbezogenen Belastungen im Unterricht.<br />

205


Universität Freiburg<br />

Da keine Befunde zu den bedingungsbezogenen Belastungen vorliegen, werden Alter und Geschlecht<br />

der Lehrkraft sowie die Schulformen explorativ betrachtet.<br />

(1) Lehr-/Lernformen haben einen Einfluss auf die bedingungsbezogenen Belastungen im Unterricht.<br />

Aufgrund der bisherigen Befunde kann man davon ausgehen, dass es einen Einfluss der Lehr-<br />

/Lernformen auf die bedingungsbezogenen Belastungen während des Unterrichtens gibt. Jedoch<br />

ist noch nicht abschließend geklärt, welche Sozialform positive oder negative Effekte auf<br />

die Unterrichtsstörungen hat. Kooperative Lehrformen sind sehr wahrscheinlich durch mehr<br />

störende Geräusche gekennzeichnet, da währenddessen eine vermehrte Kommunikation zwischen<br />

den Schüler/innen obligat ist.<br />

Exploration der Erweiterten Lehr/Lernformen. Unterricht nach dem Konzept der Erweiterten<br />

Lehr/Lernformen soll explorativ untersucht werden.<br />

(2) Die Variable Land hat einen Einfluss auf die bedingungsbezogenen Belastungen im Unterricht.<br />

Es existiert bisher kein empirischer Vergleich der bedingungsbezogenen Belastungen in deutschen<br />

und Schweizer Schulstunden. Dennoch nehmen wir an, dass in Schweizer Schulstunden<br />

eine geringere Belastung durch Unterrichtsstörungen vorliegt, da Clausen et al. (2003) bei der<br />

Betrachtung der Unterrichtsqualität für die Schweizer TIMSS-Stichprobe einen reibungslosen<br />

Unterricht mit guter Zeitnutzung feststellte (S.137).<br />

(3) Unterrichtsqualität hat einen moderierenden Einfluss auf den Zusammenhang zwischen<br />

Land bzw. Lehr-/Lernformen und den bedingungsbezogenen Belastungen im Unterricht.<br />

Unterrichtsqualität geht einher mit verbesserter Klassenführung, klarer Aufgabenstellung, Prävention<br />

von Disziplinproblemen sowie stärkerer Individualisierung. Diese Merkmale helfen Verunsicherung<br />

in der Klasse zu vermeiden und richten die Aufmerksamkeit der Schüler/innen auf<br />

ihre Lernaufgaben. Man kann davon ausgehen, dass konzentrierte Schüler/innen ruhiger sind<br />

und weniger stören. Da bereits Unterschiede der Unterrichtsqualität zwischen Deutschland und<br />

der Schweiz festgestellt wurden, kann man von einem moderierenden Einfluss auf den Zusammenhang<br />

zwischen Land und den Belastungsvariablen ausgehen.<br />

(4) Klassengröße hat einen moderierenden Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Land<br />

bzw. Lehr-/Lernformen und den bedingungsbezogenen Belastungen im Unterricht.<br />

Aufgrund der empirischen Ergebnisse lässt sich ein Einfluss der Klassengröße auf störende<br />

Geräusche annehmen. Jedoch existieren keine Aussagen zum Auftreten von Unterrichtsstörungen.<br />

206


2.5 Vorgehen und Methodik<br />

2.5.1 Repräsentativität der TIMSS-Videos<br />

Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Die in dieser Studie verwendeten Unterrichtsvideos stammen aus der TIMSS 1995 (Deutsche<br />

Stichprobe) und 1999 (Schweizer Stichprobe) und wurden von den TIMSS-Forschungsteams<br />

am Max-Planck-Institut für <strong>Bildungsforschung</strong> in Berlin und am Pädagogischen Institut der Universität<br />

Zürich für die belastungsbezogene Reanalyse zur Verfügung gestellt. Alle Videos wurden<br />

im Mathematikunterricht der 8.Klassen an weiterführenden Schulen aufgenommen. Beide<br />

Stichproben wurden randomisiert und geschichtet aus der ursprünglichen TIMS-<br />

Schulleistungstudie gezogen, um als repräsentativ gelten zu können. Letztendlich wurden in<br />

Deutschland 109 und in der deutschsprachigen Schweiz 74 Unterrichtsvideos aufgenommen<br />

(Reusser & Pauli, 2003; Stigler et al., 1999). Die Unterstichprobe zur Unterrichtsqualität (N=60)<br />

wurde aus beiden repräsentativen TIMSS-Videostudien per Zufall ausgewählt (Clausen et al.,<br />

2003). Die Stichprobe mit Erweiterten Lehr- und Lernformen wurde in der Deutsch-Schweiz<br />

zusätzlich zur Schweizer TIMSS-Stichprobe gezogen und kann nicht als repräsentativ gelten<br />

(Reusser & Pauli, 2003).<br />

2.5.2 Übernommene Daten aus TIMSS 1995 und 1999<br />

Aus der TIMS-Studie wurden folgende Angaben übernommen: Alter und Geschlecht der Lehrkraft,<br />

Schulform, Klassengröße sowie Sozialformen. Die Kodierung der Sozialformen lag für 102<br />

deutsche und 72 Schweizer Unterrichtsstunden vor (N=174). Für die ELF-Stunden (N=16) wurden<br />

die Sozialformen über den Unterrichtsverlauf hinweg nachkodiert. Beide Ratings treffen<br />

eine grobe Unterscheidung zwischen: Klassengespräch (Lehrer spricht mit der gesamten Klasse),<br />

Einzelarbeit (Schüler/innen haben Anweisung alleine an einer Aufgabe zu arbeiten), Partnerarbeit<br />

(jeweils zwei Schüler/innen arbeiten an einer Aufgabe) und Gruppenarbeit (mehr als<br />

zwei Schüler/innen arbeiten an einer Aufgabe) (vgl. Hugener et al., 2006). Die Unterrichtsstunden<br />

wurden entsprechend des prozentualen Anteils an den jeweiligen Sozialformen ausgewertet<br />

(Zusammenhänge) sowie in drei Untergruppen eingeteilt (Varianzanalyse) (siehe Tabelle 1).<br />

Tabelle 1: Operationalisierung der Gruppeneinteilung der Lehr- und Lernformen<br />

