Die Neue Hochschule Heft 5/2015
Zeitschrift des hlb Hochschullehrerbund e.V. Themenschwerpunkt: Citizen Science - Wissenschaft mitten in der Gesellschaft
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Themenschwerpunkt: Citizen Science - Wissenschaft mitten in der Gesellschaft
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CITIZEN SCIENCE BRAUCHT PARTIZIPATION! 157<br />
Sind Kinder, sozial Benachteiligte und lokal Verwurzelte auch für die Wissenschaft Expertinnen für die<br />
Gestaltung der Gesellschaft? Oder soll die „freie Wissenschaft” ihre Lebensqualität bestimmen?<br />
Im Dritten Reich diente das „Volksgesundheitskonzept”<br />
der Ausgrenzung<br />
und Ermordung derjenigen Menschen,<br />
die nicht der Ideologie des „gesunden<br />
Volkskörpers” entsprachen. Ab den<br />
1950er-Jahren wurde der Ansatz der<br />
pragmatisch-kognitiven „gesundheitlichen<br />
Aufklärung” entwickelt, der durch<br />
Statistiken und Sachlichkeit auf „Ge -<br />
sundheitsgefahren” aufmerksam machte.<br />
Auf die Frauengesundheitsbewegung<br />
der 1970er-Jahre (Legalisierung des<br />
Schwangerschaftsabbruchs, Abkehr von<br />
der technokratischen Medizin und<br />
männlich-ärztlichen Dominanz etc.)<br />
folgte in den 1980- bis 90er-Jahren, zeitlich<br />
parallel mit dem Aufkommen von<br />
HIV/AIDS, die Männergesundheit. Präventionsprogramme<br />
der Bundeszentrale<br />
für gesundheitliche Aufklärung wie<br />
„Mach’s mit!” konnten sich mit ihren<br />
Postulaten der Partizipation und Selbstbestimmung<br />
bereits aus der Ottawa-<br />
Charta heraus konzeptionalisieren lassen.<br />
Da die forschend-praktische Arbeit<br />
der Prävention/Gesundheitsförderung<br />
immer eine Veränderung mit sich zieht,<br />
für die im Zeitverlauf neue Erkenntnisse,<br />
veränderte Einstellungen und neues<br />
Verhalten stehen, kann Erfolg einer<br />
Intervention nur über „das Mitmachen”<br />
der Betroffenen definiert werden. Faktisch<br />
bedeutet dies, dass der Grundsatz<br />
der Partizipation in den angewandten<br />
Gesundheitswissenschaften eine Condition<br />
sine qua non ausmacht.<br />
Bürgerinnenbeteiligung<br />
Für Beteiligungen in gesundheitsbezogenen<br />
Projekten haben Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums<br />
Berlin ein neunstufiges Modell<br />
zur Beurteilung von Partizipation mit<br />
Anhaltspunkten dazu vorgestellt, ob<br />
eine Beteiligung tatsächlich stattfindet –<br />
und nach welchen Maßstäben diese<br />
Beteiligung als gelungen bewertet werden<br />
kann (Wright, Block, von Heller,<br />
2007). Dabei sei Partizipation kein Entweder-oder,<br />
sondern ein Entwicklungsprozess,<br />
für den vor einer direkten<br />
Beteiligung zunächst Vorstufen realisiert<br />
werden müssen. Mit diesem Modell<br />
sind der Grad der erreichten Partizipa -<br />
tion einzuschätzen und Möglichkeiten<br />
zur Steigerung zu erkennen.<br />
Auf den beiden Stufen 1 und 2 der<br />
Tabelle sind die Mitglieder der Zielgruppe<br />
„Teilnehmerinnen“. Im Mittelpunkt<br />
Stufe 9 Selbstständige Organisation Über Partizipation hinaus<br />
Stufe 8 Entscheidungs- und Kontrollmacht Partizipation<br />
Stufe 7<br />
Stufe 6<br />
Stufe 5<br />
Stufe 4<br />
Stufe 3<br />
Teilweise Entscheidungskompetenz<br />
Mitbestimmung<br />
Einbeziehung/Entwicklung von<br />
Beschwerdeinstanzen<br />
Anhörung/Beirat<br />
Information<br />
Vorstufen der Partizipation<br />
Stufe 2 Erziehen und Behandeln keine Partizipation<br />
Stufe 1<br />
Instrumentalisierung, Manipulation<br />
Tabelle: Stufenmodel der Partizipation, ursprünglich von der Forschungsgruppe Public Health im WZ Berlin<br />
für Sozialforschung und Gesundheit Berlin e. V. für den Gesundheitsbereich entwickelt, aber auch auf andere<br />
Wissenschaftsbereiche übertragbar. Quelle: Wright, Block, von Unger, 2007.<br />
stehen jedoch die Interessen der Entscheidungsträger.<br />
<strong>Die</strong>se Stufe wird häufig<br />
aus der Einstellung heraus eingenommen,<br />
dass die Betroffenen als<br />
unaufgeklärt und benachteiligt wahrgenommen<br />
werden und dass die Defizite<br />
durch „ihre Beforschung“ (als Datenlieferanten)<br />
mit anschließender Behandlung<br />
zu ihrem Besseren (richtiges Verhalten)<br />
durch Professionelle ausgeglichen<br />
werden könnten.<br />
Stufe 3 macht die Informationsvermittlung<br />
aus, wobei die Professionellen über<br />
die bestehende Problemlage und das<br />
Hilfsangebot – in vermeintlich guter<br />
Absicht – bereits entschieden haben.<br />
Auf Stufe 4 wird die Zielgruppe angehört<br />
und es besteht Interesse an ihrer<br />
Sicht, aber sie haben keine Macht dar -<br />
über, ob ihre Meinungen auch aufgegriffen<br />
werden.<br />
Auf Stufe 5 nehmen Vertreter der Zielgruppe<br />
formal an Entscheidungsprozessen<br />
teil. <strong>Die</strong> Bindung an die Entscheidungen<br />
bleibt jedoch offen.<br />
Ab Stufe 6 wird von realer Partizipation<br />
gesprochen. Hier werden Rücksprachen<br />
gehalten, ein Mitspracherecht ist vorgesehen<br />
und wird wahrgenommen, es<br />
wird verhandelt, jedoch auf beiden Seiten<br />
ohne einseitige Entscheidungsbefugnis.<br />
Auf Stufe 7 ist sichergestellt, dass die<br />
Entscheidungskompetenz der Zielgruppe<br />
miteinbezogen wird, wenn auch ggf.<br />
beschränkt auf einzelne As pekte des<br />
Projekts. Obwohl der Anstoß für Interventionen<br />
von anderen außerhalb der<br />
Zielgruppe kommt, sollen be stimmte<br />
Entscheidungen ausschließlich von der<br />
Zielgruppe getroffen werden.<br />
DNH 5 ❘ <strong>2015</strong>