Michael Gehler Finis Neutralität? - Archive of European Integration

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06.12.2012 Aufrufe

84 Michael Gehler ren, ehemals faktisch neutralen, heute deklariert „allianzfreien“ skandinavischen Peripheriestaaten (Schweden und Finnland). Irlands Neutralität stellt einen schwer vergleichlichen Sonderfall dar, der von besonderer politischer Ambivalenz gekennzeichnet ist. In historischer Perspektive ist festzuhalten, daß sowohl in Schweden als auch in der Schweiz Neutralität insofern Tradition hat, als ihre geschichtlichen Wurzeln bereits weit vor die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Beide entschieden sich im Kontext des Ost-West-Konflikts für eine Beibehaltung des Konzepts der bewaffneten Neutralität. Österreich und Finnland betrachteten hingegen gerade in dieser Zeit Neutralität als Mittel, ihre Souveränität wiederzuerlangen bzw. zu bewahren und zu schützen. Irlands Neutralität hatte im Unterschied zu Österreich, der Schweiz, Schweden und Finnland viel weniger mit dem Kalten Krieg als mit dem Wunsch zu tun, eine sicherheitspolitische Unterordnung unter Großbritannien zu vermeiden. 225 Mit partieller Ausnahme Irlands bedeutete die EU-Mitgliedschaft für alle hier vorgestellten Länder einen Stimulationseffekt hinsichtlich stärkeren europäischen sicherheitspolitischen Engagements bzw. einer deutlicheren WEU- und NATO-Affinität, ohne daß sie formell auf ihre Neutralität verzichtet hätten. 226 Von Neutralität wollen die Skandinavier (und auch das offizielle Österreich) heute nicht mehr sprechen. Anders ausgedrückt: Der EU-Beitritt hatte mit Blick auf den durch die GASP und die GESVP erzeugten Erwartungsdruck, die Neutralen auf den Status von „Allianzfreien“ herabgedrückt. Dies wurde in Form der offiziellen Sprachregelung bei Finnland und Schweden bald erkennbar, auch im Falle Irlands und Österreichs entsprach diese Umschreibung der „Etikettenwahrheit“, was zuletzt von der „Schwarz-Blauen“ Regierung in Wien auch kundgetan wurde. Die 224 Ebd., S. 11; zur Verteidigungspolitik neutraler Staaten Payr, Die schwierige Kunst, S. 67. 225 CRS Report for Congress, NATO-Enlargement and the Former Neutrals, p.2. 226 Siehe hierzu auch Chong-Ko Tzou, Die neue Rolle der Neutralen. Österreichs Beitritt zur EU und die europäische Integration (Europäische Hochschulschriften: Reihe 31, Politikwissenschaft 313), Frankfurt/Main – Wien 1996; Patrick Schröter, Neutralität und GASP. Erste Erfahrungen Finnlands, Österreichs und Schwedens (Schweizer Schriften zur europäischen Integration 11), Bern 1997.

Finis Neutralität? Schweiz als Nicht-EU-Mitglied konnte von alledem sichtlich unberührter bleiben und weiterhin viel mehr Zurückhaltung üben, wenngleich auch hier Veränderungen erkennbar geworden sind. Allianzfreiheit insgesamt erscheint heute eher als Verlegenheits- bzw. Übergangslösung als ein sicherheitspolitisches Konzept von Dauer. Sie verweist bereits auf ein Rückzugsmanöver der (ehemals) Neutralen. Der Status der Neutralität hing and hängt eng mit einer identitätsstiftenden Funktion nach innen zusammen, und diese wiederum war eng verkoppelt mit einer geradezu sendungsbewußten Funktion nach außen: moralisch über anderen zu stehen, wenn nicht sogar eine „moral superpower“ zu sein. 227 Bei Beobachtung der aktuellen Konstellationen ist auffallend, daß Finnland und Schweden tendenziell weniger Berührungsängste mit der Atlantischen Allianz haben als die Schweiz oder Österreich. 228 Allerdings haben Finnland und Schweden auch für sich unterschiedliche Verhältnisse zur NATO. Während die beiden skandinavischen Staaten als ehemals faktisch Neutrale sich nun in ihrem Selbstverständnis als „allianzfrei“ begreifen, schränkt die in der österreichischen Bundesverfassung verankerte „immerwährende“ Neutralität den Handlungsrahmen der Alpenrepublik doch stärker ein, von der Eidgenossenschaft mit ihrem breiten, historisch tief verwurzelten und lange gewachsenen Neutralitätssockel gar nicht zu sprechen. Dennoch beteiligten sich Finnland, Österreich und Schweden gemeinsam mit Truppenkontingenten an der NATO-Friedensoperation in Bosnien- Herzegowina. Alle drei waren zu diesem Zeitpunkt Mitglieder des EAPC und Teilnehmer an der PfP-Initiative. Das Programm PfP wurde und wird aus verschiedenen Motiven und Zielsetzungen heraus wahrgenommen: zur Verbesserung der eigenen Verteidigungskapazitäten, als institutionelle Plattform zur euro-atlantischen Zusammenarbeit, als vertrauensbildendes Konsultationsforum oder sicherheitsfördernder Kooperationsrahmen, wenn nicht als Eintrittshalle für eine NATO-Mitgliedschaft, was die Kritiker im 227 Siehe hierzu auch Ann-Sofie Nilsson (Dahl), Den Moraliska Stormakten („The Moral Superpower“), Stockholm, 1991 und Kaiser, Culturally Embedded and Path- Dependent. 228 „Die Schweiz und die Nato – Mehr Qualität“, Neue Zürcher Zeitung, 8./9. August 1998, S. 13. 85

