Michael Gehler Finis Neutralität? - Archive of European Integration
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8 Michael Gehler tei bei Bewahrung des Neutralitätsstatus möglich, 18 wobei umstritten blieb, ob dies neutralitätswidrig sei. Im Kontext relativierter Neutralitätsauffassungen ist auch von qualifizierter, differentieller, flexibler, diskriminierender, differenzierender, limitierter, relativer oder Demi-Neutralität die Rede gewesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. entstanden wichtige Rechtsdokumente. Die Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856 stellte eine multilaterale Kodifikation des Neutralitätsrechts dar. Zwischen Großbritannien und den USA wurde 1871 ein Schiedsvertrag geschlossen, der auch das Verhalten Neutraler im Seekrieg regelte. Der internationale Durchbruch erfolgte aber erst nach der Jahrhundertwende mit dem V. und XIII. Haager Übereinkommen vom 18. Oktober 1907 bezüglich der Rechte und Pflichten neutraler Mächte und Personen im Falle des Land- und Seekriegs. Sie zählen zur zusammenfassenden Kodifikation der Neutralitätsregeln, die bislang durch zwischenstaatliche und multilaterale Verträge sowie Gewohnheitsrecht festgelegt waren. Neutralität mit Passivität oder Untätigkeit gleichzusetzen, ist irreführend. Der Vorwurf von der „Trittbrettfahrerei“ ist tagespolitisch motiviert und historisch gesehen falsifizierbar, denn: Dem Recht des Neutralen auf Anerkennung der territorialen Unversehrtheit seitens kriegführender Staaten stehen zahlreiche Verpflichtungen gegenüber: Verhinderung, Enthaltung und Unparteilichkeit. Der Neutrale mußte seine territoriale Integrität (Land-, Wasser- und Luftraum) selbst schützen, Aggressionen von außen, wenn nötig auch mit bewaffneter, d.h. militärischer Gewalt, abwehren sowie eingefallene Truppen internieren. Kriegführende Staaten dürfen nicht unterstützt, mit Waffen bzw. Kriegsmaterial beliefert oder ihnen Durchzugsrechte eingeräumt werden. Ein neutraler Staat kann das Ende seiner Neutralität verkünden und sodann eine Konflikt- oder Kriegspartei unterstützen. Mit seiner Glaubwürdigkeit ist es dann aber geschehen. Während die einfache oder auch gewöhnliche Neutralität jeder Zeit widerrufbar ist, muß der permanent oder immerwährend Neutrale die erwähnten Grundsätze während des Krieges einhalten und schon in Frie- 18 Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887 sah für die Fälle eines österreichischen oder französischen Angriffs "wohlwollende" Neutralität des Vertragspartners vor.
Finis Neutralität? denszeiten alle Vorkehrungen und Sicherungsmaßnahmen treffen, um nicht in ein Kriegsszenario verwickelt zu werden. Es ist ihm untersagt, einen Krieg zu beginnen, Militärbündnis-Verträge abzuschließen, fremde Militär- Stützpunkte auf seinem Territorium zu erlauben oder wirtschaftliche Verbindungen einzugehen, die seine ökonomische und politische Unabhängigkeit so beschneiden würden, daß er im Kriegsfall seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte. 19 Nach dem Schweizer Vorbild entwickelte sich die dauernde Neutralität, daneben die auferlegte oder aufgezwungene Neutralisation (Belgien, Luxemburg). Beide verpflichteten dazu, in allen künftigen Kriegen neutral zu sein. Neben Malta - Großbritannien hielt sich nicht an die im Frieden von Amiens am 27. März 1802 festgelegte „neutralité permanente“, was im Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 bestätigt werden sollte 20 - kam es im 19. Jh. zu vertraglichen Festlegungen dauernder Neutralität bzw. von Neutralisationen im Falle der Schweiz (20. November 1815) und des Kongo-Staates (26. Februar 1885), der Republik Krakau (9. Juni 1815), Belgiens (19. April 1839), Luxemburgs (11. Mai 1867) und der Samoa-Inseln (14. Juni 1889). 