Michael Gehler Finis Neutralität? - Archive of European Integration
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<strong>Michael</strong> <strong>Gehler</strong><br />
stellungen nicht duldeten. Weltmachtpolitik und Dominanzstreben vertrugen<br />
sich mit <strong>Neutralität</strong> nur schwer.<br />
<strong>Neutralität</strong> und ihre Anerkennung hängen in einem hohen Maß mit einem<br />
gewachsenen Demokratieverständnis zusammen. Nach 1918 formierte sich<br />
ein regelrechter Antineutralismus, der mit antipazifistischen Tendenzen<br />
Hand in Hand ging. Diese Tendenz korrelierte mit dem Aufkommen militant-antidemokratischer<br />
Bewegungen (Faschismus und Nationalsozialismus).<br />
Dagegen entwickelte sich eine Philosophie der überstaatlichen Völkergemeinschaft:<br />
Der „bellum iniustum“ wurde nicht als Angriff gegen den<br />
Angegriffenen, sondern als Angriff gegen die gesamte Staatengemeinschaft<br />
interpretiert, der eine Kollektivreaktion erfordere. Umstritten war, ob Völkerbundsmitgliedschaft<br />
und <strong>Neutralität</strong> miteinander vereinbar seien. Die<br />
Genfer Institution anerkannte dann den Fortbestand der <strong>Neutralität</strong>. 22 Die<br />
erste Euphorie der Vereinten Nationen ließ <strong>Neutralität</strong> überflüssig erscheinen,<br />
was sich jedoch nach Herausbildung der Blöcke rasch wieder ändern<br />
sollte.<br />
Die „bellum iustum“-Lehre erhielt angesichts autoritärer und totalitärer<br />
Herrschaftsformen mit unumschränkt herrschenden Diktatoren an der Spitze<br />
(Hitlerismus, Stalinismus) Auftrieb. Carl Schmitt - kein grundsätzlicher<br />
Gegner der <strong>Neutralität</strong> - formulierte 1938, daß die gegenwärtige Lage<br />
durch die Vorbereitung des „gerechten“ und „totalen Krieges“ sie verunmögliche.<br />
23<br />
Beide Weltkriege machten in den meisten Fällen deutlich, daß <strong>Neutralität</strong><br />
keinen wirksamen Schutz bieten konnte – das war aber nicht die Schuld der<br />
<strong>Neutralität</strong>, sondern das Versagen des internationalen Staatensystems bzw.<br />
ihrer Anerkennung. Neutrale wurden in der Regel Opfer der Herrschsucht<br />
22 Erinnert sei auch an den Kriegsächtungspakt Briand-Kellogg vom 27. August 1928,<br />
der die Frage nach der Obsoleszenz der <strong>Neutralität</strong> aufwarf, vgl. Pieper, <strong>Neutralität</strong><br />
von Staaten, S. 197-202.<br />
23 Carl Schmitt, Völkerrechtliche <strong>Neutralität</strong> und völkische Totalität, Monatshefte für<br />
Auswärtige Politik, 5 (Juli 1938), S. 613-618; Ders., Das neue Vae Neutris!, Völkerbund<br />
und Völkerrecht, 4 (1938), S. 633-638; Ders., <strong>Neutralität</strong> und Neutralisierungen,<br />
Deutsche Rechtswissenschaft. Vierteljahresschrift der Akademie für Deutsches<br />
Recht, 4. Bd., Heft 2 (1939), S. 97-118; vgl. auch Ders., Positionen und Begriffe<br />
im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923-1939, Hamburg 1939.