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Kunsttheorie und Ästhetik für Kulturpolitik und Pädagogik

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Max Fuchs<br />

Kunst als kulturelle Praxis<br />

<strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> <strong>für</strong> <strong>Kulturpolitik</strong> <strong>und</strong> <strong>Pädagogik</strong><br />

Remscheid 2011<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Inhalt<br />

Vorwort 3<br />

1. Kunst als kulturelle Praxis: Einleitung <strong>und</strong> Überblick 7<br />

2. Künste <strong>und</strong> Kunstdiskurse in der Geschichte 44<br />

3. Philosophische Zugänge: Kunst <strong>und</strong> der Diskurs des Schönen 100<br />

4. Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>: ein unheilige Allianz? 143<br />

5. Kunst <strong>und</strong> Gesellschaft: sozialgeschichtliche <strong>und</strong> soziologische Aspekte 182<br />

6. <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> in <strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kulturpolitik</strong> 197<br />

7. Schlussbemerkungen: Zur Rolle der Künste <strong>und</strong> der <strong>Ästhetik</strong> in der Moderne 214<br />

Literatur 218<br />

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Vorwort<br />

„Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von <strong>Ästhetik</strong>ern“. Mit diesen Worten aus der<br />

Vorrede zur ersten Ausgabe beginnt Jean Pauls „Vorschule zur <strong>Ästhetik</strong>“ aus dem Jahre 1804.<br />

Immerhin erschien diese Schrift, an der er nach eigener Aussage über zehntausend Tage<br />

gearbeitet hat, nach einem Jahrh<strong>und</strong>ert intensivster ästhetischer Debatten. Engländer,<br />

Franzosen <strong>und</strong> nicht zuletzt Deutsche schufen ein reichhaltiges Werk. Und schließlich war es<br />

Alexander Baumgarten, der in der Mitte des Jahrh<strong>und</strong>erts in seiner Aesthetica der Disziplin<br />

ihren Namen gab. Denn Untersuchungen über das Schöne gab es zwar, solange der Mensch<br />

über sich selbst nachdenkt, nur hat man sorgfältig die Diskussionen über das Schöne in der<br />

Natur, in der Musik, der Poesie, dem Theater oder in der Bildenden Kunst von einander<br />

getrennt. Kant, der sich viele Jahrzehnte mit dem Erkennen <strong>und</strong> mit dem richtigen Handeln<br />

befasst hat, hatte schließlich die systematische Lücke in seinem Werk mit der 1790<br />

publizierten „Kritik der Urteilskraft“ geschlossen.<br />

Auch philosophische Disziplinen haben also offenbar ihre Konjunkturen. Mal ist es die<br />

Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie, mal ist es die Moralphilosophie <strong>und</strong> mal ist es die<br />

<strong>Ästhetik</strong>, die den Vorrang hat. Die 60er <strong>und</strong> 70er Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts waren stark<br />

erkenntnis- <strong>und</strong> wissenschaftstheoretisch geprägt. Man stritt sich über den richtigen Weg, zu<br />

wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Jeder Studierende – fast in jeder Disziplin –<br />

musste sich mit den jeweiligen Großtheorien, zumindest jedoch mit dem Ansatz der<br />

Kritischen Theorie <strong>und</strong> dem Kritischen Rationalismus auseinandersetzen. Dahinter steckten<br />

allerdings weniger die spezifischen Erkenntnisprobleme um ihrer selbst willen, es ging<br />

vielmehr um die richtige Gesellschaftsanalyse, bei der „Positivismus“ <strong>und</strong> „Marxismus“ die<br />

großen Alternativen waren. Der Positivismusstreit, zunächst zwischen Adorno <strong>und</strong> Popper,<br />

später zwischen Albert <strong>und</strong> Habermas ausgetragen, war ein politischer Streit, also ein Streit<br />

innerhalb der praktischen Philosophie, <strong>und</strong> kein Streit in der Wissenschaftstheorie um ihrer<br />

selbst willen.<br />

Auch die letzte große Konjunktur der <strong>Ästhetik</strong>, die mit der Debatte über die Postmoderne seit<br />

den 1980er Jahren aufgekommen ist, hatte letztlich das große Thema der Zeitdiagnose als<br />

Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Motivation: Es ging um eine radikale Kritik an der Moderne <strong>und</strong> um die<br />

Einseitigkeit einer nur noch technokratischen Vernunft, die zu all dem Übel geführt hat, das<br />

man der Moderne zugeschrieben hat. Überlegungen zur Moderne sind wesentlich<br />

Überlegungen zur Kultur der Moderne <strong>und</strong> diese fallen fast immer kritisch aus: Kulturtheorie<br />

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ist Kulturkritik-Theorie. Kritik an der Kultur der Moderne ist zudem stets Kritik an ihren<br />

geistigen Gr<strong>und</strong>lagen.<br />

Eine Einführung in die <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>für</strong> die kulturpolitische <strong>und</strong><br />

kulturpädagogische Praxis wird diesen gesellschaftlichen Horizont wesentlich einbeziehen<br />

müssen. Denn auch heute gibt es nicht nur viele Menschen, die sich mit den Künsten <strong>und</strong><br />

ihren Theorien befassen, es gibt auch zahlreiche gute Einführungen in die philosophische<br />

<strong>Ästhetik</strong>, sodass sich hieraus gerade keine Motivation <strong>für</strong> einen erneuten Versuch ergeben<br />

würde. Eine Motivation ergibt sich jedoch aus dem Praxisbezug dieser Arbeit, der dazu führt,<br />

die Rolle der Künste im gesellschaftlichen Kontext in den Mittelpunkt zu stellen.<br />

G. Bertram (2005) sieht den Wert der Kunst darin, dass sie – auf spezifische Weise – zur<br />

Selbstverständigung des Menschen in der Welt einen Beitrag leistet. Seine „Philosophie der<br />

Kunst“ wiederum versucht, die Spezifik dieser Selbstverständigung verstehen zu helfen. Ich<br />

kann mich dieser Aufgabenbestimmung von Kunst zwar anschließen. Doch muss man<br />

feststellen, dass Wissenschaft oder Religion ebenfalls diese Aufgabe der Selbstverständigung<br />

des Menschen über sich haben. Was also ist die Besonderheit der Selbstverständigung des<br />

Menschen mittels Kunst im Vergleich zu anderen Formen? Wann sind diese Formen<br />

entstanden – <strong>und</strong> warum? Warum gibt es Konjunkturen in diesen Formen der<br />

Selbstverständigung <strong>und</strong> wann <strong>und</strong> warum haben Künste <strong>und</strong> ästhetische Reflexionen<br />

Konjunktur? Wer benötigt welche Formen der Selbstverständigung <strong>und</strong> wer erhält diese?<br />

Welche Probleme treten auf – <strong>und</strong> warum? All diese Fragen lassen sich unter der Überschrift<br />

„Kunst als kulturelle Praxis“ zusammenfassen. Eine oft praktizierte immanente<br />

Geschichtsschreibung der Entwicklung der Künste, ihrer Theorien <strong>und</strong> der <strong>Ästhetik</strong> blendet<br />

diese Zusammenhänge oft aus <strong>und</strong> stellt die jeweiligen Entwicklungen so dar, als ob rein<br />

innerkünstlerische <strong>und</strong>/oder innertheoretische Auseinandersetzungen zu der dargestellten<br />

Entwicklung geführt haben. Dies gilt sogar <strong>für</strong> den Zusammenhang der realen<br />

Kunstentwicklungen mit den parallel laufenden Theoriedebatten. Sozialgeschichtliche<br />

Darstellungen der Künste blenden dagegen die Reflexionen in den <strong>Kunsttheorie</strong>n <strong>und</strong> in der<br />

<strong>Ästhetik</strong> weitgehend aus, sodass der Eindruck entsteht, als ob es nur außerkünstlerische<br />

Einflussfaktoren bei der Entwicklung der Künste gäbe. Nun wird man von einer Einführung<br />

nicht erwarten können, dass sie eine Einführung in die philosophische <strong>Ästhetik</strong>, in die Theorie<br />

der Künste, in ihre Kultur- <strong>und</strong> Sozialgeschichte sein kann <strong>und</strong> gleichzeitig nachvollziehbar<br />

wechselseitige Einflüsse sowohl zwischen den Künsten als auch zwischen der realen<br />

Kunstpraxis, der Kunstreflexion <strong>und</strong> der <strong>Ästhetik</strong> nachzeichnet.<br />

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Noch komplizierter wird dieses Projekt dadurch, dass auch <strong>Kulturpolitik</strong> <strong>und</strong> Kulturpädagogik<br />

eine Rolle spielen sollen. Es geht also um Vorstellungen politischer Ordnung <strong>und</strong> Gestaltung,<br />

es geht um Formen von Subjektivität <strong>und</strong> die jeweiligen Versuche, beides (mittels der Künste)<br />

zu beeinflussen. Es gilt also zum einen als Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> eine kulturgeschichtliche <strong>und</strong> -<br />

wissenschaftliche Zugangsweise, die Gegenwart als Ergebnis vergangener kultureller<br />

Entwicklungen zu verstehen, sie aber dadurch auch von ihrer scheinbaren<br />

Selbstverständlichkeit <strong>und</strong> Alternativlosigkeit zu befreien. Zum anderen kann gezeigt werden,<br />

dass die Ambivalenz der Moderne eine entscheidende Interpretationsfolie ist, sodass die<br />

Relevanz des Ästhetischen <strong>und</strong> seine kunstreligiöse Übersteigerung etwas mit<br />

Verlusterfahrungen zu tun hat, die die Moderne begleitet <strong>und</strong> die durch ein bestimmtes<br />

Verständnis der Moderne noch gesteigert wurde: Eine zweckrationale technokratische<br />

Vernunft ruft die Sehnsucht nach einer Ganzheitlichkeit hervor, die den Körper, die Sinne, die<br />

Phantasie zu ihrem (heute offenbar vernachlässigten) Recht kommen lassen. Der Dialektik der<br />

Aufklärung steht so eine Dialektik der Romantik gegenüber. Denn das legitime Interesse an<br />

vernachlässigten Seiten unseres Seins haben eben auch in antimoderne <strong>und</strong> barbarische<br />

Abgründe einer Blut- <strong>und</strong> Boden-Ideologie geführt. Die entscheidende Frage heute dürfte<br />

daher sein, humane Erfolge der Moderne in Hinblick auf die Einlösung ihrer Ursprungs-<br />

Versprechungen (Freiheit, Wohlstand, Frieden) zu bewahren <strong>und</strong> gleichzeitig die zu recht<br />

kritisierten „blinden Stellen“ zu kompensieren. Dies ist natürlich nicht neu. Vielleicht ist der<br />

prominenteste Versuch, beide, die rechnende <strong>und</strong> die empfindende Seite des Menschen<br />

zusammenzubringen, der Ansatz von Schiller, sodass seine bis heute andauernde Popularität<br />

im kulturpolitischen Diskurs verständlich ist.<br />

Immerhin macht die Mängelgeschichte der Moderne deutlich, wieso ausgerechnet in Kunst<br />

<strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> ein Weg aus einer angenommenen Sackgasse kultureller Entwicklung gesehen<br />

wird: Alle „Versprechungen des Ästhetischen“ machen nur Sinn vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser<br />

Mängelanalysen. Und ein Weiteres scheint mir hochplausibel zu sein: Die Nähe <strong>und</strong><br />

Abgrenzung von ästhetischer <strong>und</strong> religiöser Erfahrung. Denn die Säkularisierung – deren<br />

komplexe Geschichte Charles Taylor in seinem monumentalen Werk „Ein säkulares Zeitalter“<br />

(2009) erzählt – nimmt offenbar dem Menschen alle Refugien, in denen er seinen Bedarf an<br />

Spiritualität ausleben kann, sodass ein Bedarf an einer (säkularen) Kompensation entsteht. Es<br />

scheint also eine Sehnsucht nach „Wiederverzauberung“ der Welt zu geben, um das<br />

„stahlharte Gehäuse“ der Moderne aufzubrechen (beide Begriffe nach Max Weber).<br />

Doch so leicht wird eine Wiederverzauberung nicht gelingen – unabhängig von der Frage, ob<br />

sie denn wünschenswert wäre. Immerhin wird der Wunsch verständlich, dass die Sehnsucht<br />

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nach einer erneuten Integration, nach einer Überwindung der Zerrissenheit, die die Moderne<br />

nach Meinung vieler ihrer Deuter mit sich bringt, erfüllt werden möge. Das Leben, das die<br />

Moderne anbietet, mag zivilisiert sein: Ein erfülltes Leben sieht jedoch anders aus. Schillers<br />

Vision, nicht bloß das Ästhetische <strong>und</strong> das Moralische erneut miteinander zu versöhnen,<br />

sondern in der im Spiel verwirklichten Schönheit den Höhepunkt menschlicher<br />

Selbstverwirklichung erreichen zu können (so auch Taylor 2009, 596 ff.) ist eine Antwort auf<br />

unsere zentrale existentielle Frage: Wie wollen wir leben? Doch vielleicht bleibt Kunst doch<br />

nur ein Surrogat, weil ihr letztlich die Dimension der Transzendenz fehlt. Kunst also doch nur<br />

ein nicht befriedigender Religionsersatz <strong>für</strong> Nichtreligiöse? Man kann zwar in ihr<br />

Erhabenheit, Aura <strong>und</strong> das Besondere erleben, man spürt, dass das Leben mehr ist als<br />

Nutzenkalkulation <strong>und</strong> Karriere, doch ohne die religiöse Verpflichtung zur Einhaltung<br />

strenger Regeln, deren Verstoß ansonsten mit Hölle bestraft werden würde. Kunst also als<br />

„Religion light“? All diese Vorüberlegungen machen m. E. einen kulturwissenschaftlichen<br />

Zugriff gerade auf Fragen der Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> unvermeidbar.<br />

Eine andere Frage ist es, ob dies – <strong>und</strong> dann auch noch auf 220 Seiten gelingen – kann.<br />

Immerhin benötigt Taylor 1000 Seiten <strong>für</strong> seine Suche nach Nischen <strong>für</strong> eine Religiosität in<br />

einer säkularisierten Gesellschaft. Die leicht einsichtige Unmöglichkeit, die Komplexität,<br />

zumal mit überschaubarem Umfang zu bewältigen, vereinfacht paradoxerweise wiederum das<br />

Projekt: Es geht um einen Versuch, der über weite Strecken nur skizzenhaft sein kann. Man<br />

kann zudem – gerade aus der Sicht der Praxis – durchaus auf die Idee kommen, dass ein<br />

Zuviel an Theorien eher schädlich ist: Merkt nicht jeder selber im Umgang mit Kunst, wie<br />

wichtig diese ist? Ich schließe mich hier Terry Eagleton (1994, S. VI) an, der im Vorwort zu<br />

seiner Einführung in die Literaturtheorie schreibt:<br />

„Einige Student/innen <strong>und</strong> Kritiker/innen verwahren sich auch dagegen, dass die<br />

Literaturtheorie ‚zwischen den Leser <strong>und</strong> das Werk’ trete. Die einfache Antwort darauf ist,<br />

dass wir ohne irgendeine Art von Theorie, wie unreflektiert <strong>und</strong> unbewusst sie auch immer<br />

sein mag, gar nicht erst wüssten, was überhaupt ein ‚literarisches Werk’ ist oder wie wir es<br />

lesen sollen. Eine feindselige Einstellung der Theorie gegenüber bedeutet normalerweise eine<br />

Ablehnung der Theorien anderer <strong>und</strong> ein Übersehen der eigenen“<br />

Meine Gr<strong>und</strong>idee besteht darin, beides, die Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> als Kultur oder genauer: als<br />

kulturelle Praxis zu begreifen. Dieser Gedanke wird in der Einleitung genauer beschrieben.<br />

Weitere Kapitel befassen sich dann schwerpunktmäßig mit den Beiträgen von Soziologie,<br />

<strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Pädagogik</strong> zum jeweiligen Verständnis von „Kunst“ <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>. Eine erste<br />

Niederschrift wurde im Sommer 2010 mitten in den Cevennen zwischen schweißtreibenden<br />

Bergwanderungen in dem völlig unbekannten Örtchen Les Escouderc begonnen.<br />

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1. Kunst als kulturelle Praxis: Einleitung <strong>und</strong> Überblick<br />

Die Begriffe in der Überschrift dieses einleitenden Kapitels sind nicht nur<br />

erklärungsbedürftig: Wie bei allen historisch-systematischen Untersuchungen muss darauf<br />

hingewiesen werden, dass gegenwärtige Begrifflichkeiten mit ihrer heute üblichen Bedeutung<br />

nur begrenzt, meist überhaupt nicht auf frühere Entwicklungen <strong>und</strong> Gegebenheiten passen.<br />

Dies gilt speziell <strong>für</strong> die politisch-soziale Sprache (Brunner u.a. 1972/2004). Ein erstes<br />

Anliegen solcher Untersuchungen muss daher darin bestehen, die Historizität von Sprache<br />

aufzuzeigen. Dies soll hier in einem ersten Anlauf auf eine vorläufige Weise geschehen. In<br />

späteren Kapiteln werden einzelne Facetten vertieft aufgegriffen.<br />

Kultur<br />

„Kultur“ ist ein erster zu beschreibender Begriff. Interessanterweise findet sich dieser Begriff<br />

bei den Griechen als erstem Kulturvolk, auf das man in europäischer Tradition so stolz ist,<br />

nicht. Am nächsten in der Bedeutung kommt der Begriff paidea, also das, was heute mit<br />

<strong>Pädagogik</strong> oder Bildung bezeichnet wird. Ciceros Tusculanische Schriften sind die erste<br />

Quelle. Dort findet sich die berühmte Parallelisierung von cultura agri, also die Pflege des<br />

Bodens, <strong>und</strong> cultura animi, also die Pflege des Geistes, die Philosophie. Eine große<br />

Bedeutung erhielt der Kulturbegriff in der Sprache der Gebildeten erst in der „Sattelzeit“<br />

(1770 - 1830). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts sprach der Philosoph Moses<br />

Mendelsohn noch von Bildung, Kultur <strong>und</strong> Aufklärung als „Neuankömmlingen in der<br />

deutschen Sprache“. Bis weit in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden dabei die Begriffe „Bildung“ <strong>und</strong><br />

„Kultur“ synonym verwendet, was sich im Englischen bis heute erhalten hat. So ist eine<br />

sinnvolle Übersetzung des traditionsreichen deutschen Bildungsbegriffs „cultivation“<br />

(Bruford 1975). Allerdings kristallisiert sich auch eine Akzentsetzung heraus, bei der sich<br />

„Bildung“ auf die (humane) Entwicklung der Person <strong>und</strong> „Kultur“ sich auf gesellschaftliche<br />

Kontexte bezieht, wobei die Komplementarität beider Begriffe immer deutlich ist. Von<br />

Anbeginn an ist zudem eine normative Ausrichtung beider Begriffe vorhanden: Es geht um<br />

eine Entwicklung zum Besseren, Höheren. Der Vorstellung einer wohlgeordneten<br />

Gesellschaft entspricht ein bestimmter Typus einer gebildeten Persönlichkeit. Politik <strong>und</strong><br />

<strong>Pädagogik</strong> – beides Bereiche der sich ausdifferenzierenden praktischen Philosophie, der es<br />

um das richtige Handeln der Menschen geht – sind traditionell zwei Seiten derselben<br />

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Medaille. Aus heutiger Perspektive lässt sich das heterogene Feld der Kulturbegriffe wie folgt<br />

ordnen (Fuchs 2008):<br />

Der philosophisch-anthropologische Kulturbegriff<br />

Der Mensch ist die einzige biologische Art, die aus der Naturgesetzlichkeit der Evolution hat<br />

ausbrechen können. Wie dies hat geschehen können, wird die Spezialwissenschaft noch lange<br />

beschäftigen (vgl. etwa Tomasello 2006). In diesem Prozess der Menschwerdung<br />

kristallisierte sich jedoch heraus – <strong>und</strong> trieb ihn zugleich voran –, dass der Mensch aufgr<strong>und</strong><br />

seiner „exzentrischen Positionalität“ (H. Plessner) ein reflexives Verhältnis zu sich <strong>und</strong> zu<br />

seiner Umgebung hat entwickeln können. Damit ist gemeint, dass er nicht mehr – wie jedes<br />

andere Lebewesen – „aus seiner Mitte heraus“ lebt, sondern – virtuell – neben sich treten <strong>und</strong><br />

sich betrachten kann. Dies ist die Gr<strong>und</strong>lage da<strong>für</strong>, dass der Mensch seine<br />

Lebensbedingungen entsprechend seinen Zielen <strong>und</strong> Bedürfnissen bewusst gestalten kann.<br />

Durch diese bewusste tätige Gestaltung seiner Umgebung wird diese zu einem Wissens- <strong>und</strong><br />

Kompetenzspeicher, so dass nicht jede nachfolgende Generation erneut am Nullpunkt wieder<br />

beginnen muss, sondern sich durch tätigen Umgang mit den gestalteten Dingen die darin<br />

verkörperten Kenntnisse aneignen kann. Dieser Prozess der Aneignung <strong>und</strong><br />

Vergegenständlichung führt zu einer Kumulation von Wissen. Gr<strong>und</strong>prinzip dieses Vorgangs<br />

ist Tätigkeit. Die Prozesse der tätigen Lebensbewältigung machen zunehmend<br />

Kommunikation <strong>und</strong> soziale Koordination erforderlich. Herstellende Tätigkeit (Arbeit) <strong>und</strong><br />

soziales (auch politisches) Handeln sind daher unterscheidbare Tätigkeitsformen.<br />

Für den Kulturbegriff bedeutet dies, dass er das Gemachtsein von Dingen <strong>und</strong> Prozessen<br />

erfasst <strong>und</strong> dies zugleich auf der gegenständlichen Seite (materielle Kultur), auf der Seite des<br />

Subjekts (subjektive Kultur, Bildung) <strong>und</strong> auf der Ebene des Geistigen. Ernst Cassirer (1990)<br />

sieht als Ursprung all dieser Gestaltungs- <strong>und</strong> Erkenntnisprozesse unterschiedliche „Energien<br />

des Geistes“, die zu einer ausdifferenzierten Vielfalt „symbolische Formen“ führen (Kunst,<br />

Sprache, Religion, Mythos, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Technik), mit denen der<br />

Mensch Ordnung in seiner Welt schafft. Er nennt „Kultur“ die Gesamtheit dieser<br />

symbolischen Formen, <strong>und</strong> diese bilden quasi einen Kulturkanon menschlicher<br />

Lebensbewältigung. „Kultur“ ist in diesem Verständnis ein Totalitätsbegriff, der alle<br />

menschlichen Lebensäußerungen erfasst: „Kultur“ ist das, was den Menschen (als<br />

Gattungswesen) zum Menschen macht.<br />

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Der ethnologische Kulturbegriff<br />

Johann Gottlieb Herder kann als Stammvater der Ethnologie/Völkerk<strong>und</strong>e gelten. Ihm wird<br />

das Verdienst zugeschrieben, mit „Kultur“ die (real vorfindlichen) menschlichen<br />

Lebensweisen erfasst zu haben, wobei als menschlich alle seinerzeit bekannten Formen –<br />

auch <strong>und</strong> gerade außerhalb Europas – gezählt wurden. Herder wird damit zum Entdecker des<br />

kulturellen Pluralismus.<br />

Für heutige Zwecke sind drei Dinge hiervon zu lernen:<br />

a) Kultur ist Lebensweise, Kultur ist, wie der Mensch lebt <strong>und</strong> arbeitet.<br />

b) Kultur ist ein Pluralitätsbegriff: man sollte stets von Kulturen sprechen.<br />

c) „Kultur“ ist ein Begriff der Unterscheidung <strong>und</strong> des Vergleichens – <strong>und</strong> kein Begriff der<br />

Vereinheitlichung <strong>und</strong> Integration.<br />

Kultur als Begriff der Entwicklung <strong>und</strong> der Mischung<br />

Eine vergleichsweise neue Erkenntnis besteht darin, dass man als Fehler früherer<br />

Kulturstudien die Annahme herausgef<strong>und</strong>en hat, Kulturen seien statisch <strong>und</strong> homogen. Heute<br />

weiß man, dass selbst in Stämmen, bei denen man früher keine Entwicklung vermutet hat, ein<br />

statisches Konzept von Kultur in die Irre führt. Ebenso hat sich die Annahme als falsch<br />

herausgestellt, eine „Kultur“ sei eine genau abgrenzbare, vielleicht nur <strong>für</strong> bestimmte<br />

Menschen <strong>und</strong> Regionen gültige Kategorie. Heute weiß man, dass Kulturen noch nicht einmal<br />

durch das Bild eines Mosaiks (das immerhin Vielfalt widerspiegelt), sondern durch einen<br />

Fluss wiedergegeben werden muss (so etwa im UNESCO-Kontext): Kultur funktioniert stets<br />

im Modus des Interkulturellen <strong>und</strong> ist ein dynamischer Prozess.<br />

Kultur <strong>und</strong> die Werte<br />

Das erste belegte Auftauchen des Kulturbegriffs wird Cicero zugeschrieben, der die berühmte<br />

Parallelisierung von cultura agri (Landwirtschaft) <strong>und</strong> cultura animi (Pflege des Geistes,<br />

Philosophie) verwendet hat. „Kultur“ wird hier nicht nur mit Entwicklung in Verbindung<br />

gebracht, sie erhält auch eine normative Dimension: die Entwicklung unter guter Pflege ist<br />

eine Entwicklung zum Besseren. An der positiven Konnotation etwa von „Kultivieren“ kann<br />

man dies noch erkennen. Diese Bedeutung von „Kultur“ wurde während der „Sattelzeit“<br />

(1770 – 1830) wie viele andere Begriffe in die Hochsprache der Gebildeten eingeführt Auch<br />

im Alltagsgebrauch überwiegt ein positiv besetzter Kulturbegriff. Ernst Cassirer musste erst<br />

die Vertreibung aus Deutschland erleben, um eine ursprünglich auch bei ihm vorzufindende<br />

positive Besetzung des Kulturbegriffs zu revidieren: Nicht alles, was der Mensch macht, ist<br />

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gut. Entwicklung kann auch in die falsche Richtung geschehen, Kultur bedeutet durchaus<br />

auch Zerstörung (vgl. Thurn 1990). Wo die Entwicklungsrichtung derart unbestimmt ist,<br />

bedarf es also der besonderen Anstrengung einer spezifischen Gestaltung, will man ein<br />

bestimmtes positives Ziel verfolgen. Dies gilt sowohl <strong>für</strong> den Einzelnen (Bildung) als auch <strong>für</strong><br />

Gemeinschaften.<br />

Kultur als gesellschaftliche Sphäre der Werte<br />

Kultur hat es also auch mit Werten zu tun. Werte werden spürbar in den Handlungen der<br />

Menschen. Über Werte wird jedoch auch kommuniziert. Sie werden symbolisch dargestellt:<br />

Durch Sprache, Gesten, Musik, Theater, Tanz. Auch dies ist daher eine Dimension von<br />

„Kultur“: Sie erfasst die symbolisch vermittelte Wertsphäre der Gesellschaft.<br />

Kultur als gesellschaftliches Subsystem<br />

An „Wertsphären“ haben die Gründungsväter der Soziologie mehrere unterschieden. Ein<br />

Anliegen des vorliegenden Textes besteht darin, die Wertebezogenheit (<strong>und</strong> damit auch die<br />

Kulturbezogenheit) solcher Gesellschaftsfelder aufzuzeigen. In einem engeren Sinn zählt man<br />

hierzu die Künste, die Sprache, die Wissenschaften, die Religion. Gelegentlich zählt man<br />

auch das Bildungswesen dazu. In zwar umstrittener, aber sehr klarer Weise wird dies in der<br />

systemtheoretischen Soziologie in Anschluss an Parsons in dieser Weise gehandhabt. Dort<br />

werden vier gesellschaftliche Subsysteme unterschieden, die jeweils ein eigenes<br />

Kommunikationsmedium haben: die Wirtschaft mit dem Medium Geld, die Politik mit dem<br />

Medium Macht, die Gemeinschaft mit dem Medium Solidarität <strong>und</strong> die Kultur (in jenem<br />

erwähnten additiven Sinn) mit dem Medium Sinn. Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

bilden dabei die (gegenständliche <strong>und</strong>) soziale Welt, die durch das Kultursystem ständig<br />

reflektiert <strong>und</strong> in Hinblick auf die Legitimität der ablaufenden Prozesse bewertet wird.<br />

Kultur <strong>und</strong> die Künste<br />

Seit der erwähnten Sattelzeit hat sich in Deutschland <strong>und</strong> darüber hinaus ein enger<br />

Kulturbegriff herauskristallisiert, der Kultur mit Kunst gleichsetzt. Eine wichtige Rolle spielt<br />

hierbei Friedrich Schiller, der vor allem in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung Kunst<br />

als wichtigen Raum menschlicher Freiheit <strong>und</strong> damit als politisches Lernfeld beschreibt.<br />

Erziehung <strong>und</strong> Bildung – so sein Fre<strong>und</strong> W. v. Humboldt – sind notwendige Prozesse der<br />

Formung des Menschen, seiner Kultivierung, die ohne Kunst nicht vorstellbar ist. Dieser enge<br />

Kulturbegriff ist seither <strong>und</strong> bis heute, im politisch-administrativen Gebrauch. Man schaue<br />

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sich nur einmal den Kulturhaushalt einer Stadt bzw. die Tätigkeit eines städtischen<br />

Kulturamtes an. Zu einem überwiegenden Teil geht es hierbei um das Theater, um Museen,<br />

um das Orchester, um Einrichtungen <strong>und</strong> Veranstaltungen der „Hochkultur“, der Künste also.<br />

Die politische Dimension von Kultur<br />

„Kultur“ war von Anfang an politisch. Es war ein politischer Akt von Herder,<br />

außereuropäische Lebensweisen als Kulturen <strong>und</strong> somit als menschlich anzuerkennen. Es war<br />

politisch gemeint, wenn Schiller den emanzipatorischen Gehalt der Künste herausstellte. Im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert machte sich das Bürgertum den engen Kulturbegriff zu eigen <strong>und</strong> eroberte die<br />

Künste. Nunmehr fanden auf der Bühne die Tragödien bürgerlicher Familien statt. Das<br />

Theater wurde zu einem Ort der bürgerlichen Identitätsbildung <strong>und</strong> musste in Deutschland das<br />

politische Versagen des Bürgertums, das sich in anderen Ländern schon längst seinen Anteil<br />

an der Macht erkämpft hatte, kompensieren. „Kultur“ wurde hier dadurch politisch, dass sie<br />

zu einem Ersatz <strong>für</strong> Politik wurde.<br />

Diese Tradition einer politikabgewandten Kultur hat sich in Deutschland fest etabliert bis hin<br />

zu Thomas Mann. Mit seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ am Ende des Ersten<br />

Weltkrieges hat er einer naserümpfenden, verachtenden Haltung des Bildungsbürgers<br />

gegenüber der schmutzigen Politik das Gr<strong>und</strong>buch geliefert, um einige Jahre später dies als<br />

gr<strong>und</strong>legenden Fehler öffentlich einzugestehen (vgl. Dahrendorf 1971, Plessner 1974, Münch<br />

1986, Nipperdey 1990 <strong>und</strong> aktuell Lepenies 2006). Das Politische an kulturellen Praxen<br />

wurde schließlich als wesentlicher Teil seines Lebenswerkes von Pierre Bourdieu aufgezeigt:<br />

Es ist gerade der ästhetisch-kulturelle Konsum, der die Menschen in der Hierarchie der<br />

Gesellschaft verortet, der in Form eines entsprechenden Habitus sowohl unbewusst im Alltag,<br />

aber auch gezielt in einem entsprechend gegliederten Bildungssystem vermittelt wird <strong>und</strong> der<br />

da<strong>für</strong> sorgt, dass die seiner Meinung nach ungerechte Klassengesellschaft über die Jahre stabil<br />

bleibt.<br />

Man kann also mindestens folgende Kulturbegriffe unterscheiden:<br />

� einen anthropologischen Kulturbegriff<br />

� einen ethnologischen Kulturbegriff<br />

� einen engen Kulturbegriff<br />

� einen (oder sogar mehrere) soziologische(n) Kulturbegriff(e).<br />

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Kunst<br />

Man kann davon ausgehen, dass es quasi schon immer einen Diskurs über das „Schöne“<br />

gegeben hat, solange der Mensch über sich <strong>und</strong> seinen Status in der Welt nachdachte. Heute<br />

ist man daran gewöhnt, diese Diskurse über das Schöne unter der Rubrik „Kunst“ zu<br />

verhandeln. Man wird später sehen, dass diese Zusammenfügung erst relativ spät im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert geschehen ist. Vielmehr waren die Diskurse über das Schöne, über Musik,<br />

Poesie, Tragödie, über Malerei <strong>und</strong> Bildhauerei streng von einander getrennt. Auch der<br />

Zusammenhang mit „Kultur“ ist erst am Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts hergestellt worden. Dies<br />

ist bei allen historischen Überlegungen stets zu berücksichtigen: Wir verwenden – eigentlich<br />

unzulässigerweise – Begriffe der Moderne zur Beschreibung von Sachverhalten in<br />

vormodernen Zeiten.<br />

Ernst Cassirer hat die anthropologische Gr<strong>und</strong>tatsache einer notwendigen ästhetischen Praxis<br />

des Menschen insofern gewürdigt, als er Kunst neben Wissenschaft, Religion <strong>und</strong> Mythos,<br />

neben Sprache, Technik, Politik <strong>und</strong> Wirtschaft in den Kanon der symbolischen Formen<br />

aufgenommen hat. Eine evolutionäre <strong>Ästhetik</strong> zeigt heute, wie <strong>und</strong> warum dies sogar einen<br />

Vorteil in der Evolution bedeutet hat (s.u.). An dieser Stelle werden nur einige wenige<br />

Hinweise benötigt, die die Rede von „Kunst als kultureller Praxis“ verständlich machen.<br />

Auf der Ebene der Realgeschichte zeigt sich die Relevanz der Künste daran, dass es nicht nur<br />

bis in die Anfänge der Menschheit ästhetisch gestaltete Werkzeuge, Alltagsgeräte <strong>und</strong><br />

besondere Orte gibt, bei denen eine Funktionalität auf den ersten Blick nicht erkennbar ist.<br />

Ellen Dissanayake (2002) hat hierzu die These entwickelt, dass diese Ästhetisierung dazu<br />

diente, überlebensrelevante Dinge <strong>und</strong> Prozesse des Alltags bedeutsam zu machen. Ergänzend<br />

hierzu gibt es die These von der Unvermeidlichkeit ästhetischer Expressivität im Hinblick auf<br />

menschliche Gr<strong>und</strong>gefühle (Angst, Freude, Entsetzen, Lust etc.), um bei zunehmender<br />