Lehr-/Lernformen Klassengespräch<br />

Traditionell<br />

Einzelarbeit dominant<br />

Kooperative<br />

Lehrformen<br />

80-100%<br />

Einzelarbeit Partner- und<br />

Gruppenarbeit<br />

< 20%<br />

0<br />

Bemerkung<br />

Einzelarbeit optional<br />

20% 0 Partner- und Gruppenarbeit<br />

optional<br />

variabel 0% Einzelarbeit optional<br />

207


Universität Freiburg<br />

Die Unterrichtsqualität wurde für die Unterstichprobe durch Clausen et al. (2003) analysiert<br />

(N=58). Die Gesamtskala umfasste folgende Merkmalsbereiche:<br />

(1) Instruktionseffizienz (31 Items): Klassenführung, Regelklarheit, Time-on-Task, Zeitverschwendung,<br />

Disziplinprobleme, Aggressionen (Schüler gegen Lehrer, Lehrer gegen Schüler,<br />

Schüler gegen Schüler),<br />

(2) Schülerorientierung (30 Items): Positive Fehlerkultur, Positive Schülerorientierung, Diagnostische<br />

Kompetenz im Sozialbereich, Individuelle Lernunterstützung, Individuelle Bezugsnormorientierung,<br />

Individualisierung, Multiple authentische Kontexte, Überforderndes Tempo,<br />

(3) Kognitive Aktivierung (21 Items): Mathematische Produktivität, Anspruchvolles Üben, Lehrer<br />

als Mediator, Pacing, Motivierungsfähigkeit, Repetitives Üben, Sprunghaftigkeit,<br />

(4) Klarheit und Strukturiertheit (15 Items): Klarheit, Strukturierungshilfen, Diagnostische Kompetenz<br />

Leistung, Problemlöseprozesse und Fokussierung.<br />

Es wurden also auf Basis von drei Stichproben Analysen vorgenommen: Für die repräsentativen<br />

TIMSS-Stichproben aus Deutschland und der Schweiz (N=174) sowie für die randomisiert<br />

gezogenen Unterstichprobe zur Unterrichtsqualität aus Deutschland und der Schweiz (N=58)<br />

wurden Kovarianzanaylsen und Zusammenhangsmaße berechet. Die kleine, zusätzliche Stichprobe<br />

mit Erweiteren Lehr- und Lernformen aus der Schweiz (N=16) wurde deskriptiv und im<br />

Vergleich zur Schweizer TIMSS-Stichprobe ausgewertet.<br />

2.5.3 Re-Analyse der TIMSS-Unterrichtsvideos mit RHIA-Unterricht<br />

Nach digitaler Videoaufbereitung wurden die Unterrichtsvideos mit dem Instrument RHIA-<br />

Unterricht durch externe Beobachterinnen nach einer Schulung analysiert.<br />

In Abbildung 3 sind die drei Dimensionen von RHIA-Unterricht dargestellt. Dabei sind die Regulationshindernisse<br />

sowie –überforderungen als bedingungsbezogene psychische Belastungen<br />

für die Auswertung relevant. Die Variable „Möglichkeit zum Abwenden“ (in Klammern) wurde für<br />

die Analyse der TIMSS-Stichproben nicht ausgewertet, da die Lehrkräfte in den deutschen Aufnahmen<br />

mit nur einer Videoperspektive häufig nicht zu sehen waren.<br />

Unterrichtsanteile<br />

• Fachliche Ziele<br />

• Überfachliche Ziele<br />

• Lernbedingungen<br />

schaffen<br />

• Administratives<br />

• Bewertung<br />

Regulationsbehinderungen (Psychische Belastungen)<br />

Regulationshindernisse Regulationsüberforderungen<br />

• Divergierende Zielstellungen<br />

• Geringe Nutzerkompetenz<br />

• Zeitlich konfligierende Zielstellungen<br />

• Fremdeinfluss<br />

• Störende Geräusche<br />

• (zu wenig Möglichkeit<br />

zum Abwenden)<br />

Abbildung 3: Systematik des Verfahrens RHIA-Unterricht gemäß Krause et al. (2007)<br />

208


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Bei den Regulationshindernissen werden vier verschiedene Konstellationen unterschieden, die<br />

alle direkt auf das Arbeitshandeln der Lehrkraft wirken und Zusatzaufwand erzeugen. Divergierende<br />

Zielstellungen, geringe Nutzerkompetenz sowie zeitlich konfligierende Zielstellungen sind<br />

durch Schüler/innen entstandene Störungen (Unterrichtsstörungen). Hindernisse durch Fremdeinfluss<br />

treten dagegen durch kaputte Gerätschaften oder Störungen von außen auf.<br />

Von divergierenden Zielen zwischen dem Lehrer und den Schüler/innen spricht man, wenn die<br />

Schüler/innen nicht dem Unterrichtsgeschehen folgen, sondern sich anderen Interessen zuwenden<br />

z. B. Privatgespräche über ihre Freizeit mit dem Sitznachbar führen oder eine gestellte<br />

Aufgabe boykottieren. Geringe Nutzerkompetenz kann z. B. ein Schüler zeigen, der einen Teil<br />

des Stoffes verpasst hat oder Sprachschwierigkeiten hat. Auch bedeutsame Verhaltensauffälligkeiten<br />

fallen in diese Kategorie. Verstehensprobleme der Schüler/innen zum aktuellen Stoff<br />

stellen keine Hindernisse dar, da die Aufgabe des/der Lehrers/in genau darin besteht, Wissen<br />

und Verstehen zu vermitteln. Zeitlich konfligierende Zielstellungen sind dadurch gekennzeichnet,<br />

dass die Lehrkraft mehrere sinnvolle Ziele gleichzeitig verfolgen müsste (z. B. eine Aufgabe<br />

zum Pythagoras besprechen vs. einen akuten Streit zwischen zwei Schülern schlichten), dies<br />

aber nicht möglich ist (siehe Krause & Dorsemagen, 2007b; Krause et al., 2007).<br />

Für die Einschätzung der Regulationsüberforderung wird das Ausmaß störender Geräusche<br />

über den gesamten Unterrichtsverlauf hinweg kodiert. Während der Unterrichtszeit muss insbesondere<br />

von der Lehrkraft kommuniziert werden, daher sind rein physikalische Schallmessungen<br />

nicht ausreichend, um eine Überforderung der psychologischen Handlungsregulation zu<br />

beurteilen. RHIA-Unterricht geht von sinnvollem und notwendigem Nutzschall während des<br />

