Michael Gehler Finis Neutralität? - Archive of European Integration
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<strong>Michael</strong> <strong>Gehler</strong><br />
bzw. den Status der <strong>Neutralität</strong> überhaupt zuerkannt zu bekommen. 255 Die<br />
Wahrung der <strong>Neutralität</strong> wurde zu einem Gradmesser für Souveränität. Mit<br />
der schrittweisen Einschränkung der Handlungsspielräume der europäischen<br />
Nationalstaaten 256 im Zuge wachsender Internationalisierung und<br />
steigender Interdependenz der Politik sowie ökonomischer und militärischer<br />
Hegemonie- (USA) und Harmonisierungsbestrebungen (EU) von Politikbereichen<br />
korrespondierte auch ein zunehmender Bedeutungsrückgang<br />
der Neutralen. Ihnen drohte dadurch ein doppelter Einflußverlust, eine<br />
zweifache Verengung der Bewegungsfreiheit, waren sie doch durch den<br />
<strong>Neutralität</strong>sstatus bereits von Anfang an in ihren Handlungsmöglichkeiten<br />
eingeschränkt. Mit dem Erosionsprozeß der Souveränität 257 ging der Bedeutungsverlust<br />
der <strong>Neutralität</strong> Hand in Hand.<br />
These 10 <strong>Neutralität</strong>spolitik verstand sich zumeist instrumentell: Sie war<br />
Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck. 258 Ins<strong>of</strong>ern war sie eine wohlkalkulierte<br />
und äußerst pragmatische Antwort auf komplexe Herausforderungen<br />
wie existenzgefährdende Krisensituationen. Der sehr steriltechnische<br />
Charakter des <strong>Neutralität</strong>sinstituts machte identitätsbildende<br />
Beimengungen und Überhöhungen notwendig. Durch den aktuellen Sinn-<br />
und Werteverlust wurde <strong>Neutralität</strong> wieder auf ihren „negativ“operationellen<br />
Kernbereich reduziert, der zuletzt in Form von „Allianzfreiheit“<br />
zum Ausdruck kam. Von den europäischen Neutralen kann eigentlich<br />
nur noch die Schweiz den Status der <strong>Neutralität</strong> glaubhaft beanspruchen.<br />
These 11 <strong>Neutralität</strong> ist stärker von außen als von innen bedingt. Ihre Sinnhaftigkeit<br />
muß sehr stark von inneren Faktoren, z.B. der Fundierung in der<br />
Verfaßtheit eines Staatswesens, abhängig sein, um sie auch in außenpolitisch<br />
widrigen, also neutralitätskonjunkturell ungünstigen Zeiten verteidigen<br />
und bewahren zu können. Das heißt: entfallen die äußeren Bedingungs-<br />
255 Vgl. hierzu auch Rotter, Neutralization, An Instrument for Solving International<br />
Conflicts?, S. 55-58.<br />
256 Zur grundsätzlichen Problematik der Obsoleszenz des Nationalstaats Stanley H<strong>of</strong>fmann,<br />
Obstinate or Obsolete? The Fate <strong>of</strong> the Nation-State and the Case <strong>of</strong> Western<br />
Europe, in: Daedalus, 95. Jg. (1966), S. 862-915.<br />
257 Pascal Couchepin, Sind Staaten noch souverän? Für eine sachliche Diskussion<br />
eines relativen Begriffs, Neue Zürcher Zeitung, 26. März 2001.<br />
258 Bindschedler, <strong>Neutralität</strong>spolitik und Sicherheitspolitik, S. 339.