Bewusstheit menschlicher Lebenstätigkeit – was eben auch heißt: Bewusstheit gegenüber den<br />

lebensbedrohenden Gefahren – innere Ges<strong>und</strong>heit zu bewahren (Neumann 1996). Auch muss<br />

von einem engen Zusammenhang von Erkennen, moralischer Reflexion <strong>und</strong> ästhetischer<br />

Gestaltung ausgegangen werden, siehe etwa die ästhetisch gestalteten Kultstätten, an denen<br />

sich Höhlenmalereien befinden. Die heutige sorgsame Trennung dieser philosophischen bzw.<br />

existentiellen Gr<strong>und</strong>funktionen in Erkenntnis(theorie), Moral(philosophie) <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> ist<br />

neuen Datums <strong>und</strong> hat mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Moderne zu tun, auf<br />

die ich später noch zurückkommen werde. Wohlordnung in der Natur, das Staunen über deren<br />

Erhabenheit, die Freude an sich selbst <strong>und</strong> an seinen wachsenden Gestaltungsmöglichkeiten –<br />

all dies kommt in der Reflexion über „Schönheit“ zusammen. „Schönheit“ war also in der<br />

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Geschichte der Menschheit durchaus Verschiedenes: Die Verkörperung der Größe Gottes, die<br />

Erkennbarkeit ewiger Gesetzte des Kosmos, aber auch das reflexive Wiedererkennen<br />

menschlicher Schöpferkraft im gestalteten Werk. Dies reicht bis hin zu Vorstellungen in der<br />

Romantik, in der im schönen Kunstwerk die sinnliche Vergegenständlichung abstrakter Ideen<br />

gesehen wurde (Auerochs 2009). Die Schillersche „Freiheit in der Erscheinung“ hat hier<br />

durchaus die Richtung angegeben <strong>und</strong> steht in einer langen Traditionslinie. „Schönheit“ ist<br />

zwar ein objektives Gestaltungsmerkmal – bis hin zur Festlegung von entsprechenden<br />

Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> „Qualitätskriterien“, es wird zugleich die innere Haltung zu diesen<br />

entsprechend gestalteten Prozessen <strong>und</strong> Dingen mitgedacht. Dies reicht bis weit in die<br />

Neuzeit, wenn etwa die „schöne Seele“ in der <strong>Ästhetik</strong> des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts denjenigen<br />

Menschen beschreibt, der die ausgetüftelten Gesellschaftsmodelle, in denen Freiheit <strong>und</strong><br />

Wohlstand realisiert werden sollen, durch sein individuelles Leben realisieren soll.<br />

Die einzelnen künstlerischen Praxen differenzieren sich aus, wobei es den verschiedenen<br />

Sparten zu unterschiedlichen Zeiten gelingt, Anerkennung als eigenständige <strong>und</strong><br />

gesellschaftlich anerkannte Tätigkeit zu finden. Insgesamt kann man in diesem Kampf um<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Autonomie eine wichtige historische Entwicklungstendenz sehen. Platon<br />

etwa kämpft Zeit seines Lebens gegen die Dichter, die ihm nicht nur das Deutungsrecht <strong>für</strong><br />

Dinge des Lebens streitig machen, sondern deren Theaterstücken <strong>und</strong> historischen<br />

Erzählungen er sogar Sittenverderbnis unterstellt. Nur Musik findet seine Gnade, weil sie die<br />

Tugend in der Polis unterstützt. Später waren es Kirche <strong>und</strong> Theologie, die miteinander im<br />

Streit lagen, gegen die sich die Wissenschaften <strong>und</strong> später auch die Künste ihre<br />

Unabhängigkeit erkämpfen mussten. Bekanntlich fanden sich die Werke vieler heute als<br />

Kirchenväter anerkannter Scholastiker – etwa Thomas von Aquin – erst einmal auf dem<br />

Index, weil im Streit zwischen Glauben <strong>und</strong> Wissen jede noch so fromme Reflexion eben<br />

auch vernunftsorientierte Reflexion war <strong>und</strong> so als Gefahr <strong>für</strong> den Glauben gesehen wurde.<br />

Die Philosophie musste sich wiederum gegen ihren Status als „Magd der Theologie“ wehren.<br />

Ebenso ging es der neuen Naturwissenschaft, die dann wiederum spätestens seit dem 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zur normativen Leitdisziplin <strong>für</strong> jegliches Nachdenken wurde („Mechanisierung<br />

des Weltgebildes“). Dagegen setzten sich selbst spätestens im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die Künste <strong>und</strong><br />

dann auch die auch aus diesem Gr<strong>und</strong> entstehenden „Geisteswissenschaften“ zur Wehr.<br />

Der Autonomisierungsprozess der verschiedenen Künste setzte erst spät ein. Man bekämpfte<br />

sich zunächst untereinander – so etwa noch im „Laokoon“ von Lessing, bei dem es darum<br />

geht, welche Kunstform (Poesie oder Bildende Kunst) am besten Entsetzen darstellen könne.<br />

Man wollte erst Gleichberechtigung mit den anerkannten Handwerkern <strong>und</strong> den<br />

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„mechanischen Künsten“. Dann wieder wollte man zu den „freien Künsten“ gezählt werden,<br />

um den strengen Zunftregeln zu entgehen <strong>und</strong> um Universitätsrang zu erhalten. Man strebte<br />

den Status der „freien Künste“ an, die an den Artisten-Fakultäten der entstehenden<br />

Universitäten gelehrt wurden. Real blieb man jedoch noch sehr lange abhängig von<br />

Auftraggebern, die nicht nur strenge Gestaltungsvorgaben machen, sondern – als Liebhaber<br />

<strong>und</strong> Kenner der Künste („Amateur“ kommt von lieben – amare) – selber mit Hand anlegten.<br />

Immerhin genoss der fest angestellte Hofkünstler erhebliche Freiheiten <strong>und</strong> Sicherheiten, so<br />

dass man inzwischen in diesem <strong>und</strong> nicht in dem sich durchsetzenden kapitalistischen Markt<br />

(„Ausstellungskünstler“) eine entscheidende Etappe bei der Gewinnung von Autonomie sieht<br />

(Warnke 1996, Bätschmann 1997).<br />

Man kämpfte gegen normsetzende Instanzen im eigenen Feld, etwa gegen die Akademien <strong>und</strong><br />

Salons, obwohl nachweislich die Gründung entsprechender Institutionen im damals kulturell,<br />

politisch <strong>und</strong> ökonomisch führenden Frankreich Ludwigs XIV (Kardinal Mazarin) dem<br />

Selbstbewusstsein der Künstler erheblichen Auftrieb verschafft hat (Blanning 2006). Man<br />

kämpfte gegen normative Regelwerke („Poetiken“), später gegen die Macht des Marktes<br />

<strong>und</strong>/oder der politischen Machthaber <strong>und</strong> ihre Zensur. Und immer mehr kämpfte man gegen<br />

Kunstströmungen im eigenen Bereich. Man kann sagen, dass mit zunehmender Dynamik der<br />

Kampf um ästhetische Hegemonie, um die Durchsetzung neuer ästhetischer Standards zu der<br />

zentralen Antriebsquelle <strong>für</strong> die Künste der Moderne wurde. Die Gründung eigener Salons,<br />

Sezessionen, die Schaffung alternativer Aufführungs-, Ausstellungs- <strong>und</strong><br />

Publikationsmöglichkeiten durch abgelehnte Künstler der verschiedensten Sparten nimmt seit<br />

dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert enorm zu.<br />

Diese realen Prozesse wurden von Reflexionen in Philosophie <strong>und</strong> (entstehenden)<br />

Kunstwissenschaften begleitet, wobei sich auch hier sofort Konkurrenzen um das<br />

Deutungsrecht ergaben: Philosophen, Künstler selbst, Liebhaber, Händler <strong>und</strong> andere<br />

„Verwerter“, die entstehende Öffentlichkeit – alle äußerten sich zu Fragen der Kunst. Diese<br />

Konkurrenzen um das Deutungsrecht bescheren uns eine Vielzahl disziplinärer Zugänge zur<br />

Kunst (also etwa soziologische, philosophische, psychologische etc. <strong>Kunsttheorie</strong>n, Abb. 1).<br />

Eine erste Illustration <strong>für</strong> die Ergiebigkeit dieser Denkbemühungen darüber, was Kunst ist, ist<br />

die folgende (natürlich unvollständige) Liste (Abb. 2).<br />

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Abb. 1 Die Künste als Gegenstand verschiedener Disziplinen<br />

Kulturtheorien<br />

Ökonomie<br />

Bildungstheorien<br />

Politikwissenschaften<br />

Wirtschaftsfaktor<br />

Teil der Kultur<br />

Bildungsmittel<br />

zuständige Fachdisziplinen<br />

politische<br />

Medien<br />

Soziologien: Kultur-,<br />

Bildungs-,<br />

Kunstsoziologien<br />

Die KÜNSTE als.....<br />

Mittel sozialer<br />

Stukturierung<br />

Medienwissenschaft<br />

Medien<br />

Seinsbereich<br />

(Ontologie)<br />

Philosophie/spezielle<br />

<strong>Ästhetik</strong>en<br />

Kommunikation<br />

Tätigkeiten<br />

Sprachen<br />

Kommunikationswissenschaft<br />

(Tätigkeits-)<br />

Philosophie/<br />

Psychologie<br />

Sprachwissenschaften<br />

SEMIOTIK<br />

Symboltheorien<br />

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Abb. 2<br />

Was Kunst ist – einige Vorschläge zur Einstimmung<br />

� das Allgemeine im Besonderen <strong>und</strong> Einzelnen<br />

� das Unsichtbare im Sichtbaren<br />

� das Gute <strong>und</strong> Wahre im Schönen<br />

� das Soziale im Individuellen<br />

� das Rationale im (scheinbar) Nicht-Rationalen<br />

� das Objektive im Subjektiven<br />

� das Geschichtliche im Gegenwärtigen<br />

� das Kognitive im Wahrnehmbaren/Sinnlichen<br />

� eine Möglichkeit, Kontingenz zu erleben<br />

� eine Erinnerung des Einzelnen an die Menschheit („in ästhetischer Katharsis gelangt das<br />

partikulare Alltagsindividuum zum Selbstbewusstsein der Menschengattung“; Lucacs)<br />

� gleich ursprünglich wie Sprache, Religion, Mythos, Wissenschaft, Wirtschaft <strong>und</strong> Politik<br />

als symbolische Form (i. S. von Cassirer)<br />

� eine Weise der Welt- <strong>und</strong> Selbstwahrnehmung<br />

� eine Weise der Welt- <strong>und</strong> Selbstgestaltung<br />

� Erleben von Freiheit (Kontingenzerfahrung/Möglichkeitswelten)<br />

� Lust am Schöpferischen<br />

� Umgang mit Symbolen (Das Symbol = Beziehung zwischen Sinnlich-Wahrnehmbarem<br />

<strong>und</strong> Bedeutung)<br />

� Bedeutungsvielfalt (das „offene Kunstwerk“; Eco)<br />

� auf der Seite des Subjekts: ästhetische Wahrnehmung (man weiß, dass es Bedeutung(en)<br />

gibt, man wird animiert zum Nachdenken über die Bedeutung(en), man ist entlastet, weil<br />

man nicht ein einzige („wahre“) Bedeutung herausfinden muss)<br />

� eine Vielzahl von Kunstwirkungen, vielleicht sogar von Kunstfunktionen<br />

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Auf der Ebene realer Kunstproduktion muss von einem Kampf der Richtungen – immer eng<br />

verb<strong>und</strong>en mit einem Kampf um Aufmerksamkeit, Aufträge <strong>und</strong> Marktanteile – ausgegangen<br />

werden. Hier kämpft man mit den Mitteln der Kunst, später reflektiert man sogar mit seinen<br />

Werken sein eigenes Vorgehen, macht also künstlerische Prozesse selbst zum Gegenstand der<br />

Kunstproduktion (etwa bei der Thematisierung von Wahrnehmung oder bei Zitaten oder<br />

anderen Anspielungen auf andere Werke). Künstler reflektieren zudem über ihre Arbeit. So<br />

entstehen – bei professionellen Denkern oft verpönte – „Künstlertheorien“ über Kunst.<br />

Philosophen <strong>und</strong> philosophische Schriftsteller äußern sich oft zu ästhetischen Fragen – auf<br />

jene bezieht sich das Zitat von Jean Paul in seiner „Vorschule“. Es entstehen die<br />

verschiedenen kunstwissenschaftlichen Spezialdisziplinen. Performativ tragen die<br />

verschiedenen Verwertergruppen (Verleger, Händler, Museumsbetreiber etc.) zur<br />

Kunstdebatte bei, insofern sie über ihre Kaufentscheidungen auch Werturteile aussprechen.<br />

Künstler nehmen (z. T.) sehr bewusst diese Debatten wahr oder auch an ihnen teil <strong>und</strong><br />

reagieren in ihrem Werk darauf. In Glücksfällen findet sich Kunstproduktion <strong>und</strong> -reflexion<br />

bei einer einzelnen Persönlichkeit auf gleich hohem Niveau, sodass man am Werk selbst<br />

reflektierte ästhetische Positionen studieren kann. Schiller ist ein solcher Fall, bei dem sich<br />

künstlerische <strong>und</strong> philosophische Produktivität ideal ergänzen.<br />

Es gibt jedoch – allerdings nur im konkreten Einzelfall zu studierende – Einflüsse von<br />

ästhetischen Theorien auf die Praxis, es gibt auch Einflüsse einer allgemeinen geistigen<br />

Atmosphäre auf die Entwicklung der Künste. Ein Beispiel ist der Einfluss der Entwicklung<br />

der Naturwissenschaften am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auf die Bildende Kunst, etwa bei<br />

Kandinsky <strong>und</strong> anderen, die sich intensiv mit den populärwissenschaftlichen Darstellungen<br />

des renommierten Physikers Poincaré befasst haben. Das durch die Naturwissenschaften<br />

veränderte wissenschaftliche Weltbild wurde zur Kenntnis genommen <strong>und</strong> verarbeitet.<br />

Natürlich haben auch technische Entwicklungen einen großen Einfluss. Die entstehende<br />

Fotographie, die die Darstellungsfunktionen nunmehr besser übernimmt, Möglichkeiten neuer<br />

Bühnentechniken (etwa bei der Beleuchtung), Drucktechniken etc. beeinflussen die Kunst-<br />

Entwicklungen. Neben den künstlerischen Darstellungsformen spielen natürlich Inhalte <strong>und</strong><br />

Sujets eine wichtige Rolle, in denen sich die politischen Kämpfe der Zeit erkennen lassen:<br />

Wann entstehen etwa Porträts <strong>und</strong> von wem? Wann tauchen nicht nur Bürgerliche, sondern<br />

sogar unterbürgerliche Schichten in Bildern, Theaterstücken oder Romanen auf? Wie<br />

entwickelt sich der Konkurrenzkampf innerhalb derselben Sparte, etwa zwischen Lyrik <strong>und</strong><br />

Roman?<br />

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Kunst als Kultur<br />

Die Rede von „Kunst als Kultur“ kann also sinnvoll gedeutet werden, indem man sich die<br />

verschiedenen Konzepte von Kultur bewusst macht. Kultur als Lebensweise: Die Künste<br />

beeinflussen – jede <strong>für</strong> sich – die Lebensweise der Menschen. Bei den angewandten Künsten,<br />

etwa der Architektur, ist dies ohnehin zweifelsfrei der Fall, da sie die gegenständlichen<br />

Lebensumstände prägen. Mit zunehmender Alphabetisierung wird Literatur geradezu zu<br />

einem Massenphänomen, vielleicht nicht sofort bei allen Bevölkerungsgruppen, doch<br />

bedienen die immer zahlreicher (<strong>und</strong> preiswerter) werdenden Publikationen, Magazine,<br />

Zeitschriften etc. einen immer größeren, sich ausdifferenzierenden Markt. Und dieser Prozess<br />

beginnt schon recht bald in der Neuzeit. Die Alphabetisierung erfasst spätestens im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert große Teile der Bevölkerung, sodass die Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> eine Beteiligung an den<br />

Diskussionen in der ebenfalls sich ausdehnenden „Öffentlichkeit“ (Habermas 1962; Sennett<br />

1983) gelegt sind. Es stehen zudem in immer höherer Zahl die notwendigen Medien<br />

(Zeitschriften, Zeitungen, Bücher, Broschüren) <strong>und</strong> Orte (v.a. Kaffeehäuser) zur Verfügung.<br />

Die stets vorhandene Zensur – noch befindet man sich im z. T. nur wenig aufgeklärten<br />

Absolutismus – belegt dabei, dass man dies aus der Sicht der Obrigkeit stets besorgt<br />

beobachtet hat. Die Vielzahl von Staaten mit je unterschiedlich ausgelegter Zensur ermöglicht<br />

es jedoch, dass – wie man sagt – kein Buch ungedruckt bleiben muss, da man meist die<br />

Möglichkeit hat, anderswo einen Verleger zu finden. Die Künste sind dabei etwas, das der<br />

Aufmerksamkeit des Staates wert ist. So finden sich in vielen politischen Entwürfen, in den<br />

sich häufenden Staatstheorien immer auch Ausführungen zum Engagement des Staates im<br />

Kunstbereich: Künste legitimieren Staatsmacht, machen Herrschaft anschaulich, ermöglichen<br />

Identifikation (Blanning 2006, Wagner 2009).<br />

Damit ist zugleich ein weiterer Aspekt von Kultur angesprochen: Normen <strong>und</strong> Werte. Obwohl<br />

seit Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts ein Kampf innerhalb des Kunstbereichs <strong>und</strong> der Philosophie<br />

über den Zusammenhang von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> tobt, wurde es in der Praxis nie bezweifelt,<br />

dass es einen engen Zusammenhang gibt: Künste präsentieren Modelle richtigen oder falschen<br />

Handelns, sie sind Teil der moralischen Kommunikation in der Gesellschaft – <strong>und</strong> werden als<br />

solche auch kritisch von Politik <strong>und</strong> Kirche beobachtet.<br />

<strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> als kulturelle Praxis<br />

Die Auffassung von „Kunst als kultureller Praxis“ ist das Leitmotiv dieses Textes. Dies meint<br />

– wie gesehen – Verschiedenes. Es bezieht sich zum einen darauf, dass <strong>und</strong> wie<br />

KünstlerInnen aller Sparten ihren spezifischen professionellen <strong>und</strong> sozialen Status errungen<br />

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haben: Die heutige Rolle des Künstlers in der Gesellschaft lässt sich nur aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

historischen Entwicklung verstehen, wobei nationale Besonderheiten eine große Rolle spielen.<br />

Die kulturelle, was auch heißt: gesellschaftliche Eingeb<strong>und</strong>enheit betrifft auch die immanente<br />

Logik der künstlerischen Tätigkeit. Wenn Arnold Gehlen (1986) drei Bildformen<br />

unterscheidet, nämlich ideelle Kunst der Vergegenwärtigung, realistische Kunst <strong>und</strong> abstrakte<br />

Malerei, <strong>und</strong> diese der Reihe nach der Feudalgesellschaft, der aufstrebenden bürgerlichen <strong>und</strong><br />

der nachbürgerlichen Gesellschaft zuordnet, dann deutet dies in dieselbe Richtung. Dabei geht<br />

es weniger um Themen <strong>und</strong> Sujets, es geht vor allem um die Formensprache, die<br />

„Bildrationalität“ (14ff.). Auch verwendete Materialien sind zeitgeb<strong>und</strong>en. Neben der<br />

Produktions- <strong>und</strong> Werkästhetik ist es aber auch die Rezeptionsästhetik, also etwa die jeweilige<br />

zeitbedingte Weise, ästhetische Wahrnehmungen <strong>und</strong> Erfahrungen zu machen <strong>und</strong><br />

entsprechende Erlebnisse zu haben, die nur im jeweiligen kulturellen Kontext verstanden<br />

werden kann.<br />

Diese Berücksichtigung des kulturellen Kontextes gilt nicht nur <strong>für</strong> die Kunst. Auch die<br />

Reflexion über Kunst, die <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong> die <strong>Ästhetik</strong> sind zeitgeb<strong>und</strong>en. Die ästhetischen<br />

Vorstellungen von Platon <strong>und</strong> Aristoteles reflektieren sehr genau die soziale <strong>und</strong> politische<br />

Situation der griechischen Polis, sodass überprüft werden muss, ob <strong>und</strong> wie deren Kategorien<br />

heute noch Sinn machen. Die idealistische Autonomieästhetik ist ebenso zu verstehen in<br />

ihrem konkreten historischen Kontext wie die französische Regelästhetik oder die englische<br />

Wahrnehmungsästhetik im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Diese Historisierung <strong>und</strong><br />

Soziologisierung des Zugangs zur <strong>Ästhetik</strong> erfährt eine starke Begründung durch Hegels<br />

Aussage, Philosophie sei ihre Zeit in Begriffe gefasst: Es geht stets um die Klärung der Welt-<br />

<strong>und</strong> Selbstverhältnisse des Menschen. Kunst ist – so Cassirer – eine spezifische Zugangsweise<br />

des Menschen zur Welt: Kunst ist reflektierte <strong>und</strong> praktische Eroberung dieser Welt durch das<br />

Selbst, dient also – wie Gethmann-Siefert es sagt – dazu, die Welt <strong>für</strong> den Menschen<br />

erträglich zu machen. Dass sie hierbei ihrer eigenen Logik gehorcht, ist das Ergebnis eines<br />

historischen Prozesses <strong>und</strong> relativiert die anthropologische Gr<strong>und</strong>tatsache ihrer humanen<br />

Bedeutung nicht. Kunst hat es mit dem Menschen zu tun, der sich handelnd <strong>und</strong> reflektierend<br />

in der Welt zurechtfinden muss, also „mit dem Menschen als einem primär ethischen Wesen“<br />

(Tegtmeyer 2008, S. 9). Dieser Handlungsaspekt kommt in den frühesten ästhetischen<br />

Kategorien, etwa der Poiesis, zum Ausdruck, der ursprünglich sehr viel weiter gefasst war als<br />

die spätere Poesie, diese aber ausdrücklich mit einschließt. „Daher kommt es, dass die<br />

menschlichen Angelegenheiten <strong>und</strong> alles, was zur menschlichen Sphäre gehört, das wichtigste<br />

Thema der Kunst sind.“ (197). Dabei geht es nicht um platte Abbildung, sondern Kunst war<br />

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immer auch selbstreflexiv. Dies kommt etwa in solchen <strong>Ästhetik</strong>konzeptionen zum Ausdruck,<br />

die eine wichtige Aufgabe von Kunst darin sehen, nicht nur Wahrnehmungen <strong>und</strong><br />

Erfahrungen zu ermöglichen, sondern reflexiv Erfahrungen über Erfahrungen ermöglichen.<br />

Kunst ist in dieser Hinsicht unverzichtbar, allerdings auch nicht selbstgenügsam.<br />

„Einer der tiefen Irrtümer im Zusammenhang mit der Idee einer Kunstreligion, wie sie von<br />

den Frühromantikern bis zu Richard Wagner <strong>und</strong> Stefan George gepflegt wurde, besteht in<br />

der Annahme, die Kunst vermöge aus sich heraus eine allgemeine Welt- <strong>und</strong><br />

Lebensauffassung hervorbringen. Das kann die Kunst ebenso wenig wie die modernen<br />

Naturwissenschaften. Als Mensch wird der Künstler in solche allgemeinen Auffassungen<br />

hineinsozialisiert; als denkendes Wesen orientiert er sich darin. Durch die künstlerische<br />

Arbeit selbst schließlich beteiligt er sich an der kooperativen Anstrengung der Weiterführung,<br />

Ausarbeitung <strong>und</strong> Kritik dieser allgemeinen Auffassungen, <strong>und</strong> zwar auch dann, wenn er<br />

dabei eine ganz individuelle, unpopuläre oder nicht leicht zugängliche Vorstellung von<br />

menschlichem Leben entwickelt.“ (118).<br />

Der Bauchladen ästhetischer Theorien ist gut gefüllt. Auf Fichte geht der Spruch zurück, dass<br />

die Philosophie, die man wählt, davon abhinge, war <strong>für</strong> ein Mensch man sei. Wenn Theorie –<br />

auch ästhetische <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> – die oben angesprochene Aufgabe einer Verstehens- <strong>und</strong><br />

Orientierungshilfe in der Welt hat, dann kann man beides legitimerweise auf die hier<br />

anvisierten Praxisfelder <strong>Kulturpolitik</strong> <strong>und</strong> Kulturpädagogik beziehen. Jedem steht es natürlich<br />

frei, seine eigene Reflexion darüber anzustellen, was Kunst „eigentlich“ ist. Mir scheint es, als<br />

ob solche <strong>Ästhetik</strong>konzeptionen, die die praktische Relevanz sowohl von <strong>Ästhetik</strong> als auch<br />

von Kunst von vorneherein mit in Rechnung stellen, sich besonders gut anbieten.<br />

Praxeologische Ansätze, die etwa aus der Soziologie kommen (z. B. Bourdieu), helfen hierbei<br />

ebenso weiter wie die Ansätze aus dem amerikanischen Pragmatismus. John Dewey (1998) ist<br />

hier zu nennen, auf den sich Richard Shusterman, Richard Sennett (2008) oder Richard Rorty<br />

(1992) beziehen. Der Ansatz von „Kunst als Erfahrung“ (Dewey), die durch Handeln<br />

erworben wird (Zug 2007), ist eine Hintergr<strong>und</strong>folie sowohl <strong>für</strong> die <strong>Kunsttheorie</strong> eines Arnold<br />

Gehlen (1986) ebenso wie sie roter Faden der Arbeit von Martin Seel (1985) ist. Auch hier ist<br />

eine wesentliche Gr<strong>und</strong>überzeugung, dass der Mensch sich in seinem Handeln – also auch<br />

<strong>und</strong> gerade in seiner ästhetischen Praxis <strong>und</strong> in der Kunst – letztlich immer selbst begegnet.<br />

Dies gilt auch bei werkorientierten Ansätzen, denen seine (ästhetische) Wahrnehmung gilt:<br />

„Die Aufmerksamkeit <strong>für</strong> das Erscheinende ist so zugleich eine Aufmerksamkeit <strong>für</strong> uns<br />

selbst.“ (Seel 2000, S. 9). Der Ansatz „Kunst als kulturelle Praxis“ kann also vielfältig<br />

begründet werden, auch wenn er die Pluralität in Kunst, Philosophie <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

respektiert. In meinem anvisierten praktischen Kontext der Politik <strong>und</strong> <strong>Pädagogik</strong> spielt es<br />

dabei eine wichtige Rolle, den Aspekt der Teilhabe zu berücksichtigen. Wenn Bourdieu nicht<br />

müde wird, den von der Autonomieästhetik geforderte „reinen Blick“ im Hinblick darauf zu<br />

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befragen, wer sich diesen überhaupt leisten kann, wenn man zudem berücksichtigt, dass sich<br />

viele Kunsttheoretiker um eine elitäre Kunstkenner-Aristrokratie bemühen, dann sind solche<br />

Ansätze nur schwer in Einklang mit dem Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe zu bringen:<br />

Wenn Kunst die oben beschriebene, anthropologisch f<strong>und</strong>ierte Bedeutung <strong>für</strong> den Menschen<br />

hat, dann ist ein ästhetisch gestützter Ausschluss von Teilhabe niemals zu begründen.<br />

Kunst <strong>und</strong> die Kultur der Moderne<br />

Hintergr<strong>und</strong>folie meiner Überlegungen zur Entwicklung der Künste <strong>und</strong> ihrer Theorien ist die<br />

Besonderheit der Moderne, insbesondere die Kultur der Moderne. Auf der Basis früherer<br />

Überlegungen, die im folgenden kurz referiert werden sollen, versuche ich eine Einordnung<br />

der spezifischen Rolle der Künste. Dabei ist es ein Spezifikum der Moderne, dass sie wie<br />

keine andere Zeit sich selbst kritisch reflektiert, wobei die Maßstäbe, an denen ein<br />

entsprechendes Reflexionsergebnis bewertet wird, eben nicht mehr von vorgegebenen<br />

religiösen oder metaphysischen Lehrmeinungen übernommen werden kann, sondern selbst<br />

entwickelt werden muss. (Ich greife im folgenden auf frühere Vorarbeiten zurück).<br />

Die Moderne: Ambivalenzen, Widersprüche, Antinomien<br />

Eine anthropologische Bestimmung des Menschen besteht darin, dass er das einzige Wesen<br />

mit einem Bedarf an <strong>und</strong> der Fähigkeit zur Selbstdeutung seines Seins ist: Der Mensch ist das<br />

ständig sich selbst interpretierende Wesen (Ch. Taylor). Mit der Moderne – hierüber herrscht<br />

eine weitgehende Einigkeit – verstärkt sich nicht nur dieser Bedarf an Selbstdeutung sowohl<br />

in Bezug auf Gemeinschaften als auch auf den Einzelnen, es werden auch Institutionen<br />

geschaffen, die diese Selbstdeutung auf Dauer stellen. Mit dem Buchdruck ist zudem die<br />

Voraussetzung da<strong>für</strong> geschaffen, dass sich die Anzahl der Beteiligten an diesem<br />

Deutungsgeschehen vergrößert <strong>und</strong> Diskursgemeinschaften jenseits bloß lokaler Bezüge<br />

entstehen können. Es waren dabei immer wieder starke Verunsicherungen, hervorgerufen<br />

durch ökonomische, politische, soziale oder kulturelle Wandlungsprozesse, die dieses<br />

Selbstdeutungsgeschäft am Laufen hielten <strong>und</strong> forcierten: Die Ausdehnung des<br />

geographischen Horizonts, Schicksalsschläge wie Pest oder Erdbeben wie das, das Mitte des<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts in Lissabon stattgef<strong>und</strong>en hat, Kriege, äußere Bedrohungen, aber auch<br />

wissenschaftliche Entdeckungen, v.a. die neuen Naturwissenschaften <strong>und</strong> Mathematik. Es gab<br />

dabei über nationale Grenzen hinweg diskutierte Ereignisse, z. B. das erwähnte Erbeben von<br />

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Lissabon, das die Frage nach der Perfektheit Gottes aufwarf <strong>und</strong> zu hämischen Antworten<br />

eines Voltaire führte, der die von Leibniz gepriesene „beste aller Welten“ ad absurdum<br />

geführt sah. Es gab aber auch eine starke Ungleichzeitigkeit in den Entwicklungen: In<br />

politischer Hinsicht im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert die Loslösung der amerikanischen Kolonien von<br />

England, die Revolutionen in England <strong>und</strong> Frankreich; in ökonomischer Hinsicht der Beginn<br />

<strong>und</strong> die allmähliche Durchsetzung der dampfmaschinen-basierten Industrie verb<strong>und</strong>en mit<br />

dem Beginn des Siegeszuges des Kapitalismus zuerst wiederum in England nachdem der<br />

ältere Handelskapitalismus schon einige Zeit früher große Erfolge hatte.<br />

All dies gehört zur „Moderne“. Doch wie soll man sie datieren? Die Geschichte der<br />

<strong>Pädagogik</strong> von Albert Reble führt in ihrem Sachwortverzeichnis den Begriff der Moderne<br />

nicht. Doch häufen sich auch in der <strong>Pädagogik</strong> in den letzten 25 Jahren Publikationen, die im<br />

Titel den Begriff der „Moderne“ führen. Dies hat zumindest zwei Gründe: Zum einen wurde<br />

„Moderne“ – vor allem in den Sozial- <strong>und</strong> Kunstwissenschaften – zu einem zentralen Thema,<br />

als man im Zuge der Postmoderne ihr Ende erklärte. Zum anderen gab es in der Soziologie<br />

eine kritische Infragestellung der „Modernisierungstheorien“, die – paradoxerweise – auch zu<br />

einer erneuten Konjunktur dieser Theorien führte. Zwar wird allenthalben an den Streit r<strong>und</strong><br />

um die Académie Française zwischen den anciens <strong>und</strong> den modernes im 17. <strong>und</strong> 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert erinnert, doch muss man feststellen, dass die Probleme der Moderne bis zu dieser<br />

erneuten Konjunktur eher unter anderen Leitbegriffen geführt wurden: Zivilisation,<br />

Aufklärung, Neuzeit, Kapitalismus, bürgerliche Gesellschaft etc. Einen Entwicklungsschub<br />

erfuhr die Thematisierung der „Moderne“ Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, wobei<br />

Ulrich Beck noch nicht den Begriff der „Zweiten Moderne“, verwendete, sondern zunächst<br />

von der „Risikogesellschaft“ sprach. Der Sonderband 4 der Sozialen Welt „Die Moderne –<br />

Kontinuitäten <strong>und</strong> Zäsuren“ (Berger 1986) ist zumindest einer der Marksteine einer<br />

Bündelung von Themen unter dieser (wieder entdeckten) Rubrik. Mit der üblichen zeitlichen<br />

Verzögerung entdeckte auch die <strong>Pädagogik</strong> Anfang der 90er Jahre dieses Thema, wobei<br />

zusätzlich zu den oben angesprochenen Impulsen auch die deutsche Einigung <strong>und</strong> die<br />

anstehende „nachholende Modernisierung“ in Ostdeutschland eine Rolle spielte. Der 13.<br />

Kongress der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Erziehungswissenschaft im Jahre 1992 hatte das<br />

Thema „Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung <strong>und</strong> Modernitätskrise“, durchaus<br />

ein wichtiges Signal da<strong>für</strong>, dass nun endgültig der Begriff hier angekommen war. Im Vorfeld<br />

führte die Kommission Wissenschaftsforschung ihre Frühjahrstagung zu diesem Thema durch<br />

(Hoffmann/Langewald/Niemeyer 1992).<br />

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Nähern wir uns also dem Problem der zeitlichen Eingrenzung <strong>und</strong> der begrifflichen<br />

Bestimmung der Moderne an.<br />

Was ist die „Moderne“? (Ich verwende hier Überlegungen aus Kap. 3 in Fuchs 2008).<br />

Eine erste Überlegung zur Verdeutlichung dessen, was „die Moderne“ ist, könnte darauf<br />

hinauslaufen, sie mit „Kapitalismus“, bürgerlicher Gesellschaft oder Europa gleichzusetzen.<br />

Sicherlich wird man zugestehen, dass jedes der genannten Phänomene <strong>für</strong> sich untersucht<br />

werden kann (<strong>und</strong> dies ist auch in den letzten Jahren mit großer Energie geschehen).<br />

Man kann zudem auf den Historiker Thomas Nipperdey verweisen, der in seiner kleinen<br />

Schrift „Wie das Bürgertum die Moderne erfand“ (1988) nicht bloß gute Gründe <strong>für</strong> diese<br />