Unterrichts aus, bei dem entweder der Lehrer oder ein Schüler spricht, und der Gesprächsinhalt<br />

der direkten unterrichtsbezogenen Kommunikation im Klassenzimmer dient. Diese Art von Beschallung<br />

wird als unproblematisch für die Handlungsregulation betrachtet und als „Stille/Arbeitsatmosphäre“<br />

eingestuft. Wenn mehrere unterrichtsfremde Einzelgespräche von Schüler/innen<br />

stattfinden, oder Geräusche von außerhalb zu hören sind (z. B. vorbeifahrende Autos),<br />

wird dies als störend eingestuft.<br />

Krause (2004) prüfte die Reliabilität des Instruments RHIA-Unterricht und konnte eine befriedigende<br />

bis gute Übereinstimmung zwischen den Ratern feststellen. Die Validität des Verfahrens<br />

ist ebenfalls belegt: Krause (2004) verglich Befindensdaten mit der RHIA-Belastungsanalyse<br />

und stellte signifikante Zusammenhänge zwischen Ermüdung und den Belastungsvariablen<br />

fest.<br />

2.5.4 Statistische Analyse<br />

Die statistische Auswertung erfolgte mit der Software SPSS. Bei der Prüfung der parametrischen<br />

Vorraussetzungen wurde eine linksschiefe Verteilung festgestellt. Daher wurde bei einfachen<br />

Mittelwertsvergleichen auf nonparametrische oder robuste Verfahren zurückgegriffen.<br />

Zusammenhangsmaße wurden durchgängig non-parametrisch berechnet. Für die Kovarianzanalyse<br />

wurde die Variable „Zusatzaufwand“ log-transformiert (vgl. Field, 2005, S.78ff). Insgesamt<br />

wurden für beide Belastungsmaße Nachprüfungen mit robusten Verfahren durchgeführt,<br />

209


Universität Freiburg<br />

welche die Ergebnisse der Kovarianzanalyse immer bestätigten und daher nicht zusätzlich aufgeführt<br />

werden.<br />

2.5.5 Der Verlauf des Projekts<br />

Das Projekt – d.h. die empirische Bearbeitung der Videos sowie die Auswertung der Daten –<br />

verlief entsprechend des vereinbarten Meilensteinplans. Da keine Datenerhebungen im Feld<br />

durchgeführt wurden, war mit Störungen oder Ausfällen nicht zu rechnen. Eine erneute Reliabilitätsanalyse<br />

des Instruments RHIA-Unterricht wird noch im 2.Halbjahr 2009 zusätzlich zu den<br />

vereinbarten Zielen durchgeführt. Da diese Analyse noch in Arbeit ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt<br />

darüber noch nicht berichtet werden.<br />

2.6 Ergebnisse<br />

2.6.1 Deskriptive Daten<br />

In der TIMSS-Stichprobe (N=174) sind 72.4% der Mathematiklehrkräfte männlich. Es gibt keine<br />

signifikanten Unterschiede in den Belastungsvariablen zwischen Lehrern und Lehrerinnen. Die<br />

meisten Lehrkräfte sind in beiden TIMSS-Stichproben zwischen 40 und 50 Jahren alt (D:<br />

44.1%; CH: 37.7%). Die Altergruppen unterscheiden sich nicht bezüglich störender Geräusche,<br />

jedoch knapp signifikant bezüglich Zusatzaufwand. 29.3% der Unterrichtsaufnahmen stammen<br />

aus Hauptschulen, 37.9% aus Realschulen, 25.3% von Gymnasien sowie 7.5% aus Gesamtschulen.<br />

Die Schulstunden an Gesamtschule schnitten bezüglich der Belastungsvariablen am<br />

schlechtesten ab. Da diese nur in der deutschen Stichprobe vorkommen, besteht dort ein signifikanter<br />

Unterschied der Belastungen zwischen den Schulformen aufgrund der hohen Werte der<br />

Gesamtschulstunden.<br />

Die durchschnittliche Anzahl der Schüler in den Unterrichtsstunden ist in der deutschen Stichprobe<br />

19.76 und in der Schweizer Stichprobe 18.76. Dieser Unterschied ist nicht signifikant.<br />

2.6.2 Einfluss der Lehr- und Lernformen (Hypothese 1)<br />

In Deutschland wurde in 72.4% der Unterrichtszeit im Klassengespräch unterrichtet, dagegen<br />

nur 52.2% der Unterrichtszeit in der Schweiz. Der Anteil an Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit<br />

war dagegen in den Schweizer Schulstunden höher (siehe auch Abbildung 6). Die Unterschiede<br />

zwischen den Anteilen an Sozialformen zwischen den Ländern waren alle signifikant.<br />

Betrachtet man diejenigen Stunden, in denen Einzel- oder Partner-/Gruppenarbeit jeweils vorkommt,<br />

entstehen eindeutige Zusammenhangsmuster für beide Länder: Ein hoher Anteil an<br />

Klassengespräch geht mit einem geringeren Belastungsniveau für beide Variablen in beiden<br />

Ländern einher. Einzelarbeit korreliert positiv mit beiden Belastungsvariablen, während ein höherer<br />

Anteil an Partner- und Gruppenarbeit nur mit mehr störenden Geräuschen einhergeht.<br />

210


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

In der Kovarianzanalyse für die Belastungsvariable Zusatzaufwand (N=174) zeigt sich ein signifikanter<br />

Haupteffekt für die Variable Lehr- und Lernformen mit kleinen Effektstärken. Traditioneller<br />

Unterricht schneidet am besten ab, Stunden mit dominierender Einzelarbeit am schlechtesten.<br />

Kooperative Lehrformen liegen in beiden Ländern jeweils dazwischen (Abbildung 4 links).<br />

Wird Unterrichtsqualität in die Analyse miteinbezogen (N=58), d.h. der Einfluss der Unterrichtsqualität<br />

wird statistisch kontrolliert, kann ein signifikanter Haupteffekt mit einer größeren Effektstärke<br />

für die Lehr- und Lernformen auf den Zusatzaufwand nachgewiesen werden. Traditioneller<br />

