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Vertrauensarbeitszeit: Hintergründe und Gestaltungserfordernisse für

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Sascha Wingen & Tanja Schulze (Prospektiv – Gesellschaft <strong>für</strong> betriebliche<br />

Zukunftsgestaltungen, Dortm<strong>und</strong>)<br />

<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>: <strong>Hintergründe</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Gestaltungserfordernisse</strong> <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Leistung unter Zeitautonomie<br />

Im folgenden Beitrag werden erste Ergebnisse des Forschungsvorhabens<br />

„<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> - neue Entwicklung gesellschaftlicher<br />

Arbeitszeitstrukturen“ (gefördert von der B<strong>und</strong>esanstalt <strong>für</strong> Arbeitsschutz<br />

<strong>und</strong> Arbeitsmedizin: F 1838; Auftragnehmer: Prospektiv GmbH, Dortm<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Technologieberatungsstelle beim DGB Landesbezirk NRW e.V., Köln;<br />

Laufzeit: 07/02 bis 01/04) vorgestellt. Im Fokus stehen Voraussetzungen <strong>und</strong><br />

Bedingungen ges<strong>und</strong>heitsgerechter <strong>und</strong> leistungsfördernder<br />

<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>. Die Ergebnisse ermöglichen Rückschlüsse auf<br />

strukturelle Bedingungen <strong>und</strong> Wirkungszusammenhänge einer ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

leistungsorientierten <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>.<br />

1. Definition <strong>und</strong> Verbreitung von <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong><br />

Im Zuge des Wandels der Arbeitswelt, der sich unter den Stichworten<br />

„Globalisierung“, „Informations- <strong>und</strong> Dienstleistungsgesellschaft“ <strong>und</strong><br />

„Flexibilisierung“ subsumieren lässt, entwickeln sich seit einigen Jahren<br />

flexible Arbeitszeitmodelle. Besonders in der IT-Branche, im Forschungs<strong>und</strong><br />

Entwicklungsbereich sowie bei serviceorientierten<br />

Dienstleistungsunternehmen beobachtet man flexible Formen der<br />

Arbeitszeitgestaltung bis hin zur so genannten <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> (VAZ).<br />

In der betrieblichen Praxis haben sich unterschiedliche Varianten von VAZ<br />

entwickelt, in denen folgende Elemente verschiedenartig kombiniert <strong>und</strong><br />

ausgestaltet werden:<br />

• Verzicht auf Arbeitszeiterfassung <strong>und</strong> -kontrolle durch den<br />

Arbeitgeber<br />

• Wegfall personenbezogener Anwesenheitsvorgaben<br />

• Zielvereinbarungen <strong>und</strong> Ergebnisorientierung<br />

• Erweiterte Handlungs- <strong>und</strong> Entscheidungsspielräume der<br />

Beschäftigten<br />

Vergütet wird üblicherweise weiterhin die tariflich bzw. vertraglich<br />

vereinbarte Arbeitszeit, weitere Elemente wie Flexibilisierung des<br />

Arbeitsortes (Telearbeit), Vereinbarung von Funktions- <strong>und</strong> Servicezeiten<br />

<strong>und</strong> „Vertrauensurlaub“ können das Arbeitszeitmodell ergänzen.


<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> hat sich seit Mitte der 1990er Jahre in Unternehmen<br />

verschiedener Industrie- <strong>und</strong> Dienstleistungsbranchen zunehmend verbreitet.<br />

Repräsentative Daten liegen bislang nicht vor, aber aktuellen<br />

Untersuchungen zufolge liegt der Anteil von Unternehmen in der BRD, die<br />

<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> zumindest in Teilbereichen eingeführt haben, bei bis<br />

zu einem Drittel. (Pletke & Wieczorek-Haubus, 2003; Janßen, 2002; IfO, 2002)<br />

Der Anteil der Beschäftigten in <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> in der<br />

Multimediabranche liegt nach einer aktuellen Umfrage (n = 673) von<br />

Prospektiv bei 27% (Brasse, 2003). Laut IfO 2002 arbeiten 22% der<br />

Beschäftigten in der Metall- <strong>und</strong> Elektroindustrie in <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der variierenden Bedeutung des Begriffs „<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>“ in<br />

der Praxis ist allerdings davon auszugehen, dass ein deutlich geringerer<br />

Anteil der Unternehmen neben dem arbeitgeberseitigen Verzicht auf<br />

Arbeitszeiterfassung <strong>und</strong> -kontrolle weitere Elemente wie z. B. eine<br />

individuelle Zeitautonomie der Beschäftigten <strong>und</strong> größere Handlungs- <strong>und</strong><br />

Entscheidungsspielräume mit <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> verbindet.<br />

2. Chancen <strong>und</strong> Risiken aus Unternehmer- <strong>und</strong><br />

Beschäftigtensicht<br />

2.1 Bisheriger Diskussionsstand<br />

In der Öffentlichkeit <strong>und</strong> in der vorliegenden Literatur werden Vor- <strong>und</strong><br />

