Michael Gehler Finis Neutralität? - Archive of European Integration
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90 Michael Gehler zeigt bemerkenswerte Parallelen: Aufgrund unterschiedlicher Entstehungskontexte 233 ergaben sich sowohl abweichende als auch vergleichbaranaloge Konzepte und Instrumentalisierungen. „Neutral“ und „Neutralität“, Begriffe der politischen Sprache, sind wie „Europa“, „Europäische Union“, „Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ auf ihren Realitätskonformitätsgrad, also ihre Etikettierung 234 zu hinterfragen. Ikonoklastisch formuliert: neutral im idealtypischen Sinne des klassischen Völkerrechts waren die Neutralen eigentlich nie. Widersprüche und Wechsel in der Konzeption der Neutralitätspolitik waren an der Tagesordnung. Sie betrieben eine Meisterschaft der vielseitigen Verwendung dieses Vehikels, das bei geänderten Konstellationen bemerkenswerte Flexibilität entwickelte und erstaunliche Überlebenskunst bewies. Aufgrund wechselnder Rahmenbedingungen wurde eine ambivalente Politik praktiziert. In Krisenzeiten gab es hinter den Kulissen mehr oder weniger weitgehende Kooperationen mit einer der beteiligten Seiten, v.a. im Kalten Krieg mit dem Westen. Während die politische Elite „Äquidistanz“ zu den „Blöcken“ bekundete, wurden die Handelsströme umgelenkt, kooperierten Militärs geheim mit der NATO und machte die Industrie ihre Waffengeschäfte. Während des Ost-West-Konflikts waren die Neutralen nicht nur geistig-kulturell, sondern auch wirtschaftlich und politisch westorientiert, wenn nicht sogar praktisch im westlichen Lager verankert. Neutralität war also ein vielseitig nutzbarer Gebrauchsgegenstand wie ein Mittel der camouflage und wirkte somit als schillerndes Täuschungsmanöver in verschiedene Richtungen. Sie verhüllte Parteilichkeiten im Ost-West- wie im Nord-Süd-Konflikt 235 und diente in nicht wenigen Fällen als Identifikationsinstrument sowie als Abgrenzungsmechanismus. Mit ihr ließ sich auch ein nationsbildender und damit staatsstabilisierender Mythos kreieren. 236 Mit Blick auf Alan S. Mil- 233 Rotter, Modelle der Neutralität in Europa, S. 287-298; Luif, Neutralität - Neutralismus - Blockfreiheit, S. 270-271. 234 Angerer, Exklusivität und Selbstausschließung, S. 32-33; vgl. für dies und auch das folgende Angerer, Für eine Geschichte der österreichischen Neutralität, S. 703-704, 706. 235 Luif, Neutralität - Neutralismus - Blockfreiheit, S. 271. 236 Zum Spannungsfeld zwischen Wunsch und Realität: Andreas Barz, Der Mythos der Neutralität. Zu den Wechselwirkungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines politischen Konzeptes (Reihe Politikwissenschaft 9), Pfaffenweiler 1991.
Finis Neutralität? wards häretische These, wonach die europäische Integration als Mittel zur „Rettung des Nationalstaats“ diente, könnte auch Neutralität bzw. der Politik mit ihr eine vergleichbare Funktion attestiert werden. 237 Zwölf Thesenkomplexe lassen sich aus den empirischen Vergleichen herausarbeiten. These 1 Neutralität hat viel mit Größe und Festigung des Gebietsstandes (Territorialität), geographischer Lage (Geopolitik), Expansion der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen (Ökonomie), aber auch mit der Wechselhaftigkeit von Politik (Opportunismus) zu tun. Das völkerrechtliche Institut entstand erst in der frühen Neuzeit mit Herausbildung der Territorialstaaten und Ausweitung des transnationalen Handels- und Seeverkehrs. Dauerhafte Neutralität war nicht nur eine Frage des politischen Ermessens. Sie blieb v.a. für kleinere Staaten vorgesehen, die sich mit Blick auf ihre Neutralität reserviert verhielten und exklusiv damit umgingen – neutral konnten sie nur so lange sein, so lange andere nicht neutral waren bzw. wurden -, was ideologisch und mentalitätsspezifisch mannigfaltige Konsequenzen nach sich zog. Für die Eidgenossenschaft ist festgehalten worden, daß „sie vom auswärtigen Umfeld ein ausgesprochen negatives, von sich selbst ein entsprechend positives Bild prägte, sich als vorbildlichen und doch nicht nachahmbaren Sonderfall verstand“, wobei sie „auf der politischen Ebene mittels der Neutralitätsideologie die reale Zugehörigkeit zur Welt leugnete“. 