Parallelisierung angibt, sondern zudem diese parallele Entwicklung am Beispiel der Genese<br />

des spezifisch deutschen Kunstsystems aufzeigt. Immerhin hat man durch diese kurzen<br />

Überlegungen schon einiges an Erkenntnissen gewonnen: es gibt unterschiedliche<br />

Disziplinen, die sich um die „Moderne“ <strong>und</strong> ihre Diagnose kümmern (Soziologie <strong>und</strong><br />

Geschichte, aber auch Philosophie, Kunst <strong>und</strong> Kulturwissenschaften, Politologie <strong>und</strong> andere;<br />

siehe Abb. 3).<br />

Bei der in Frage stehenden Zeit spielt offenbar das 19. (<strong>und</strong> 20.) Jahrh<strong>und</strong>ert eine besondere<br />

Rolle.<br />

Die verschiedenen genannten Disziplinen, die sich um die Moderne kümmern, sorgen<br />

allerdings auch <strong>für</strong> einige Verwirrung, denn die Verständnisweisen von „Moderne“ reichen<br />

alleine in ihrer Datierung unterschiedlich weit: die einen identifizieren mit der Moderne die<br />

Neuzeit, <strong>für</strong> andere beginnt sie erst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Immerhin: Wer von „Moderne“<br />

spricht, will diese Zeit absetzen von anderen Zeiten, hat also ein spezifisches Verständnis von<br />

Epochen, von historischen Abläufen, <strong>und</strong> oft genug ist dies verb<strong>und</strong>en mit normativen<br />

Bewertungen etwa im Hinblick auf Fortschritt, Verbesserung des Menschengeschlechts oder<br />

der „Perfectibilität“. Man hat darauf hingewiesen, wie sehr gerade die Anthropologie des<br />

18.Jahrh<strong>und</strong>erts in diesem Begriff das entscheidende Merkmal des Menschseins gef<strong>und</strong>en zu<br />

haben glaubte. Dies ist einsichtig, weil in dem Gedanken der Verbesserung die Möglichkeit<br />

der Verbesserung, das Prozesshafte, eine Zielorientierung <strong>und</strong> der Gedanke der Machbarkeit<br />

zusammenlaufen, alles Denkformen der Aufklärung <strong>und</strong> der Moderne schlechthin, die zudem<br />

unmittelbar pädagogisch relevant sind. Rousseau mit seiner ersten wuchtigen<br />

Zivilisationskritik setzte folgerichtig in seiner ersten Preisschrift mit einer F<strong>und</strong>amentalkritik<br />

an diesem Topos an.<br />

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Abb. 3<br />

ETHNOLOGIE<br />

POLITIKWISSENSCHAFT<br />

Religionswissenschaft<br />

Tanz- <strong>und</strong><br />

Theaterwissenschaft<br />

Filmwissenschaft<br />

Kunstwissenschaft<br />

KULTURWISSENSCHAFTEN/<br />

GEISTESWISSENSCHAFTEN<br />

Zeitdiagnose: Disziplinäre Zugänge<br />

SOZIOLOGIE<br />

Kultursoziologie Sozialtheorie<br />

Makro-Soziologie<br />

Religionssoziologie<br />

Musikethnologie<br />

Musikwissenschaft<br />

Modernisierungstheorien<br />

ZEITDIAGNOSE<br />

Postcolonialismus<br />

Literaturwissenschaft<br />

vergleichende<br />

Soziologie<br />

Zivilisationstheorie<br />

Geschichte<br />

Kulturphilosophie<br />

6/04<br />

PHILOSOPHIE<br />

empirische Werteforschung<br />

Sozialphilosophie<br />

Geschichtsphilosophie<br />

interkulturelle Philosophie<br />

MEDIEN,<br />

v.a. Feuilleton<br />

Die Moderne wird entschieden durch ihr spezifisches Verhältnis zur Zeit geprägt, so dass eine<br />

Philosophie der Geschichte zur Selbstdeutung der Moderne dazu gehört. In der Tat ist die<br />

Moderne zugleich die Zeit der großen Historiker: Man will wissen, woher man kommt, um zu<br />

verstehen, wo man ist. Und oft genug dient die Geschichtsschreibung dem Beleg, dass die<br />

menschliche Entwicklung notwendig ihrem Höhepunkt (nämlich der jeweiligen Gegenwart)<br />

zustreben musste. Zwar gab es schon in der Antike berühmte Historiker, doch wird dieses<br />

spezifische Verständnis von historischer Zeit Vico zugesprochen. Wir befinden uns damit im<br />

Vorfeld der Aufklärung, was insofern folgerichtig ist, als „Aufklärung“ oft genug als weiteres<br />

Synonym <strong>für</strong> „Moderne“ verwendet wird.<br />

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Nun ist die Moderne auch kritisch mit sich selbst. Dies heißt insbesondere, dass es immer<br />

wieder gewichtige Versuche gegeben hat, das Deutungsmonopol der westlichen Moderne zu<br />

brechen. Insbesondere haben Soziologen wie Simmel, Eisenstadt, Touraine oder Asnason<br />

(vgl. Knöbl 2001) die Vormacht der Max-Weberschen Deutung der Moderne angegriffen.<br />

Max Webers Theorie der Moderne basiert auf der Durchsetzung vor allem von Rationalität,<br />

von rationaler Lebensführung, von Rechenhaftigkeit <strong>und</strong> von Individualität <strong>und</strong> Kapitalismus.<br />

Dagegen, so die genannten Autoren, muss man heute vielmehr von „multiple modernities“<br />

sprechen, da die frühere Sowjetunion oder Japan zwar moderne Staaten seien, aber nicht in<br />

das all zu lineare Entwicklungsmodell von Max Weber passen. Dieses, so andere Kritiker, hat<br />

insbesondere in seiner Weiterentwicklung in der „Modernisierungs-Theorie“ eher Schaden<br />

angerichtet als Erkenntnisse geliefert, weil es über viele Jahrzehnte – etwa in der<br />

Entwicklungspolitik – nur einen einzigen Entwicklungspfad <strong>für</strong> die „Entwicklungsländer“<br />

zugelassen habe (Wehling 1992).<br />

Wird die gesellschaftliche Entwicklung inzwischen zwar nicht mehr so geradlinig in diesen<br />

soziologischen Theorien gesehen, so gilt nach wie vor das Erleben von Veränderung als<br />

wichtigstes Kennzeichen heutigen Lebens:<br />

„Sozialer Wandel bestimmt das Lebensgefühl des modernen Menschen, des Menschen der<br />

Neuzeit, aber schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten. Renaissance, Humanismus <strong>und</strong> Aufklärung,<br />

industrielle, technische <strong>und</strong> wissenschaftliche Revolution, historisch wachsende bürgerliche,<br />

politische <strong>und</strong> soziale Rechte, eine progressiv durchgesetzte Partizipation <strong>und</strong> Emanzipation<br />

immer größerer Bevölkerungsteile, die Säkularisierung der Gesellschaft <strong>und</strong> die<br />

Individualisierung von Lebensweise <strong>und</strong> Werten haben den Ausgang aus der<br />

selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant) des Lebens in traditionalen Lebensformen bewirkt.<br />

Der Mensch fühlt sich als Herr oder auch Opfer einer bewegten Geschichte.“ (Weymann1998,<br />

S.119).<br />

So werden prägnant viele Zuschreibungen der Moderne gesammelt, zunächst scheinbar<br />

unbeeindruckt von der oben angeführten Kritik an eben solchen Vorstellungen von<br />

„Moderne“. Doch setzt Weymann dieses Zitat fort mit der Frage danach, ob das beschriebene<br />

Lebensgefühl des Wandels wirklich so neu ist oder sich nicht vielmehr schon bei den<br />

Griechen Vorläufer finden lassen („alles fließt“).<br />

Die „Moderne“ war jedoch immer schon mehr als eine bloß neutrale oder pragmatische<br />

Zeiteinteilung. Immer schon schwangen erhebliche Werturteile mit: Die europäische Moderne<br />

war – ganz selbstverständlich – über Jahrh<strong>und</strong>erte das Maß aller Dinge, demgegenüber<br />

Kulturen in anderen Teilen der Welt nur nachrangig sein konnten. Die „Modernen“ setzten<br />

sich ab von den Alten, weil sie glaubten, vieles besser zu machen. „Modern“ ist, wer auf der<br />

Höhe der Zeit ist.<br />

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Allerdings gab es schon früh explizit Gegenpositionen: zum einen maß man die reale<br />

Gegenwart an den Versprechungen der Moderne (Freiheit, Individualität, Wohlstand usw.).<br />

Man kritisierte allerdings auch diese Ziele selbst, weil man ein verkürztes (rationalistisches)<br />

Menschenbild vermutete <strong>und</strong> in einer zu starken Vernunftorientierung Wesentliches am<br />

Menschsein zurückgedrängt sah.<br />

Die Romantik gilt daher als große Gegenbewegung zur Vernunftorientierung der Aufklärung,<br />

aber auch als Kritik an der Moderne in Bezug auf Triebverzicht, Gewaltförmigkeit,<br />

Domestizierung des Innenlebens, die Hineinverlagerung äußerer Zwänge in das Individuum<br />

(Freud, Foucault, Elias). Und auch die Überwindung des Mythos wurde <strong>und</strong> wird bis in die<br />

heutige Zeit als „Verlust“ beklagt, so dass immer wieder von einer „Wiederverzauberung der<br />

Gesellschaft“ die Rede ist. Im Zuge der Postmoderne kommen daher all diese Topoi wieder<br />

zum Vorschein, deren Verlust man beklagte <strong>und</strong> der „Vernunft“ zur Last legte (Körper,<br />

Sinnlichkeit, Emotionalität, das Individuelle usw.).<br />

Vieles allerdings, was man im Zuge der Durchsetzung der Moderne zunächst als ihr<br />

spezifisches Kennzeichen identifizierte (Fragmentierung, die Individualisierung, Kontingenz)<br />

- ganz so, wie es Simmel im Anschluss an Baudelaire (als Denker der Moderne) in seinen<br />

essayhaften Analysen des Großstadtlebens (Fremdheit, Mode, alltägliche <strong>Ästhetik</strong>,<br />

Flaneurtum) getan hat, also Gedanken formulierte, die später Kracauer <strong>und</strong> Benjamin<br />

aufgriffen - hat man in den Neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts eher unter der<br />

Rubrik „Postmoderne“ einsortiert. Die Moderne – ein „unvollendetes Projekt“ (Habermas),<br />

die Postmoderne dann in einem grandiosen Selbst-Missverständnis nichts anderes als die<br />

Moderne, die zu sich selbst findet?<br />

Ein kurzer Steckbrief der Moderne<br />

Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, dass es sehr unterschiedliche, jeweils fachspezifische<br />

Deutungsversuche der Gegenwart gibt. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie diese<br />

Einzeluntersuchungen jeweils einzuordnen sind, will ich in diesem Abschnitt ein<br />

Rahmenmodell von „Moderne“ skizzieren.<br />

Wegweisend sind bis heute die Studien von Max Weber, der auf der Suche nach den geistig-<br />

normativen Gr<strong>und</strong>lagen des Kapitalismus (das ist bei ihm die Moderne) den Protestantismus,<br />

vor allem den Protestantismus Calvinistischer Prägung ausmachte. Diese Studien haben<br />

vielfältige Fortführungen gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Geschichtstheorie, die Religions- <strong>und</strong><br />

Wissenssoziologie, die Theorien des sozialen Wandels beeinflusst. Insbesondere hat sein<br />

Fre<strong>und</strong> Troeltsch diese Studien – ganz in Webers Sinne – vertieft (vgl. Fuchs 2000, Kap. 2).<br />

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Ein verbreitetes Bild der Entwicklung der Moderne könnte aussehen wie folgt:<br />

Zunächst einmal ist eine Abgrenzung zwischen geistiger Moderne (Beginn im 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert: linearer Zeitbegriff, Gedanke der individuellen Freiheit, Krisenhaftigkeit,<br />

Säkularisierung, Fortschrittsidee), politischer Moderne (im Laufe des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstanden; zweckorientierte Gestaltung von Wirtschaft <strong>und</strong> Staat, politischer Liberalismus,<br />

Gewaltenteilung, demokratische Elemente) <strong>und</strong> gesellschaftlicher Moderne<br />

(Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme, Verschwinden des Ständischen)<br />

sinnvoll.<br />

Nun wird es niemanden verw<strong>und</strong>ern, dass auch diese – zugegeben grobe – Differenzierung<br />

des Begriffs der Moderne nicht unumstritten ist. Vielmehr ist die Frage nach der Relevanz des<br />

Epochenwechsels in den verschiedenen historischen Disziplinen <strong>und</strong> dann natürlich die<br />

zeitliche Festsetzung der unterschiedlichen Epochen ständiges Diskussion- <strong>und</strong> sogar<br />

Streitthema. Band 1 des Handbuches der Kulturwissenschaften (Jaeger/Liebsch 2004) befasst<br />

sich (in Kapitel sechs) ausführlich mit dieser Frage <strong>und</strong> unterteilt das Kapitel eher traditionell<br />

in archaische Gesellschaften, Hochkulturen (Ägypten, China), klassische Antike, Mittelalter<br />

<strong>und</strong> Neuzeit (allerdings jeweils mit Problematisierungen dieser Untergliederung).<br />

Gerade der Abschnitt über die Neuzeit (Verfasser: F. Jaeger) enthält kritische Reflexionen<br />

zum Epochenbegriff, was allerdings nicht weiter verw<strong>und</strong>ert. Denn erst in der Neuzeit<br />

entsteht ein selbstreflexives Zeit- <strong>und</strong> Geschichtsbewusstsein. Im Hinblick auf unsere<br />

Fragestellung ist die Auseinandersetzung mit der Gleichsetzung Neuzeit = Moderne<br />

interessant. Der Position, beides beginne um 1500, wird die sich offenbar in der<br />

Geschichtswissenschaft zunehmend Anhänger findende Position entgegengestellt, die die<br />

Neuzeit als Vorgeschichte der Moderne betrachtet <strong>und</strong> die die Moderne zur Gegenwart zählt,<br />

die mit der Doppelrevolution Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beginne. Folge ist zwar, die<br />

Einheitlichkeit eines „langen 19. Jahrh<strong>und</strong>erts“ aufzugeben, die Zeit zwischen 1850 <strong>und</strong> 1880<br />

als Übergangsperiode zu betrachten, in der sich die Gr<strong>und</strong>lagen der Moderne herausbildeten.<br />

Die zwanziger Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind dann als „eigentliche“ oder „klassische“<br />

Moderne zu betrachten.<br />

Dies ermöglicht dann aber, die allmähliche Herausbildung moderner Lebensformen <strong>und</strong><br />

struktureller Bedingungen der Moderne in längeren Zeiträumen zu verfolgen:<br />

„Prozesse der Urbanisierung <strong>und</strong> der Professionalisierung; Tendenzen der<br />

Kapitalkonzentration <strong>und</strong> der Herausbildung neuer innerbetrieblicher Organisationsformen<br />

<strong>und</strong> Unternehmensstrukturen; ein neues, durch kritische Untertöne geprägtes kulturelles<br />

Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft <strong>und</strong> ihrer Deutungs- <strong>und</strong> Interpretationseliten;<br />

die Genese einer imperialistischen Konstellation, die sich im Ersten Weltkrieg auf<br />

katastrophale Weise entlud; die Entstehung des Sozial- <strong>und</strong> Interventionsstaates; der Aufstieg<br />

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der Frauenbewegung; eine neue Stufe von Verkehr <strong>und</strong> Kommunikation durch Eisenbahnbau<br />

<strong>und</strong> die Massenpresse.. „ (Ebd., Seite 522).<br />

Jaeger sieht weitere Vorteile einer solchen Auffassung vom Ende der Neuzeit mit dem Beginn<br />

der Moderne: eine veränderte europäische Selbstdeutung, eine Sensibilisierung <strong>für</strong><br />

unterschiedliche Entwicklungswege <strong>und</strong> Modernisierungs-Pfade, die außereuropäische<br />

Kulturen <strong>und</strong> Gesellschaften gegangen sind (etwa im Sinne der multiple modernities, vgl.<br />

Knöbl 2001). Insbesondere erleichtere ein solches Vorgehen eine verstärkte Rückbesinnung<br />

auf die der Moderne eigenen Gewaltrisiken.<br />

Gerade der letzte Punkt ist dabei vielen Selbstbeschreibungen der Moderne eine<br />

Herausforderung <strong>und</strong> ein Problem: die eben nicht domestizierte Tendenz zur Gewalt.<br />

Ursprünglich gehörte die Herstellung von Frieden zu den zentralen Versprechungen der<br />

Moderne. Fortschritt glaubte man etwa dadurch erzielt zu haben, dass sich mit dem modernen<br />

Staat das Gewaltmonopol dieses Staates durchsetzte. Doch kommen Studien zu dem Ergebnis,<br />

dass die Gewalt insgesamt keineswegs reduziert wurde, so dass dieser Widerspruch zwischen<br />

Friedensversprechungen <strong>und</strong> realer Gewaltförmigkeit des Alltags eine zentrale<br />

Herausforderung <strong>für</strong> die Bewertung der Moderne ist. Zygmunt Baumann sprach in diesem<br />

Zusammenhang von der „Ambivalenz der Moderne“.<br />

Eine weitgehend akzeptierte Antwort lautet heute: „Das Projekt der Moderne erfüllt sich<br />

genau darin, dass sich die Moderne ihres Potenzials an Barbarei bewusst wird <strong>und</strong> in ihrem<br />

Zivilisationprozeß zu überwinden trachtet“. (Miller/Soeffner 1996, S. 18).<br />

An geistigen Prinzipien unterscheiden verschiedene Autoren Rationalisierung der Kultur,<br />

Individualisierung des Lebens, Domestizierung der Natur <strong>und</strong> Differenzierung in der<br />

Gesellschaft (van der Loo/van Reijen 1990).<br />

Max Weber bringt den Gedanken der methodisch-rationalen Lebensführung ins Spiel. Zudem<br />

sind Sachlichkeit <strong>und</strong> Säkularisierung wichtige Prinzipien.<br />

Es ist bereits in diesen Etikettierungen das berühmte AGIL-Schema erkennbar, das Parsons<br />

aus seiner Lektüre von Weber, aber auch der anderen Klassiker der Soziologie (Tönnies,<br />

Durkheim) entwickelt hat (Abb. 4, hier nach Münch 1991).<br />

Dieses Schema enthält natürlich schon eine erhebliche Theoretisierung der „Moderne“, es ist<br />

allerdings hilfreich gerade bei dem Anliegen dieses Textes, da es eine Sortierhilfe in Bereiche<br />

(Subsysteme) liefert, die nunmehr gesondert im Hinblick auf unsere Fragestellung nach<br />

zentralen Gegenständen der Deutung, aber auch nach der Herkunft der Orientierungs- <strong>und</strong> der<br />

Deutungsvorschläge untersucht werden können <strong>und</strong> die eine Rolle bei der<br />

Funktionsbeschreibung der <strong>Pädagogik</strong> spielen.<br />

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Abb. 4 Subsysteme <strong>und</strong> ihre Interpenetration<br />

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Im AGIL-Schema ist es das Kultursystem (L), das als Sinn- <strong>und</strong> Deutungsinstanz dem Rest<br />

der Gesellschaft, dem Deutungs-Objekt (Wirtschaft: A; Politik: G; Soziales: I),<br />

gegenübersteht. Zu diesem Kultursystem kann das Bildungssystem gezählt werden, in dem<br />

daher die Aufgabe der Sinnvermittlung <strong>und</strong> Orientierung eine wichtige Rolle spielt. Weitere<br />

gesellschaftliche Funktionen des Bildungssystems werden weiter unten beschrieben. Die<br />

verschiedenen Deutungs-Vorschläge werden auch danach zu unterscheiden sein, dass sie<br />

jeweils ein anderes System als „Leitsystem“ <strong>für</strong> die Gesamtgesellschaft sehen. Beispiel: Die<br />

Ökonomie wird als das maßgebliche Subsystem nicht nur von der marxistischen<br />

Gesellschaftslehre <strong>und</strong> Geschichts-Theorie („historischer Materialismus“), sondern auch von<br />

solchen Ansätzen gesehen, die von der Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft sprechen.<br />

Auch die aktuellen politisch-ökonomischen Theorien des Fordismus bzw. Postfordismus sind<br />

dort angesiedelt.<br />

Die Rede von der Individualisierung <strong>und</strong> Pluralisierung oder die Multi-Options-Gesellschaft<br />

sind im Sub-System Soziales angesiedelt. Auch das Subsystem Kultur liefert eine Anzahl von<br />

Gesellschaftsdiagnosen: Kulturpessimismus, Erlebnisgesellschaft, Säkularisierungsthese,<br />

Theorien des Wertewandels, die Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft.<br />

Als zentrales Merkmal der Moderne wurde oben die Widersprüchlichkeit zwischen<br />

Versprechungen der Moderne <strong>und</strong> der sich entwickelnden Realität festgestellt. Wahl (1989, S.<br />

164) stellt dies – gerade in Hinblick auf die Verarbeitungsprobleme des Einzelnen – in Abb.<br />

5) zusammen.<br />

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Abb. 5 Mythos <strong>und</strong> Realität der Moderne<br />

(1)<br />

Mythos der Moderne<br />

Modernes Menschen-,<br />

Familien-, Gesellschaftsbild,<br />

– “Verheißung“ –<br />

Selbstbewusstes, autonomes<br />

Individuum<br />

Liebesbegründete, individualisiertpartnerschaftliche,<br />

autonome<br />

Familie<br />

“Fortschritt“ in<br />

� Wissenschaft<br />

� Technik<br />

� Wirtschaft<br />

� Kultur<br />

� Ethik<br />

� Recht<br />

� Gesellschaft<br />

� Politik<br />

(2)<br />

Realität der Moderne<br />

Realisierte Aspekte<br />

gesellschaftlicher<br />

Modernisierung<br />

� Freisetzung von traditionellen<br />

sozialer <strong>und</strong> kultureller<br />

Bindungen<br />

� Inklusion größerer<br />

Bev.gruppen bez. Bürger-,<br />

Menschenrechten etc.<br />

� Individualisierung von<br />

Biographien,<br />

Lebensansprüchen,<br />

Rollengestaltung<br />

� Subjektivierung der<br />

Selbstthematisierung, Ich-<br />

Kult<br />

Familiale Lebenspraxis im<br />

Spannungsfeld von<br />

� bürgerlichem Familienmodell<br />

� Individualisierung der<br />

Familienmitglieder<br />

� Auseinandersetzung mit<br />

gesell. Umwelt der Familie (<br />

Wirtschaft, Schule etc.)<br />

� Ungleich verteilte Ressourcen<br />

der Familie<br />

� Wissenskomplexität <strong>und</strong><br />

Wissenspluralisierung<br />

� techn. Rationalisierung<br />

� Wirtschaftswachstum,<br />

Wohlstandsmehrung <strong>und</strong><br />

Arbeitslosigkeit<br />

� kulturelle Differenzierung,<br />

Säkularisierung, Pluralisierung<br />

� Leistungsprinzip,<br />

Aufstiegsmotivation,<br />

Pluralismus<br />

� Universalisierung des Rechts,<br />

� Komplexität des Rechts<br />

� Differenzierung in Subsysteme<br />

<strong>und</strong> Lebensformen<br />

� wachsende Komplexität <strong>und</strong><br />

Mediatisierung<br />

� Egalisierungstrends vs.<br />

Hierarchifizierung<br />

� Demokratisierung vs.<br />

politische<br />

Partizipationsgrenzen etc.<br />

(3)<br />

Individuelle Erfahrungen<br />

von gesellschaftlichen<br />

Modernisierungsprozessen<br />

� Selbst- vs. Fremdbestimmung<br />

der eigenen Person<br />

� Anerkennung vs. Missachtung<br />

der eigenen Individualität<br />

� Entwicklung pos. oder neg.<br />

Selbstbewusstseins,<br />

Selbstwerts<br />

� Individuelle Autonomie vs.<br />

Heteronomie in Familie<br />

� Familiale Autonomie vs.<br />

Heteronomie in Gesellschaft<br />

� Liebe vs. Routine, Konflikte<br />

� Partnerschaft vs. Patriarchat<br />

� Anerkennung vs. Missachtung<br />

der Individualität<br />

� Aufklärung <strong>und</strong> Verwirrung<br />

� Entlastung vs. Anforderungen<br />

� Hebung des Lebensstandards,<br />

Arbeitslosigkeit<br />

� ungelöste Sinnfragen<br />

� Erfahrung der Grenzen des<br />

Leistungsprinzips,<br />

Normverwirrung<br />

� zunehmende Individualrechte<br />

� Verwirr. durch<br />

Rechtskomplexität<br />

� Autonomisierung der<br />

Lebensgestaltung<br />

� komplex. Sozialbeziehungen<br />

� soziale Ungleichheitserfahrung<br />

(Geschlecht, Schichten)<br />

� politische Partizipation vs.<br />

Ohnmacht etc.<br />

Quelle: Wahl 1989; S.164<br />

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Kultur der Moderne - Eine Begriffsklärung<br />

„’Kultur’ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn <strong>und</strong> Bedeutung bedachter<br />

endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“, so definiert Max<br />

Weber in seinem Buch „Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft“ (1971) „Kultur“. Seine „verstehende<br />

Soziologie“ will als Wirklichkeits-Wissenschaft das Leben in seiner Eigenart, will seine<br />

einzelnen Erscheinungen in ihrer Kultur-Bedeutung verstehen. Diesem Programm kann ich<br />

mich hier anschließen.<br />

Allerdings: Gerade wegen des „cultural turns“ in allen Wissenschaften ist es inzwischen<br />

geradezu unmöglich, einen knappen Überblick über das inzwischen inflationär gebrauchte<br />

Konzept der Kultur zu geben, der nicht sofort angreifbar wäre. Allerdings ist es<br />

unvermeidbar. Nützlich mag dabei eine grobe Unterscheidung von disziplinären Zugängen<br />

zur Kultur sein.<br />

Auf philosophisch-anthropologischer Ebene (s.o.) ist „Kultur“ dasjenige, das menschliches<br />

Leben von anderen Formen des Lebens unterscheidet: die Tatsache, dass der Mensch – <strong>und</strong><br />

nur der Mensch – sein Leben selbst gestalten muss. Er ist Beobachter, Planer, Macher <strong>und</strong><br />

Bewerter seiner Lebensumstände. Dies macht ihn zu einem kulturell verfassten Wesen.<br />

„Kultur“ wird allerdings erst im 18. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einem viel genutzten Konzept zur<br />

Selbstbeschreibung des Menschen. Es tritt in dem Moment auf den Plan, als der europäische<br />

Mensch entdeckt, dass es als menschlich anzuerkennende Lebensformen auch außerhalb<br />

Europas gibt. Die Pluralität der Möglichkeiten des Menschseins benötigt daher zu ihrer<br />

Erfassung eine Kategorie der Differenz. Genau dieses leistet der Kulturbegriff, so wie ihn<br />

später auch die Ethnologie verwendet: Kultur ist die menschliche Lebensweise in ihrer<br />

Vielgestaltigkeit.<br />

Interessant ist hierbei ein Blick in die historische Semantik. „Kultur“ erscheint als Begriff der<br />

Differenz am Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> erfasst – wie erwähnt – die Vielfalt menschlicher<br />

Lebensformen. Erst Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden alle Künste unter einem einheitlichen<br />

Begriff von „Kunst“ zusammengefasst <strong>und</strong> gleichzeitig wird die philosophische Disziplin der<br />

<strong>Ästhetik</strong> begründet. Bei letzterem ging es darum, die Sinnlichkeit des Menschen angesichts<br />

der Dominanz der Rationalität <strong>und</strong> des philosophischen Rationalismus auf dem Festland zu<br />

rehabilitieren.<br />

Eine Annäherung dieser beiden Konzepte der „Kultur“ <strong>und</strong> der „Kunst“ geschieht erst sehr<br />

viel später <strong>und</strong> führte stets zu einem spannungsvollen Verhältnis. Fast kann man die<br />

Entwicklung der Künste – über eine Phase der Thematisierung ihrer „Autonomie“ – als<br />

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Wiedergewinnung ihrer kulturellen Relevanz, etwa bei der avantgardistischen Forderung nach<br />

einem Zusammengehen von Kunst <strong>und</strong> Leben, deuten.<br />

Die frühe Bedeutung von „Kultur als Lebensweise“ geht in einigen Diskursen dann insoweit<br />

verloren, als unter „Kultur“ in Deutschland nur noch „ästhetische Kultur“, also Kunst,<br />

verstanden wird. Folge ist, dass der (ursprüngliche) „weite Kulturbegriff“ der Unesco <strong>und</strong> des<br />

Europa-Rates erst spät im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>für</strong> die <strong>Kulturpolitik</strong> (wieder-)entdeckt werden<br />

musste, allerdings <strong>für</strong> den Kunstbereich mit der unerfreulichen Folge, dass „Kunst“ nur noch<br />

eine kulturelle Ausdrucksform unter vielen anderen ist.<br />

Entsprechend der – oben auch schon kritisierten – Mainstream-Theorie der Moderne<br />

differenziert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft diese<br />

aus. Es entstehen Subsysteme mit jeweils besonderen Aufgaben. In der Lesart, die Parsons<br />

den soziologischen Klassikern am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hat angedeihen lassen, entsteht<br />

so das AGIL-Schema: Wirtschaft (A), Politik (G) <strong>und</strong> Soziales (I), denen das System der<br />

Kultur (L) als generelle Deutungsinstanz gegenübersteht. Hier finden sich u. a. Religionen,<br />

Wissenschaften <strong>und</strong> die Künste. Dieses Sub-System hat es mit Werten zu tun, die latent<br />

pattern, also verborgenen Mustern, die von Generation zu Generation weitergegeben werden<br />

<strong>und</strong> so – in dieser soziologischen Theorie - <strong>für</strong> den Bestand der Gesellschaft sorgen. Dieser<br />

Ansatz ist bis heute verbreitet <strong>und</strong> etwa dort erkennbar, wo man unter kulturellem Wandel die<br />

Veränderungen verbreiteter Werthaltungen untersucht.<br />

„Kultur“ in diesem Sinne ist dann immer noch Selbst-Auslegung des Menschen, wobei<br />

Nachfrage <strong>und</strong> Angebot an solchen Deutungen im Zuge der Durchsetzung der Moderne<br />

sprunghaft steigen.<br />

Ein großer Teil dieser Selbstauslegungsansätze nimmt dabei eine kritische Position ein:<br />

„Kultur“ besteht zu einem großen Teil aus Kulturkritik. Das beginnt schon recht früh. So ist<br />

einer der ersten bedeutenden Kulturtheoretiker auch gleich ein großer Zivilisationskritiker,<br />

nämlich Jean-Jacques Rousseau.<br />

Es gibt in der reichhaltigen Literatur über die Entstehung der Moderne <strong>und</strong> ihre geistigen<br />

Prinzipien immer wieder den Bezug zu dem, was bereits die Klassiker der Soziologie<br />

beschrieben haben: Individualisierung <strong>und</strong> Rationalisierung gehören dazu. Das Weltbild des<br />

mittelalterlichen Menschen (Gurjewitch 1980, LeGoff 1998) unterscheidet sich gr<strong>und</strong>legend<br />

vom modernen Weltbild. Man kann diese Entwicklungsgeschichte als Erfolgs- oder als<br />

Verlustgeschichte schreiben. Ein sich durchsetzendes Prinzip ist das der Ordnung. Ordnung<br />

soll dabei nicht nur im Inneren des Menschen herrschen: Es geht auch um die Ordnung in der<br />

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Natur <strong>und</strong> in der Gesellschaft. Man kann bei diesem Prozess die Rolle der Reformation kaum<br />

überschätzen. Taylor (2009) zeigt, dass <strong>und</strong> wie der Prozess der Säkularisierung<br />

Voraussetzungen hat, die innerreligiös <strong>und</strong> innerkirchlich geschaffen wurden. Die allmähliche<br />

Entzauberung der Welt, die Abkehr von einer - <strong>und</strong> von der Kirche bislang geduldeten –<br />

Magie, die Durchsetzung von Nüchternheit (Bilderverbot) bis hin zur Berechenbarkeit der<br />

individuellen Chancen auf das Paradies im Calvinismus machen das neue Weltbild sogar mit<br />

den (neuen) religiösen Vorstellungen vereinbar. Die moderne Naturwissenschaft braucht<br />

zudem als geistige Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Denkvoraussetzung <strong>für</strong> die Gesetzmäßigkeiten der<br />

Mechanik andere Vorstellungen von Raum <strong>und</strong> Zeit. Seelenlose Dinge, die in einer linear<br />

gedachten Zeit ihren wohldefinierten Ort verändern, gehören zu den Gr<strong>und</strong>vorstellungen des<br />

neuen Denkens, das auch in der Politischen Philosophie, der Ökonomie <strong>und</strong> später auch in der<br />

<strong>Pädagogik</strong> übernommen wird (Fuchs 1984). Man hat durchaus Freiheitsgewinne in der<br />

Moderne, insofern dieses Denken gegen die Willkür von Mächtigen gerichtet ist, weshalb<br />

diese (Kirche <strong>und</strong> Fürsten) es oft genug auch mit Gewalt verhindern wollen. Das Denken in<br />

Kategorien der Ordnung ist aber auch die Basis <strong>für</strong> eine umfassende Disziplinierung der<br />

Menschen <strong>und</strong> auch die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> eine neue Staatsauffassung. Taylor (2009, Kap. 2)<br />

spricht von einem „Polizeistaat“, wobei es die „gute Polizey“, also ein Kümmern um immer<br />

mehr Lebensbelange der Menschen geht. Man kann dies auch in Foucaultschen Kategorien<br />

der Disziplingesellschaft (Foucault 2006 a <strong>und</strong> b) beschreiben.<br />

Die Künste – wobei hier jede Kunstsparte in ihrer Entwicklung <strong>für</strong> sich betrachtet werden<br />

muss; die Rede von einem alle Bereiche umfassenden Kunstbegriff beginnt erst seit Mitte des<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts mit dem Franzosen Charles Batteux <strong>und</strong> dem Deutschen Alexander<br />

Baumgarten – erkämpften sich nach <strong>und</strong> nach ihre Autonomie sowohl in der Praxis der sich<br />

ausdifferenzierenden Kunstbetriebe, aber auch in der Theorie, wo man sich das Recht zur<br />

Setzung eigener ästhetischer Maßstäbe eroberte (s.u.). Den Zusammenhang, dass dieses (sich<br />

autonomisierende) Kunstsystem auch etwas mit der beginnenden Debatte über Kultur,<br />