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<strong>Michael</strong> <strong>Gehler</strong><br />

ren, ehemals faktisch neutralen, heute deklariert „allianzfreien“ skandinavischen<br />

Peripheriestaaten (Schweden und Finnland). Irlands <strong>Neutralität</strong> stellt<br />

einen schwer vergleichlichen Sonderfall dar, der von besonderer politischer<br />

Ambivalenz gekennzeichnet ist.<br />

In historischer Perspektive ist festzuhalten, daß sowohl in Schweden als<br />

auch in der Schweiz <strong>Neutralität</strong> ins<strong>of</strong>ern Tradition hat, als ihre geschichtlichen<br />

Wurzeln bereits weit vor die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen.<br />

Beide entschieden sich im Kontext des Ost-West-Konflikts für eine Beibehaltung<br />

des Konzepts der bewaffneten <strong>Neutralität</strong>. Österreich und Finnland<br />

betrachteten hingegen gerade in dieser Zeit <strong>Neutralität</strong> als Mittel, ihre Souveränität<br />

wiederzuerlangen bzw. zu bewahren und zu schützen. Irlands<br />

<strong>Neutralität</strong> hatte im Unterschied zu Österreich, der Schweiz, Schweden und<br />

Finnland viel weniger mit dem Kalten Krieg als mit dem Wunsch zu tun,<br />

eine sicherheitspolitische Unterordnung unter Großbritannien zu vermeiden.<br />

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Mit partieller Ausnahme Irlands bedeutete die EU-Mitgliedschaft für alle<br />

hier vorgestellten Länder einen Stimulationseffekt hinsichtlich stärkeren<br />

europäischen sicherheitspolitischen Engagements bzw. einer deutlicheren<br />

WEU- und NATO-Affinität, ohne daß sie formell auf ihre <strong>Neutralität</strong> verzichtet<br />

hätten. 226 Von <strong>Neutralität</strong> wollen die Skandinavier (und auch das<br />

<strong>of</strong>fizielle Österreich) heute nicht mehr sprechen. Anders ausgedrückt: Der<br />

EU-Beitritt hatte mit Blick auf den durch die GASP und die GESVP erzeugten<br />

Erwartungsdruck, die Neutralen auf den Status von „Allianzfreien“<br />

herabgedrückt. Dies wurde in Form der <strong>of</strong>fiziellen Sprachregelung bei<br />

Finnland und Schweden bald erkennbar, auch im Falle Irlands und Österreichs<br />

entsprach diese Umschreibung der „Etikettenwahrheit“, was zuletzt<br />

von der „Schwarz-Blauen“ Regierung in Wien auch kundgetan wurde. Die<br />

224 Ebd., S. 11; zur Verteidigungspolitik neutraler Staaten Payr, Die schwierige Kunst,<br />

S. 67.<br />

225 CRS Report for Congress, NATO-Enlargement and the Former Neutrals, p.2.<br />

226 Siehe hierzu auch Chong-Ko Tzou, Die neue Rolle der Neutralen. Österreichs Beitritt<br />

zur EU und die europäische <strong>Integration</strong> (Europäische Hochschulschriften:<br />

Reihe 31, Politikwissenschaft 313), Frankfurt/Main – Wien 1996; Patrick Schröter,<br />

<strong>Neutralität</strong> und GASP. Erste Erfahrungen Finnlands, Österreichs und Schwedens<br />

(Schweizer Schriften zur europäischen <strong>Integration</strong> 11), Bern 1997.

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