Unterricht zeigt ein geringes Niveau an Zusatzaufwand, während Stunden mit dominierender<br />

Einzelarbeit und mit kooperativen Lehrformen diesmal gleich schlecht abschneiden (Abbildung<br />

4 rechts).<br />

Zusatzaufwand in Sekunden<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Traditionell Einzelarbeit<br />

dominant<br />

Kooperative<br />

Deutschland<br />

Schweiz<br />

Abbildung 4: Interaktionsgraphiken der geschätzten Randmittel für Zusatzaufwand: links<br />

N=174, rechts mit Unterrichtsqualität N=58<br />

Für störende Geräusche besteht ebenfalls ein signifikanter Haupteffekt für die Lehr- und Lernformen<br />

mit mittlerer Effektstärke (N=174). Traditioneller Unterricht schneidet auch für störende<br />

Geräusche am besten ab. Gerade für die Schweizer Stichprobe zeigt sich jedoch ein deutlicher<br />

Anstieg der störenden Geräusche bei kooperativen Lehrformen (Abbildung 5 links).<br />

Wird Unterrichtsqualität in die Analyse miteinbezogen (N=58), kann ein größerer signifikanter<br />

Haupteffekt der Lehr- und Lernformen auf die störenden Geräusche nachgewiesen werden. Vor<br />

allem die Schweizer Unterrichtsstunden zeigen für Stunden mit dominierender Einzelarbeit sowie<br />

kooperativen Lehrformen eine Erhöhung der störenden Geräusche, jedoch ergibt sich auch<br />

für die deutschen Stunden ein leichter Anstieg (Abbildung 5 rechts).<br />

Zusatzaufwand in Sekunden<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Traditionell Einzelarbeit<br />

dominant<br />

Kooperative<br />

211


Universität Freiburg<br />

Störende Geräusche in %<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Traditionell Einzelarbeit<br />

dominant<br />

Kooperative<br />

Abbildung 5: Interaktionsgraphiken der geschätzten Randmittel für störende Geräusche:<br />

links N=174, rechts mit Unterrichtsqualität N=58<br />

Für alle Kovarianzanalysen sind die Kontraste des traditionellen Unterrichts gegenüber Lehrformen<br />

mit dominierender Einzelarbeit sowie gegenüber kooperativen Lehrformen signifikant.<br />

2.6.3 Einfluss der Länder (Hypothese 2)<br />

In den Schweizer Schulstunden treten durchschnittlich ca. 5 Hindernisse zu insgesamt ca. 70<br />

Sekunden pro Unterrichtsstunde auf. In der deutschen Stichprobe liegen diese Werte sehr viel<br />

höher: ca. 11 Hindernisse zu insgesamt ca. 132 Sekunden pro Unterrichtsstunde. Die Stichproben<br />

unterscheiden sich signifikant. Die meisten Hindernisse entstehen in beiden Stichproben<br />

durch divergierende Ziele, d.h. durch Schülerstörungen.<br />

Das Ausmaß an störenden Geräuschen ist dagegen in der Schweizer Stichprobe höher: In 36<br />

% der Stunde ist es in Schweizer Stunden störend laut, in den deutschen Stunden nur in 31 %<br />

der Stunde. Dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant. Laute störende Geräusche kommen<br />

in der Schweiz mehr als doppelt so häufig vor als in Deutschland.<br />

In der Kovarianzanalyse für Zusatzaufwand (N=174) zeigt sich ein signifikanter Haupteffekt für<br />

die Variable Land. Die Schweizer Stunden liegen je nach Lehrform durchweg niedriger als die<br />

deutschen Stunden (Abbildung 4 links). Wird Unterrichtsqualität in diese Analyse miteinbezogen<br />

(N=58), verschwindet der Ländereffekt auf den Zusatzaufwand (Abbildung 4 rechts).<br />

Für störende Geräusche kann kein Einfluss des Landes festgestellt werden, jedoch liegt hier die<br />

deutsche Stichprobe durchgehend unter der Schweiz (Abbildung 5 links). Unter Einbezug der<br />

Unterrichtsqualität für störende Geräusche kommt ein Landeseffekt erst zum Vorschein, vor<br />

allem für die Lehrformen mit dominierender Einzelarbeit (Abbildung 5 rechts).<br />

212<br />

Deutschland<br />

Schweiz<br />

Störende Geräusche in %<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Traditionell Einzelarbeit<br />

dominant<br />

Kooperative


2.6.4 Einfluss der Unterrichtsqualität (Hypothese 3)<br />

Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Zunächst wurde die Höhe der Unterrichtsqualität in den Lehr-/Lernform-Gruppen betrachtet:<br />

Unterricht mit dominierender Einzelarbeit streut sehr breit, während traditioneller Unterricht<br />

kaum Varianz aufweist. Traditioneller Unterricht und kooperative Lehrformen liegen im Mittel auf<br />

einem höheren Niveau der Unterrichtqualität. Es scheint also für die Lehrkräfte deutlich schwieriger<br />

zu sein, Unterricht mit viel Einzelarbeit auf stabil hohem Qualitätsniveau durchzuführen.<br />

Das höhere Niveau kooperativer Lehrformen ist insgesamt auf höhere Schülerorientierung und<br />

kognitive Aktivierung zurückzuführen. Klarheit/ Strukturiertheit sowie Instruktionseffizienz der<br />

kooperativen Lehrformen liegen unter den Mittelwerten des traditionellen Unterrichts.<br />

Die Unterrichtsqualität korreliert negativ mit der Anzahl und Dauer der Hindernisse (Zusatzaufwand).<br />

Betrachtet man die Unterskalen der Unterrichtsqualität, wird deutlich, dass vor allem<br />

Instruktionseffizienz sowie kognitive Aktivierung dieselben Zusammenhänge aufweisen wie die<br />

Gesamtskala. Instruktionseffizienz hat zudem einen erheblichen negativen Zusammenhang mit<br />

störenden Geräuschen. Das heißt, höhere Unterrichtsqualität geht mit geringeren Belastungen<br />

durch Hindernisse und störende Geräusche einher.<br />

In der Kovarianzanalyse für Zusatzaufwand unter Einbezug der Unterrichtsqualität (N=58) hat<br />

statt des Faktors Land nun die Kovariate Unterrichtsqualität einen signifikanten Einfluss auf den<br />