Kultivierung, Aufklärung <strong>und</strong> Bildung zu tun hat, geschieht erst gegen Ende des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Vorangegangen waren allerdings intensive Debatten über den Zusammenhang<br />

von Tugend, Schönheit <strong>und</strong> Sinnlichkeit. Hierbei spielen die sich auf John Locke stützenden<br />

oder sich an ihm abarbeitenden englischen Philosophen (zunächst Shaftesbury, den Locke<br />

noch selbst unterrichtet hat, dann in seinem Gefolge Hutcheson <strong>und</strong> Burke) eine zentrale<br />

Rolle. Alle deutschen <strong>Ästhetik</strong>er (<strong>und</strong> Künstler) setzen sich z. T. sehr gründlich mit diesen<br />

englischen Vordenkern auseinander <strong>und</strong> stützen sich auf sie. Dies gilt selbst <strong>für</strong> Kant, der<br />

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später (1790 mit der Kritik der Urteilskraft) eine alternative Zugangsweise zur <strong>Ästhetik</strong><br />

vorlegte. Aber selbst dann findet er wohlwollende Worte <strong>für</strong> diese Denkanstrengungen.<br />

Immerhin kann man viele Begriffe <strong>und</strong> Argumentationswege bei Kant nur verstehen, wenn<br />

man seine Vorgänger einbezieht. Dies gilt etwa <strong>für</strong> die zentrale Verankerung der <strong>Ästhetik</strong> in<br />

Gefühlen der Lust <strong>und</strong> Unlust, es gilt <strong>für</strong> die Debatten um die Vermögen der Einbildungs- <strong>und</strong><br />

Urteilskraft.<br />

Insgesamt ist die Entwicklung der Künste <strong>und</strong> ihrer philosophischen Reflexion Teil des<br />

Gr<strong>und</strong>problems der bürgerlichen Gesellschaft, wie man – in moderner Begrifflichkeit –<br />

sozialen Zusammenhang, also Integration, in einer Gesellschaft sicherstellen kann, in der das<br />

marktwirtschaftliche Konkurrenzprinzip eine immer wichtigere Rolle spielt. Deshalb gehören<br />

auch die praktischen Verhaltensratschläge des Herrn von Knigge in diesen ästhetisch-<br />

ethischen Diskurs (zur realen Entwicklung der Künste <strong>und</strong> des Kunstbegriffs siehe etwa den<br />

Artikel „Kunst/Künste“ von Wolfgang Ullrich in Barck u.a. 2000; vgl. auch Norton 1995).<br />

Es geht also um die Gestaltung von Lebensweisen mit dem ästhetischen <strong>und</strong> ethischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriff des Geschmacks, es geht um Normen <strong>und</strong> Werte, kurz: es geht um Kultur.<br />

Kunst ist Teil der kulturellen Praxis, die Künste reflektieren zudem die neuen<br />

Handlungsherausforderung an den Bürger <strong>und</strong> man denkt über das Verhältnis<br />

Mensch/Citoyen/Bourgeois nach.<br />

Die Künste haben also ihren systematischen Platz im Subsystem Kultur erobert <strong>und</strong> teilen hier<br />

die Aufgabe einer gesellschaftlichen Selbstreflexion, der Sinnfindung <strong>und</strong> Orientierung mit<br />

anderen Kulturmächten. Insbesondere spielt die Religion hierbei eine besondere Rolle. Denn<br />

man muss die Entwicklungen aller Sinnstiftungsinstanzen unter Bezug auf die Relevanz bzw.<br />

die sich entwickelnde Irrelevanz („Säkularisierung“) von Religion <strong>und</strong> ihrer<br />

Organisationsform als bislang anerkannter Sinnstiftungsinstanz betrachten. Daher macht es<br />

Sinn, Alternativen zur Religion als „funktionale Äquivalente“, also als Versuche zu verstehen,<br />

die verloren gehende Funktion von Religion in der modernen Gesellschaft durch andere<br />

Formen zu ersetzen. Diese Debatte begleitet die gesamte Entwicklung der Moderne. Rousseau<br />

diskutiert die Rolle der Künste explizit, etwa in seinem berühmten Brief an d’Alembert über<br />

die Notwendigkeit eines Theaters in Genf (das Rousseau, selber erfolgreicher Autor <strong>und</strong><br />

Komponist, vehement ablehnt). In der Romantik eskaliert diese kontroverse Debatte zwischen<br />

Kunst <strong>und</strong> Religion geradezu (Heinkel 2004), allerdings mit dem Ergebnis, dass wichtige<br />

Exponenten dieser Epoche später nicht nur Religion <strong>und</strong> Kunst versöhnen wollen, sondern<br />

zurück in die Arme der (katholischen) Kirche kehren.<br />

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Es könnte also der Fall sein, dass der Ersatz der Religion durch Kunst nur begrenzt<br />

funktioniert. Wenn dies so ist, dann liegt dies möglicherweise daran, dass alle<br />

Ersatzmöglichkeiten sich von Religion dadurch unterscheiden, dass ihnen die Transzendenz<br />

<strong>und</strong> damit das Heilsversprechen fehlt. Dies wäre genauer zu untersuchen, deckt sich jedenfalls<br />

mit anderen Bef<strong>und</strong>en zur Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft (vgl. das Kapitel<br />

„Religion als Kultur“ in Fuchs 2008). In jedem Fall lässt sich die Entwicklung der Künste <strong>und</strong><br />

<strong>Kunsttheorie</strong>n nicht sinnvoll studieren, ohne gleichzeitig dieses spannungsvolle Verhältnis<br />

Kunst/Religion/Gesellschaft im Blick zu halten.<br />

Damit ist der Zusammenhang zwischen Moderne <strong>und</strong> Religion ausgesprochen. Neuere<br />

Studien (z.B. Taylor 2009) zeigen, dass einfache Säkularisierungstheorien, denen zufolge die<br />

Rationalität der Neuzeit einhergeht mit einer Entzauberung der Welt (M. Weber), sich so<br />

einfach nicht nachweisen lassen. Interessanter sind hingegen Thesen, die die Quelle der<br />

Säkularisierung innerhalb der (christlichen) Religion selbst sehen. Eine zunehmende<br />

Trennung von intellektuellem Klerus <strong>und</strong> der Volksreligion, eine Intellektualisierung des<br />

Glaubens, wie sie insbesondere der Protestantismus vorangetrieben hat, eine zunehmende<br />

Individualisierung – all dies trägt zu der Entwicklung bei. Gleichzeitig sind Theorien<br />

tragfähig, die zentrale politiktheoretische oder pädagogische Konzepte als Säkularisierungen<br />

entsprechender theologisch-religiöser Konzepte sehen.<br />

Kultur entwickelt sich allerdings nicht nur immanent durch wechselseitige Beeinflussung<br />

geistiger Mächte. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen ökonomischer Basis <strong>und</strong><br />

geistigem Überbau weniger direkt, als mechanistisch-materialistische Ansätze früherer Jahre<br />

behaupteten. Am Beispiel der Entstehung der modernen Naturwissenschaften konnte ich etwa<br />

zeigen (Fuchs 1984), dass unmittelbare Anforderungen aus der Produktion oder auch an die<br />

Anwendbarkeit der Theorien von Galilei <strong>und</strong> Newton lange Zeit nicht gegeben waren. Es<br />

waren vielmehr ideologische Gründe – nämlich der Nachweis, dass die Natur als immanenter<br />

Zusammenhang ohne ständige äußere Eingriffe einer höheren Macht – funktioniert, die<br />

schnell von Denkern in die politische Philosophie übertragen werden (Th. Hobbes). Es waren<br />

also Vorstellungen einer zweckrationalen Ordnung in Natur <strong>und</strong> Gesellschaft – <strong>und</strong> letztlich<br />

auch in den anthropologischen Vorstellungen vom Menschen -, die relevant wurden <strong>und</strong> die<br />

vom Protestantismus, speziell vom Calvinismus befördert werden. Der Deismus hat hier<strong>für</strong><br />

geistige Gr<strong>und</strong>lagen geschaffen.<br />

Einsichtig wird die Notwendigkeit einer Sozialdisziplinierung, wenn man sich in Erinnerung<br />

ruft, dass bevor die Ziele der französischen Revolution greifen konnten, zunächst einmal<br />

innerer Friede hergestellt werden musste. Die gr<strong>und</strong>legende Idee hierbei war die „Zähmung<br />

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der rohen Natur“ (Taylor 2009, 197), was letztlich in der Konjunktur einer notwendigen<br />

„Bildung“ kulminierte. Ganz deutlich wird dies etwa im Werk von Comenius, der den<br />

Dreißigjährigen Krieg miterlebte <strong>und</strong> der in einer systematischen Friedenserziehung den<br />

Schlüssel zu Frieden sah. Sein Slogan „Bildung <strong>für</strong> alle“ kann daher sinnvoll als „Frieden <strong>für</strong><br />

alle“ umgedeutet werden. Der Mensch mit seinen Trieben rückte daher notwendig in den<br />

Mittelpunkt des Denkens, sodass alle politischen Philosophien in einer entsprechenden<br />

Anthropologie eine Verankerung fanden, die zum einen die Sinne, zum anderen die Gefühle<br />

wesentlich einbezogen. Comenius ist auch <strong>für</strong> eine weitere Entwicklung ein gutes Beispiel:<br />

Sozialdisziplinierung über Bildung geschah nämlich nicht nur durch moralische Appelle,<br />

sondern wurde gestützt durch (Bildungs-)Institutionen <strong>und</strong> die Organisation von Macht.<br />

Politik <strong>und</strong> <strong>Pädagogik</strong> erweisen sich (erneut) als zwei Seiten derselben Medaille. Auch der<br />

Kunstdiskurs der Neuzeit findet hier seine prägende Hintergr<strong>und</strong>folie.<br />

Dass all dies nicht unabhängig von der ökonomischen Entwicklung erfolgt, wird dort sichtbar,<br />

wo sich die bürgerliche Gesellschaft neben der etablierten Machtsphäre ihr eigenständiges<br />

Diskursfeld entwickelt <strong>und</strong> wo es zur Trennung von Bourgeois <strong>und</strong> Citoyen kommt. Es<br />

entsteht eine bürgerliche Öffentlichkeit – durchaus zentriert um Debatten über die Künste –<br />

als Kontrollorgan <strong>und</strong> Gegengewicht zur staatszentrierten Macht (Habermas 1962). In dieser<br />

Perspektive lassen sich die Künste als Teil der öffentlichen Kommunikation <strong>und</strong> er<br />

Entwicklung des Mediensystems verstehen, ganz so, wie es Faulstich in seiner mehrbändigen<br />

„Geschichte der Medien“ getan hat.<br />

Die Künste <strong>und</strong> die Entwicklung von Subjektivität<br />

Die entscheidende Wirksamkeit von künstlerisch-ästhetischer Praxis dürfte in ihrer Wirkung<br />

auf den Einzelnen bestehen. Denn selbst dort, wo Künste massenwirksam werden – etwa bei<br />

ästhetisch inszenierten Massenereignissen wie Reichsparteitagen oder Eröffnungsfeiern<br />

Olympischer Spiele –, ist es letztlich immer die Wirkung auf den Einzelnen, vielleicht<br />

verstärkt durch das gemeinsame Erleben. Es ist hier wieder an die Komplementarität von<br />

Bildung <strong>und</strong> Kultur zu erinnern. Als Konzepte, die diese (vermutete) Wirksamkeit erfassen<br />

können, kommen etwa das Bourdieusche Konzept des Habitus, die Formen des mimetischen<br />

oder des informellen Lernens in Frage. Der Gedanke der Subjektkonstitution durch<br />

ästhetische Praxis erschließt verschiedene Optionen:<br />

� die individuelle Subjektkonstitution durch unmittelbare Einflussnahme, etwa in<br />

Bildungseinrichtungen<br />

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� die Vorlage von Individualitätsmodellen (etwa der junge Werther, der im Verhalten <strong>und</strong> in<br />

der Mode zum Vorbild ganzer Generationen wurde)<br />

� Einflüsse auf gesamtgesellschaftliche Mentalitäten.<br />

� Angebote gemeinschaftlicher Symbole.<br />

Das Subjekt steht also im Mittelpunkt – so auch ein Slogan der UNESCO. Wenn eine,<br />

vielleicht die zentrale Funktion von Kunst darin besteht, dem Menschen eine (weitere)<br />

Möglichkeit zur Selbstreflexion – einzeln oder als Gruppe – zu geben, so wie es oben<br />

formuliert wurde (<strong>und</strong> wie es in der Spiegelmetapher in Bezug auf das Theater in<br />

Shakespeares Hamlet vorkommt), so muss man konstatieren, dass dies <strong>für</strong> andere<br />

Kulturleistungen auch gilt: Stets geht es um eine Vergegenständlichung von Geisteskräften,<br />

an denen wiederum Aneignungsprozesse anderer stattfinden können. Auch die Industrie, so<br />

das berühmte Diktum von Marx, ist das „aufgeschlagene Buch menschlicher Wesenskräfte“.<br />

Archäologen machen sich dies zunutze, wenn sie auf der Basis ihrer Artefakte auf die da<strong>für</strong><br />

notwendigen Kompetenzen der Menschen rückschließen, die diese hergestellt haben. Dieser<br />

Gedanke ist auch in der <strong>Ästhetik</strong> nicht neu, wobei „Schönheit“ über lange Zeit den Gedanken<br />

der Schöpfung Gottes einschloss. Der Mensch als wichtigste göttliche Schöpfung, die einzige<br />

zudem, die Gott nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, ist daher natürliches Objekt einer<br />

Suche nach Schönheit. Dass Schönheit dabei nicht nur – <strong>und</strong> im Zuge der Entwicklung der<br />

Philosophie immer weniger – im Objekt liegt, sondern eine Konstruktion des rezipierenden<br />

Subjekts ist, ist spätestens seit Kant einer der einflussreichsten Ansätze <strong>und</strong> kommt auch in<br />

der Goetheschen Sentenz zum Ausdruck, dass Schönheit im Auge der Betrachters liege. Auch<br />

anthropologische Ansätze – etwa bei Gehlen – sehen das Empfinden von Schönheit dort<br />

gegeben, wo der Mensch sich, seine Subjektivität <strong>und</strong> seine Freiheit lustvoll in Dingen oder<br />

Prozessen entdeckt. Wenn also ästhetische Praxis als Ausübung einer lustvollen kreativen<br />

Beschäftigung zu einer weiteren Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis wird, dann lässt<br />

sich sinnvoll danach fragen, was diese Form von anderen Formen der Selbstvergewisserung,<br />

also letztlich von anderen symbolischen Formen i. S. von Ernst Cassirer (1990),<br />

unterscheidet.<br />

Interessant im Hinblick auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz dieser Arbeit ist wiederum<br />

der Zusammenhang von Subjektentwicklung <strong>und</strong> der Suche nach einer geeigneten<br />

gesellschaftlichen Ordnung. Dass die Renaissance die Zeit der Entdeckung – so J. Burckhardt<br />

– bzw. des Erfindens – so Dülmen – der individuellen Persönlichkeit war, gehört inzwischen<br />

zu dem Kernbestand historischen Wissens, auch wenn Historiker des Mittelalters auf<br />

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Vorläufer einer Thematisierung von Individualität in sehr viel früheren Zeiten hinweisen<br />

(Fuchs 2001). Mit Beginn der Neuzeit entsteht ein neuer Wunsch zur (friedlichen)<br />

Organisation der Gesellschaft. Alle Vertreter der Politischen Philosophie, die über die<br />

gewünschte Wohlordnung des Gemeinwesens nachdenken, nehmen den Einzelnen in die<br />

Pflicht. Sie wollen unter dem Begriff der „guten Polizey das Leben der Bürger in rationaler<br />

Weise … organisieren <strong>und</strong> da<strong>für</strong> sorgen, dass sie ordentlich ausgebildet werden, einer Kirche<br />

angehören, ein nüchternes <strong>und</strong> wirtschaftlich gewinnbringendes Leben führen.“ (Taylor 2009,<br />

154). Die Renaissance des (Neo-)Stoizismus, dem alle führenden Denker von Descartes,<br />

Grotius etc. verpflichtet sind, passt zu dieser Entwicklung: „… die Norm einer stabilen<br />

Ordnung arbeitsamer Menschen, die sich nicht dem Kriegsgeschäft <strong>und</strong> der Plünderei,<br />

sondern der Routine ihres Berufs sowie Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand widmen <strong>und</strong> die eine<br />

Moral der wechselseitigen Anerkennung <strong>und</strong> eine Ethik der Selbstvervollkommnung<br />

bejahen.“ (ebd., S. 226).<br />

<strong>Pädagogik</strong> wird so geradezu zu einer Schlüsselaufgabe bei der Herstellung einer solchen<br />

politischen Ordnung, so dass es kein Zufall ist, dass mit Ratke <strong>und</strong> Comenius während des<br />

30-jährigen Krieges wichtige Autoren die wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> eine<br />

systematische Formung aller Menschen („Bildung <strong>für</strong> alle“, so Comenius) legen. Natürlich ist<br />

es legitim, diesen Prozess nicht nur als fortschreitende Humanisierung, sondern im<br />

Foucaultschen Sinne auch als Durchsetzung einer umfassenden Disziplinierung zu lesen, die<br />

nunmehr auch das Innerste des Menschen <strong>für</strong> äußere, wenn auch wohlgemeinte Zwecke<br />

gestalten will.<br />

Die jeweils vorfindlichen Formen von Subjektivität, also die konkrete Ausgestaltung der<br />

Persönlichkeiten, ihrer Kompetenzen, Werthaltungen, Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Denkformen<br />

müssen zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen passen. Ich will hier keine Vermutung<br />

anstellen, welcher der Bereiche – Produktion, Handel, Landwirtschaft, Geistiges Leben,<br />

<strong>Pädagogik</strong> etc. – die jeweils anderen dominiert. In jedem Fall ist ein Interdependenzverhältnis<br />

festzustellen. Da ein Gr<strong>und</strong>zug der Moderne Entwicklung oder zumindest Veränderung ist,<br />

verändern sich daher alle Bereiche. Dies bedeutet in Hinblick auf die Subjektformen, dass<br />

durchaus einmal relevante Formen nicht mehr gebraucht werden, funktionslos werden,<br />

verebben (Barfuß 2002). Man denke etwa an die Ritter, <strong>für</strong> die es keine sinnvolle<br />

Beschäftigung mehr gab, oder an den Adel im vorrevolutionären Frankreich.<br />

Mit der Durchsetzung der Meinung, dass Kriege keine Felder der Ehre, sondern zu<br />

vermeidende Störungen in der gesellschaftlichen Ordnung sind, wird mit dem Wertesystem<br />

die gesamte Struktur der Gesellschaft verändert. „Zivilität“ als anti-kriegerisches Ideal<br />

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richtigen Benehmens wird das neue Handlungsmodell (Bryson 1998). Das Bürgertum setzt<br />

sich mit seinen Werten <strong>und</strong> sich darauf beziehenden Persönlichkeitsbildern durch, unterstützt<br />

durch ein sich entwickelndes System <strong>für</strong> Bildung <strong>und</strong> Erziehung (Berg u.a.1987 ff.). Es setzt<br />

sich also ein neues Ideal durch, das der „Zivilität“:<br />

„Wir sehen also das ineinander verflochtene Wirken verschiedener Ideale – Courtoisie,<br />

Zivilität <strong>und</strong> (religiöse) REFORM – sowie die Vektoren der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Veränderungen der europäischen Gesellschaft: geordnetes Regierungssystem, Verminderung<br />

der Gewalt, disziplinierte Formen der Selbstbeherrschung <strong>und</strong> der ökonomischen Reform,<br />

neue Institutionen <strong>und</strong> Praktiken …“ (Taylor 2009, 373).<br />

„Zivilität“ heißt: friedliches Beisammensein, gepflegte Unterhaltung, gesteigerte<br />

Empfindsamkeit: „Diese Gesellschaft definierte sich aber auch durch ihre Interessen an den<br />

schönen Künsten…“ (4.3). Die Künste <strong>und</strong> ihre Orte waren also geeignete Gesprächsthemen,<br />

dienten kultivierter Geselligkeit, waren Bildungsanlass, mit dem man punkten konnte, <strong>und</strong><br />

trugen (vermutlich) auch zur Verfeinerung des Charakters bei – zumindest setzte sich diese<br />

Überzeugung in 17. <strong>und</strong> vor allem im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert durch. Man wird sehen, ob diese<br />

gesellschaftlichen Funktionen von Kunst ihre Relevanz auch heute noch haben.<br />

Taylor (2009, 292ff.) fasst diese (interdependenten) Entwicklungen zusammen wie folgt:<br />

1. Es setzt sich die Vorstellung einer Wohlordnung von Gesellschaft durch, bei der es um<br />

den wechselseitigen Vorteil aller geht. Diese Leitidee wird durch eine entsprechende<br />

Theorie der Rechte <strong>und</strong> der legitimierten Regierung gestützt: Gesellschaft <strong>und</strong> ihre<br />

Ordnung sind <strong>für</strong> die Individuen da. Dies ist ein im weitesten Sinn „ökonomische“<br />

Denken, bei der die wechselseitigen Vorteile „berechnet“ werden können, jedenfalls<br />

deutlich sichtbar auf der Hand liegen. Bekannt ist der Ansatz (etwa bei Adam Smith), der<br />

zeigt, wie die Verfolgung individueller Interessen dem Gemeinwohl dient.<br />

2. Die entsprechend organisierte politische Gesellschaft gewährleistet Sicherheit <strong>und</strong> Handel<br />

<strong>und</strong> fördert Wohlstand („gute Polizey“). Es geht nicht mehr um Tugend als höchstem Ziel,<br />

sondern um die Befriedigung der Bedürfnisse freier Menschen.<br />

3. Freiheit wird zum leitenden Prinzip, da die Legitimation der politischen Ordnung deutlich<br />

auf der Zustimmung freier Bürger beruht.<br />

4. Vorteile dieser Ordnung sollen auf alle gleich verteilt werden.<br />

5. Damit setzt sich auch eine andere Anthropologie – auch als Basis <strong>für</strong> die sich<br />

entwickelnde pädagogische Infrastruktur – durch (siehe hierzu auch Dilthey 1957,<br />

Mühlmann 1968 aus ethnologischer Sicht <strong>und</strong> Gleissner 1988).<br />

Die Künste, die alltäglich künstlerisch-ästhetische Praxis der Menschen <strong>und</strong> die professionelle<br />

Annäherung von Kunst als Beruf lassen sich in diese Entwicklung einfügen. Die Leitformel<br />

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des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts, Glückseligkeit – als ein auf den Einzelnen bezogenes Entwicklungsziel<br />

– spielt v.a. in den <strong>Ästhetik</strong>en der Engländer (Shaftesbury, Hutcheson etc.) eine zentrale<br />

Rolle. Ebenso wird Freiheit als Basis, aber auch als Ergebnis einer Beschäftigung mit den<br />

Künsten ein zentraler Tops. In besonderer Weise wird dies bei Kant <strong>und</strong> dann vor allem<br />

Schiller so in den Mittelpunkt des Denkens gestellt, dass Politische Philosophie,<br />

Anthropologie <strong>und</strong> <strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> kaum voneinander zu trennen sind: Die<br />

autonomen Künste sind der Übungsplatz <strong>für</strong> die freien Menschen, die die wohlgeordnete<br />

Gesellschaft braucht.<br />

Kunst als kulturelle Praxis – ein Präzisierung<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der vorstehenden Überlegungen lässt sich nunmehr präzisieren, was<br />

unter „Kunst als kultureller Praxis“ verstanden werden kann. Kunst, so wurde hervorgehoben,<br />

dient dazu, dem Einzelnen <strong>und</strong> der Gruppe eine (weitere) Möglichkeit zur Selbstreflexion <strong>und</strong><br />

zur Bestimmung des eigenen Platzes in der Gesellschaft oder sogar – etwas pathetisch – im<br />

Universum anzubieten. Im Anschluss an die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst<br />

Cassirer (1990) kann man dann zwar feststellen, dass auch die anderen symbolischen Formen,<br />

mit denen der Mensch seine Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisse reflektiert <strong>und</strong> gestaltet, diese<br />

Aufgabe erfüllen. Doch spricht Cassirer in Hinblick auf Religion <strong>und</strong> Wissenschaft, Technik<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft, Politik, Mythos, Sprache <strong>und</strong> Kunst jeweils von verschiedenen<br />

„Brechungswinkeln“, mit denen jeweils unterschiedliche Konstruktionen von „Realität“ oder<br />

Wirklichkeiten geschaffen werden, sodass es darauf ankommt, die Spezifik der symbolischen<br />

Form Kunst näher zu beschreiben.<br />

Dabei steht die Entwicklung der Künste in der europäischen Neuzeit in dieser Arbeit im<br />

Mittelpunkt. Es geht also um die Kultur der Moderne, um deren Spezifik <strong>und</strong> die Rolle, die<br />

die Künste hierbei spielen. Insbesondere geht es um das neuzeitliche Selbst, die<br />

Herausbildung der Idee einer individuellen Persönlichkeit mit all den<br />

Bestimmungsmerkmalen, die diese auszeichnen: Freiheit <strong>und</strong> Autonomie, Kreativität <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeit <strong>für</strong> das eigene Tun, die Expressivität des Einzelnen. Es geht aber auch<br />

darum, welche (neuen) Ideen von Gemeinschaftlichkeit entwickelt werden, wie auf neue Art<br />

politische Ordnung gedacht <strong>und</strong> angesetzt wird <strong>und</strong> welche Rolle eine ästhetisch-<br />

künstlerische Praxis hierbei spielt. Damit kommt – als ebenfalls nur in der europäischen<br />

Neuzeit in dieser Form auftauchende Kategorie – die „Öffentlichkeit“ <strong>und</strong> die dazu gehörigen<br />

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Medien ins Spiel. Künste <strong>und</strong> ihre Akteure <strong>und</strong> Institutionen sind in dieser Hinsicht Teil der<br />

jeweiligen Medienwelt, mittels derer die Gesellschaft sich selbst zum Gegenstand der<br />

Betrachtungen macht: Die Künste verbreiten neue Ideen, regen zur Reflexion an, sind Anlässe<br />

von Begegnungen von Menschen, produzieren Zustimmung oder Ablehnung, legitimieren<br />

also politische Ideen <strong>und</strong> sorgen so mit da<strong>für</strong>, dass Ideen Einzelner zu akzeptierten sozialen<br />

Denkschemata aller werden: Künste haben Macht über die Köpfe <strong>und</strong> Herzen der Menschen,<br />

werden so zu einem wichtigen Machtfaktor in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft,<br />

weil sie bei dem Prozess der Disziplinierung – durchaus im Sinne von Foucault – sich als<br />

nützlich erweisen. In den vorangegangenen Ausführungen standen die Entwicklungen im 17.<br />

<strong>und</strong> vor allem im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert im Mittelpunkt. Der zentrale Gr<strong>und</strong> hier<strong>für</strong> ist, dass in<br />

dieser Zeit quasi die Geburtsst<strong>und</strong>e einer jeglichen aktuellen Rede über Kunst, Politik,<br />

<strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> gesehen werden muss. Heute oft vergessene Zusammenhänge können<br />

hier noch in ihrem Keim- <strong>und</strong> Reifungsprozess beobachtet werden. Es ist ein<br />

Epochenumbruch mit einer enormen Bedeutung <strong>für</strong> die aktuellen Kunst-, Politik- <strong>und</strong><br />

<strong>Pädagogik</strong>diskurse.<br />

Spätestens an dieser Stelle wird dann auch die Frage nach dem Verhältnis der Künste zur<br />

<strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong> dem entstehenden Bildungssystem relevant: Denn über dieses will man die <strong>für</strong><br />

notwendig erachteten Formen von Subjektivität herstellen. Insbesondere geht es um das neue<br />

Ideal der Zivilität, wie es bereits die Gründer der Soziologie in ihren Studien zur Moderne<br />

beschrieben haben.<br />

Künste sind definitiv niemals politisch unschuldig, weswegen sie auch rasch in das Blickfeld<br />

der Machtakteure geraten. Zugleich haben Künste auch Anteil an dem Prozess der<br />

Ausdifferenzierung moderner Gesellschaft, haben also auch ihren eigenen Prozess der<br />

Autonomisierung, ganz so, wie es andere Gesellschaftsfelder wie etwa die Wissenschaften<br />

<strong>und</strong> die Philosophie auch erleben. Das heißt aber auch, dass sich keine der Kulturmächte auf<br />

einfache Weise <strong>für</strong> bestimmte Zwecke instrumentalisieren lässt. Es gibt einen immanenten<br />

Eigensinn in den Wissenschaften, in der Philosophie <strong>und</strong> natürlich auch in den Künsten. Dies<br />

ist der Gr<strong>und</strong> da<strong>für</strong>, dass es entsprechend plausible Geschichtsdarstellungen gibt, die sich<br />

ausschließlich auf immanente Entwicklungen in den genannten Bereichen beziehen. Dieser<br />

Eigensinn führt dazu, dass in allen Kulturmächten auch immer Ein- <strong>und</strong> Widersprüche zu dem<br />

Bestehenden formuliert werden. Mit guten Gründen kann man – trotz der nachweislich<br />

„staatstragenden“ Wirkung von Kunst – immer auch ihren kritischen Aspekt aufzeigen: Züge<br />

von Alternativen, Aufbrechen falscher Selbstverständlichkeiten, Karikieren von typischen<br />

Verhaltensmustern, Zeigen struktureller Widersprüche, Zeigen der Kluft zwischen Anspruch<br />

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<strong>und</strong> Wirklichkeit gesellschaftlicher Heilsversprechungen. All dies wird um so wichtiger, je<br />

alternativloser die jeweilige Gesellschaftsordnung dargestellt wird. Zweifellos geschieht dies<br />

heute, so dass eine wichtige Funktion der Künstler darin gesehen wird, die Kontingenz der<br />

Realität aufzuzeigen: Es könnte eben auch alles ganz anders ablaufen.<br />

Eine besondere Rolle spielt dabei Deutschlands Weg in die Moderne. Kaum irgendwo anders<br />

hat sich hierbei die Ambivalenz der Kunst im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess<br />

gezeigt: Der Weg von Schillers heroischer Freiheitsutopie zu der – kunstgestützten –<br />

autoritären Untertanengesellschaft des Kaiserreiches <strong>und</strong> letztlich zur Barbarei der<br />

Nationalsozialisten muss betrachtet werden (Schwaabe 2005). Denn man kann nicht einerseits<br />

von der dichtesten Theaterlandschaft der Welt reden, Schiller im M<strong>und</strong>e führen <strong>und</strong><br />

übersehen, dass trotz dieser Theaterlandschaft ein solches politisches System zumindest nicht<br />

gegen den Willen der Mehrheit hat installiert werden können.<br />

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2. Künste <strong>und</strong> Kunstdiskurse in der Geschichte<br />

Die Künste wurden im letzten Kapitel unter der Perspektive vorgestellt, dass sie als kulturelle<br />

Praxis betrachtet werden können. Dass man sich mit einem solchen Zugang sofort die<br />

Problematik einhandelt, den unterstellten Kulturbegriff klären zu müssen, wurde verdeutlicht<br />

(<strong>und</strong> – zumindest in groben Konturen – getan). Dasselbe Problem, das sich bei dem<br />

Kulturbegriff stellt, gibt es auch r<strong>und</strong> um „Kunst“. Auch hier gibt es eine ganze Reihe von<br />

Disziplinen, die um das Deutungsrecht kämpfen (Vgl. Abb. 1 <strong>und</strong> 20). Es gibt zugleich das<br />

bereits erwähnte Problem, das sich bei historischen Betrachtungen immer stellt: Die<br />

Begrifflichkeit, mit der wir Abläufe <strong>und</strong> Entwicklungen darstellen, ist eine moderne, die oft<br />

erst nach den durch sie beschriebenen Ereignissen entwickelt wurde <strong>und</strong> bei der man daher<br />

immer wieder fragen muss, ob sie überhaupt geeignet ist. Denn wir tragen damit Sinn- <strong>und</strong><br />

Bedeutungszusammenhänge in den historischen Verlauf hinein, die es in dieser heutigen<br />

Verständnisweise noch gar nicht gegeben hat. So verwendet man etwa die Begriffe des<br />

„Staates“ oder des „Bürger“ bei Zusammenhängen der griechischen oder der römischen<br />

Antike oder auch des Mittelalters, obwohl in unserem wie selbstverständlich verwendeten<br />

Begriff des Staates oder des Bürgers eine hochkomplexe Real- <strong>und</strong> Geistesgeschichte der<br />

Neuzeit eingeflossen ist. Wir gehen heute von Vorstellungen von Freiheit, Souveränität oder<br />

Demokratie aus, die der Mensch der Antike oder des Mittelalters überhaupt nicht verstanden<br />

hätte. Dies gilt natürlich auch <strong>für</strong> den Kunstbegriff. Eine Einführung in die <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong> hat daher gerade die Aufgabe, diese prinzipielle Nichtanwendbarkeit unserer<br />

modernen Begrifflichkeit auf vormoderne Zeiten zu verdeutlichen. So geht das deutsche Wort<br />

„Kunst“ etymologisch auf können zurück <strong>und</strong> ist die deutsche Übersetzung des lateinischen<br />

„ars“ – oder des griechischen „techne“. Artes waren zunächst einmal mechanische „Künste“<br />

von Handwerkern, bei denen klar vorgegebene Regelsysteme bei der Produktion von<br />

nützlichen Gegenständen einzuhalten waren. Lange Zeit waren Maler <strong>und</strong> Bildhauer<br />

„Artisten“ in diesem handwerklichen Sinne. Daneben gab es im Mittelalter die „freien<br />

Künste“, die artes liberales, die man an den neu entstehenden Universitäten lehrt. Die sieben<br />

„freien Künste“ bestanden aus dem Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) <strong>und</strong> dem<br />

Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie). Ein wichtiger<br />

Entwicklungsschritt in der Geschichte bestand <strong>für</strong> die Künste dabei darin, zumindest in das<br />

Feld der freien Künste aufgenommen zu werden. Denn deren Gegenstand galt von den<br />

Substanzen her als (edle) göttliche Schöpfung. Also kein Gedanke an den Künstler als<br />

Schöpfer, der erst Jahrh<strong>und</strong>erte später unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen<br />

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entstand. Auch mussten die Künste diese Aufwertungsprozesse jede <strong>für</strong> sich erkämpfen, denn<br />

ein einheitlicher Kunstbegriff, der alle Kunstformen erfasst, wurde erst Mitte des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts entwickelt. Von „Autonomie“ konnte ebenfalls noch keine Rede sein. Denn ein<br />

Gr<strong>und</strong>zug in der Entwicklung der Moderne bestand darin, das sehr lange als unbezweifelt<br />

richtig angesehene <strong>und</strong> daher kaum hinterfragte christliche Weltbild zu relativieren oder sogar<br />

zu verdrängen: Für den Menschen des Jahres 1500 war es praktisch unmöglich, so Charles<br />