238 Die Neutralen befanden sich in der Regel in einer spezifischen geostrategischen Lage bzw. einem geopolitischen Spannungsverhältnis zwischen oder gegenüber Mittel-, Groß- oder Supermächten. Sie waren entsprechend kalkulierbar und als „quantités negligeables“, d.h. akzeptierte Marginalien einzuschätzen, wenn nicht kontrollierbar. Die Neutralen in Europa besaßen immer nur ein schwaches politisches Gewicht: Bescheiden an der Zahl, ge- 237 Zu Recht wird von Thomas Angerer, Für eine Geschichte der österreichischen Neutralität, S. 707, die These vertreten, daß Integrations- und Neutralitätstheorie nicht mehr ohne einander auskommen. Zur immer wieder eingeforderten Theoriediskussion vgl. zuletzt Wolfgang Merkel, Die Europäische Integration und das Elend der Theorie, Geschichte und Gesellschaft, 25 Jg., Heft 2 (1999), S. 302-338. 238 Georg Kreis, Die schiefen Bilder in den Köpfen. Europa im Schweizer Geschichtsbewußtsein - die historische Wahrheit ist anders, Neue Zürcher Zeitung, 12./13. Juni 1999. 91
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<strong>Michael</strong> <strong>Gehler</strong><br />
zeigt bemerkenswerte Parallelen: Aufgrund unterschiedlicher Entstehungskontexte<br />
233 ergaben sich sowohl abweichende als auch vergleichbaranaloge<br />
Konzepte und Instrumentalisierungen. „Neutral“ und „<strong>Neutralität</strong>“,<br />
Begriffe der politischen Sprache, sind wie „Europa“, „Europäische Union“,<br />
„Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ auf ihren<br />
Realitätskonformitätsgrad, also ihre Etikettierung 234 zu hinterfragen.<br />
Ikonoklastisch formuliert: neutral im idealtypischen Sinne des klassischen<br />
Völkerrechts waren die Neutralen eigentlich nie. Widersprüche und Wechsel<br />
in der Konzeption der <strong>Neutralität</strong>spolitik waren an der Tagesordnung.<br />
Sie betrieben eine Meisterschaft der vielseitigen Verwendung dieses Vehikels,<br />
das bei geänderten Konstellationen bemerkenswerte Flexibilität entwickelte<br />
und erstaunliche Überlebenskunst bewies. Aufgrund wechselnder<br />
Rahmenbedingungen wurde eine ambivalente Politik praktiziert. In Krisenzeiten<br />
gab es hinter den Kulissen mehr oder weniger weitgehende Kooperationen<br />
mit einer der beteiligten Seiten, v.a. im Kalten Krieg mit dem Westen.<br />
Während die politische Elite „Äquidistanz“ zu den „Blöcken“ bekundete,<br />
wurden die Handelsströme umgelenkt, kooperierten Militärs geheim<br />
mit der NATO und machte die Industrie ihre Waffengeschäfte. Während<br />
des Ost-West-Konflikts waren die Neutralen nicht nur geistig-kulturell,<br />
sondern auch wirtschaftlich und politisch westorientiert, wenn nicht sogar<br />
praktisch im westlichen Lager verankert. <strong>Neutralität</strong> war also ein vielseitig<br />
nutzbarer Gebrauchsgegenstand wie ein Mittel der camouflage und wirkte<br />
somit als schillerndes Täuschungsmanöver in verschiedene Richtungen. Sie<br />
verhüllte Parteilichkeiten im Ost-West- wie im Nord-Süd-Konflikt 235 und<br />
diente in nicht wenigen Fällen als Identifikationsinstrument sowie als Abgrenzungsmechanismus.<br />
Mit ihr ließ sich auch ein nationsbildender und<br />
damit staatsstabilisierender Mythos kreieren. 236 Mit Blick auf Alan S. Mil-<br />
233 Rotter, Modelle der <strong>Neutralität</strong> in Europa, S. 287-298; Luif, <strong>Neutralität</strong> - Neutralismus<br />
- Blockfreiheit, S. 270-271.<br />
234 Angerer, Exklusivität und Selbstausschließung, S. 32-33; vgl. für dies und auch das<br />
folgende Angerer, Für eine Geschichte der österreichischen <strong>Neutralität</strong>, S. 703-704,<br />
706.<br />
235 Luif, <strong>Neutralität</strong> - Neutralismus - Blockfreiheit, S. 271.<br />
236 Zum Spannungsfeld zwischen Wunsch und Realität: Andreas Barz, Der Mythos der<br />
<strong>Neutralität</strong>. Zu den Wechselwirkungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines<br />
politischen Konzeptes (Reihe Politikwissenschaft 9), Pfaffenweiler 1991.