Zusatzaufwand. Für störende Geräusche zeigt sich, dass beide Faktoren sowie beide Kovariaten<br />

signifikante Beiträge leisten.<br />

2.6.5 Einfluss der Klassengröße (Hypothese 4)<br />

Die Klassengröße korreliert in der deutschen Stichprobe mit störenden Geräuschen positiv, in<br />

der Schweizer Stichprobe dagegen mit der Anzahl der Hindernisse negativ. In die Kovarianzanalyse<br />

(N=174) wurde die Klassengröße als Kovariate einbezogen. Sie hat keinen signifikanten<br />

Einfluss auf den Zusatzaufwand, jedoch auf störende Geräusche. Wird Unterrichtsqualität in die<br />

Analyse miteinbezogen (N=58), beeinflusst die Klassengröße wiederum die störenden Geräusche<br />

signifikant.<br />

2.6.6 Exploration Erweitere Lehr- und Lernformen<br />

Im Gegensatz zu den Schweizer TIMSS-Stunden erhöht sich der Anteil an Einzelarbeit in den<br />

ELF-Stunden durchschnittlich auf 46.2%, während der Anteil an Klassengespräch geringer ist<br />

(41.3%). Abbildung 6 veranschaulicht die durchschnittlichen Anteile der Sozialformen pro Unterrichtsstunde:<br />

Die Unterschiede bzgl. Klassengespräch und Einzelarbeit zwischen der repräsentativen<br />

Schweizer TIMSS- und ELF-Stichprobe konnten als signifikant bestätigt werden. Der<br />

Anteil an Gruppen- und Partnerarbeit unterscheidet sich dagegen nicht.<br />

Vergleicht man die absoluten Werte der Belastungsvariablen der ELF-Stichprobe mit der repräsentativen<br />

Schweizer TIMSS-Stichprobe, muss man feststellen, dass die besonders innovativen<br />

ELF-Stunden eine höhere Arbeitsbelastung für die Lehrkraft bedeuten: Der Anteil störender<br />

Geräusche nimmt durchschnittlich zu (M=47.5%), der Zusatzaufwand ebenfalls (M=107.5 Se-<br />

213


Universität Freiburg<br />

kunden). Dieser Unterschiede zwischen der Schweizer TIMSS- und der ELF-Stichprobe kann<br />

jedoch nicht als signifikant bestätigt werden.<br />

Die meisten Hindernisse entstehen wiederum durch divergierende Ziele, jedoch ist der Anteil an<br />

Hindernissen durch Fremdeinfluss in der ELF-Stichprobe deutlich erhöht.<br />

Geräuschteppich und Nicht-Schülerlärm sind in der Schweizer ELF-Stichprobe noch höher ausgeprägt<br />

als in der TIMSS-Stichprobe.<br />

Durchschnittl. Anteil pro Unterrichtsstunde in %<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

D N=102 CH N=72 ELF N=16<br />

Klassengespräch Einzelarbeit Gruppen- und Partnerarbeit<br />

Abbildung 6: Durchschnittlicher Anteil an Sozialformen in der deutschen TIMSS-, der<br />

Schweizer TIMSS- und ELF-Stichprobe<br />

2.7 Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Alter und Geschlecht der Lehrkraft unterscheiden sich nicht in den bedingungsbezogenen Belastungen.<br />

Unterricht in der Gesamtschule ist jedoch besonders belastet.<br />

Die eingesetzten Lehr- und Lernformen (Hypothese 1) haben einen bedeutsamen Einfluss auf<br />

die bedingungsbezogenen Belastungen durch Hindernisse und störende Geräusche im Unterricht.<br />

Dabei ist der traditionelle Unterricht mit einem Großteil Klassengespräch am wenigstens<br />

belastet, während Unterricht mit dominierender Einzelarbeit am höchsten belastet ist. Unterricht<br />

mit kooperativen Lehrformen liegt in Deutschland dazwischen oder weist dieselbe Belastung auf<br />

wie Unterricht mit Einzelarbeit. Die Stunden mit erweiterten Lehr- und Lernformen liegen in ihren<br />

bedingungsbezogenen Belastungen über der repräsentativen Schweizer TIMSS-Stichprobe.<br />

Dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant.<br />

Die bedingungsbezogenen Belastungen durch Hindernisse liegen im Schweizer Unterricht deutlich<br />

unter dem Niveau der deutschen Schulstunden (Hypothese 2). Es zeigt sich jedoch in der<br />

Unterstichprobe, dass dies möglicherweise auf die höhere Unterrichtsqualität in Schweizer<br />

214


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Schulstunden zurückzuführen ist. Bezüglich der störenden Geräusche schneidet die Schweiz<br />

etwas schlechter ab, jedoch nur signifikant, wenn Unterrichtsqualität miteinbezogen wird.<br />

Die Unterrichtsqualität hat einen moderierenden Einfluss auf den Zusammenhang der unabhängigen<br />

Variablen mit sowohl Hindernissen als auch störenden Geräuschen (Hypothese 3).<br />

Unterrichtsqualität ersetzt in unseren Berechnungen den Landeseffekt auf die Hindernisse.<br />

Bezieht man Unterrichtsqualität in die Analysen zu störenden Geräuschen mit ein, gewinnen<br />

alle anderen Variablen an größerem Einfluss.<br />

Eine steigende Klassengröße (Hypothese 4) spielt für den Anteil störender Geräusche außerdem<br />

eine wesentliche Rolle, auch wenn die Unterrichtsqualität einbezogen wird. Auf die Belastung<br />

durch Hindernisse während des Unterrichts hat die Klassengröße hingehen keine Auswirkung.<br />

Fazit: Die Lehr- und Lernformen haben einen deutlichen Einfluss auf die bedingungsbezogenen<br />

Belastungen während des Unterrichts. Unterrichtsqualität erweist sich als weitere wichtige Einflussvariable,<br />

ebenso die Klassengröße in Bezug auf störende Geräusche.<br />

2.8 Ausblick und offene Fragestellungen<br />

Sind innovative Lehr- und Lernformen für Lehrkräfte nun genauso vorteilhaft wie für Schüler?<br />