Taylor (2009) in seiner monumentalen Studie „Ein säkulares Zeitalter“, nicht an Gott zu<br />

glauben.<br />

Natürlich gab es auch schon in der Antike Bildhauer, Musiker <strong>und</strong> Sprachkünstler. Und<br />

natürlich hatten die Kunstwerke die Kulturfunktion, die Götter zu ehren, das richtige oder<br />

falsche Verhalten der Menschen darzustellen oder der Polis einen Spiegel vorzuhalten. Dies<br />

ist offenbar so gut gelungen, dass bis heute die Kunst der Griechen als niemals wieder<br />

erreichtes Vorbild gilt. Diese Bewertung der Antike setzte spätestens mit der Renaissance ein<br />

<strong>und</strong> hatte im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert mit Johannes Winckelmann einen Höhepunkt. Und selbst Karl<br />

Marx (1974, S. 31) fragte: „Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie<br />

am schönsten entfaltet ist, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben?“ Es<br />

gab nicht nur große Kunst, es gab zum einen tiefe Reflexionen über das Wesen der Schönheit,<br />

also – ohne diesen Begriff zu nutzen – eine <strong>Ästhetik</strong>. Und es gab bereits Streit um die Rolle<br />

<strong>und</strong> Funktionen der Künstler. Platon ist der erste <strong>und</strong> gleich auch bedeutendste Kunstgegner,<br />

der in seiner „Politeia“ heftigste Kritik übt <strong>und</strong> lediglich „Gesänge an die Götter <strong>und</strong><br />

Loblieder auf die Tugendhaften“ in der Polis zulassen will. Alles andere verdirbt die Tugend<br />

der Menschen <strong>und</strong> ist schädlich <strong>für</strong> die öffentliche Ordnung. Immerhin: Platon glaubt an<br />

starke Wirkungen der Künste. Deshalb kämpft er bereits gegen diese zugunsten seiner eigenen<br />

Profession als Philosoph, wenn es um das Deutungsrecht in der Polis <strong>und</strong> den Einfluss auf die<br />

Köpfe <strong>und</strong> Herzen der Menschen geht. Man kann dies durchaus in moderner Terminologie als<br />

Teil eines „Kampfes um Sinn“ interpretieren. Und man erkennt Kulturfunktionen der Künste,<br />

also Aufgaben, die diese in der Gesellschaft erfüllen sollten. Man kann dabei individuelle von<br />

sozialen <strong>und</strong> politischen Wirkungen unterscheiden.<br />

Aristoteles setzt sich sogar noch intensiver mit Kunst auseinander. Er schreibt einen Poetik, es<br />

gibt offenbar ein verschollenes Buch über die Komödie, was das Thema von Umberto Ecos<br />

„Im Namen der Rose“ abgab: Lieber zündete man ein Kloster an, um zu verhindern, dass die<br />

Komödie <strong>und</strong> damit das Lachen offiziell Einzug in kirchliche Kontexte halten. Aristoteles<br />

liefert uns heute noch verwendete ästhetische Kategorien wie Katharsis, Poiesis <strong>und</strong> Mimesis<br />

<strong>und</strong> stellt sie in einen systematischen Zusammenhang (Abb. 6).<br />

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Abb. 6<br />

Tätigkeitsformen im künstlerischen Prozess: Erkennen – Gestalten – Rezipieren<br />

Subjekt<br />

(Katharsis)<br />

aisthesis:<br />

rezeptive<br />

ästhetische<br />

Erfahrung<br />

Oelmüllers (1993, S. 25 ff) Unterscheidung von „Erfahrungshorizonten“, innerhalb derer<br />

diese Diskurse stattfinden, sind hilfreich. So unterscheidet er unterschiedliche<br />

Erfahrungshorizonte (in einer zeitlichen Abfolge), in die die unterschiedlichen Kunstdiskurse<br />

eingeordnet werden können:<br />

Erfahrungshorizont Polis: Plato will die im Zerfall begriffene Polis retten <strong>und</strong> sieht die<br />

Dichtkunst eher als zerstörerisch <strong>für</strong> eine vernunftgeleitete Politik an.<br />

Erfahrungshorizont Kosmos: Schönheit ist Wiedergabe der göttlichen Ordnung des Kosmos.<br />

Der Mensch findet in dieser wohlgeregelten Ordnung seinen vorgesehenen Platz.<br />

Erfahrungshorizont jüdisch-christlicher Schöpfer <strong>und</strong> Erlösergott: Kategorien sind Schuld,<br />

Sühne <strong>und</strong> Erlösung.<br />

Erkenntnis-<br />

Mittel<br />

Gestaltungs-<br />

Mittel<br />

Poiesis<br />

(ästhetische)<br />

Erkenntnismittel<br />

Urbild<br />

zu gestaltendes<br />

Material<br />

künstlerisches<br />

Objekt<br />

Mimesis:<br />

Nachahmen<br />

<strong>und</strong><br />

Darstellen<br />

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Erfahrungshorizont bürgerliche Gesellschaft: Hier geht es u.a. um die noch im Einzelnen<br />

darzustellenden Autonomisierungsprozesse gesellschaftlicher Subsysteme im Zuge der<br />

Durchsetzung der Moderne <strong>und</strong> der modernen, sich ausdifferenzierenden Gesellschaft.<br />

Erfahrungshorizont der Gegenwart, mit dem wir bei der Aufgabe einer aktuellen Analyse von<br />

Kunst <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> angekommen sind.<br />

Diese „Erfahrungshorizonte“ lösen sich in der zeitlichen Abfolge allerdings nicht so ab, dass<br />

frühere Erfahrungshorizonte völlig verschwinden. So gibt es vielmehr bis heute ein Ringen<br />

um die Rolle des Religiösen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Es gibt romantische<br />

Rückgriffe auf Ideen eines „Kosmos“. Und in der politischen Theorie leben nach wie vor<br />

politisch-republikanische Vorstellungen, die sich um den Begriff der „Polis“ ranken.<br />

Kunst <strong>und</strong> Moderne<br />

Im Mittelpunkt dieses Textes steht die Entwicklung der Künste <strong>und</strong> der Kunstdiskurse der<br />

Moderne. Kunst wird als Teil des sich ausdifferenzierenden Systems der Kultur verstanden,<br />

so dass man sinnvoll fragen kann, inwieweit allgemeine Kulturfunktionen von Kunst erfüllt<br />

werden (zu den Kulturfunktionen siehe Fuchs 2008 – Kampf um Sinn – S. 16ff; vgl. Abb.7).<br />

Einige Gr<strong>und</strong>züge der Entwicklung der Kultur der Moderne wurden im letzten Kapitel<br />

vorgestellt. Interessant ist, dass die Moderne die Bedingungen <strong>für</strong> eine intensive<br />

Selbstreflexion schafft, dass sie eine solche permanente Selbstbeobachtung – bekanntlich ist<br />

in Luhmanns (1997) Gesellschaftstheorie „Beobachtung des Beobachters“ ein zentraler<br />

Mechanismus bei der Konstitution von Gesellschaftlichkeit – geradezu erfordert. Denn<br />

Selbstreflexion ist die Methode, die ebenfalls erstmals mit der Moderne vehement gestellte<br />

Sinnfrage zu beantworten. Die Tragik der Moderne besteht wiederum darin, dass die<br />

gegebenen Antworten auf die Sinnfrage nicht befriedigen, so dass eine Darstellung der Kultur<br />

der Moderne im wesentlichen eine Darstellung der Kulturkritik der Moderne (Bollenbeck<br />

2007) ist. In diesen kritischen Selbstreflexionsprozess ordnet sich auch die Kunst ein. Dabei<br />

hat sie einen Doppelcharakter: Sie ist Mittel der Reflexion, insofern Thema <strong>und</strong> Probleme<br />

aufgegriffen <strong>und</strong> künstlerisch bearbeitet werden. Sie gilt vielen aber auch schon als Antwort<br />

auf die Sinnfrage. Denn es wird nicht nur Kunst als sinnvolle Praxis beschrieben: Kunst gilt<br />

auch als große Alternative zu einer Moderne, die auf den Prinzipien der Vernunft <strong>und</strong> speziell<br />

der Zweckrationalität beruht.<br />

Kunst ist also zugleich Kompensation, Ausweg aus Pathologie der Moderne, Alternative,<br />

repräsentiert „das Andere der Vernunft“.<br />

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Abb. 7 Kulturfunktionen<br />

II<br />

WAS KULTUR<br />

generell<br />

leistet, u.a.:<br />

- Orientierung<br />

- Kommunikation<br />

- Werte speichern<br />

- Werte diskutieren<br />

- Werte entwickeln<br />

- Integration<br />

- Selbstreflexion<br />

- Deutung/Zeitdiagnose<br />

- (De-)Legitimation<br />

- Menschen-/Weltbild<br />

V<br />

WER sich mit KULTUR<br />

wissenschaftlich befasst:<br />

einzelwissenschaftliche<br />

Kulturtheorien; s. Abb. 4<br />

I<br />

WAS KULTUR<br />

ist, z.B.:<br />

- Symbolebene<br />

- das Gemachte<br />

- die Summe symbolischer<br />

Formen<br />

- das Handeln <strong>und</strong> Machen<br />

IV<br />

WIE KULTUR das Spezielle leisten kann<br />

(kulturelle Ressourcen in der praktischen<br />

Anwendung), z. B.<br />

- Habitus<br />

- Institutionen, Handeln in Institutionen<br />

- Entwicklung/Veränderung von<br />

Mentalitäten<br />

- als kulturelles Gedächtnis<br />

- im praktischen Gebrauch<br />

- durch gesellschaftliche Normen/Regeln/<br />

Werte/Sanktionen/Anreize/Vorbilder<br />

III<br />

WAS KULTUR<br />

speziell *<br />

leistet, u.a.:<br />

(* in gesesllschaftlichen<br />

Subsystemen =<br />

kulturelle Gr<strong>und</strong>lagen der<br />

gesellschaftlichen Subsysteme).<br />

A) beim Einzelnen<br />

- kulturelle Vergesellschaftung<br />

- Sprache<br />

- Werte<br />

- Weltbild<br />

- Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />

- Lebensformen<br />

B) in Gemeinschaften;<br />

kulturelle Gr<strong>und</strong>lagen von:<br />

- Familie<br />

- Stadt<br />

- Nation<br />

- Wirtschaft<br />

- Politik<br />

- Recht<br />

- Kunst<br />

- Gesellschaft<br />

- Wissenschaft<br />

VI<br />

WIE (<strong>und</strong> ob) <strong>Kulturpolitik</strong> die Bereiche<br />

I - IV gestalten kann<br />

Zugleich ist die Kunst selbst Teil des Modernisierungsprozesses, insbesondere im Hinblick<br />

auf eine wachsende Autonomisierung. Es ist offensichtlich, dass damit die Kunst <strong>und</strong> ihre<br />

Deutung im Mittelpunkt eines Meinungsstreites stehen müssen. Denn eine Kompensation von<br />

unerwünschten Nebenwirkungen der Moderne heißt ja, letztere zu stabilisieren. Kunst als<br />

Medium der Veränderung will dies gerade nicht. Doch sind dies alles v.a. theoretische<br />

Auseinandersetzungen über Kunst, obwohl inzwischen die Kunstentwicklung soweit<br />

fortgeschritten ist, dass im Medium der Künste selbst über die Künste <strong>und</strong> ihre Beziehung zur<br />

Gesellschaft nachgedacht wird: Kunst ist aber auch dann Teil des Modernisierungsprozesses<br />

wachsender Reflexivität. Heute scheint dieser oppositionelle Charakter der Kunst gegenüber<br />

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der Kultur der Moderne nahe zu liegen. Kunst bezieht sich auf die Sinne, die Kultur der<br />

Moderne auf Vernunft; Kunst hat es mit Kreativität <strong>und</strong> Phantasie zu tun, die Kultur der<br />

Moderne setzt eher auf Ordnung <strong>und</strong> Regel; Kunst entzieht sich der Instrumentalisierung <strong>und</strong><br />

Berechenbarkeit, die moderne Kultur wird dagegen geprägt von instrumenteller Vernunft mit<br />

dem Ziel der Beherrschung. Diese Liste an Entgegensetzungen ließe sich fortsetzen. Doch<br />

muss man beachten, dass auch die Kunst, wie wir sie heute verstehen, ein Kind der Moderne<br />

ist. Dies erkennt man schon an den gr<strong>und</strong>legenden geistigen Prinzipien, die unterschiedliche<br />

Autoren als charakteristisch <strong>für</strong> die Moderne identifiziert haben. Van der Loo/van Reijen<br />

(1992) sprechen von Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierung <strong>und</strong><br />

Domestizierung als Leitprinzipien, wobei man zumindest bei den ersten beiden keine Distanz<br />

zur Kunst unterstellen kann. Münch (1986) unterscheidet Aktivismus, Rationalismus,<br />

Individualismus (Freiheit) <strong>und</strong> Universalismus (Gleichheit), deren je unterschiedliche<br />

Ausprägung er in vier Ländern (Deutschland, England, USA <strong>und</strong> Frankreich) untersucht.<br />

Auch hier kann man nicht von einer Totalopposition zur Kunst sprechen.<br />

Es ist dabei nicht unwichtig, dass die oben vorgenommene Kontrastierung der Kultur der<br />

Moderne <strong>und</strong> der Kunst in dieser Form ein spezifisches Verständnis von Kunst unterstellt, so<br />

wie es erst in der Romantik entwickelt worden ist. Es scheint so, dass die vernunftorientierte<br />

Aufklärung <strong>und</strong> die Romantik nicht bloß Teile derselben Entwicklung sind, sie beeinflussen<br />

sich auch gegenseitig. Dies gilt insbesondere <strong>für</strong> einen der Kernbegriffe des heutigen<br />

Kunstdiskurses: die Autonomie. Viele meinen, es hierbei mit einem genuin ästhetischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriff zu tun zu haben. Dies ist nicht der Fall: Autonomie (wörtlich:<br />

Selbstgesetzgebung) ist vielmehr ein Kernbegriff der praktischen Philosophie, gehört also<br />

zunächst einem völlig anderen Diskurs an. J. B. Schneewind (1998) nennt folgerichtig seine<br />

Geschichte der modernen Moralphilosophie „The Invention of Autonomy“. Die Freiheit,<br />

selber über die eigenen Lebensvollzüge entscheiden zu können, fand in der Ethik Kants eine<br />

nach wie vor gültige Ausformulierung. Doch hatte sie zahlreiche Vorläufer, u.a. in England<br />

<strong>und</strong> Frankreich, wobei auf der praktischen Seite der Prozess der Modernisierung darin<br />

bestand, dass jedes Gesellschaftssubsystem an Autonomie gewann <strong>und</strong> auf der Theorieseite<br />

das Streben nach Autonomie der rote Faden bei der Konstruktion immer neuer politischer <strong>und</strong><br />

Sozialphilosophien wurde.<br />

Wir selbst, so zeigt Taylor (2009), sind beidem verpflichtet: der Aufklärung <strong>und</strong> der<br />

Romantik. Kaum einer würde auf die Errungenschaften der Vernunft gebietenden Moderne<br />

verzichten, jeder von uns verwendet zugleich zur Beschreibung der eigenen Befindlichkeit<br />

Kategorien der Romantik. Wie kann man dieses Wechselspiel verstehen? Es ist sicherlich von<br />

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Nutzen, bei der Rolle von ästhetisch-künstlerischer Praxis im Leben des Menschen in die<br />

Frühgeschichte der Menschheit zurückzugehen.<br />

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Zur Anthropologie der Künste<br />

Es gibt zumindest zwei Belege <strong>für</strong> die These, dass Kunst <strong>und</strong> ästhetische Praxis von Anbeginn<br />

der Menschheit eine Rolle gespielt haben. Dabei darf unter „Kunst“ nicht der moderne<br />

Kunstbegriff verstanden werden, so wie er sich erst gegen Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entwickelt hat. Sondern es ist damit eine besondere Art des Gestaltens gemeint, es geht um<br />

Schmuck, um ästhetische Zugaben zu Alltagsgegenständen, die mit dessen Funktion nichts zu<br />

tun haben. Die erste Erkenntnisquelle sind F<strong>und</strong>e aus der Frühgeschichte der Menschheit,<br />

wobei es hier um Artefakte der Bildenden Kunst <strong>und</strong> Architektur, also um Gegenstände, um<br />

Dinge <strong>und</strong> gestaltete Umgebungen geht. Bei den Höhlenmalereien, etwa denen aus den<br />

Cevennen oder den Pyrenäen, hat man zusätzlich die Chance, vergängliche „performative“<br />

Kunstformen wie Tanz/Theater zu studieren, wenn diese Gegenstand der Abbildungen sind.<br />

Musik wiederum ist zu rekonstruieren anhand von Instrumenten.<br />

Eine zweite Möglichkeit ist das Studium von so genannten „Naturvölkern“. Aus all diesem<br />

lässt sich schließen, dass es von Anbeginn der Menschheit eine künstlerische Praxis gegeben<br />

hat (Dissanayake 2002). Doch wie erklärt man sich diese vor allem dann, wenn eine<br />

Alltagsfunktionalität auf den ersten Blick nicht erkennbar ist? Ich will dies am Beispiel der<br />

Höhlenmalerei erläutern.<br />

Fels- oder Höhlenbilder lassen sich bis 8000 v. d. Z. nachweisen (Mann/Heuß 1991, Bd. 1;<br />

DIE ZEIT: Welt- <strong>und</strong> Kulturgeschichte, Bd. 1, Hamburg 2006; Faulstich 1997). Sie finden<br />

sich in allen Teilen der Erde – <strong>und</strong> wurden an einigen Stellen der Erde bis ins 20. Jh.<br />

angefertigt. Schon früh lässt sich die Verwendung von Farbe nachweisen. Natürlich gibt es<br />

Kulturf<strong>und</strong>e wie Waffen, Werkzeuge oder Beerdigungsstätten, die weitaus länger in die<br />

Vergangenheit zurückreichen. Die Entwicklung des Menschen mit all seinen Vorstufen <strong>und</strong><br />

Nebenzweigen dauerte einige Millionen Jahre. Das „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ (Heberer)<br />

zwischen Pliozän <strong>und</strong> Pleistozän wird mit 10 Millionen Jahren angegeben – <strong>und</strong> spätestens<br />

der F<strong>und</strong> von Ötzi zeigt, dass Datierungsversuche über bestimmt Aspekte der Menschheits-<br />

<strong>und</strong> Kulturentwicklung sehr rasch bei neuen F<strong>und</strong>en revidiert werden müssen. Die folgende<br />

Eingangspassage der Propyläen-Weltgeschichte dürfte jedoch unbestritten sein: „Der Mensch<br />

aber wurde geboren, als er zum ersten Mal etwas „Unnatürliches“, etwas Künstliches schuf,<br />

als er einen natürlich vorkommenden Gegenstand zu einem Artefakt umformte, zu einen<br />

erdachten, planvoll gestalteten menschlichen Produkt“ (Rust in Mann/Heuß 1991, S. 157). Ab<br />

diesem Moment „scherte er aus den biologisch-natürlichen, „gesetzmäßigen“<br />

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Entwicklungsabläufen aus <strong>und</strong> lebte unter künstlich geschaffenen Bedingungen“ (Ebd., S.<br />

159).<br />

Dieser Kulturprozess der Selbstschöpfung des Menschen beschleunigt sich in dem Maße, in<br />

dem der Mensch neue Mittel der Naturgestaltung entwickelt: Die Eroberung der Natur ist<br />

zugleich die Selbstschöpfung des Menschen als kulturell verfasstem Wesen. In diesem<br />

Kontext spielt die bildhafte Darstellung eine entscheidende Rolle. Im folgenden werde ich<br />

einige Bestimmungsmomente dieser frühen Bildpraxis entwickeln.<br />

1. Ein erster Aspekt ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass wir heute, vielleicht 10.000<br />

Jahre nach ihrer Herstellung, mit Hilfe der Bilder überhaupt Überlegungen zu ihrer<br />

Funktion <strong>und</strong> ihrer Wirkungsweise anstellen <strong>und</strong> so ein Stück (Kultur-)Geschichte<br />

rekonstruieren können. Bilder sind nämlich Teil eines sozialen bzw. kulturellen<br />

Gedächtnisses (Maurice Halbwachs). Sie konservieren einen kulturellen<br />

Entwicklungsstand <strong>und</strong> gestatten so die Herstellung eines bewussten Verhältnisses zur<br />

Geschichte des Menschen, sogar noch gr<strong>und</strong>sätzlicher: Sie sind vitale Zeichen da<strong>für</strong>, dass<br />

der Mensch Geschichte hat <strong>und</strong> dies bewusst erlebt. Zur Erinnerung: Eine aktuelle<br />

Bestimmung des Begriffs von Bildung versteht unter dieser die Herstellung eines<br />

bewussten Verhältnisses zu sich, zu seiner natürlichen <strong>und</strong> sozialen Umgebung, zu seiner<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft (vgl. Fuchs 2000). Mit dieser Geschichtsfunktion, die das<br />

Bild erfüllt, realisiert sich also ein entscheidender Aspekt von Bildung. Der etymologische<br />

Zusammenhang von Bild <strong>und</strong> Bildung ist also kein zufälliger, sondern ein inhaltlicher. Als<br />

paradox mag man bewerten, dass ausgerechnet ein Medium, das in seiner Darstellung die<br />

Zeit festhält, eine entscheidende Rolle bei der Gewinnung eines Zeitbewusstseins spielt.<br />

Diese Rolle zähle ich zu den Kulturfunktionen, also zu solchen Bedingungen, die in einer<br />

Gemeinschaft erfüllt sein müssen, wenn sie Bestand haben soll.<br />

2. Die Höhlenbilder sind Darstellungen überlebensrelevanter Situationen (Vgl. Holzkamp<br />

1978, v. a. den Beitrag „Kunst <strong>und</strong> Arbeit ...“.). Die ikonisch-symbolische Präsentation ist<br />

Teil des Alltages, <strong>und</strong> es ist ein existentiell bedeutsamer Teil. Kunst hat also auf dieser<br />

Stufe der menschlichen Entwicklung eine unmittelbar einsichtige Überlebensfunktion. Es<br />

gibt gerade keine Kluft zwischen Alltag <strong>und</strong> Kunst. Bevor man darüber all zu sehr<br />

erstaunt ist – denn immerhin ist die erneute Herstellung dieser Einheit ein wichtiges<br />

programmatisches Ziel aller Avantgarden seit über 100 Jahren –, sollte man daran denken,<br />

dass die Trennung von Kunst <strong>und</strong> Alltag, die uns heute oft genug als selbstverständlich<br />

erscheint, in dieser heutigen Form gerade mal 200 Jahre alt ist <strong>und</strong> mit dem sozialen <strong>und</strong><br />

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politischen Gebrauch der von Schiller <strong>und</strong> Kant ausgearbeiteten „Autonomie“ zu tun hat<br />

(vgl. Bollenbeck 1994).<br />

3. Die Darstellungsweise der Höhlenbilder ist äußerst stilisiert. Es ist offensichtlich kein<br />

Naturalismus, es ist etwa nicht der konkrete Büffel der letzten Jagd, sondern ein höchst<br />

stilisierter, geradezu abstrakter Büffel. Auch dies lässt sich aus der Funktion des Bildes<br />

erklären: Nämlich eine allgemeine – <strong>und</strong> allgemeingültige – Jagdszene darstellen zu<br />

wollen, weil nur eine solche <strong>für</strong> zukünftige Jagden auch Relevanz beanspruchen kann. Der<br />

dargestellte Büffel ist daher der Büffel schlechthin, ist die visuelle Darstellung einer<br />

Abstraktion, einer theoretischen Kategorie. Die Jagdszene wiederum enthält dadurch<br />

verallgemeinertes Wissen über das Jagen. Und dieses Wissen ist wesentliches Wissen, das<br />

auch nur stilisiert angemessen dargestellt werden kann. Dies kann man sich etwa dadurch<br />

verdeutlichen, dass eine Fotografie mit ihren vielen konkreten Einzelheiten völlig<br />

ungeeignet <strong>für</strong> diesen Zweck der Erfahrungsvermittlung wäre, eben weil sie zu sehr von<br />

den entscheidenden Bildelementen ablenkt. Nur die verdichtete <strong>und</strong> sparsame<br />

künstlerische Form leistet dies.<br />

4. Überleben als Mensch ist nur über die Gestaltung der Umweltbedingungen möglich.<br />

„Gestaltung“ ist eine Form von Herrschaft <strong>und</strong> Macht. Der Mensch muss<br />

Ordnungsprinzipien des zu gestaltenden Bereichs kennen bzw. entwickelt haben. Zu<br />

diesem Zweck entwickelt er „symbolische Formen“ (Cassirer 1990, Fuchs 1998). Das<br />

Bild als symbolische Form ist in dieser Perspektive Mittel der Ordnung, der Macht, denn<br />

es enthält Machtwissen. Den in der Überschrift hergestellten Zusammenhang von Bild,<br />

Mensch <strong>und</strong> Macht gibt es also schon bei dem ersten Auftreten des Bildes. Er ist<br />

vermutlich auch eine ursprüngliche Motivation zur Bildherstellung.<br />

5. Die Macht über die äußere Natur lässt sich nur herstellen als Gemeinschaftsaktion des<br />

Stammes, der Herde oder der Gens. Viele der Jagdszenen zeigen Menschen in<br />

unterschiedlichen Funktionen, etwa als Jäger <strong>und</strong> Treiber. Diese Bilder geben also eine<br />

frühe Form von Arbeitsteilung wieder, sie sind Abbilder der sozialen Organisation der<br />

Gemeinschaft. Auch dies ist eine wichtige Kulturfunktion, die jede stabile Gemeinschaft<br />

braucht: Eine Form der Symbolisierung von Gemeinschaftserfahrung als Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong><br />

die Entwicklung einer sozialen Identität.<br />

Doch geht es nicht nur um „objektive“ <strong>und</strong> notwendige Funktionsaufteilungen einer<br />

gelingenden Jagd, sondern es geht auch um die soziale Hierarchie in der Gruppe: Wer ist<br />

der Anführer, wer trägt Waffen, wer ist bloß Treiber – <strong>und</strong> wer nimmt überhaupt nicht<br />

teil? Neben dem offiziellen Lehrplan des Bildes als Bildungsmittel in der<br />

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Jagdunterweisung gibt es also einen heimlichen Lehrplan, der eine gewisse soziale<br />

Hierarchie als sachlich begründet <strong>und</strong> „selbstverständlich“ darstellt. Bilder wirken als<br />

Machtmittel also auch in die Gruppe hinein, sie sind frühe Mittel des „ideologischen<br />

Klassenkampfes“.<br />

Als Zwischenbilanz kann man festhalten, dass nicht nur viele wichtige Kulturfunktionen mit<br />

Bildern realisiert werden: Bilder sind zugleich eine Einheit von Erkenntnis/Wissen,<br />

Handlungsanleitung (Ethik/Moral) <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>. Daran zu erinnern ist gerade heute relevant.<br />

Denn es gehört zur Geschichte der Moderne, dass eine als analytische Trennung menschlicher<br />

Funktionsbereiche (in Erkennen, moralisches Bewerten <strong>und</strong> ästhetisches Gestalten) im Laufe<br />

dieser Geschichte zu einer „ontologischen“ Trennung so geführt hat, dass man heute wieder<br />

erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong> zusammen zu denken.<br />

In (reform-)pädagogischer Formulierung heißt dies: die Einheit von Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand ist<br />

wieder herzustellen.<br />

Zur Reflexivität des Sehens <strong>und</strong> der Bilder<br />

Offensichtlich braucht der Mensch Bilder zum Überleben. Es sind Bilder von sich <strong>und</strong> seiner<br />

Lebenswelt. Bilder sind also Mittel der Selbstbezüglichkeit <strong>und</strong> Selbstreflexivität. Genau dies<br />

scheint notwendig zum Menschsein zu gehören: Der Mensch ist dasjenige Wesen, das sich<br />

immerzu – <strong>und</strong> offenbar ausschließlich – über sich selber verständigen muss. „Dass<br />

Selbsterkenntnis das höchste Ziel philosophischen Fragens <strong>und</strong> Forschens ist, scheint<br />

allgemein anerkannt,“ so beginnt Ernst Cassirer (Cassirer 1990; vgl. auch Langer 1979)<br />

seinen „Versuch über den Menschen“. Bilder sind also auch eine praktische Form von<br />

Philosophie „avant le lettre“. Ihre ikonische Präsentationsform erzwingt eine anschauende<br />

Zugangsform. Es ist also ein Augenblick – ein Blick der Augen –, mit dem die Totalität des<br />

Bildes erfasst wird, <strong>und</strong> dieses wiederum erfasst auf spezifische Weise eine Totalität des<br />

Gegenstandes. Zu dieser Totalität des Gegenstandes – <strong>und</strong> dies führt zu einer entscheidenden,<br />

vielleicht der wichtigsten anthropologischen Erkenntnis – gehört der Betrachter selbst. Das<br />

Bild als eine distanzierte Betrachtung einer Situation, in der sich die urzeitlichen Betrachter<br />

selber bef<strong>und</strong>en haben <strong>und</strong> wieder befinden werden, ist also die gleichzeitige Verkörperung<br />

von Involviertheit <strong>und</strong> Distanz. Es hat bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gedauert, bis die Philosophie diesen Mechanismus angemessen erklären konnte. Helmut<br />

Plessner (Plessner 1970, 1983, 1965. Vgl. als Überblick Fuchs 1999), Biologe <strong>und</strong> Philosoph,<br />

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hat dies mit seinem Konzept der „exzentrischen Positionalität“ geleistet: Der Mensch<br />

unterscheidet sich vor allem dadurch wesentlich von den anderen Arten <strong>und</strong> Gattungen, dass<br />

er – virtuell oder fiktiv – aus seiner Mitte heraustreten <strong>und</strong> sich selber zum Gegenstand von<br />

Betrachtungen machen kann. Jedes andere Lebewesen lebt selbstverständlich – aber<br />

unbewusst – in seiner Mitte. Nur der Mensch sieht sich bewusst in seinen Lebensvollzügen,<br />

hat Geschichte <strong>und</strong> Zukunft <strong>und</strong> verfügt nicht mehr über eine instinktgesteuerte<br />

Selbstverständlichkeit des Überlebens: Er muss sein Leben führen. Diese Distanz zu sich<br />

selber ermöglicht also Reflexivität, ermöglicht, dass er sich auf vielfältige Weise zum<br />

Gegenstand unterschiedlichster Betrachtungen machen kann.<br />

„Reflexivität“ meint dabei nicht nur kognitives Überlegen oder diskursive Erörterung,<br />

sondern sie ist zugleich Gr<strong>und</strong>mechanismus seiner Sinnlichkeit: Auch das Sehen, Hören,<br />

Fühlen, Schmecken <strong>und</strong> Riechen sind reflexiv.<br />

Auf besonders komplexe Weise ist das Sehen, speziell das Sehen von Bildern, reflexiv:<br />

� Beim Sehen nimmt der Mensch nicht bloß visuell einen Gegenstand wahr. Er nimmt sich<br />

selbst auch als Sehenden wahr.<br />

� Insbesondere betrachtet sich der Mensch selbst beim Handeln: Er ist also zugleich Subjekt<br />

<strong>und</strong> Objekt des Sehens, eine Rückkopplung, die wiederum u. a. zur erheblichen<br />

Verbesserung seiner Steuerungsfähigkeit führt.<br />

� Beim Sehen von Bildern gilt nicht nur diese doppelte Reflexivität: Er hat es zugleich mit<br />

einem Gegenstand zu tun, der selber eine reflektierte Stellungnahme zur Welt enthält.<br />

Sehen von ästhetisch gestalteten Bildern ist also mitnichten simple Wahrnehmung, sondern<br />

Auseinandersetzung mit einer spezifischen Reflexionsleistung. Und immer wieder begegnet<br />

er in diesen Prozessen der Wahrnehmung/Reflexion sich selbst: Er sieht – durchaus in<br />

Hegelschem Sinne – seine individuelle Existenz „aufgehoben“ in der Kulturleistung der<br />

Gattung Mensch. Auch die individuellste Versenkung in ein Bild führt daher zur sozialen<br />

Integration, insofern das Bild als Menschenwerk gesehen wird <strong>und</strong> daher nach menschlicher<br />

Erfahrung in diesem Bild gefahndet werden kann. Zudem ist das Bild – ob nun gegenständlich<br />

oder nicht – eine abgeschlossene Ganzheit, ein gestalteter kleiner Kosmos, der im Hinblick<br />

auf Ordnungsprinzipien befragt werden kann. Bilder sind also wichtige Mittel einer reflexiven<br />

Stellungnahme zu sich <strong>und</strong> seiner Beziehung zur Welt . Sie sind symbolische Ordnungs- <strong>und</strong><br />

Machtmittel nach draußen in Richtung äußere Natur <strong>und</strong> nach innen in Richtung soziale<br />

Gemeinschaft. In der Entwicklung der Malerei sind es G. Braque („Die Sinne lügen“) <strong>und</strong> vor<br />

allem Paul Cézanne, bei denen eine Einbeziehung der theoretischen Reflexion des Sehens in<br />

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den Prozess der Bildentwicklung selbst stattgef<strong>und</strong>en hat, was sie zu Gründervätern des<br />

späteren Kubismus hat werden lassen. In jedem Fall macht sie ihre „reflektierte“ Malerei zu<br />

denjenigen Vertretern der bildenden Kunst, die aus philosophischer bzw. soziologischer Sicht<br />

besonders gerne analysiert werden, etwa von Merleau-Ponty (vgl. Boehm 1994 bzw. Gehlen<br />

1986). Insbesondere scheint der Begriff der Bildrationalität von Gehlen ertragreich bei dem<br />

Verständnis von Bildern zu sein (vgl. auch die Auseinandersetzung in Holz 1990ff.).<br />

Eine anthropologische Erklärung der Entstehung des „Ästhetischen“ (Neumann 1996) zeigt<br />

zudem, dass Bilder entschieden Macht- <strong>und</strong> Ordnungsmittel auch gegenüber der inneren<br />

Natur des Menschen sind. E. Neumann erläutert mit hoher Plausibilität, wie der Mensch mit<br />

der durch seine exzentrische Positionalität erzeugten Bewusstheit feststellen muss, dass er von<br />

Fress-Feinden oder anderen natürlichen Gefahren umgeben ist: Er lebt (schon lange vor<br />

Ulrich Becks Analyse der Moderne) in einer „Risikogesellschaft“ – <strong>und</strong> er bemerkt dies. Die<br />

Folge wäre Angst <strong>und</strong> Panik, wäre letztlich Verrücktheit, würde er nicht sofort eine<br />

Möglichkeit entwickeln, seine Panik zu bearbeiten <strong>und</strong> schließlich zu beherrschen: Und dieses<br />