Nachteile von VAZ <strong>für</strong> Unternehmen <strong>und</strong> Beschäftigte kontrovers diskutiert.<br />

Arbeitgeber sehen vor allem Vorteile in einer flexibleren Anpassung der<br />

Arbeitszeit an Auslastungsschwankungen, einer höheren<br />

K<strong>und</strong>enorientierung, einer Produktivitäts- <strong>und</strong> Effizienzsteigerung, dem<br />

Wegfall der Verwaltungskosten <strong>für</strong> die Arbeitszeiterfassung, dem<br />

Überst<strong>und</strong>enabbau sowie in einer erhöhten Attraktivität am Arbeitsmarkt.<br />

Demgegenüber werden ein erhöhter Koordinationsaufwand bei Absprachen<br />

sowie ein be<strong>für</strong>chteter Kontrollverlust der Führungskräfte aus<br />

Unternehmenssicht als nachteilig bewertet. (Hoff, 2002, Erlewein, 2000)<br />

Aus Beschäftigtensicht ergeben sich Vorteile durch wachsenden<br />

Handlungsspielraum, mehr Zeitautonomie <strong>und</strong> Selbstverantwortung sowie<br />

bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Privat- <strong>und</strong> Berufsleben.<br />

Andererseits warnen Interessensvertreter der Gewerkschaften vor der Gefahr<br />

der Selbstausbeutung der Beschäftigten bei zunehmender Arbeitsverdichtung.<br />

Als mögliche negative Folgen werden Überst<strong>und</strong>enanhäufungen,<br />

Konkurrenzkämpfe zwischen Kollegen, Überforderung, Versagensängste <strong>und</strong><br />

Entgrenzung von Arbeit <strong>und</strong> Freizeit bis hin zur Erholungsunfähigkeit<br />

genannt. (Haipeter et al, 2002, Hamm, 2002, Glißmann, Peters, 2001, Pickshaus et<br />

al, 2001)


2.2 Eigene Untersuchungen <strong>und</strong> Ergebnisse<br />

Um empirische Aussagen zu Chancen <strong>und</strong> Risiken von VAZ treffen zu<br />

können, sind im laufenden Projekt teilstrukturierte Interviews mit<br />

Geschäftsführern, PersonalleiterInnen <strong>und</strong> Betriebs- bzw. Personalräten in<br />

bislang vier Unternehmen <strong>und</strong> einer öffentlichen Verwaltung mit praktizierter<br />

VAZ geführt worden. Dabei wurde deutlich, dass der Zusammenhang<br />

zwischen <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> <strong>und</strong> möglichen Auswirkungen auf Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Wohlbefinden der Beschäftigten in der Diskussion auf Betriebsebene<br />

bisher kaum Beachtung findet. So wurden in keinem der von uns befragten<br />

Unternehmen die betrieblichen Arbeitsschutzakteure beim<br />

Einführungsprozess beteiligt. Auch die Frage, ob VAZ Auswirkungen auf<br />

das Fehlzeitengeschehen hat, wurde von den Befragten in den Unternehmen<br />

bisher nicht aufgeworfen.<br />

Um ergänzende Aussagen zum subjektiven Wohlbefinden <strong>und</strong> zur<br />

Ges<strong>und</strong>heit der Beschäftigten zu erheben, werden aktuell (Mai/Juni 2003)<br />

Beschäftigte in mehreren von uns kontaktierten Unternehmen schriftlich<br />

befragt. Erste Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung aus dem<br />

Dienstleistungssektor (Medien/ Forschung/ Sozialwesen, n = 15) zeigen, dass<br />

die Zufriedenheit mit VAZ im Vergleich zu vorherigen Arbeitszeitmodellen<br />

bei 9 Beschäftigten wächst. Gleichzeitig wurde ein Anstieg der tatsächlichen<br />

Arbeitszeit, eine Zunahme von Stress <strong>und</strong> Leistungsdruck angegeben. Der<br />

gewachsene Spielraum bei der Verteilung der Arbeitszeit <strong>und</strong> die<br />

gewachsene Eigenverantwortung gleichen aus Sicht der Beschäftigten die<br />

Nachteile offenbar häufig aus.<br />

In der Multimediabranche sind rd. ¾ der befragten Beschäftigten mit VAZ<br />

zufrieden. Die Zufriedenheitsanteile bei Gleitzeit ohne Kernarbeitszeit (rd.<br />

88%) sind signifikant höher, bei fester Arbeitszeit (rd. 60%) signifikant<br />

niedriger. Hinsichtlich geleisteter Mehrarbeit nimmt <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong><br />

gegenüber allen anderen Arbeitszeitmodellen eine Spitzenposition ein.<br />

Gesamt<br />

<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>/<br />

keine feste Arbeitszeit<br />

Gleitzeit ohne<br />

Kernarbeits z eit<br />

Gleitzeit mit<br />

Kernarbeits z eit<br />

feste Arbeitszeit<br />

24,4%<br />

21,7%<br />

28,9%<br />

22,0%<br />

27,9%<br />

16,7%<br />

20,9%<br />

22,5%<br />

18,4%<br />

22,9%<br />

20,0%<br />

28,5%<br />

28,9%<br />

31,2%<br />

Abbildung 1: Mehrarbeit in verschiedenen Arbeitszeitmodellen in der Multimedia-<br />