Betrachtet man die kooperativen Lehrformen (in denen kooperatives Lernen möglich, aber nicht<br />

unbedingt immer der Fall ist), zeigt sich, dass sie ähnliche oder teilweise geringere Belastungen<br />

aufweisen wie Lehrformen mit dominierender Einzelarbeit.<br />

Letztere ist eher eine übliche Sozialform im Unterricht. Daher bedeutet der vermehrte Einsatz<br />

kooperativer Lehrformen keine wesentliche Verstärkung der Belastungen. In der Schweiz wird<br />

jedoch offenbar ein höherer Geräuschpegel in kooperativen sowie erweiterten Lehrformen in<br />

Kauf genommen. Die Belastungssituation in den kooperativen Lehrformen ist somit einigermaßen<br />

akzeptabel, aber durchaus verbesserungsbedürftig! Darüber hinaus ist es nun verständlicher,<br />

wenn Lehrkräfte den traditionellen Unterricht tendenziell bevorzugen, da dieser offensichtlich<br />

mit wesentlich geringeren Belastungen einhergeht.<br />

Eine hohe Unterrichtsqualität – vor allem Instruktionseffizienz und kognitive Aktivierung – wirkt<br />

sich abschwächend auf die Belastungen aus. Eine plausible Erklärung für die Ergebnisse dieser<br />

Studie ist wohlmöglich, dass bei innovativen Lehrformen mehr individuelle oder kollektive<br />

Selbstregulation der Schüler/innen erwartet wird bzw. gefördert werden soll. Die Selbstregulationsmöglichkeiten<br />

der Schüler/innen in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit verringern jedoch<br />

auch die Kontrolle der Lehrkraft über die Klasse. Dadurch kommt es leichter zu Störungen und<br />

diffuser Unruhe. Eine klare Klassenführung sowie anregende Lerninhalte bleiben wichtig trotz<br />

abnehmender direkter Steuerung der einzelnen Schüler/innen.<br />

Nach den Ergebnissen zur Unterrichtsqualität in unserer Studie, die jedoch nur auf einer kleinen<br />

Teilstichprobe beruht, könnte höhere Instruktionseffizienz möglicherweise die Belastungssituation<br />

in den kooperativen Lehrformen verbessern. Die Lehrkräfte würden in ihrer Gesundheit<br />

besser geschützt, wenn ihre Kompetenzen, hochwertigen Unterricht durchzuführen, mehr ge-<br />

215


Universität Freiburg<br />

fördert werden. Eine letztendliche Aufklärung darüber kann allerdings nur eine längsschnittliche<br />

Interventionsstudie verschaffen.<br />

Außerdem muss nach den Ergebnissen dieser Studie die Forderung nach mehr kooperativen<br />

Lehr- und Lernformen an Schulen parallel mit Verbesserungen der Unterrichtsbedingungen und<br />

Bereitstellung von Ressourcen vonstatten gehen. Wenn Teile der Klasse beispielsweise zusätzliche<br />

kleine Arbeitsräume während Gruppenarbeitsphasen nutzen können, kann dies den Geräuschpegel<br />

insgesamt senken. Bei Reduzierung des Frontalunterrichts zugunsten mehr selbstregulativer<br />

und kooperativer Elemente kann von vorneherein mit einer erhöhten Belastung gerechnet<br />

werden. Dies kann die einzelne Lehrkraft entlasten, da die höhere Belastung nicht nur<br />

ihr persönliches Problem ist, sondern im Zusammenhang mit der eingesetzten Lehrform steht.<br />

Eine zukünftige Zusammenführung von Belastungs- und Beanspruchungsmessung für die unterschiedlichen<br />

Lehr- und Lernformen wäre zu begrüßen. Sie könnte Erkenntnisse darüber erbringen,<br />

wie die Belastungssituation in den unterschiedlichen Lehrformen von den Lehrkräften<br />

bewältigt wird. Beispielsweise beschreibt Lotan (2006, S.531), dass Lehrer häufig durch ihre<br />

veränderte Rolle beim Einsatz von Gruppenarbeit irritiert sind: „Often teachers are surprised<br />

and worried by this redefinition of their traditional role…. Some teachers struggle with no longer<br />

being focal point of the classroom…. Other teachers worry that without their constant supervision,<br />

the classroom might deteriorate into chaos“. Haag, Hanfstengel und Dann (2001) analysierten<br />

handlungsleitende Kognitionen von Lehrkräften beim Gruppenunterricht. Auch sie stießen<br />

auf das „Dilemma, einerseits die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler fördern zu<br />

sollen, aber andererseits alles unter Kontrolle haben zu müssen“ (S.937). In weiteren Studien<br />

könnte mehr über diese Zusammenhänge in Erfahrung gebracht werden, z. B. ob Belastungen<br />

während Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit auf das Beanspruchungserleben der Lehrkräfte<br />

einen größeren Effekt haben als während traditionellem Unterricht, da es zu vermehrten inneren<br />

Konflikten bei den Lehrkräften kommt, oder ob ein umgekehrter Einfluss der Fall ist.<br />

In dieser Studie wurde ein Vergleich der objektiv bestimmbaren Belastungen der Lehrkräfte im<br />

Unterricht anhand repräsentativer Stichproben aus Deutschland und der Schweiz der 90er Jahre<br />

durchgeführt. Diese beobachtbaren Belastungen konnten unabhängig vom Beanspruchungserleben<br />

der einzelnen Lehrkraft mit RHIA-Unterricht erfasst werden. Dadurch wurde<br />

belegt, dass die aktuelle Belastungssituation durch Schülerstörungen auch objektiv in Deutschland<br />

erhöht ist, und die Belastungen durch die Wahl der Lehr- und Lernformen auch unabhängig<br />

von der landesspezifischen Situation beeinflusst werden.<br />

216


3 Tagungsbeiträge und Veröffentlichungen<br />

Tagungen<br />

Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Vortrag auf 6.Tagung der Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie, Wien, September<br />

2009: Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Auswirkungen von Unterrichtsmethoden, Unterrichtsqualität<br />

und Klassengröße auf psychische Belastungen von Lehrkräften in Deutschland<br />

und der Schweiz.<br />

Vortrag auf der 12.Fachtagung Pädagogische Psychologie, Saarbrücken, September 2009:<br />

Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Auswirkungen unterschiedlicher Lehr- und Lernformen<br />

auf die psychische Belastung von Lehrkräften in Deutschland und der Schweiz.<br />