Mittel ist ästhetische Expressivität, ist gestaltete Bewegung, sind gestaltete Töne, ist die<br />

plastische oder zeichnerische Gestaltung. Ästhetische Praxis ist also auch dort, wo sie nicht<br />

unmittelbar überlebensrelevant schein, also dort, wo sie keine Gebrauchsgegenstände<br />

herstellt, Waffen schmiedet oder Feste gestaltet, ein symbolisches Mittel der Ordnung.<br />

Eine erste Deutung erhalten die frühen Artefakte also über die – auch ansonsten hochrelevante<br />

– Anthropologie von Helmut Plessner (vgl. Fuchs 2008, Kap. 2). Diese basiert auf dem<br />

Prinzip der Reflexivität als dem wichtigsten Entwicklungsmotor der menschlichen Geschichte<br />

– phylo- <strong>und</strong> ontogenetisch. Eine ästhetisch-künstlerische Praxis ordnet sich hier problemlos<br />

ein, wie Plessner selbst in seinen Studien zur Anthropologie des Leibes <strong>und</strong> zum Theater<br />

später gezeigt hat. Eine zweite Erläuterung stammt von Arnold Gehlen (1950). Künste<br />

entwickeln sich bei ihm daraus, dass sinnlich wahrnehmbare Signale (akustisch, visuell,<br />

gestisch, haptisch), die ursprünglich der Warnung vor Fressfeinden oder anderen Gefahren<br />

gedient haben, auf die der Mensch instinktmäßig reagieren musste, diese Warn-Funktion<br />

verloren. Der Mensch entwickelte andere, bewusstere Handlungsstrategien zur<br />

Gefahrenabwehr. Die Signale blieben jedoch, waren nur nicht mehr Anlass <strong>für</strong> reflexartiges<br />

Verhalten. Dies verarbeitete der Mensch als Gewinn an Handlungsfreiheit, was in ihm Freude<br />

auslöste: An diesem frühen ästhetischen Genuss zeigt sich, dass es eine enge Verbindung<br />

zwischen ästhetischer Wahrnehmung <strong>und</strong> der lustvollen Empfindung von Freiheit <strong>und</strong><br />

Lebenssouveränität gibt. Es ist zudem festzuhalten, dass <strong>und</strong> warum Ernst Cassirer die Künste<br />

in seinen Katalog symbolischer Formen aufgenommen hat: Sie vermitteln ebenso wie die<br />

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anderen symbolischen Formen (Sprache, Technik, Religion, Mythos etc.) ein spezifisches<br />

Bild der Realität, konstruieren also eine Wirklichkeit, die wichtig ist <strong>für</strong> den Menschen.<br />

Eine weitere interessante Deutung der Relevanz von Kunst ergibt sich im Rahmen der<br />

Evolutionstheorie. Die amerikanische Ethnologin Ellen Dissanayake (2002) hat hierzu einen<br />

interessanten Vorschlag gemacht (s.u.).<br />

Es ist also heute zum einem die Anthropologie, es ist die Verhaltensforschung, es ist die<br />

Ethnologie, die Belege da<strong>für</strong> beibringen, dass es eine enge Verbindung von Darwin <strong>und</strong> Kunst<br />

gibt. Auch die Philosophische <strong>Ästhetik</strong> geht an der Relevanz eines<br />

entwicklungsgeschichtlichen Zugangs zur Kunst nicht vorüber. So befasste sich der<br />

anerkannte <strong>Ästhetik</strong>er Wolfgang Welsch mit „Animal Aesthetics“ auf dem XVIth<br />

International Congress on Aesthetics 2004 in Rio de Janeiro (Text leicht zu googlen) <strong>und</strong><br />

suchte nach Wurzeln menschlicher Kunst noch vor der Kulturgeschichte des Menschen.<br />

Natürlich stellte er klar, dass er keinen Picasso unter den Säbelzahntigern sucht. Ausführlich<br />

beschreibt er, dass Darwin sein zentraler Impulsgeber war. In der Tat befasst sich dieser<br />

immer wieder mit der Tatsache, dass Konzepte von „Schönheit“ gerade bei der Auswahl von<br />

Sexualpartnern im Tierreich eine Rolle spielen: Die „schönen“ Männchen signalisieren Kraft<br />

<strong>und</strong> Energie (K. Richter 1999). Welsch spricht in diesem Zusammenhang von<br />

„nichtästhetischer“ <strong>und</strong> „vorästhetischer“ Schönheit. Interessant auch der folgende Aspekt:<br />

Der Kampf zwischen den Männchen verläuft nunmehr unblutig als Casting-Show, bei der der<br />

Schönere siegt.<br />

Doch bleibt auch bei dieser Erklärung eine Lücke, weil sich nicht alle ästhetischen<br />

Präferenzen eindeutig mit einem Fitness-Vorsprung der Träger der schönen Merkmale in<br />

Verbindung bringen lassen. Eine enge Evolutionstheorie, die sehr kurzschlüssig nur<br />

unmittelbar erkennbare Entwicklungsvorteile gelten lässt, erklärt zwar manches, doch bleiben<br />

unerklärte Reste: Es gibt offensichtlich einen Überhang an ästhetischer Gestaltung über die<br />

unmittelbare Nützlichkeit hinaus. An dieser Stelle führt Welsch die Neurowissenschaften ein<br />

– <strong>und</strong> stößt auf die wichtige Rolle des Vergnügens im menschlichen Leben (man erinnere sich<br />

an die Rolle von Lust/Unlust bei Kant). Liegt Horaz mit seiner Funktionsbeschreibung von<br />

Kunst des delectare <strong>und</strong> prodesse, des Nutzens <strong>und</strong> Vergnügens, also auch nach 2000 Jahren<br />

Wissenschaftsgeschichte immer noch richtig? Welsch sagt ja. Doch hilft hier das Werk einer<br />

interessanten Seiteneinsteigerin, der amerikanischen Ethnologin <strong>und</strong> Ethologin Ellen<br />

Dissanayake (2002) weiter. Ihre zentrale Idee enthält Kap. 4 des genannten Buches „Making<br />

Special“. Dahinter steckt der Ansatz, dass es zum einen in der Tat einen Überschuss an<br />

ästhetischer Gestaltung gibt, der über eine enge Funktionalisierung von Kunst hinausgeht. Sie<br />

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kann jedoch zumindest einen Teil dieses Überschusses erklären: Mit ästhetischer<br />

Expressivität wird besonderen wichtigen Ereignissen oder Dingen eine Bedeutung verliehen.<br />

<strong>Ästhetik</strong> wird so zu einer Unterstützung des kollektiven Gedächtnisses, der Hervorhebung<br />

überlebensrelevanter Ereignisse, der Stiftung von Gemeinschaft r<strong>und</strong> um bestimmte kultische<br />

Handlungen. Jagdfeste, Beerdigungen, Ritualen oder besonders wichtige Personen: Bei allem<br />

hebt eine ästhetische Inszenierung deren Bedeutung aus dem Alltag heraus.<br />

Dieser kurze Streifzug durch ein Feld, das man heute etwa in dem Ansatz einer<br />

„evolutionären <strong>Ästhetik</strong>“ behandelt, bringt eine vielleicht überraschende Erkenntnis: Man<br />

muss die engen Grenzen eines eurozentrischen Kunstverständnisses zunächst einmal verlassen<br />

(gerade Ellen Dissanayake wird nie müde, auf die erkenntnisverhindernde Wirkung<br />

hinzuweisen, die die 200-jährige Ideologiegeschichte von „Kunst“ <strong>für</strong> sie hatte). Dann aber<br />

wird man reichhaltig fündig <strong>und</strong> kann entwicklungsgeschichtlich viele Funktionen von Kunst<br />

belegen, die wir im alltäglichen politischen Gebrauch oft <strong>und</strong> zurecht <strong>für</strong> ihre Legitimation<br />

verwenden: Künste sind identitätsstiftend, erkenntnisfördernd, sie leisten einen Beitrag zur<br />

Selbstreflexion von Einzelnen <strong>und</strong> Gruppen. Künste stärken die emotionale Seite <strong>und</strong> bieten<br />

„ganzheitlich“ Entwicklung- <strong>und</strong> Erkenntnisimpulse. Sie tun dies in einer einmaligen<br />

Verbindung von Nützlichkeit <strong>und</strong> Genuss. Sie haben eine Alltagsrelevanz, wie man sie kaum<br />

vermutet <strong>und</strong> wie man sie nicht erfahren kann, wenn man eine – oft auch noch nur halb<br />

verstandene – Autonomiebehauptung wie eine Monstranz vor sich herträgt.<br />

Ein solch weiter Begriff von Kunst, der dann auch nicht zulässt, Kunst aus Afrika weiterhin<br />

bloß als Folklore oder Volkskunst zu begreifen (wie noch lange Zeit bei Kunstmessen<br />

geschehen) ist auch notwendig in der internationalen Zusammenarbeit. So hagelte es<br />

zahlreiche Proteste bei der ersten Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung 2006 in<br />

Lissabon, weil die UNESCO zur Kunst lediglich die traditionellen europäischen Kunstformen<br />

zählen wollte (Musik, Bildende Kunst, Theater): KollegInnen aus Afrika <strong>und</strong> Asien bestanden<br />

dagegen darauf, dass in einigen Ländern Stelzenlaufen oder Haare flechten <strong>für</strong> sie sehr viel<br />

relevantere Kunstformen seien. 150 Jahre nach Darwins „Entstehung der Arten“: Ein guter<br />

Anlass also, auf die Lebensrelevanz von Kunst hinzuweisen.<br />

Was bleibt aus dieser kurzen Skizze?<br />

Als erstes: Man muss zunächst einmal seinen eigenen modernen Kunstbegriff <strong>und</strong> seine<br />

<strong>Ästhetik</strong>theorien vergessen, wenn man an die Wurzeln der Bedeutsamkeit von Kunst<br />

gelangen will. Dazu gehört insbesondere, die Prinzipien der Autonomie <strong>und</strong> des Verbotes<br />

einer Instrumentalisierung auszuklammern. Zum zweiten muss man insofern „ganzheitlich“<br />

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denken, als man sich daran erinnert, dass die heutige ausdifferenzierte Reflexionslandschaft,<br />

die scharf zwischen Erkennen, moralischem Handeln <strong>und</strong> ästhetischer Praxis trennt, jungen<br />

Datums ist <strong>und</strong> <strong>für</strong> die längste Zeit der Menschheitsgeschichte keinen Sinn macht: Der<br />

Mensch gestaltet mit allen Facetten seines Geistes <strong>und</strong> Körpers sein Leben. Interessanterweise<br />

lässt sich ein Großteil der Kulturkritik der Moderne damit deuten, dass diese Trennung wieder<br />

überw<strong>und</strong>en werden soll (vgl. etwa Welsch 1995). Dann wiederum lässt sich leicht erkennen,<br />

dass <strong>und</strong> wie Kunst überlebensrelevant ist. Es lassen sich sogar in dieser Frühzeit<br />

Kulturfunktionen von Kunst identifizieren (etwa im Hinblick auf Gemeinschaftsbildung, die<br />

Herstellung von Reflexivität etc.), die bis heute gültig sind (Frey 1994).<br />

So gerüstet, könnte es interessant sein, eine erste (knappe) Sichtung der Reflexion über die<br />

Künste vorzunehmen, sich also darüber zu informieren, wie der Mensch, seit er angefangen<br />

hat, systematisch über seine Belange zu reflektieren, über dieses spezielle Praxisfeld<br />

nachgedacht hat. Dabei steht die <strong>Ästhetik</strong> der Moderne im Mittelpunkt, wohl wissend, wie<br />

stark gerade in der geistigen Entwicklung ältere Wissensbestände – wenn auch in anderer<br />

Deutung – relevant bleiben. Zu diesen älteren Wissensbeständen, auf die ich z. T. später noch<br />

einmal zurückgreifen werde, gehört natürlich das ästhetische Denken der Antike. Es gehört<br />

aber auch das Denken des Mittelalters (dies ist im wesentlichen – in Kategorien von<br />

Oelmüller – das Denken des Schönen im Horizont des christlichen Gottes) <strong>und</strong> dann vor<br />

allem der Renaissance.<br />

Aus der Geschichte der <strong>Ästhetik</strong><br />

Zeitliche Abgrenzungen sind stets bei historischen Betrachtungen ein Problem. Zu oft<br />

erweisen sich die identifizierten Epochen als willkürliche Konstruktionen (Jaeger/Liebsch<br />

2004, Bd. 1, Kap. 6) <strong>und</strong> die besonderen Errungenschaften als „Erfindungen“. Eine der<br />

wichtigsten Entdeckungen (oder Erfindungen) der Renaissance, die hier als Übergangsperiode<br />

in die Neuzeit verstanden wird, ist die „autonome Persönlichkeit“ (Fuchs 2001). Gleichzeitig<br />

entwickelt sich ein neues Bild der Natur – <strong>und</strong> eine neue Zugangsweise, die man später<br />

„experimentelle Philosophie“ nennen wird (Fuchs 1984). Es verändern sich die Begriffe von<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit, es verändern sich die Vorstellungen einer geordneten Gemeinschaft. Man<br />

möge sich nur einmal <strong>für</strong> die einzelnen Wissensgebiete einzelne Namen in Erinnerung rufen:<br />

da Vinci <strong>und</strong> Galilei als Naturforscher <strong>und</strong> Ingenieure, Kopernikus, die Thematisierung der<br />

Würde des Menschen (Pico de Mirandola), Macchiavelli. In der Bildenden Kunst werden das<br />

Porträt <strong>und</strong> die Zentralperspektive entdeckt. Insgesamt neigt sich die Waage zwischen<br />

Glauben <strong>und</strong> Wissen immer stärker dem Wissen zu, wobei die meisten Akteure ihre letztlich<br />

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revolutionären Ideen im Bewusstsein entwickelt haben, dies als treue Katholiken zu tun.<br />

Bekanntlich gilt dies auch <strong>für</strong> Martin Luther, der eben keine neue Religion schaffen, sondern<br />

vielmehr den Katholizismus von innen heraus reformieren wollte. Die neue geistige Haltung<br />

zur Welt erfasst auch die Künste: „Die Welt ist schön, <strong>und</strong> der Künstler, der sie abbilden<br />

möchte, hat sich in erster Linie mit technischen Problemen der Darstellbarkeit zu<br />

beschäftigen. An die Stelle des metaphysischen Rahmens tritt die Empirie“ (Jung 1995, S.<br />

38). Nach Agnes Heller (1982) ist die Kunst der Renaissance durch drei Axiome<br />

gekennzeichnet: Kunst ist Mimesis. Kunst ist techné. Kunst ist hierarchisch, es gibt höhere<br />

<strong>und</strong> niedere. Erstmals taucht die Idee des Künstlers als Kreator, als Schöpfer auf. Auf Galilei<br />

geht der Satz zurück: Da Gott die Natur in mathematischen Lettern geschrieben hat <strong>und</strong> wir<br />

diese verstehen, ist unser Wissen von der Qualität her nicht kleiner <strong>und</strong> als das Wissen Gottes.<br />

Es beginnt – durchaus im Bewusstsein des Glaubens – das „säkulare Zeitalter“ (Taylor 2009).<br />

Auch der Künstler will kreativ sein, will Originalität. Und es gibt – gerade in den<br />

entwickelten Regionen wie Oberitalien – die ersten Ansätze eines Kunstmarktes.<br />

Auch dies ist natürlich relevant: Die ökonomische Basis all dieser Entwicklungen. Ich kann<br />

an dieser Stelle nicht auf basale Zusammenhänge eingehen, also mich mit der Frage<br />

beschäftigen, wie die Einflüsse zwischen den künstlerischen Praxisfeldern, der Ökonomie, der<br />

politischen Situation <strong>und</strong> den jeweiligen philosophisch-theoretischen Reflexionen exakt zu<br />

beschreiben sind. In der Realität wird man von wechselseitigen Beeinflussungen ausgehen<br />

müssen. Kaum tragbar ist die platte materialistische These, dass die Basis unmittelbar den<br />

„Überbau“ steuert. Am Beispiel der Genese der Naturwissenschaften konnte ich zeigen<br />

(Fuchs 1984), dass hier diese These definitiv falsch ist: Denn die ökonomische Praxis konnte<br />

noch Jahrh<strong>und</strong>erte später kaum etwas mit den Ergebnissen der Physik anfangen, weil die<br />

dazugehörige Technik, die man zur Umsetzung gebraucht hätte, fehlte. Einen Bedarf an<br />

physikalischen Theorien, die die Natur als gesetzmäßig ablaufenden Mechanismus begriffen,<br />

gab es allerdings im politischen Denken. Hier ging es um die Durchsetzung rationaler<br />

Steuerungsideen, sodass der Willkür des Königs (<strong>und</strong> der Kirche) Grenzen gesetzt werden<br />

konnten. Es war also die praktische Politik <strong>und</strong> deren Reflexion in der politischen<br />

Philosophie, die das erste Anwendungsgebiet der Mechanik war („Mechanisierung des<br />

Weltbildes“; Dijksterhuis).<br />

Der Gr<strong>und</strong>streit seit dieser Zeit war der Kampf Alt gegen Neu, Tradition gegen Innovation, so<br />

wie er sich in den jahrelangen Debatten der anciens gegen die modernes r<strong>und</strong> um die<br />

Académie Française <strong>und</strong> ihrem Sekretär Fontenelle abgespielt hat. Und es war vor allem ein<br />

Ringen um Fragen der praktischen Philosophie: Es ging um Ethik <strong>und</strong> Politik, es ging um<br />

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Ordnung in der Natur <strong>und</strong> in der Gesellschaft <strong>und</strong> um Prinzipien des guten Lebens. Dieser<br />

Schwerpunkt wird sofort verständlich, wenn man sich verdeutlicht, dass der Verlust der<br />

Selbstverständlichkeit von Religion auch einen Verlust an Gewissheit <strong>für</strong> die<br />

Lebensgestaltung bedeutet: Nunmehr muss sich der einzelne Mensch darum kümmern, wie er<br />

richtig leben soll. England übernahm aus unterschiedlichen Gründen eine gewisse<br />

Führerschaft. Immerhin haben auch hier die ersten bürgerlichen Revolutionen stattgef<strong>und</strong>en,<br />

gab es hier auch die von Max Weber in seiner Protestantismus-Schrift beschriebene Liaison<br />

zwischen Kapitalismus <strong>und</strong> Protestantismus/Calvinismus. Die Sozialphilosophen kopierten<br />

eifrig die Ideen der Physik <strong>und</strong> nutzten in der Darstellung die althergebrachten (<strong>und</strong> von<br />

Descartes <strong>und</strong> Co. noch erweiterten) mathematischen Methoden (mos geometricus, später<br />

dann auch der Kalkül; vgl. Fuchs 1998). Utilitarismus als Übertragung der Ideen der<br />

Berechenbarkeit, der Kalkulation des individuellen Nutzens war eine Hauptlinie (Hobbes,<br />

Locke, Mandeville), obwohl es natürlich auch alle anderen Ansätze gab (z. B. die<br />

Wiederbelebung des Platonismus in Cambridge). Die französische Situation wurde von<br />

Moralphilosophen <strong>und</strong> Moralisten geprägt, die in der Tradition von Descartes standen oder<br />

sich kritisch an ihm abarbeiteten.<br />

Wichtig in unserem Kontext ist, dass es von allen Autoren, die sich zur <strong>Ästhetik</strong> äußern, auch<br />

umfangreiche Schriften zur Ethik gibt <strong>und</strong> man in deren Werk beide nicht voneinander<br />

trennen kann. Man muss sogar feststellen, dass ästhetische Reflexionen (ebenso wie die<br />

erkenntnistheoretischen Erwägungen) eine dienende Funktion <strong>für</strong> die eigentlich wichtige<br />

praktische Philosophie hatten. Auch Kant, der zu Recht eine bis heute zentrale Rolle in der<br />

<strong>Ästhetik</strong> spielt, war mit diesen Kontexten bestens vertraut. Er kannte die gesamte englische<br />

<strong>und</strong> französische Literatur. Shaftesbury gehörte etwa zu dem zentralen Lehrstoff im Studium<br />

von Schiller. Die schottischen Moralphilosophen (Ferguson, Smith, später Hume) waren die<br />

einflussreichen Wortführer, an denen man nicht vorbei kam. Sie waren auch die<br />

Stichwortlieferanten <strong>für</strong> die Kantsche <strong>Ästhetik</strong>, wenn etwa das Geschmacksurteil an die<br />

Empfindung von Lust oder Unlust geb<strong>und</strong>en wurde. Es lohnt sich, diese Etappe etwas genauer<br />

zu erzählen. Dabei ist es nicht falsch, von einer aktuellen Debatte auszugehen, in deren<br />

Kontext die <strong>Ästhetik</strong> plötzlich geradezu zu einer Leitdisziplin geworden ist: die Diskussion<br />

r<strong>und</strong> um die Postmoderne.<br />

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Postmoderne, <strong>Ästhetik</strong>, Macht<br />

Postmoderne Gesellschaftsvorstellungen: R. Rorty<br />

„Sind es in ihrer Vitalität <strong>und</strong> Wahrnehmungsfähigkeit unwiderruflich geschwächte <strong>und</strong><br />

verarmte Zombies, die von den Suggestionen einer prosperierenden Konsumkultur in<br />

Beschlag genommen <strong>und</strong> vom Zeichen-Chaos der Medienwelt paralysiert werden? Oder<br />

handelt es sich doch um individualisierte Personen, die die Fesseln sozialer Konvention<br />

abgestreift haben <strong>und</strong> die sich souverän in einem Universum der unbegrenzten Möglichkeiten<br />

orientieren können? Vielleicht ist es ... Kennzeichen eines „postmodernen“ Blicks auf die<br />

ungebrochen fortschreitende Modernisierung, sich einer eindeutigen, kritischen oder<br />

apologetischen Antwort zu enthalten. Aufgabe einer Theorie der modernen Kultur wäre es<br />

dann, den Horizont auszumessen, der sich den Menschen in einer Welt auftut, die von ihnen<br />

selbst gemauert <strong>und</strong> umgestaltet wird. Diese Theorie sollte abzuschätzen versuchen, wo sich<br />

neue Durch- <strong>und</strong> Ausblicke ergeben, wo der Handlungsradius der Individuen eine<br />

Ausdehnung erfährt; <strong>und</strong> wo, umgekehrt, die Sicht verstellt, die Wahrnehmung eingeschränkt<br />

<strong>und</strong> damit auch die Möglichkeit beschnitten wird, die Freiheitschancen, die die Moderne<br />

eröffnet, in reelle Freiheitsgewinne umzusetzen.“<br />

So schließt Wolfgang Kuhlmann (1994) seine Einleitung in eine Textsammlung ab, in der<br />

vorwiegend Autoren, die der Postmoderne zugerechnet werden, ihre Sichtweisen von Medien<br />

<strong>und</strong> ihrer Entwicklung, von populärer Kultur, von gesellschaftlichen Pluralisierungs- <strong>und</strong><br />

Ausdifferenzierungsprozessen vorstellen <strong>und</strong> in der einige Top-Themen des Postmoderne-<br />

Diskurses qualifiziert behandelt werden: die Frage nach (der Möglichkeit von) Identität, die<br />

„Zeit“, der Körper <strong>und</strong> das „Leben als Kunstwerk“.<br />

So aktuell <strong>und</strong> ausgewogen diese Textsammlung einen Einblick in die postmoderne<br />

Diskussion über die Kultur der Moderne auch ist: Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der bislang<br />

beschriebenen Stationen der Kulturtheorie sind es doch wieder die klassischen Aufgaben, die<br />

klassischen Kulturfunktionen, die klassischen Topoi, um die es geht, seit „Kultur“ als<br />

Diskursthema auf der Tagesordnung steht: Es geht um die Selbstdefinition der modernen<br />

Gesellschaft, es geht um die inzwischen uralte Frage nach Autonomie <strong>und</strong> Freiheit des<br />

Lebens, um die Möglichkeit von Subjektivität, um die kulturelle Bewertung des technischen<br />

Fortschritts insbesondere bei der Entwicklung der Medien. Dies ist keine Kritik an der<br />

Intention des Herausgebers dieser Texte, nimmt vielleicht jedoch der Atemlosigkeit, dem<br />

Gefühl des Traditionsbruchs, dem Anspruch auf das völlig Neue ein wenig den Stachel.<br />

Auch die postmodernen Antworten sind weniger sensationell, als sie oft angeboten werden:<br />

Eine melancholische oder militante Zivilisationskritik – freilich anhand der je aktuellen<br />

Zivilisation – begleitet die Moderne wie gesehen von Anfang an. Und natürlich ist es immer<br />

wieder der Klassiker der Zivilisationsmüdigkeit, Friedrich Nietzsche, der hinter all zu forsch<br />

tönenden aktuellen Zeitdiagnosen hervorschaut.<br />

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Mit diesen Feststellungen ist nun nicht gemeint, dass auch die Postmoderne bloß ein weiteres<br />

Kapitel aus der menschlichen Geschichte der ständigen Wiederkehr des Gleichen ist. Sie ist<br />

vielmehr als Verarbeitung von Gegenwartserfahrung ein aktueller Versuch, ihre Zeit in<br />

Gedanken zu fassen. Sie steht in dieser kulturellen Funktion natürlich selbst in Traditionen<br />

des Gegenstandes ihrer Kritik – <strong>und</strong> wird selbst zu einem kulturellen Tatbestand, zu einem<br />

Bestandteil ihres Gegenstandes. Man mag daher durchaus bissig feststellen, dass sie selber<br />

Teil des Problems ist, an dem sie sich abarbeitet.<br />

Die Ergebnisse dieser Kulturkritik sind äußerst heterogen – gerade in ihren politischen<br />

Schlussfolgerungen. Dies überrascht bereits deshalb nicht, weil „Postmoderne“ ein sehr<br />

künstliches Dach ist, das die meisten der Autoren, die ihr zugerechnet werden, nicht <strong>für</strong> sich<br />

in Anspruch nehmen. Durchaus im Sinn eines (des!) postmodernen Prinzips, der Betonung<br />

der Differenz, wird man daher kaum zwei Autoren finden, die eine Gemeinsamkeit<br />

eingestehen. Von den drei großen Franzosen (Baudrillard, Derrida, Lyotard) ist bekannt, dass<br />

sie nicht nur in ihren Arbeiten kaum Bezug aufeinander nehmen, sondern auch kaum<br />

persönliche Kontakte haben – zum Teil kann man noch nicht einmal von einer gegenseitigen<br />

Wertschätzung ausgehen.<br />

Prominenter Vertreter dieser neuen Philosophen-Generation ist der US-Amerikaner Richard<br />

Rorty: ein sozialdemokratischer Liberaler, in dessen Gesellschaft es sich sicherlich angenehm<br />

leben ließe, zumal von ihm „Gesellschaft“ sehr stark als Leben eines künstlerisch<br />

interessierten liberalen Intellektuellen in einem anregungsreichen großstädtischen Milieu<br />

gedacht wird <strong>und</strong> die Akteure frei von materiellen Sorgen sind. Die lässige Ironie lässt Rorty<br />

daher seinen Frieden machen mit fast allen: Dewey <strong>und</strong> Habermas werden akzeptiert in ihrer<br />

Zuständigkeit <strong>für</strong> Solidarität, <strong>für</strong> sozialen Zusammenhang; <strong>für</strong> das Private jedoch sind<br />

Heidegger <strong>und</strong> Nietzsche interessanter.<br />

„Freiheit“, insbesondere die individuelle Freiheit, sich sein Leben kunstvoll <strong>und</strong> ohne<br />

Bevorm<strong>und</strong>ung gestalten zu können, ist wichtiger als Vernunft (Rorty 1993, S. 46). Daher ist<br />

jede Festlegung auf ein „Zentrum“ nur störend. „Die beste Art von Kultur wäre eine, deren<br />

Schwerpunkt ständig wechselte, je nachdem, welche Person oder Personengruppe zuletzt<br />

etwas Anregendes, Originelles <strong>und</strong> Nützliches geleistet hat“ (ebd., S. 5). Sympathisch ist<br />

diese Orientierung auf das Neue, das Interessante. Der Mensch, der dahintersteht, ist<br />

sicherlich ein angenehmer Zeitgenosse <strong>und</strong> Gesprächspartner. Dazu bekennt sich Rorty, wenn<br />

er irgendwo sagt, dass er hoffe, mit einem Künstler zusammen in den Himmel zu kommen,<br />

anstatt mit Kant auf einer Wolke sitzen zu müssen. Daher sind die Romane von Cervantes <strong>und</strong><br />

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Dickens wichtiger als Heideggers F<strong>und</strong>amentalontologie, wenn es um die Sicherung<br />

bleibender Kulturgüter unserer Zeit ginge.<br />

Nicht der „asketische Priester“, sondern Charles Dickens ist vorzuziehen als Menschenschlag:<br />

dies ist die pragmatische Variante einer Kulturkritik, die Regelungen <strong>und</strong> Formalismen<br />

verabscheut. Er wünscht sich daher eine Kultur ohne Zentrum:<br />

„Eine solche Kultur würde ihr wichtigstes Ziel nicht in der Wahrheit, sondern in der Freiheit<br />

erblicken, wobei „Freiheit“ in etwa das gleiche bedeutete wie die Bedingungen, unter denen<br />

sich kulturelle Entwicklungen so rasch ausbreiten, wie es mit der gemeinschaftlichen<br />

Solidarität <strong>und</strong> der staatsbürgerlichen Ordnung zu vereinbaren ist“ (ebd., S. 11).<br />

Rorty, der sich selbst (ironisch) als „postmoderner Bourgeois-Liberaler“ (nach Reese-Schäfer<br />

1991, S. 74) bezeichnet, dürfte in allen wichtigen Menschenrechtsfragen, in Fragen<br />

gesellschaftlicher Solidarität auf Seiten von Habermas stehen – auch wenn er sicherlich auch<br />

mit ihm nicht gerne die Wolke teilen würde. Denn die kunstvolle Gestaltung des Lebens, auf<br />

die (zwar sozial sensibel, aber doch hedonistisch) Rorty wert legt, verträgt wenig Einengung.<br />

Daher ist sein Ich auch nicht das strenge, stets gemeinwohlorientierte, auf das man sich –<br />

vielleicht wegen seiner (langweiligen) Geradlinigkeit – auch verlassen kann, sondern das<br />

Spielerische: „Es steht uns frei, das Ich als etwas ohne Zentrum, als reine historische<br />

Zufälligkeit anzusehen“ (zitiert nach Reese-Schäfer 1997, S. 619).<br />

Reese-Schäfer (1991, S. 75) kommt hier zu einer wichtigen Klassifizierung: Die Rolle der<br />

Vernunft in der Moderne wird in der Postmoderne von der <strong>Ästhetik</strong> eingenommen. Dies hat<br />

schon Nietzsche vorgedacht, <strong>und</strong> dies erhält durch die Katastrophen dieses Jahrh<strong>und</strong>erts, die<br />

angeblich die Vernunft verursacht hat, neue Schubkraft. Die <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> die Künste, die <strong>für</strong><br />

„das Andere der Vernunft“ stehen, die die vernachlässigte Sinnlichkeit, den<br />

„Erfahrungshunger“ bedienen, die Spiritualität ermöglichen, die den durch die Moderne<br />

disziplinierten Körper endlich befreien: dies steht im Mittelpunkt aller Postmoderne-<br />

Konzeptionen. Aber: Es sind unterschiedliche Konzeptionen der Künste <strong>und</strong> des<br />

Ästhetischen. Für die einen sind es die frei flottierenden Zeichen <strong>und</strong> Symbole der Medien,<br />

<strong>für</strong> andere ist es der lebendige Markt kommerziell zu erwerbender Kulturwaren, vor allem der<br />

populären Künste. Und <strong>für</strong> die strenge Postmoderne von J. Lyotard ist es das Erhabene, die<br />

Wiederherstellung des avantgardistischen Kunstwerkes (Pries 1989). Rortys<br />

Sozialphilosophie mag elitär sein, weil der „Armutsbericht der DPWV“ (Hanisch 1992) – <strong>und</strong><br />

damit die Realität selbst der entwickelten Länder – so wenig mit jenem lustvollen Ironiker in<br />

Einklang zu bringen ist. Man hätte vermutlich sogar eine Scheu davor, ihn in seinen<br />

Erk<strong>und</strong>ungen neuer kultureller Errungenschaften zu stören <strong>und</strong> zu belästigen mit<br />

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unerfreulichen Daten zur sozialen Ungleichheit. Obwohl: Täte man es, hätte man sicherlich<br />

seine volle Unterstützung. Rorty ist also in dieser Hinsicht überhaupt nicht elitär – <strong>und</strong> sei es<br />

auch deshalb, weil das „Erhabene“ zu viele Rezeptionsgrenzen setzt, zu viele Schranken<br />

errichtet <strong>und</strong> neue Ungleichheiten produziert, die das freie <strong>und</strong> spielerische Flottieren von<br />

Ideen stören. (Reese-Schäfer 1991, S. 74 ff.) Und dies hat durchaus auch Relevanz <strong>für</strong> die<br />

politische Dimension des Denkens dieser postmodernen Philosophen.<br />

Lyotards Problem ist die Inkommensurabilität der verschiedenen Sprachspiele, ihre<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Nichtübersetzbarkeit, die er in seinem Hauptwerk „Der Widerstreit“ (1989)<br />

untersucht. Damit stecken die Beteiligten in diskursiven Gefängnissen, aus denen es kein<br />

Entrinnen gibt. Und insbesondere ergibt sich keine Möglichkeit <strong>für</strong> eine kommunikative<br />

Vernunft, wie sie J. Habermas braucht, um einen tragfähigen Konsens zivilgesellschaftlich zu<br />

erzielen. Hier ist Rorty wieder näher an dem Vernunft-Theoretiker Habermas, da die<br />

notwendige „gewaltfreie Überredung“ als Gr<strong>und</strong>lage einer Freiheit <strong>für</strong> alle nur dann<br />

funktionieren kann, wenn Argumente auch verstanden werden können.<br />

Am Beispiel eines unorthodoxen Philosophen – <strong>und</strong> gerade nicht am Beispiel der (zumindest<br />

in Deutschland) den Postmoderne-Diskurs dominierenden französischen Philosophen – hat<br />

auch dieser kurze Einblick in diesen Postmoderne-Diskurs zu unserem Thema hingeführt:<br />

Kultur, gesellschaftliche Ordnung <strong>und</strong> Macht. Bei Rorty <strong>und</strong> Habermas trifft sich der<br />

(kritische) Postmoderne-Diskurs in dem Streit zwischen Kommunitarismus <strong>und</strong> Liberalismus<br />

– freilich bei zwei unorthodoxen <strong>und</strong> untypischen Denkern, deren Zuordnung zu je einer der<br />

Denkschulen schwierig ist. Gemeinsames Streit-Thema ist etwa die Frage nach der<br />