Branche (Quelle: Brasse 2003; n = 673; p < 0,02)<br />

30,7%<br />

41,7%<br />

26,2%<br />

23,7%<br />

24,3%<br />

18,6%<br />

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%<br />

keine Mehrarbeit<br />

bis 4 St<strong>und</strong>en<br />

4 bis 8 St<strong>und</strong>en<br />

mehr als 8<br />

St<strong>und</strong>en


Erfolgreiche <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>modelle basieren nach unseren bisherigen<br />

Ergebnissen auf der Beachtung wichtiger Einführungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsvoraussetzungen, die über die Abschaffung der Stempeluhr<br />

hinausgehen. So sind bei abhängig Beschäftigten in jedem Fall die<br />

gesetzlichen Regelungen zur Höchstarbeitszeit <strong>und</strong> Aufzeichnungspflicht von<br />

Überst<strong>und</strong>en (ArbZG §§ 3, 16 (1)) einzuhalten.<br />

Weitere Erfolgsfaktoren <strong>und</strong> Gestaltungsanforderungen einer<br />

ges<strong>und</strong>heitsfördernden <strong>und</strong> leistungsgerechten <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> sind:<br />

• Integration in ganzheitliche unternehmensstrategische Entwicklung<br />

• eine gelebte betriebliche Vertrauenskultur<br />

• Offener Kommunikations- <strong>und</strong> Aushandlungsprozess zu<br />

angestrebten Zielen <strong>und</strong> Interessenslagen aller betrieblichen Akteure<br />

• eine angemessene Personaldecke <strong>und</strong> ein realistischer<br />

Aufgabenzuschnitt<br />

• die Partizipation der Beschäftigten bei der Einführung<br />

• Freiwilligkeit der Teilnahme <strong>und</strong> Möglichkeit zum Ausstieg<br />

• kompetente Mitarbeiter, die in der Lage sind, ihre Arbeitszeit selbst<br />

zu organisieren <strong>und</strong> ihre Kollegen qualifiziert zu vertreten<br />

• Kooperative Führungskräfte, die bereit sind, bisheriges<br />

Kontrollverhalten aufzugeben<br />

• Regelungen zum angemessenen Umgang mit Überlastsituationen<br />

• Verbindliche Vereinbarungen zwischen Unternehmen <strong>und</strong><br />

Beschäftigten, z. B. in Form einer Betriebsvereinbarung<br />

Literatur<br />

Brasse, C.: Befragung zur Arbeitssituation der Beschäftigten in der<br />

Multimediabranche. Auftraggeber: Connex <strong>und</strong> Ver.di, 2003. V. i. V.<br />

Erlewein, M.: <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> – die Lösung aller Arbeitszeitprobleme? In:<br />

angewandte Arbeitswissenschaften (2000), Nr. 164, S. 53-69<br />

Glißmann, W.; Peters, K.: Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in<br />

der Arbeit <strong>und</strong> ihre paradoxen Folgen. Hamburg: VSA-Verlag, 2001.<br />

Haipeter, Th., Lehndorff, St.; Schilling, G.; Voss-Dahm, D.; Wagner, A.:<br />

<strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>: Analyse eines neuen Rationalisierungskonzepts. In: Leviathan<br />

30, 2002, S. 360-38<br />

Hamm, I.: Flexible Arbeitssysteme. <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong> – Zeitautonome Gruppen –<br />

Flow Time. Frankfurt a. M.: B<strong>und</strong>-Verlag, 2002.<br />

Hoff, A.: <strong>Vertrauensarbeitszeit</strong>: einfach flexibel arbeiten. Wiesbaden, Gabler, 2002a.<br />

IfO – Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung: Arbeitszeit in der Metall- <strong>und</strong><br />

Elektroindustrie. Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag von Gesamtmetall, 2002.<br />

Janßen, P.: Arbeitszeitflexibilisierung - Der Königsweg zur besseren Vereinbarkeit<br />

von Familie <strong>und</strong> Beruf? Referat im Rahmen des Best-Zeit-Workshops „Flexible<br />

Arbeitszeiten: Fit <strong>für</strong> die Zukunft“, Düsseldorf, 26.09.2002.<br />

Pickshaus, K; Schmitthenner, H.; Urban, H.-J. (Hrsg.): Arbeiten ohne Ende. Neue<br />

Arbeitsverhältnisse <strong>und</strong> gewerkschaftliche Arbeitspolitik. Hamburg: VSA-Verlag,<br />

2001.<br />

Pletke, M.; Wieczoreck-Haubus, M.: Arbeitszeit ohne Kontrolle. Personalwirtschaft<br />

4/03, S. 59-63

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