21 Das 20. Jh. zeigte einen äußerst wechselvollen Verlauf von Praxis und Perzeption der Neutralität. In der ersten Hälfte trugen verschiedene Faktoren zu ihrer Gefährdung, Infragestellung, Abwertung und Ablehnung bei. Es sind folgende zu benennen: Die Idee der kollektiven Sicherheit bildete sich heraus - zunächst durch den Völkerbund (1919), dann mit den Vereinten Nationen (1945). US-Präsident Woodrow Wilson hatte bereits 1917 in seiner Kongreßbotschaft klargemacht, daß „neutrality“ nicht mehr „feasible or desirable“ sei. Diese Auffassung resultierte aus universalistischem und welthegemonialem Denken der US-amerikanischen „open door“- bzw. der späteren „one world policy“, die alternative und damit abweichende Vor- 19 Pieper, Neutralität von Staaten, S. 161-163, 167-168; Eger, Neutralität und Neutralismus, S. 293-295. 20 Pieper, Neutralität von Staaten, S. 170. 21 Schweitzer, Völkerrechtliche Begriffsbildung und Ausgestaltung, S. 320; Pieper, Neutralität von Staaten, S. 171-183. 9
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<strong>Finis</strong> <strong>Neutralität</strong>?<br />
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in ein Kriegsszenario verwickelt zu werden. Es ist ihm untersagt, einen<br />
Krieg zu beginnen, Militärbündnis-Verträge abzuschließen, fremde Militär-<br />
Stützpunkte auf seinem Territorium zu erlauben oder wirtschaftliche Verbindungen<br />
einzugehen, die seine ökonomische und politische Unabhängigkeit<br />
so beschneiden würden, daß er im Kriegsfall seinen Verpflichtungen<br />
nicht mehr nachkommen könnte. 19<br />
Nach dem Schweizer Vorbild entwickelte sich die dauernde <strong>Neutralität</strong>,<br />
daneben die auferlegte oder aufgezwungene Neutralisation (Belgien, Luxemburg).<br />
Beide verpflichteten dazu, in allen künftigen Kriegen neutral zu<br />
sein. Neben Malta - Großbritannien hielt sich nicht an die im Frieden von<br />
Amiens am 27. März 1802 festgelegte „neutralité permanente“, was im<br />
Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 bestätigt werden sollte 20 - kam es<br />
im 19. Jh. zu vertraglichen Festlegungen dauernder <strong>Neutralität</strong> bzw. von<br />
Neutralisationen im Falle der Schweiz (20. November 1815) und des Kongo-Staates<br />
(26. Februar 1885), der Republik Krakau (9. Juni 1815), Belgiens<br />
(19. April 1839), Luxemburgs (11. Mai 1867) und der Samoa-Inseln<br />
(14. Juni 1889). 21<br />
Das 20. Jh. zeigte einen äußerst wechselvollen Verlauf von Praxis und Perzeption<br />
der <strong>Neutralität</strong>. In der ersten Hälfte trugen verschiedene Faktoren<br />
zu ihrer Gefährdung, Infragestellung, Abwertung und Ablehnung bei. Es<br />
sind folgende zu benennen: Die Idee der kollektiven Sicherheit bildete sich<br />
heraus - zunächst durch den Völkerbund (1919), dann mit den Vereinten<br />
Nationen (1945). US-Präsident Woodrow Wilson hatte bereits 1917 in seiner<br />
Kongreßbotschaft klargemacht, daß „neutrality“ nicht mehr „feasible or<br />
desirable“ sei. Diese Auffassung resultierte aus universalistischem und<br />
welthegemonialem Denken der US-amerikanischen „open door“- bzw. der<br />
späteren „one world policy“, die alternative und damit abweichende Vor-<br />
19 Pieper, <strong>Neutralität</strong> von Staaten, S. 161-163, 167-168; Eger, <strong>Neutralität</strong> und Neutralismus,<br />
S. 293-295.<br />
20 Pieper, <strong>Neutralität</strong> von Staaten, S. 170.<br />
21 Schweitzer, Völkerrechtliche Begriffsbildung und Ausgestaltung, S. 320; Pieper,<br />
<strong>Neutralität</strong> von Staaten, S. 171-183.<br />
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