Möglichkeit (der Begründung) universeller moralischer Normen zwischen individualistischer<br />

Partikularität, Gemeinsinn <strong>und</strong> allgemeinem Rahmen.<br />

Und selbst die unterschiedliche Schwerpunktsetzung in beiden Feldern: hier die <strong>Ästhetik</strong>, dort<br />

die Ethik/Moral, wird inzwischen vielfach überbrückt: So fragt man einerseits aus der<br />

ästhetischen Richtung nach der „Ethik der <strong>Ästhetik</strong>“ (Wulf/Kamper/Grumbrecht 1994). Der<br />

ethische Aspekt wird hier nicht bloß deutlich, wenn man die Frage nach der Rolle des<br />

Schönen bei der je individuellen Lebensgestaltung stellt („Lebenskunst“; siehe hierzu etwa<br />

die Schriften von Foucault <strong>und</strong> seiner These vom „Leben als Kunstwerk“; vgl. Schmid 1994).<br />

Auch die Frage der Sinnlichkeit <strong>und</strong> des Körpers – als klassische ästhetische Frage – wird<br />

schnell zu einer universalphilosophischen Frage, wenn es um die Beschädigung des Körpers<br />

<strong>und</strong> der Sinne, um körperliche Integrität geht. Hier stellt sich erneut die frühere Einheit von<br />

Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> her. Denn (ästhetische) Fragen des guten Geschmacks waren immer auch<br />

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eng verb<strong>und</strong>en mit der Frage des richtigen Verhaltens – man erinnere sich nur an Freiherr von<br />

Knigge.<br />

Aus eher moral- <strong>und</strong> sozialphilosophischer Sicht nähert man sich ästhetischen Fragen etwa<br />

durch die historische Rekonstruktion der Vorstellungen von Gesellschaft, Gemeinschaft <strong>und</strong><br />

des Ichs, so wie sie monumental Charles Taylor (1996) in seiner Studie „Quellen des Selbst“<br />

vorgelegt hat <strong>und</strong> in der das Expressive – etwa in der Ausdrucksanthropologie Herders, auf<br />

die sich Taylor bezieht – als das Ästhetische der Ethik in seiner wichtigen Rolle bei der<br />

Entwicklung des neuzeitlichen Identitätsbegriff aufgezeigt wird (vgl. auch seinen Beitrag<br />

„Die Unvollkommenheit der Moderne“ in Honneth 1994 oder Taylor 1992 <strong>und</strong> 1995). Das<br />

Ästhetische, sowohl als Bereich des Kulturellen als auch als Zentrum des Postmoderne-<br />

Diskurses, muss daher ausführlicher betrachtet werden.<br />

Das Ästhetische in der Moderne – zur Geschichte des ästhetischen Denkens<br />

Mit einiger Berechtigung lässt sich der Beginn einer neuen Etappe im ästhetischen Denken<br />

präzise festlegen: Der 26.04.1335, als Petrarca den Mont Ventoux bestieg <strong>und</strong> die Natur als<br />

würdigen Gegenstand ästhetischer Betrachtung entdeckte. Der Kommentar von J. Ritter<br />

macht deutlich, wieso diese begrenzt bergsteigerische Leistung die oben behauptete<br />

Bedeutung hat:<br />

„Mit der Ausbildung der modernen Naturwissenschaften <strong>und</strong> der wissenschaftlichtechnischen<br />

Welt sowie mit dem damit verb<strong>und</strong>enen Prozess der Verdinglichung <strong>und</strong><br />

Entfremdung wird das ästhetische Verhalten des Menschen zur ganzen Natur nicht nur<br />

möglich, sondern als Kompensation vergessener <strong>und</strong> verdrängter Daseinsbewältigung<br />

notwendig.“ (Oelmüller 1982, S. 52.)<br />

Nun ist das Jahr 1335 noch recht früh gegriffen, um die Auswüchse der entwickelten<br />

bürgerlichen Gesellschaft schon kompensieren zu wollen. Es mussten vielmehr noch einige<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte ins Land gehen, bis schließlich in England als erstem großen Land die<br />

bürgerliche Revolution zwar nicht das Königtum beseitigte, aber immerhin eine (bis heute<br />

nicht aufgeschriebene) Konstitution wirksam werden ließ, die eine angemessene Beteiligung<br />

des Bürgertums an der politischen Macht – von Hegemonie war jedoch noch lange nicht die<br />

Rede – sicherte. Auch die Naturwissenschaften <strong>und</strong> – damit verb<strong>und</strong>en – die wissenschaftlich-<br />

technische Welt brauchte noch einige Zeit. Man erinnere sich an einige Daten: (Nach)-<br />

Erfindung des Buchdruckes 1440; allmähliches Abschütteln mittelalterlicher Hemmnisse in<br />

der Wissenschaft, etwa durch Roger Bacon zu Beginn des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts;<br />

Handelskapitalismus durch die Fugger <strong>und</strong> Welser; Entstehen von Manufakturen;<br />

Neuentdeckung von Plato in der Florentinischen Akademie des Marsilio Ficino (1493-1499)<br />

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<strong>und</strong> schließlich – an der Schwelle zur neuzeitlichen Naturwissenschaft – Leonardo da Vinci.<br />

Und erst jetzt, vielleicht noch mit Kopernikus (1473-1543), ist in diesem Bereich die<br />

Renaissance zu Ende <strong>und</strong> Galilei (1564-1642), Kepler (1572-1630) <strong>und</strong> Newton (1643-1727)<br />

veranstalteten die Wissenschaftliche Revolution, in deren Folge etwa der Erfolg des<br />

mechanischen (<strong>und</strong> mechanistischen) Denkens das religiöse beziehungsweise geometrisch-<br />

mathematische Forschungsparadigma zwar nicht überholte, aber immerhin als Konkurrenz<br />

stark bedrängte (vgl. Fuchs 1984).<br />

Baumgarten<br />

Nachdem Empirie durch die neue Naturwissenschaft <strong>und</strong> vor allem durch die Theoretisierung<br />

in der Philosophie geadelt wurde, war der Boden bereitet, die Sinnlichkeit als angesehene <strong>und</strong><br />

akzeptierte Erkenntnisquelle zu ihrem Recht kommen zu lassen. Und dies ist schließlich die<br />

St<strong>und</strong>e von A.G. Baumgarten (1714-1762) <strong>und</strong> seinem Lebenswerk über die <strong>Ästhetik</strong>. Aber<br />

immerhin sind wir inzwischen im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, England hatte seine Revolutionen, in<br />

Frankreich brodelt es, die englischen Empiriker <strong>und</strong> die französischen Aufklärer denken<br />

darüber nach, wie dem Bürgertum nach seinem großen ökonomischen Erfolg auch auf<br />

philosophisch-theoretische Weise zu seiner Hegemonie verholfen <strong>und</strong> es damit ideologisch<br />

abgesichert werden kann. Zur Erinnerung: Diderot ist Jahrgang 1713, Condillac 1715, Adam<br />

Smith 1723 <strong>und</strong> der Streit zwischen den anciens <strong>und</strong> den modernes aus dem Jahre 1687 liegt<br />

nun auch schon ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert zurück.<br />

Ideologisch, so darf man respektlos feststellen, ist die philosophische Begleitung des<br />

Bürgertums nicht über den Streit zwischen Leibniz <strong>und</strong> Clarke (hinter dem Newton steckte)<br />

hinausgekommen. Das zentrale ideologische Anliegen bestand nämlich darin, gegen den<br />

religiös gestützten Feudalismus die Verzichtbarkeit eines sich ständig einmischenden Fürsten<br />

nachzuweisen: die Welt als immanenter regelgeleiteter Zusammenhang, der ohne Fürst <strong>und</strong><br />

ohne Gott funktioniert.<br />

Newton schafft es nicht, da seine, als Axiome fungierenden Prinzipien mit der Schwerkraft<br />

neue „okkulte Kräfte“ einführen müssen, wie Leibniz bissig bemerkt; <strong>und</strong> Leibniz schafft es<br />

nicht, weil irgendeiner seiner prästabilisierten Harmonie den ersten Schubs hat geben müssen.<br />

Das System musste vollständig deterministisch <strong>und</strong> binnengeleitet sein, um kein Lücke <strong>für</strong><br />

jemanden von außen zu lassen. Es musste jedoch zugleich individuelle Freiheit <strong>für</strong> die<br />

Systempartikel, die Menschen eben, gewähren. Hier Determinismus, dort Freiheit, <strong>und</strong> dies<br />

im gleichen System widerspruchsfrei denkbar zu machen: Dies ist ein Gr<strong>und</strong>widerspruch, der<br />

bis heute aktuell ist. Dominiert der deterministische Systemaspekt zu Lasten der Freiheit,<br />

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entsteht die bis heute unerledigte <strong>und</strong> von J. Ritter thematisierte Entfremdungserfahrung.<br />

Dominiert die Freiheit zu Lasten des System-Zusammenhangs, werden die Philosophen nicht<br />

fertig im Ausdenken immer neuer Vertrags- <strong>und</strong> Konsensmodelle, in denen die Einzelnen das<br />

freiwillig tun, was sie im Interesse des Erhalts des Gesamtsystems auch tun müssen.<br />

Offensichtlich ist dies wieder beziehungsweise immer noch ein Thema im Streit zwischen<br />

Liberalismus <strong>und</strong> Kommunitarismus: ob nämlich Freiheit <strong>und</strong> Autonomie oder Solidarität <strong>und</strong><br />

die Gemeinschaft die Leitwerte der bürgerlichen Demokratie sind <strong>und</strong> es ist fraglich, ob die<br />

Diskussion dieser beiden bürgerlich-demokratischen Positionen über die (heute so genannte<br />

M (wie Montesquieu) beziehungsweise L (wie Locke) Linie hinausgekommen ist (vgl.<br />

Brumlik/Brunkhorst 1993).<br />

In diese interessengeb<strong>und</strong>ene (<strong>und</strong> daher ideologische) Auseinandersetzung mischt sich seit<br />

Baumgartens berühmter Schriften nun auch die <strong>Ästhetik</strong>, <strong>und</strong> sie tut es bis heute, wie aktuelle<br />

postmoderne Überlegungen zur bürgerlichen Demokratie es zeigen (vgl. etwa Rorty 1992).<br />

Zunächst ist dies ein Emanzipationskampf zugunsten der Sinne. Hierbei ist Baumgarten nicht<br />

sehr anspruchsvoll: es geht ihm lediglich um eine minderwertigere Stufe von Erkenntnis –<br />

aber immerhin. Und vielleicht liegt auch weniger in dieser Rehabilitation der Sinne das große<br />

Verdienst Baumgartens. Dies lag quasi in der Luft. Sensualismus war die große Linie des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts (Hazard 1949). Es gab ja nun auch genügend „Realität“ sinnlich zu bewältigen.<br />

Dazu gehören auch die Eroberungszüge in andere Kontinente, die viele Reisebeschreibungen<br />

– auch als Material <strong>für</strong> neue anthropologische Ansätze – zur Folge hatten (Mühlmann 1968).<br />

Und es gab die neuen Naturwissenschaften, von Newton bereits in gezielter Absetzung von<br />

Descartes in ihrem empirischen Anteil über- <strong>und</strong> in ihrem theoretisch-spekulativen Anteil<br />

unterbewertet, von J. Locke zu einer Erkenntnisphilosophie ausgebaut, schließlich von<br />

Voltaire <strong>und</strong> seiner Lebensgefährtin, Mme de Châtelet, auf den Kontinent gebracht <strong>und</strong> –<br />

ebenfalls aus ideologischen Gründen – zu einem metaphysischen Standpunkt, eben dem<br />

mechanistischen Denken, in einem bewussten Missverständnis des ursprünglich<br />

bescheideneren Anliegens ausgebaut.<br />

In Deutschland – <strong>und</strong> nicht nur dort – war der Stammvater der Philanthropen, Basedow, mit<br />

unvorstellbarer Publicity <strong>und</strong> großem ökonomischen Erfolg mit seinem philanthropischen,<br />

vollständig auf sensualistischer Gr<strong>und</strong>lage aufbauenden Erziehungskonzept unterwegs. Von<br />

den Rationalisten Descartes oder Leibniz wollte man dagegen – trotz des braven Adepten<br />

Christian Wolff – nicht mehr viel wissen. Nein, die Sinnlichkeit in ihr Recht zu setzen war<br />

sicherlich nicht die entscheidende Leistung. Mehr schon, dass Baumgarten ein neues<br />

Verständnis von Kunst als einheitlichem Begriff formulierte <strong>und</strong> nicht mehr nur von additiv<br />

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nebeneinander liegenden Künsten sprach. Allerdings hatte er auch hierbei in dem Franzosen<br />

Batteux einen Vorläufer, der alle Künste auf ein einziges Prinzip zurückführen wollte. Diese<br />

neue „Kunst“ bekam philosophischen Rang im Rahmen der neuen Disziplin <strong>Ästhetik</strong>. Dies<br />

wird man dann angemessen würdigen können, wenn man bedenkt, dass bis ins 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert hinein eine jahrh<strong>und</strong>ertlange Begriffsbestimmung von Kunst als ars (ars auch als<br />

mechanische <strong>und</strong> handwerkliche Kunst) neben dem Verdikt von Kunst des (erst im<br />

Spätmittelalter zu neuen Ehren gekommenen) heidnischen Philosophen Plato noch sehr<br />

präsent war. Anknüpfen konnte Baumgarten bei der Formulierung eines einheitlichen<br />

Kunstbegriffs an wichtige Vorarbeiten etwa von L. Alberti, der neben der bereits von<br />

Aristoteles geadelten Poesie nun auch eine ars pictoria formulierte. Ebenso war die totale<br />

Unterordnung der Kunst unter die Vernunft, die als einziges deren Beitrag zur Wahrheit<br />

gelten lassen wollte, einer allmählichen Einsicht <strong>und</strong> Akzeptanz ihrer nicht-rationalen<br />

Momente gewichen. Es waren sogar die nicht-rationalen Momente, die den Menschen Sorgen<br />

machten, da man in ihnen die Ursache <strong>für</strong> Krieg <strong>und</strong> Zerstörung sah. Es lag also auf der Hand,<br />

dass man eine innere Disziplinierung des Menschen, so wie sie Elias <strong>und</strong> Foucault – freilich<br />

auf unterschiedliche Weise – beschrieben haben auf der Tagesordnung stand. Die sich<br />

entwickelnde <strong>Pädagogik</strong> ist in diesen Kontext einzuordnen.<br />

Lange konnte sich Baumgarten jedoch seiner Leistung, <strong>Ästhetik</strong> als Logik der nicht-rationalen<br />

sinnlichen Erkenntnis begründet zu haben, nicht erfreuen: Denn schon waren die<br />

Meisterdenker des deutschen Idealismus bei der Arbeit, um – auf recht unterschiedliche<br />

Weise – „Schönes“ begreifbar zu machen <strong>und</strong> ganz neue, kompliziert-hintergründige<br />

Mechaniken zur Funktionsweise des Erkenntnisapparates zu entwickeln, in denen sinnliche<br />

Erkenntnis ihren festen Platz – mehr oder weniger hoch geschätzt – haben sollte. Es ist<br />

allerdings im Auge zu behalten, dass <strong>Ästhetik</strong> als Theorie der sinnlichen Erkenntnis (so noch<br />

in Kants Kritik der reinen Vernunft) <strong>und</strong> eine Theorie der schönen Künste zwei<br />

unterschiedliche Theoriestränge darstellen. Erst viel später wurde <strong>Ästhetik</strong> als philosophische<br />

<strong>Kunsttheorie</strong> aufgefasst.<br />

(Baumgarten lebt von 1714 bis 1762, Kant von 1724 bis 1804, Goethe von 1749 bis 1832 <strong>und</strong><br />

Schiller von 1759 bis 1805; es bleibt ihm also vor allem das „kritische Geschäft“ von Kant<br />

erspart.)<br />

Als Theorie sinnlicher Erkenntnis ist <strong>Ästhetik</strong> wie erwähnt zunächst einmal<br />

Erkenntnistheorie. Dort wird sie auch bei Kant ihren systematischen Platz finden: als Teil der<br />

transzendentalen Elementarlehre in der Kritik der reinen Vernunft, die sich mit den „reinen<br />

Anschauungsformen“ Raum <strong>und</strong> Zeit befasst. Der Erkenntnislehre stellt sich als erstes<br />

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gewichtiges Vermittlungsproblem die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der<br />

endlichen, auf das konkrete Einzelne verwiesenen sinnlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> der<br />

prinzipiell unendlichen, auf Allgemeinheit zielenden Vernunft. Das Beziehungsverhältnis<br />

beider <strong>und</strong> die Zuweisung von Priorität entscheidet darüber, ob man Empiriker oder gar<br />

Sensualist oder vielmehr Rationalist ist. Für Baumgarten waren jedenfalls die sinnlichen<br />

Wahrnehmungen nicht aus Vernunft herleitbar – umgekehrt jedoch auch nicht, so dass die<br />

ästhetische Erkenntnis als Vermittlungsinstanz zwischen beiden eingeführt wurde, wobei das<br />

Ästhetische als Wissenschaft vom Konkreten sich mit dieser (niedrigeren) Logik der<br />

Wahrnehmungen befasst. Schönheit <strong>und</strong> Kunst finden hier ihren Platz.<br />

„Erfahrungshorizont bürgerlicher Gesellschaft“ – so benennt Oelmüller die<br />

Rahmenbedingungen des nun vorzustellenden <strong>Ästhetik</strong>-Denkens. Nun: „bürgerliche<br />

Gesellschaft“ bei den vor allem deutschen <strong>Ästhetik</strong>ern? Politisch wurde man in Deutschland<br />

den Adel nach allerlei fehlgeschlagenen Revolutionen erst nach dem ersten Weltkrieg los. Die<br />

untertänigsten Widmungen der Schriften unserer größten Freidenker an ihre Könige<br />

illustrieren dies. Es war schon schwer in Deutschland einen zumindest aufgeklärten<br />

Absolutismus zu bekommen. So richtig offen religionsfeindlich zu sein war auch nicht leicht.<br />

Kant durfte auf Anweisung seines Königs über Religion nicht schreiben! Ethik <strong>und</strong><br />

politisches Denken waren sich daher der Aufmerksamkeit der Obrigkeit stets sicher, zumal<br />

fast alle vorzustellenden deutschen Geistesgrößen in irgendeiner Form im Staatsdienst oder<br />

zumindest im Dienst von staatstragendem Adel waren. <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> Erkenntnistheorie boten<br />

sich daher geradezu an, das Reich der Freiheit wenn schon nicht politisch herzustellen, so<br />

doch zumindest widerspruchsfrei zu denken.<br />

Während in Frankreich die Denker ihre Studienzimmer verließen <strong>und</strong> in großer Zahl ihre<br />

Köpfe verloren – <strong>und</strong> dies nicht bloß sinnbildlich –, rümpfte Schiller die Nase über das in<br />

Deutschland zum Pöbel mutierte peuble, <strong>und</strong> bedankte sich bei dem von Augustenberg mit<br />

seinen (reformistisch <strong>und</strong> nicht revolutionär angelegten) Briefen zur ästhetischen Erziehung<br />

brav <strong>und</strong> untertänigst <strong>für</strong> ein Stipendium. Es gingen auch die drei vom Tübinger Stift (Hegel,<br />

Schelling <strong>und</strong> Hölderlin) vorsichtig auf Distanz zu den französischen Entwicklungen. Freiheit<br />

– sie war bequemer zu denken als zu erkämpfen. Selbst den Frühaufklärern waren die<br />

Weimarer Giganten zu staatsfromm.<br />

Interessant der Gedanke: Zumindest am Schreibpult konnte sich der Geist austoben.<br />

„Kontrafaktisch“, wie man heute sagen könnte, konnte er in der Konstruktion komplizierter<br />

Systeme frei schalten <strong>und</strong> walten, konnte also das tun, was zur Aufgabe von Kunst wurde –<br />

<strong>und</strong> auch heute noch oft als solche gesehen wird: In einem Teilbereich ohne zu starken<br />

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Realitätsbezug die Flucht aus der (heute: zweckrational organisierten <strong>und</strong> dadurch politisch<br />

eingeengten) Wirklichkeit ergreifen – zur Entlastung, zur Kompensation oder auch zum<br />

Auftanken von Kraft <strong>und</strong> Energie, um vielleicht ein wenig von der Denkfreiheit doch noch<br />

„materielle Gewalt“ werden zu lassen. Man wird sehen mit welchem Erfolg. So viel jedoch<br />

bereits jetzt: Das Reich der Freiheit, wie man es sich vorstellte, kam nicht. Was kam, war<br />

zwar ein unvorstellbarer Produktivitätszuwachs, aber auch ein Riesenmaß an Elend. Es kam<br />

nach langen Mühen die formale Demokratie, <strong>und</strong> es kam ihre ständige politische Bedrohung.<br />

Die Entfremdungserscheinungen der Industriegesellschaft: sie waren schon zu spüren, als sich<br />

diese noch gar nicht richtig durchgesetzt hatte. Und beide: Künstler <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>er<br />

reflektierten sie. Teils mutig <strong>und</strong> optimistisch, etwas an der Gestaltung der Gesellschaft<br />

verändern zu können. Teils resignativ. Und diese Haltung ist spürbar: darin, welche Funktion<br />

<strong>und</strong> Wirkung man der Kunst zuschreibt, aber – gerade bei den Künstlern – auch daran, wie<br />

man sich selber im eigenen Leben dazu verhielt. Alle verhielten sich dabei jedoch nicht nur<br />

zur Gesellschaft, sondern zugleich zur „Vernunft“, die man verantwortlich machte <strong>für</strong> deren<br />

Zustand. Kulturkritik war Vernunftkritik, <strong>und</strong> diese – explizit oder implizit – daher stets<br />

Gesellschaftskritik. Allerdings: erstere zu betreiben war risikofreier. Festzuhalten bleibt<br />

bereits an dieser Stelle: Die Kunstpraxis ist zu unterscheiden von der Kunstreflexion. Ob <strong>und</strong><br />

wie sich beide beeinflusst haben, muss in jedem Einzelfall studiert werden. <strong>Ästhetik</strong><br />

wiederum hatte – auch in ihrer kritischen Opposition zur jeweiligen Gegenwart – immer drei<br />

Möglichkeiten:<br />

� Eine harte Kritik an der Entzweiung <strong>und</strong> Entfremdung verb<strong>und</strong>en mit dem Ziel der<br />

Herstellung anderer gesellschaftlicher Verhältnisse (durch Reform oder sogar durch<br />

Revolution).<br />

� Eine Kritik an den Verhältnissen mit dem Ziel, das Rad zurückzudrehen <strong>und</strong> Verhältnisse<br />

wiederherzustellen.<br />

� Eine Kritik an den Verhältnissen mit dem Angebot einer Oase, wo man sich von den<br />

Zumutungen erholen konnte.<br />

Eher selten sind Positionen anzutreffen, die affirmativ den jeweiligen Zustand rückhaltlos<br />

bejahen.<br />

Ästhetische Reflexion ist nicht Kunst, selbst wenn sie manchmal so daher kommt, wenn sich<br />

die Philosophie nicht mehr genug ist <strong>und</strong> zugleich Poesie sein will. Bei beiden lohnt eine<br />

soziologische Betrachtungsweise, die bescheidene Frage nach den Interessen, also danach,<br />

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welcher Gruppe denn das vorgeschlagene Konzept dient, die Frage nach der<br />

Lebenswirklichkeit der Menschen, auf die sich die Reflexionen letztlich beziehen.<br />

Soziologie der Kunst: dies ist inzwischen klassische Disziplin. Soziologie des ästhetischen<br />

Denkens dagegen ist seltsam unterentwickelt, so dass der Untertitel einer aktuellen<br />

<strong>Ästhetik</strong>geschichte eigentümlich anmutet: „Geschichte ihrer Ideologie“ (von Terry Eagleton,<br />

1994). Soziale Ungleichheit war der Entstehungsanlass <strong>für</strong> die Wissenschaftliche Soziologie<br />

im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Ungleichheit war sicher keine bürgerliche Erfindung. Allerdings:<br />

aus der „standesgemäß“ verordneten Ungleichheit herauszukommen: dies war von Anbeginn<br />

das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit waren die anerkannten<br />

Ziele. Was W<strong>und</strong>er, wenn diese immer wieder eingefordert wurden oder man die Wirklichkeit<br />

– resigniert oder ermutigt – daran maß <strong>und</strong> misst?(Siehe hierzu unten mehr).<br />

Doch zurück zu den <strong>Ästhetik</strong>-Konzepten.<br />

„Idealistische <strong>und</strong> romantische Theoretiker <strong>und</strong> ihre Nachfolger bis heute“ so Oelmüller<br />

1982, S. 56, „erwarten vom Schönen <strong>und</strong> Ästhetischen eine Aufhebung der<br />

Entfremdungsprobleme der modernen bürgerlichen Gesellschaft, eine Veränderung der Welt:<br />

einen „ästhetischen Staat“ (Schiller), eine „neue Religion“ (Systemfragment), eine „neue<br />

Kunstreligion“ (früher Hegel), eine „neue Mythologie“ (Schelling), eine Poetisierung des<br />

Lebens <strong>und</strong> der Gesellschaft: Die romantische Poesie ... (will) die Poesie lebendig <strong>und</strong><br />

gesellig, <strong>und</strong> das Leben <strong>und</strong> die Gesellschaft poetisch machen. (Schlegel). Auf solche<br />

Überforderungen des Schönen <strong>und</strong> Ästhetischen folgt bis heute Enttäuschung <strong>und</strong><br />

Ernüchterung. Die Phantasie ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht an die Macht zu<br />

bringen.“<br />

Doch gingen <strong>und</strong> gehen die Versuche weiter.<br />

Kant<br />

In erkenntnistheoretischer Hinsicht war <strong>für</strong> Kant das Problem der sinnlichen Erkenntnis mit<br />

der Kritik der reinen Vernunft gelöst: Er hat die Bedingungen der Möglichkeit von<br />

Erkenntnis, insbesondere von synthetischen Urteilen a priori untersucht mit der bekannten<br />

Lösung, dass das „Ding an sich“ ohnehin nicht erkannt werden kann. Signale der Außenwelt,<br />

Empfindungen, werden durch die „reinen“ (d.h. nicht-empirischen) Anschauungsformen<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit geordnet. Endgültige Ordnung in die zwar vorsortierten, aber immer noch<br />

recht chaotischen Wahrnehmungen bringt der Verstand mit seinen „reinen<br />

Verstandsbegriffen“, den Kategorien. Bloß regulierend hat die Vernunft die Oberaufsicht.<br />

Kants „Kopernikanische Wende“ der Erkenntnistheorie besteht in seiner Lösung des<br />

Problems, wie die reinen, also nicht empirischen Verstandesbegriffe auf die Außenwelt<br />

passen. Die Lösung: Die zwar unabhängig vom Menschen existierende Außenwelt affiziert<br />

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als (letztlich nicht erkennbares) Ding an sich die Sinne. Der Begriffsapparat hat es jedoch<br />

nicht mit der Außenwelt als solcher zu tun, sondern mit einer transzendental vorgeformten<br />

Informationsmenge: die „Außenwelt“ des Erkenntnissubjekts wird durch dessen<br />

Erkenntnisvermögen konstituiert (Abb. 8)<br />

Die Kritik der Urteilskraft (1790) vervollständigt sein „kritisches Geschäft“. Unter „Kunst“<br />

wurde zunächst einmal jedes regelgeleitete Tun verstanden. Neben den handwerklichen artes<br />

mechanicae gab es die artes liberales als Lehrgebiete der Universitäten, die aus dem Trivium<br />

(Grammatik, Rhetorik, Dialektik) <strong>und</strong> dem Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie,<br />

Musik) bestanden. „Künste“ in unserem Sinne fand man etwa als Poesie in den<br />

Sprachwissenschaften, die Bildenden Künste gehörten zu den mechanischen Künsten (man<br />

denke an die Werkstätten der holländischen Maler). Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert bürgerte es sich ein,<br />

anstatt von den „freien“ von den „schönen Künsten“ zu sprechen (Beredsamkeit, Poesie,<br />

Musik, Architektur, Malerei, Skulptur, Politik <strong>und</strong> Mechanik). Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert verbreitete<br />

sich der Gedanke, dass Kunstwerke auch einen Schöpfer haben, der da<strong>für</strong> auch Rechte geltend<br />

machte. Wenn man will, kann man also durchaus die Frage des Urheberrechts <strong>für</strong> die Geburt<br />

des modernen Kunst- <strong>und</strong> Künstlerbegriffs mit verantwortlich machen.<br />

Erst mit dem Werk von Alexander Baumgarten beginnt ein modernes Verständnis von<br />

„Kunst“, das auf zwei Säulen ruht: Zum einen geht es um die Rehabilitation der Sinnlichkeit<br />

(„aisthesis“) gegenüber dem verbreiteten Rationalismus. Zum anderen subsumiert man<br />

zunehmend die verschiedenen Künste unter einem einheitlichen Kunstbegriff (vgl. Plumpe<br />

1993, Bd. 1). Eine entscheidende Theoriearbeit hat dann I. Kant in seiner Kritik der<br />

Urteilskraft (1790) durchgeführt, in der er das Ästhetische in sein philosophisches System<br />

integriert hat. Zunächst einmal vollzieht er auch hier seine „kopernikanische Wende“ zum<br />

Subjekt: Es sind nicht objektive Gestaltqualitäten, sondern Betrachtungs- <strong>und</strong> Urteilsweisen<br />

des Subjekts. In diesem Subjekt gibt es ein freies Spiel der Erkenntniskräfte, das schließlich<br />

zu einem Geschmacksurteil führt. Entsprechend seiner – <strong>für</strong> alle Erkenntnisprozesse –<br />

gültigen Kategorientafel, in der jedoch nur vier Kategorien in diesem Zusammenhang relevant<br />

sind (1. Teil, 1. Abschnitt, 1. Buch: „Analytik des Schönen“), entwickelt er die berühmt<br />

gewordenen Bestimmungen:<br />

� Schön ist, was ohne Interesse gefällt.<br />

� Schön ist, was ohne Begriff allgemein gefällt.<br />

� Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck<br />

� Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt<br />

wird.<br />

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Es sei hier nur angemerkt, dass in der Folgezeit zahlreiche Forscher <strong>und</strong> Philosophen versucht<br />

haben, die bei Kant transzendental vorgegebenen Begriffe in ihrer Genese zu rekonstruieren:<br />

bei Piaget konstituieren sie sich durch tätiges, gegenständliches Handeln, bei Apel <strong>und</strong> in<br />

dessen Folge bei Paetzold (1990) werden sie durch Sprech-Handeln im Rahmen der daher so<br />

genannten Transzendental-Pragmatik begründet. Holzkamp (1983) zeichnet schließlich ihren<br />

Entstehungsprozess anthropogenetisch nach, was dann jeweils ontogenetisch wiederholt wird.<br />

Diese Gedanken sind entscheidend <strong>für</strong> ein zentrales Problem heutiger <strong>Ästhetik</strong>: dem Problem<br />

des Stellenwertes ästhetischer Erfahrung. Wie kommt sie zustande? Wie verhält sie sich zu<br />

anderen Erfahrungsformen? An welchen Gegenständen kann man ästhetische Erfahrungen<br />

machen? Für Paetzold <strong>und</strong> andere in der Tradition von Kant stehende Autoren ist ästhetische<br />

Erfahrung eine Einheit von Sinnlichkeit <strong>und</strong> Reflexion. Bei Schiller ist sie bloß rasch zu<br />

verlassender Ausgangspunkt, um auf dem Wege der ständigen Verfeinerung endlich bei der<br />

erhabenen Rationalität zu landen. Für andere wird ästhetische Erfahrung zum Organon einer<br />

völlig neuen Erkenntnis- <strong>und</strong> Orientierungsmethode <strong>und</strong> in bewusstem Gegensatz zu Vernunft<br />

gesehen, die schon alleine dadurch jeden Anspruch auf Gnade verwirkt hat, weil in ihr die<br />

Ursache <strong>für</strong> den bedauernswerten Zustand der Gesellschaft gesehen wird.<br />

Diese letztere vernunftfeindliche Tradition ist alt: Nietzsche ist sicher ein entscheidender<br />

Autor, der gegen jede Form von Fortschrittsorientierung <strong>und</strong> Allgemeinheit, sei es im<br />

Erkennen, in der Moral, in der Religion zu Felde zieht. Husserl will die Phänomene retten,<br />

gegen die die vernunftgeleitete Wissenschaft blind geworden ist, freilich mit dem Ziel, die<br />

Lebenswelt erneut begrifflich zu rekonstruieren. Und Welsch/Pries (1991) schreiben: „Der<br />

gegenwärtige Vorrang ästhetischer Denkweisen dürfte darin begründet liegen, dass sie in<br />

besonderer Weise geeignet sind, heutige Wirklichkeit zu begreifen“.<br />

Kant bleibt der zentrale Bezugspunkt <strong>für</strong> die Folgezeit. Für Schopenhauer gibt es nur Platon<br />

<strong>und</strong> Kant als Philosophen. Der Neukantianismus ist die einflussreichste philosophische Schule<br />

am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Die Traditionslinie reicht bis zur aktuellen Phänomenologie.<br />

Denn auch – um ein Beispiel zu nennen – Merleau-Ponty (1966) will die Bedingungen der<br />

Möglichkeit zur Welterschließung erhellen <strong>und</strong> sieht als transzendentale Gr<strong>und</strong>lage den Leib.<br />

Ich sehe hierbei vielfältige Anschlussmöglichkeiten zu den hier zugezogenen Autoren<br />