Vortrag auf dem 10th Workshop of Qualitative Research in Psychology, Weingarten, Februar<br />

2009: Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Why Swiss Teachers Have to Handle Less<br />

Stress Than Their German Colleagues. Video-based Analysis of Teacher-Student-<br />

Interactions.<br />

Vortrag auf der 8th Conference of the European Academy of Occupational Health Psychology,<br />

Valencia, November 2008: Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Do Teachers Benefit<br />

From Teaching Methods Regarding Their Stress? Results of Video-based Analysis in Germany<br />

and Switzerland.<br />

Poster auf dem 15. Workshop Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit, Laubach,<br />

November 2008: Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Zum Zusammenhang zwischen<br />

psychischen Belastungen von Lehrkräften und den angewandten Unterrichtsmethoden –<br />

ein Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz.<br />

Vortrag auf der Jahrestagung Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik, Visselhövede, Juli<br />

2008: Meder, L.: Weiterentwicklung des Instruments RHIA-Unterricht für das Unterrichten<br />

mit kooperativen Lehr- und Lernformen an Schulen.<br />

Vortrag im Frühjahrskolloquium am Pädagogischen Institut der Universität Zürich, April 2008:<br />

Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H.: Zum Zusammenhang von Lehr-/Lernformen, Unterrichtsqualität<br />

und psychischen Belastungen bei Lehrpersonen: Re-Analysen von Unterrichtsstunden<br />

aus den TIMS-Studien (Schweiz/Deutschland).<br />

Vortrag auf der 11. Fachtagung Pädagogische Psychologie im Symposium "Was macht den<br />

Lehrerberuf belastend?", September 2007 in Berlin: Meder, L., Dorsemagen, C., Krause, A.<br />

& Schüpbach, H.: Der arbeitspsychologische Blick auf den Unterricht: Belastungskonzept<br />

der Regulationsbehinderungen.<br />

Veröffentlichungen<br />

Meder, L., Krause, A. & Schüpbach, H. (2008). Zum Zusammenhang zwischen psychischen<br />

Belastungen von Lehrkräften und den angewandten Unterrichtsmethoden. In: C. Schwennen,<br />

G. Elke, B. Ludborzs, H. Nold, S. Rohn, S. Schreiber-Costa & B. Zimolong (Hrsg.).<br />

217


Universität Freiburg<br />

Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Perspektiven - Visionen. 15.Workshop<br />

2008 (S.415-418). Kröning: Asanger.<br />

Meder, L., Dorsemagen, C. & Krause, A. (2008). Observational Stress Analysis at School:<br />

Classroom Teaching as an Example of Interaction Work. Journal Psychology of Everyday<br />

Activity, 1(1), 23-32.<br />

Krause, A., Meder, L. & Dorsemagen, C. (2007). RHIA-Unterricht. Grundlagen und Anwendung,<br />

Manual zur videogestützten Unterrichtsanalyse. Aachen: Shaker.<br />

Promotionsvorhaben<br />

Meder, L. (in Arbeit). Psychische Belastungen von Lehrkräften in Deutschland und der Schweiz:<br />

Quantitative und qualitative Analysen.<br />

4 Literatur<br />

Abele, A. E., & Candova, A. (2007). Prädiktoren des Belastungserlebens im Lehrerberuf. Befunde<br />

einer 4-jährigen Längsschnittstudie. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21(2),<br />

107-118.<br />

Apel, H. J. (2006). Klassenführung. In K.-H. Arnold, Sandfuchs, U. & Wiechmann, J. (Hrsg.).<br />

Handbuch Unterricht (S. 230-234). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

Arnhold, G. (2005). Kleine Klassen - große Klasse? Eine empirische Studie zur Bedeutung der<br />

Klassengröße für Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

Badura, B., Schröder, H., & Vetter, C. (Hrsg.). (2009). Fehlzeiten-Report 2008. Betriebliches<br />

Gesundheitsmanagement: Kosten und Nutzen. Berlin: Springer.<br />

Baer, M., Fuchs, M., Füglister, P., Reusser, K., & Wyss, H. (Hrsg.). (2006). Didaktik auf psychologischer<br />

Grundlage. Von Hans Aeblis kognitionspsychologischer Didaktik zur modernen<br />

Lehr- und Lernforschung. Bern: h.e.p..<br />

Barth, A.-R., Diegritz, T., Dann, H.-D., Fürst, C., Haag, L., & Rosenbusch, H. S. (2005). Erfolgreicher<br />

Gruppenunterricht: Praktische Anregungen für den Schulalltag. Stuttgart: Klett.<br />

Bauer, J., Stamm, A., Virnich, K., Wissing, K., Müller, U., Wirsching, M. & Schaarschmidt, U.<br />

(2006). Correlation between burnout syndrome and pschological and psychosomatic symptoms<br />

among teachers. Occupational Environmental Health, 79, 199-204.<br />

Baumert, J., Bos, W., & Watermann, R. (1998). TIMSS/III: Schülerleistungen in Mathematik und<br />

den Naturwissenschaften am ende der Sekundarstufe II im internationalen Vergleich. Berlin:<br />

Max-Plack-Institut für <strong>Bildungsforschung</strong>.<br />

Ben-Ari, R., Krole, R., & Har-Even, D. (2003). Differential effects of simple frontal versus complex<br />

teaching strategy on teachers' stress, burnout, and satisfaction. International Journal of<br />

Stress Management, 10(2), 173-195.<br />

218


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

Clausen, M., Reusser, K., & Klieme, E. (2003). Unterrichtsqualität auf der Basis hoch-inferenter<br />

Unterrichtsbeurteilungen: Ein Vergleich zwischen Deutschland und der deutschsprachigen<br />

Schweiz. Unterrichtswissenschaft, 31(2), 122-141.<br />

Ditton, H. (2006). Unterrichtsqualität. In K.-H. Arnold, U. Sandfuchs & J. Wiechmann (Hrsg.).<br />

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Einsiedler, W. (2002). Das Konzept "Unterrichtsqualität". Unterrichtswissenschaft, 30(3), 194-<br />

196.<br />

Field, A. (2005). Discovering Statistics Using Spss. London: Sage Publications.<br />

Greiner, B. A., Krause, N., Ragland, D. R., & Fisher, J. M. (1998). Objective stress factors, acci-<br />

dents, and absenteeism in transit operators: A theoretical framework and empirical evidence.<br />

Journal of Occupational Health Psychology, 3(2), 130-146.<br />

Haag, L., Hanfstengel, U. v., & Dann, H.-D. (2001). Konflikte in den Köpfen von Lehrkräften im<br />

Gruppenunterricht. Zeitschrift für Pädagogik, 47(6), 929-941.<br />

Haag, L., & Hopperdietzel, H. (2000). Gruppenunterricht - aber wie? Die Deutsche Schule,<br />

92(4), 480-490.<br />

Hacker, W. (1986). Arbeitspsychologie. Bern: Huber.<br />

Hacker, W. (2005). Allgemeine Arbeitspsychologie: Psychische Regulation von Wissens-, Denkund<br />

körperlicher Arbeit. Bern: Huber.<br />

Hacker, W., & Looks, P. (2007). Knowledge work in human services - a cross-sectional pilot<br />

study. In P. Richter, J. M. Peiró & W. B. Schaufeli (Eds.). Psychosocial resources in health<br />

care systems (pp. 195-214). München: Hampp.<br />

Hakanen, J. J., Bakker, A. B., & Schaufeli, W. B. (2006). Burnout and work engagament among<br />

teachers. Journal of School Psychology, 43(6), 495-513.<br />

Helmke, A., Helmke, T., & Schrader, F.-W. (2007). Unterrichtsqualität: Brennpunkte und Perspektiven<br />

der Forschung. In K.-H. Arnold (Hrsg.). Unterrichtsqualität und Fachdidaktik (S.<br />

51-72). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

Herzog, S. (2007). Beanspruchung und Bewältigung im Lehrerberuf: Eine salutogenetische und<br />

biografische Untersuchung im Kontext unterschiedlicher Karriereverläufe. Münster: Waxmann.<br />

Hugener, I., Pauli, C. & Reusser, K. (Hrsg.) (2006). Videoanalysen (Materalien zur <strong>Bildungsforschung</strong>,<br />

Band 15). Frankfurt/Main: Gesellschaft zur Förderung Pädagogischer Forschung.<br />

Johnson, D.W., Johnson, R.T. & Stanne, M.B. (2000). Cooperative Learning Methods: A Meta-<br />

Analysis. Cooperative Learning Center of the University of Minnesota: http://www.cooperation.org/pages/cl-methods.html<br />

(Zugriff: 01.09.2009).<br />

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am Arbeitsplatz Schule. In W. Bungard, B. Koop & L. C. (Hrsg.). Psychologie und Wirt-<br />

219


Universität Freiburg<br />

schaft leben: Aktuelle Themen der Wirtschaftspsychologie in Forschung und Praxis (S. 314-<br />

319). München: Hampp.<br />

Klusmann, U., Kunter, M., Trautwein, U., & Baumert, J. (2006). Lehrerbelastung und Unterrichtsqualität<br />

aus der Perspektive von Lehrenden und Lernenden. Zeitschrift für Pädagogische<br />

Psychologie, 20(3), 161-173.<br />

Köck, P. (2005). Handbuch der Schulpädagogik für Studium - Praxis - Prüfung. Donauwörth:<br />

Auer.<br />

Körner, S. C. (2003). Das Phänomen Burnout am Arbeitsplatz Schule - ein empirischer Beitrag<br />

zur Beschreibung des Burnout-Syndroms und seiner Verbreitung sowie zur Analyse von<br />

Zusammenhängen und potentiellen Einflussfaktoren auf das Ausbrennen von Gymnasiallehrern.<br />

Berlin: Logos.<br />

Kounin, J. (1976). Techniken der Klassenführung. Bern: Huber.<br />

Kramis-Aebischer, K. (1995). Stess, Belastungen und Belastungsverarbeitung im Lehrerberuf.<br />

Bern: Haupt.<br />

Krause, A. (2002). Psychische Belastungen im Unterricht - ein aufgabenbezogener Untersuchungsansatz:<br />

Analyse der Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern. Unveröffentlichte Dissertation,<br />

Universität Flensburg.<br />

Krause, A. (2004). Erhebung aufgabenbezogener psychischer Belastungen im Unterricht - ein<br />

Untersuchungskonzept. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 48(3), 139-<br />

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im Forschungsdschungel. In M. Rothland (Hrsg.). Belastung und Beanspruchung im<br />

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(Hrsg.). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf (S. 99-118). Wiesbaden: VS Verlag.<br />

Krause, A., Meder, L., & Dorsemagen, C. (2007). RHIA-Unterricht. Grundlagen und Anwendung,<br />

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die psychischen Belastungen der Lehrerinnen und Lehrer? In E. Mittag, E. Sticker & K.<br />

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Psychology, 10(1), 18-30.<br />

220


Sind innovative Lehr- und Lernformen<br />

für Schüler wie auch für Lehrkräfte vorteilhaft?<br />

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Lehrkräften - Entwicklung eines Instruments für die Vollerhebung in <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>.<br />

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Oesterreich, R. (1999). Konzepte zu Arbeitsbedingungen und Gesundheit - fünf Erklärungsmodelle<br />

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Arbeitsbedingungen: Konzepte, Ergebnisse und Werkzeuge der Arbeitsgestaltung (S.<br />

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Oesterreich, R. (2008). Konstrukte und Erhebungsmethoden in der Forschung zur psychischen<br />

Belastung von Lehrerinnen und Lehrern. In A. Krause, H. Schüpbach, E. Ulich & M. Wülser<br />

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Oesterreich, R., Leinter, K., & Resch, M. (2000). Analyse psychischer Anforderungen und Belastungen<br />

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Klinkhardt.<br />

223


Die <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> setzt sich für ein lebendiges und lebenswertes <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> ein. Sie<br />

ebnet den Weg für Spitzenforschung, vielfältige Bildungsmaßnahmen und den verantwortungsbewussten Umgang<br />

mit unseren Mitmenschen. Die <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong> <strong>Stiftung</strong> ist eine der großen operativen <strong>Stiftung</strong>en in Deutsch-<br />

land. Sie ist die einzige, die ausschließlich und überparteilich in die Zukunft <strong>Baden</strong>-<strong>Württemberg</strong>s investiert – und<br />

damit in die Zukunft seiner Bürgerinnen und Bürger.<br />

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