Cassirer <strong>und</strong> Plessner. Dabei könnte die Kategorie des Lebens eine Brückenfunktion zwischen<br />

den unterschiedlichen Ansätzen übernehmen (siehe meinen Aufsatz „Leben als Kategorie der<br />

kulturellen Bildung“ in Liebau/Zirfass 2008).<br />

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Abb. 8<br />

Kant: Das Subjekt im Mittelpunkt<br />

Gesetze der NATUR<br />

<strong>Ästhetik</strong> 1 = sinnliche Erkenntnis transzendentale <strong>Ästhetik</strong>:<br />

reine Anschauungsformen Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

(Teil der Kritik der reinen Vernunft)<br />

Freude am Spiel der beiden<br />

Erkenntnisvermögen Verstand <strong>und</strong><br />

Einbildungskraft<br />

<strong>Ästhetik</strong> 2:<br />

Frage nach Geltung der<br />

Geschmacksurteile<br />

(Kritik der Urteilskraft)<br />

<strong>Ästhetik</strong> im<br />

transzendentalen Sinne<br />

Urteilskraft<br />

Verstand<br />

Erkenntnisvermögen<br />

Einbildungs-Kraft<br />

Lust/Unlust-<br />

Empfindung des<br />

Angenehmen<br />

logische Aspekte des (Geschmacks-)Urteils<br />

Qualität: interesseloses Wohlgefallen = schön<br />

Quantität: schön = was ohne Begriff allgemein gefällt<br />

Relation:Schönheit = Zweckmäßigkeit ohne Zweck<br />

Modalität: Schön = was ohne Begriff als Gegenstand<br />

eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.<br />

Schönheit als Symbol des Sittlich-Guten<br />

sensus communis<br />

aesteticus:Vergemeinschaftung über<br />

Geschmack<br />

Bereich der Vermögen<br />

allgemeinmenschliche<br />

Ebene<br />

Begehrungsvermögen<br />

Vernunft<br />

3 Erkenntnisfelder<br />

(theoretische Vernunft/<br />

praktische Vernunft/<br />

ästhetische Vernunft)<br />

- Subjekt im Mittelpunkt<br />

("Kopernikanische Wende")<br />

- Frage nach der Möglichkeit<br />

synthetischer Urteile apriori<br />

- Suche nach Gründen <strong>für</strong> die<br />

Allgemeingültigkeit (speziell<br />

bei den individuellen<br />

Geschmacksurteilen)<br />

menschliches Handeln<br />

(Kritik der praktischen<br />

Vernunft/<br />

Metaphysik der Sitten)<br />

FREIHEIT<br />

(= Autonomie/Selbstbestimmung)<br />

Wir sehen, dass alle Wege zu Kant führen, sei es in kritischer Weiterentwicklung, sei es in der<br />

totalen Negierung, wie es sie auch bei Hegel gibt. Auch wenn dieser spottet, dass Kant in<br />

seinem transzendentalen Geschäft ständig die Messer schärft, ohne zu schneiden, wenn er ihn<br />

mit einem Schwimmer vergleicht, der ins Wasser springt, ohne zu schwimmen: auch im<br />

Hinblick auf ein zweites Problem neben der Rangzuweisung der ästhetischen Erfahrung hat<br />

Kant Geschichte gemacht. Und dieses zweite Problem lautet in Kants Denkweise: Wie sind a<br />

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priori Geschmacksurteile möglich? Wie sind allgemeingültig Urteile zu fällen, die letztlich<br />

von jedem einzelnen gefällt werden? Es steht also an der Abschluss seines „kritischen<br />

Geschäftes“, die „Kritik der Urteilskraft“ (1790), die nach dem erfolgreichen Einordnen von<br />

Erkennen, Wollen <strong>und</strong> Handeln nun <strong>für</strong> das Gefühl <strong>und</strong> die Phantasie einen systematischen<br />

Platz in der Architektur der menschlichen Vermögen sucht. Der systematische Ausgangspunkt<br />

in der Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit von Geschmacksurteilen<br />

verlagert das Geschehen sofort ins Subjekt. Hierbei ist Kant typisch <strong>für</strong> sein Jahrh<strong>und</strong>ert: Das<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert ist das Jahrh<strong>und</strong>ert der Vernunft, der Aufklärung, der bürgerlichen<br />

Revolution, der <strong>Pädagogik</strong>. Alle diese Charakterisierungen laufen jedoch darauf hinaus, dass<br />

es das Jahrh<strong>und</strong>ert des Individuums ist. Dieses wird zum Mittelpunkt des Nachdenkens, in<br />

ihm wird der Schlüssel zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen. Fichte<br />

<strong>und</strong> mit ihm die Romantik werden den Einzelnen später hoffnungslos in seinen Möglichkeiten<br />

übersteigern: Die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> dieses Denken wurde im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert gelegt. Und Kant ist<br />

der zentrale Vollender dieses Denkens.<br />

Kant fragt danach, was in den Subjekten geschieht, wenn diese urteilen. Und die Begriffe, mit<br />

denen er dies erläutert, sind subjektbezogene Begriffe: das Gefühl der Lust <strong>und</strong> Unlust –<br />

durchaus in der Folge der englischen Moralphilosophen <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>er – etwa ist<br />

entscheidend. Dieses hatte zu tun mit Bedürfnisbefriedigung, <strong>und</strong> Bedürfnisse sind Zweck<br />

unseres Handelns, so dass dieses „zweckmäßig“ ist oder nicht. Das Schöne ruft uns ein<br />

Gefühl der Lust hervor, weil das Wahrgenommene unserem Gefühl von Harmonie entspricht:<br />

Die Welt, so wie wir sie erleben, entspricht unseren Fähigkeiten. Schönheit ist also erlebte<br />

Zweckmäßigkeit, ohne dass die Zwecksetzung gezielt von uns ausgegangen ist. Ebenso wie<br />

Habermas also von einer (idealen) Kommunikationsgemeinschaft spricht, findet sich bei Kant<br />

die ideale Geschmacksgemeinschaft: Wir haben es mit einer ästhetischen<br />

Vergemeinschaftung der bürgerlichen Welt über den Geschmack zu tun (vgl. Eagleton 1994,<br />

S. 79 ff.). Es ist die Herstellung einer Ganzheit – wie gesehen ist es ein zentrales<br />

ideologisches Ziel der bürgerlichen Gesellschaft, ohne Vergewaltigung des Einzelnen<br />

Allgemeines denkbar zu machen –, <strong>und</strong> dies anders als im Erkennen (Subsumieren des<br />

Einzelnen unter ein allgemeines Gesetz) oder Handeln (Subsumieren des Einzelnen unter eine<br />

allgemeine Maxime).<br />

Die Zweckfreiheit von Kunst erhielt im Topos ihrer Autonomie zentrales Gewicht im<br />

gesamten ästhetischen Denken der Folgezeit. Mit diesem Autonomiegedanken wiederum ist<br />

die seither ständig diskutierte Sonder-Rolle des Künstlers in der Gesellschaft verb<strong>und</strong>en, etwa<br />

der Genie-Kult der Romantik. Alles strebt dabei zur Autonomie: Es wollen Philosophie <strong>und</strong><br />

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Wissenschaften unabhängig von der Religion werden, es wollen die Bürger ohne ständige<br />

Eingriffe der Obrigkeit ihren Geschäften nachgehen, es kristallisiert sich ein zunehmend<br />

autonomes System der Literatur, der Bildenden Kunst <strong>und</strong> – später – der Musik heraus. Die<br />

Autonomie im Künstlerischen ist also nur eine Facette einer umfassenden gesellschaftlichen<br />

Tendenz. Interessant ist, dass dieser Autonomiegedanke zu einer Zeit erstmals energisch<br />

formuliert wurde, in der faktisch der Kunstbetrieb in den Warentausch einbezogen wurde.<br />

Kunst, so heißt es in einer Kunstgeschichte, wurde zwar aus der aristokratischen<br />

Abhängigkeit befreit. Sie wurde jedoch nicht dem Volke gegeben – ein Problem, dem sich<br />

insbesondere die Avantgardebewegungen immer wieder stellten. Eine autonome Kunst muss<br />

sich nun nicht mehr gesellschaftlich legitimieren, sie kann ungeniert selbstreferentiell bis hin<br />

zur völligen Abkapselung werden – <strong>und</strong> dies philosophisch-ästhetisch begründen. Diese<br />

Ambivalenz, aus emanzipatorischen Gründen einen Autonomiestatus gewonnen zu haben,<br />

aber gleichzeitig in der ständigen Gefahr, nicht konkrete Utopie als bestimmte Negation des<br />

Seienden, sondern bloß irgendeine Negation zu sein <strong>und</strong> sich damit ihrem gesellschaftlich<br />

motivierten Entstehungsimpuls zu entziehen, bestimmt die kunsttheoretische Diskussion bis<br />

heute.<br />

Dies lässt sich insbesondere in der Aktualität des Erhabenen zeigen, das bei Kant als Pendant<br />

zum Gefühl von Schönheit, das Kunstwerken vorbehalten blieb, sich bei der Betrachtung der<br />

Natur einstellte <strong>und</strong> das heute seinen Zuständigkeitsbereich auch auf Kunst erstreckt.<br />

Eine Parallelität zwischen (autonomem) künstlerischem Wert, der quasi aus sich selbst<br />

entspringt, <strong>und</strong> dem Warenwert, dessen Ursprünge auch möglichst unklar bleiben sollen, zieht<br />

Eagleton (womit wir zugleich wieder bei „Wirkungen <strong>und</strong> Funktionen“ von Kunst sind):<br />

„Die Kunst kann jetzt in der ideologischen Lesart des Ästhetischen allgemeinere<br />

gesellschaftliche Bedeutung insofern gewinnen, als sie paradigmatisch das Bild einer<br />

Selbstreferentialität abgibt, das sich in einer kühnen Gedankenbewegung gerade auf die<br />

Funktionslosigkeit künstlerischer Praxis beruft <strong>und</strong> aus ihr die Vision eines höchsten Gutes<br />

gewinnt. Als Form eines Wertes, der ganz in sich selbst gegründet ist, keinerlei praktischen<br />

Sinn oder Zweck hat, ist das Ästhetische ein beredter Zeuge <strong>für</strong> die obskuren Ursprünge <strong>und</strong><br />

das rätselhafte Wesen eines Wertes in einer Gesellschaft, die solche Werte überall zu<br />

verleugnen scheint. Zugleich ist es der utopische Vorschein einer Alternative zu diesem<br />

beklagenswerten Zustand. Denn was das Kunstwerk gerade mit seiner Zweckfreiheit <strong>und</strong> in<br />

der fortdauernden Bewegung, durch die es sich aus seinen eigenen unergründlichen Tiefen<br />

erhebt, nachahmt, ist nichts weniger als die menschliche Existenz selbst, die ... jenseits ihres<br />

Selbstgenusses keiner logischen Gr<strong>und</strong>lage oder vernunftgemäßen Erklärung bedarf. Dieser<br />

romantischen Doktrin zufolge ist ein Kunstwerk dann besonders reich an politischen<br />

Implikationen, wenn es von herrlichster Zwecklosigkeit ist“. (Eagleton 1994, S. 71.)<br />

Als weiteren Ertrag aus dieser Überlegung ziehen wir die Aussage: Kunst kann nicht nicht<br />

politisch wirken – mag man dies „Funktionalisierung“ nennen oder nicht. Und auch dies<br />

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leistet der Autonomie-Gedanke: „In einer ästhetischen Darstellung erblicken wir sozusagen<br />

einen weiteren Augenblick lang die Möglichkeit nicht-entfremdeter Objekte, die das genaue<br />

Gegenteil von Waren sind“. Aber: „In einer anderen Hinsicht kann dieses formale,<br />

entsinnlichte ästhetische Objekt, das einen Austausch zwischen den Objekten herstellt, als<br />

vergeistigte Version gerade jener Waren aufgefasst werden, denen es sich widersetzt“. (Ebd.,<br />

S. 82.)<br />

Auch dies ein Ertrag: Es wird offenbar keine einfache <strong>und</strong> geradlinige Lösung im Hinblick<br />

auf die Wirkungsmächtigkeit von Kunst geben.<br />

Noch nachzutragen ist eine interessante Deutung des Erhabenen bei Kant: die Begegnung mit<br />

Naturgewalten (so Pries in ihrer Einleitung zu Pries 1989, S. 9) erzeugt Verlust, da sich diese<br />

der Einbildungskraft entziehen. Doch schließlich wird – gemessen an dem unendlichen<br />

Ideenvermögen der Vernunft, also im Rückgriff auf die oberen Etagen unseres<br />

Erkenntnisvermögens – diese Naturgewalt als endliche doch wieder klein, so dass ein<br />

Lustgefühl des Menschen aus dem Überlegenheitsgefühl des Menschen selbst über<br />

Naturgewalten entsteht. Schön daher zu sehen, dass letztlich der Herrschaftswillen des<br />

Subjekts triumphiert – <strong>und</strong> sich der Mensch hierbei wohlfühlt.<br />

Hegel<br />

Vielleicht im Vorgriff auf spätere Kunstentwicklungen: Sehen lehren war sicherlich bei vielen<br />

bildenden Künstlern wichtiges Ziel. Die Wege, die sie einschlagen – etwa den, dass zu diesem<br />

Zweck Gegenständlichkeit erst einmal zerschlagen werden musste – waren durchaus<br />

unterschiedlich. Aber auch das Vertrauen in die Kraft der Sinne generell – <strong>und</strong> nicht bloß in<br />

deren jeweils vorfindliche gesellschaftliche Deformation – war mitunter überraschend gering,<br />

wenn etwa G. Braque, freilich 150 Jahre später als die im Moment verhandelte Zeit,<br />

feststellte: „Die Sinne deformieren, der Geist formt.“ Immerhin teilt diese Skepsis gegenüber<br />

Sinnlichkeit auch Hegel, was sofort plausibel ist, wenn man sich an die Rolle des Geistes in<br />

seiner objektiv-idealistischen Konzeption erinnert: Die Welt als Manifestation des Weltgeistes<br />

mag sich in den geistigen Fähigkeiten des Menschen spiegeln. Allerdings sind nur reines<br />

Denken <strong>und</strong> bestenfalls religiöse Vorstellungen auf den Geist unmittelbar gerichtet: Kunst<br />

vermag dagegen bloß das sinnliche Scheinen der Idee wahrzunehmen. Sie spielt<br />

möglicherweise die Rolle einer Leiter bei dem Erklimmen höherer Stufen des Geistes, hat<br />

aber diese Aufgabe recht rasch erfüllt <strong>und</strong> wird dann in dieser Hinsicht funktionslos. Der<br />

autonome, selbstreferentielle Aspekt wird bei Hegel zu einem wichtigen Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die<br />

Bedeutungseinschränkung von Kunst: gerade weil sie in sich ruht, nur auf sich selbst – <strong>und</strong><br />

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eben nichts anderes – verweist, verweist sie gerade nicht über sich hinaus, ist also geradezu<br />

entwicklungshemmend. Die Ansichten über Kunstwerke bezieht Hegel, prof<strong>und</strong>er Kenner<br />

auch seiner zeitgenössischen Kunst, aus der Antike: Das Kunstwerk ist eine Totalität, wie aus<br />

einem Guss. Es zeichnet sich – als Einheit von Inhalt <strong>und</strong> Form – durch große innere<br />

Kohärenz aus. Wie bei Kant ist Kunst daher Zweckmäßigkeit, allerdings ohne den Zweck,<br />

dass der Weltgeist in seiner Entwicklung in ihr sinnliche Erfüllung finden könnte. Das<br />

Kunstschöne – eben als geistiges Produkt – steht entsprechend dem Entwicklungsgedanken<br />

des Geistes höher als das Naturschöne. Und schön ist – ebenfalls konsequent – das, was einen<br />

geistigen Gehalt, eine „Idee“ anschaulich darstellt (weshalb das Schöne zugleich wahr sein<br />

muss).<br />

V. Kutschera (1989) findet daher in seiner Ausdruckstheorie in Hegel – <strong>für</strong> einen eher<br />

logisch-analytisch orientierten Philosophen immerhin überraschend – einen Gleichgesinnten,<br />

wenn er ihn zustimmend zitiert:<br />

„Der Künstler hat aus der Überfülle des Lebens <strong>und</strong> nicht aus der Überfülle abstrakter<br />

Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der Kunst nicht wie in der Philosophie der Gedanke,<br />

sondern die wirkliche äußere Gestaltung das Element der Produktion abgibt. Denn die<br />

Aufgabe der Phantasie besteht allein darin, sich von jener inneren Vernünftigkeit nicht in<br />

Form allgemeiner Sätze <strong>und</strong> Vorstellungen, sondern in konkreter Gestalt <strong>und</strong> individueller<br />

Wirklichkeit ein Bewußtsein zu geben“ (Hegel Werke 13, S. 364).<br />

Im weiteren Fortgang des Textes beschreibt Hegel dann sehr penibel die Arbeitsweise des<br />

Künstlers.<br />

Von Interesse <strong>für</strong> unser Thema sind Hegels Ausführungen über den Zweck von Kunst (ebd.,<br />

Kapitel III. 3 der Einleitung, S. 64 ff.).<br />

Nachahmung natürlicher Gegebenheiten ist auf alle Fälle nicht der zentrale Zweck, denn<br />

dieser führe nur zu Kunststücken, <strong>und</strong> nicht zu Kunstwerken (S. 69). Auch die Tatsache, dass<br />

Kunst alle möglichen Stoffe vor Anschauung <strong>und</strong> Empfindung bringe, reiche nicht hin, denn<br />

das tue der „räsonierende Gedanke“ auch (S. 32). Eher schon ist es der Zweck, Wildheit der<br />

Begierden zu mildern (S. 73). Und dies erreicht sie durch die Schaffung von Distanz, durch<br />

Aufhebung der unmittelbaren Befangenheit. Zwar unterstützt Hegel auch Horazens Spruch<br />

des prodesse <strong>und</strong> delectare, doch warnt er vor einer zu starken Betrachtung des Zwecks der<br />

Belehrung, wenn damit das Ästhetische bloßes Beiwerk wird (S. 76 f.). Analog verhandelt er<br />

den Zweck der moralischen Besserung.<br />

Aber gerade hier wird die Grenze von Kunst sichtbar: sofern sie bloß als Werkzeug <strong>für</strong> etwas<br />

benutzt wird, was außerhalb von Kunst liegt:<br />

„Hingegen steht zu behaupten, daß die Kunst die Wahrheit in Form der sinnlichen<br />

Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz (nämlich den Gegensatz zwischen<br />

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dem moralischen Gesetz als abstrakt Allgemeinen des Willens, das zugleich mit den<br />

sinnlichen Trieben, den eigensüchtigen Interessen, den Leidenschaften dem Individuum<br />

innewohnt; ebd., S. 79) darzustellen berufen sei <strong>und</strong> somit ihren Endzweck in sich, in dieser<br />

Darstellung <strong>und</strong> Enthüllung selber habe. Denn andere Zwecke wie Belehrung, Reinigung,<br />

Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm <strong>und</strong> Ehre, gehen das Kunstwerk als solches<br />

nichts an <strong>und</strong> bestimmen nicht den Begriff desselben“. (Ebd., S. 82.)<br />

Wir werden sehen, dass Hegel sich in diesem Punkt überraschend mit (post-)modernen<br />

<strong>Kunsttheorie</strong>n deckt.<br />

Nietzsche<br />

Dieser Hinweis auf die Postmoderne erzwingt geradezu eine Thematisierung einer ihrer<br />

wichtigsten Bezugspersonen: Friedrich Nietzsche. Und dies in durchaus systematischer <strong>und</strong><br />

zweckbezogener Weise.<br />

Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist der größte Kritiker der Vernunft <strong>und</strong> ihrer Leistungen.<br />

Verw<strong>und</strong>erlich ist diese Absage an Vernunft, an den Glauben an den Fortschritt nicht, bedenkt<br />

man, welche Realität sich darbietet: In Deutschland wurde jeder Keim von bürgerlicher<br />

Revolution niedergeschlagen. Man kann hierbei die Bedeutung der misslungenen Revolution<br />

von 1848 kaum überschätzen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man vielleicht noch von einem<br />

Gleichklang der Intellektuellen in den verschiedenen europäischen Ländern ausgehen, obwohl<br />

das staatszentrierte Preußen <strong>und</strong> die Tatsache, dass alle relevanten Denker im Staatsdienst<br />

standen, einen großen Einfluss auf die geistige Entwicklung hatte. Doch mit der Niederlage<br />

des Bürgertums beginnt vielleicht nicht der deutsche Sonderweg, aber es erhält das<br />

Sonderwegsbewusstsein in Deutschland kräftige Nahrung. Ab jetzt sucht man nicht mehr im<br />

politischen Alltag, sondern in einem nationalistisch übersteigerten Kulturbewusstsein die<br />

„deutsche Größe“. Während in anderen Gegenden Europas Nationalstaaten entstehen, in<br />

Nordamerika in einem grandiosen Freiheitskampf eine erste bürgerliche Demokratie<br />

entwickelt wird, gibt es in Deutschland nur eine kleinkarierte Klein- <strong>und</strong> Kleinststaaterei, gibt<br />

es eine kleinliche Engstirnigkeit, regiert das Biedermeier. Von der bürgerlichen Gesellschaft<br />

hat Deutschland in dieser Zeit nur die negativen Seiten mitbekommen: Die „ursprüngliche<br />

Akkumulation“ des Kapitals verursacht maßloses Elend, politisch ist auch nicht der Anschein<br />

von Demokratie spürbar, die hegemoniale Macht in Deutschland ist Preußen, in dem nach den<br />

48er Revolutionen schlimmste Reaktion herrscht. Nietzsche mit Friedrich Engels zu<br />

begründen, ist sicherlich ungewöhnlich. Doch zeigt das folgende Zitat den<br />

„Erfahrungshorizont“, in dem Nietzsche seine Ansichten formulierte:<br />

„Wir sahen, wie die französischen Philosophen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts, die Vorbereiter der<br />

Revolution, an die Vernunft appellierten als einzige Richterin über alle, was bestand. Ein<br />

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vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollte hergestellt, alles, was der ewigen<br />

Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahen ebenfalls, dass<br />

diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts anderes war als der idealisierte Verstand des eben<br />

damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers. Als nun die französische<br />

Revolution diese Vernunftgesellschaft <strong>und</strong> diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten<br />

sich da her die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den früheren<br />

Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in<br />

die Brüche gegangen. Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag hatte seine Verwirklichung<br />

gef<strong>und</strong>en in der Schreckenszeit, aus der das an seiner eigenen politischen Befähigung irre<br />

gewordene Bürgertum sich geflüchtet hatte, zuerst in die Korruption des Direktoriums <strong>und</strong><br />

schließlich unter den Schutz des napoleonischen Despotismus. Der verhaltene ewige Friede<br />

war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. Die Vernunftgesellschaft war nicht<br />

besser gefahren“ (MEW 19, S. 192).<br />

Nachdem Engels gezeigt hat, welch unermessliches soziales Elend mit der Realisierung des<br />

„Reiches der Vernunft“ verb<strong>und</strong>en ist (Prostitution, Verbrechen, Verarmung des<br />

Kleinbürgertums), kommt er zu dem Schluss:<br />

„Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die<br />

durch den „Sieg der Vernunft“ hergestellten gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Einrichtungen<br />

als bitter enttäuschende Zerrgebilde“ (ebd.).<br />

Zumindest zwei Reaktionen waren denkbar. Wenn die Vernunft bislang eine solche schlechte<br />

Empirie geschaffen hat, so könnte man dem Individuum diese vernichtenden Empfindungen<br />

dadurch ersparen, dass man die Empirie verändert:<br />

„Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt <strong>und</strong> der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis,<br />

Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten,<br />

dass er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, dass er sich als Mensch<br />

erfährt“. (MEW 2, S. 138.)<br />

Dies war jedoch nicht der Weg Nietzsches. Er destruierte die Vernunft, denunzierte sie als die<br />

irreführendste der Fähigkeiten des Menschen, bedauerte daher den Zusammenbruch der<br />

instinkthaften Natur des Menschen, weil dies ihn erst an die Vernunft ausgeliefert habe. Weil<br />

alles andere: Moral/Ethik, Kultur, Pflicht, weil all dies versagt, bleibt nur der bedingungslose<br />

Wille zur Macht. In der 1871 erscheinenden Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste<br />

der Musik“ (in Bd. 1 der dreibändigen Werksausgabe bei Hanser) entdeckt er das Dionysische<br />

(als das Rauschhafte) <strong>und</strong> das Apollinische (als das Maßvolle <strong>und</strong> Harmonische) als die<br />

Kulturmächte der Antike. Er schreibt gegen Bildungsphilister, gegen das Überhandnehmen<br />

historischen Wissens im Bildungssystem, jubelt zunächst Wagner zu, um sich später abrupt<br />

von ihm zu trennen, weil er sich im Parsifal den christlichen Idealen gebeugt hat. Seine<br />

philosophische Arbeit wird zunehmend dichterischer, das geplante Hauptwerk („Umwertung<br />

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aller Werte“) wird nicht mehr fertig gestellt <strong>und</strong> erscheint in einer äußerst entstellten Form<br />

nach seinem Tode, von seiner Schwester herausgegeben.<br />

Die universelle Verfalldiagnose Nietzsches, die sicherlich in Teilen zutrifft, sowie die eher<br />

lustvolle Bewertung dieses Verfalls, geht einher mit einer Verdrängung aller Topoi der<br />

Aufklärung. Es gibt hierbei insofern eine Wiederholung der Geschichte, als analog zur<br />

Verdrängung von Religion durch Vernunft in der Aufklärung nunmehr Vernunft durch Kunst<br />

verdrängt wird. Habermas skizziert die Ausgangslage wie folgt:<br />

„Das moderne Zeitalter steht vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit. Diese verwirklicht<br />

sich in der Gesellschaft als privatrechtlich gesicherter Spielraum <strong>für</strong> die rationale Verfolgung<br />

eigener Interessen, im Staat als prinzipiell gleichberechtigte Teilnahme an der politischen<br />

Willensbildung, im Privaten als sittliche Autonomie <strong>und</strong> Selbstverwirklichung, in der auf<br />

diese Privatsphäre bezogenen Öffentlichkeit schließlich als Bildungsprozeß, der sich über die<br />

Aneignung der reflexiv gewordenen Kultur vollzieht“.<br />

Und weiter:<br />

„Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklärungsprozesses<br />

erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden kann, wie er willkürlich produziert worden<br />

ist. Der Aufklärung ist die Irreversibilität von Lernprozessen eigen, die darin begründet ist,<br />

daß Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch bessere<br />

Einsichten korrigiert werden können. Deshalb kann die Aufklärung ihre Defizite durch<br />

radikalisierte Aufklärung wettmachen; deshalb müssen Hegel <strong>und</strong> seine Schüler ihre<br />

Hoffnung auf eine Dialektik der Aufklärung setzen, in der sich die Vernunft als Äquivalent<br />

<strong>für</strong> die vereinigende Macht der Religion zur Geltung bringt. Sie haben Vernunftkonzepte<br />

entwickelt, die ein solches Programm erfüllen sollten. Wir haben gesehen, wie <strong>und</strong> warum<br />

diese Versuche gescheitert sind. Hegel konzipiert die Vernunft als versöhnende<br />

Selbsterkenntnis eines absoluten Geistes, die Hegelsche Linke als befreiende Aneignung<br />

produktiv entäußerter, aber vorenthaltener Wesenskräfte, die Hegelsche Rechte als erinnernde<br />

Kompensation des Schmerzes unvermeidlicher Entzweiungen“. (Habermas 1985, S. 104 f.)<br />

Nietzsche geht einen anderen Weg, bei dem Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> eine besondere Rolle spielt:<br />

„Was Nietzsche das „ästhetische Phänomen“ nennt, enthüllt sich im konzentrierten Umgang<br />

einer dezentrierten, von den Alltagskonventionen der Wahrnehmung <strong>und</strong> des Handelns<br />

freigesetzten Subjektivität mit sich selbst. Erst wenn das Subjekt sich verliert, wenn es aus<br />

den pragmatischen Raum-Zeit-Erfahrungen ausschert, vom Schock des Plötzlichen berührt<br />

wird, „die Sehnsucht nach der wahren Präsenz“ (Octavio Paz) erfüllt sieht <strong>und</strong> selbstverloren<br />

im Augenblick aufgeht; erst wenn die Kategorien des verständigen Tuns <strong>und</strong> Denkens<br />

eingestürzt, die Normen des täglichen Lebens zerbrochen, die Illusionen der eingeübten<br />

Normalität zerfallen sind – erst dann öffnet sich die Welt des Unvorhergesehenen <strong>und</strong><br />

schlechthin Überraschenden, der Bereich des ästhetischen Scheins, der weder verhüllt noch<br />

offenbart, weder Erscheinung noch Wesen ist, sondern nichts als Oberfläche. Nietzsche setzt<br />

die romantische Reinigung des ästhetischen Phänomens von allen theoretischen <strong>und</strong><br />

moralischen Beimengungen fort. In der ästhetischen Erfahrung wird die dionysische<br />

Wirklichkeit durch „eine Kluft des Vergessens“ gegen die Welt der theoretischen Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> des moralischen Handelns, gegen den Alltag abgeschottet. Die Kunst öffnet den Zutritt<br />

zum Dionysischen nur um den Preis der Ekstase – um den Preis der schmerzhaften<br />

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Entdifferenzierung, der Entgrenzung des Individuums, der Verschmelzung mit der amorphen<br />

Natur innen wie außen.“<br />

Und weiter:<br />

„Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres<br />

emanzipatorischen Gehaltes. Die subjektzentrierte Vernunft wird mit dem schlechthin<br />

Anderen der Vernunft konfrontiert. Und als Gegeninstanz zur Vernunft beschwört Nietzsche<br />

die ins Archaische zurückverlegten Erfahrungen der Selbstenthüllung einer dezentrierten, von<br />

allen Beschränkungen der Kognition <strong>und</strong> der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der<br />

Nützlichkeit <strong>und</strong> der Moral befreiten Subjektivität“. (Ebd. S. 116 f.)<br />

Besondere Konjunktur erfährt Nietzsche, seit die französische Philosophie ihn zusammen mit<br />

Heidegger (der ein zweibändiges Werk über ihn verfasst) als Apostel einer neuen Weltsicht<br />

entdeckt hat. Auch dies sei daher angemerkt: Es gibt durchaus unterschiedliche Lesarten aller<br />

bedeutenden Philosophen. So konnte Herder sowohl als Begründer der Theorie kultureller<br />

Vielfalt, aber eben auch als früher Ideologe des Nationalsozialismus interpretiert werden. Bei<br />

Nietzsche gehen die Deutungen ebenfalls weit auseinander, wobei es eben auch<br />

Interpretationen gibt, die sich gegen eine aufklärungsfeindliche, bloß reaktionäre<br />

Inanspruchnahme wehren. In dieser Rezeptionssituation mag ein Hinweis auf das weitgehend<br />

vergessene Werk von G. Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft (zuerst 1954) relevant sein, in<br />

dem der Autor die Philosophiegeschichte seit der französischen Revolution als<br />

Niedergangsgeschichte, als Geschichte der Dekadenz beschreibt, in der nach Schelling,<br />

Schopenhauer <strong>und</strong> Kierkegaard, die sich noch unmittelbar mit den „Klassikern“ Kant <strong>und</strong><br />

Hegel auseinandersetzen, Nietzsche eine wichtige Etappe darstellt, auch in seinem Einfluss<br />

auf die dann bis in unsere Zeit wirkende Etappe der Lebensphilosophie, die von W. Dilthey<br />

ihren Ausgang nahm. Diese Dekadenz endet <strong>für</strong> Lukacs mit dem Faschismus, so dass in<br />

seiner Darstellung all die genannten Philosophen zur Vorgeschichte des Faschismus, ja<br />

geradezu zu seiner ideologischen Vorbereitung gezählt werden müssten.<br />

Immerhin: Im Hinblick auf die Frage, wie <strong>Ästhetik</strong>er die Rolle von Kunst bewerten, wie sie<br />

ihre Wirkung beurteilen, kommt Nietzsche sofort ins Blickfeld als jemand, der vielfach die<br />

Kritik der Romantik an der Industriegesellschaft, ihrer kognitiven Gr<strong>und</strong>lage, der<br />

Arbeitsteilung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Zerstörung von Lebenszusammenhängen <strong>und</strong><br />

Ganzheitlichkeit, aufgegriffen, gebündelt <strong>und</strong> radikalisiert hat. Die Konsequenz freilich, die<br />

aus dieser oft zutreffenden <strong>und</strong> von vielen auch so empf<strong>und</strong>enen Kritik gezogen wird, ist<br />

ebenfalls radikal, wobei diese sich <strong>für</strong> die radikale Vernunftkritik der Postmoderne gerade<br />

dadurch anbietet, dass Kunst die Führungsrolle als Orientierungsmedium in der Welt<br />

übernimmt:<br />

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„Die Kunst <strong>und</strong> nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große<br />

Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. (...) Man sieht, daß in diesem Buche<br />

(gemeint ist die Geburt der Tragödie – W.R.) der Pessimismus, sagen wir deutlicher der<br />

Nihilismus, als die „Wahrheit“ gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch<br />

weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden<br />

<strong>und</strong> Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher,<br />

„metaphysischer“ als der Wille zur Wahrheit. (...) Dies Buch ist dergestalt sogar antipessi<br />

mistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das<br />

„göttlicher“ ist als die Wahrheit (...) –, daß Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit“ (XIII, 521<br />

f.). (F. Nietzsche, aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, etwa in der Ausgabe Nietzsche 1960,<br />

Bd. III, S. 692 ff.; hier zitiert nach Ries 1990, S. 121).<br />

Attraktiv <strong>für</strong> die Postmoderne wird diese Position dabei nicht nur wegen der Rolle der<br />

<strong>Ästhetik</strong>, sondern auch dadurch, dass experimentelle ästhetische Selbsterfindung des<br />

Menschen in dieser Position die philosophie-systematische Lücke füllt, die durch den Wegfall<br />

des Topos der „Selbstverwirklichung“ entstanden ist (vgl. Honneth 1994, S. 11 ff.).<br />

Radikale Kritik an einer Gesellschaft, deren Ordnung <strong>und</strong> immanente Logik einen ersten<br />

großen Weltkrieg inzwischen verursacht hat, deren demokratischer Pathos es nicht hat<br />

verhindern können, dass in Italien <strong>und</strong> Deutschland Faschisten die Macht ergriffen haben,<br />

teilen auch die Autoren im Umkreis des Frankfurter Instituts <strong>für</strong> Sozialforschung, die sich<br />

zusammen mit an deren kritischen <strong>und</strong>/oder jüdischen Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern im US-<br />

amerikanischen Exil befanden – sofern ihnen rechtzeitig die Flucht gelungen ist. Dies war die<br />

entscheidende Generationserfahrung dieser kritischen Intelligenz: die Ambivalenz der<br />

Weimarer Republik, Faschismus <strong>und</strong> Krieg <strong>und</strong> dann natürlich Auschwitz.<br />

Eine weitere Ambivalenz betrifft die USA. Das Gefühl, zwar nicht in der Heimat zu sein, aber<br />

Zuflucht <strong>und</strong> notdürftiges Auskommen gef<strong>und</strong>en zu haben; zugleich aber ein entwickelter<br />

Kapitalismus, der ungeniert, vielleicht brutal, aber auch offener als der heimische agiert. Und<br />

dieses gesellschaftliche Klima, die von außen so schwer verständliche Mischung von<br />

tatsächlich vorhandener Freiheit <strong>und</strong> politischer Borniertheit, von Toleranz <strong>und</strong> kleingeistiger<br />

Bigotterie prägt gerade <strong>und</strong> vor allem die Kunst:<br />

„Anders als die europäische Kunst ist die amerikanische unter keinerlei Schuldkomplexen.<br />

Das junge Amerika hatte sich mit keiner humanistischen Kulturtradition auseinanderzusetzen,<br />

ihm fehlten weit zurückreichende technische Erfahrungen <strong>und</strong> auf hohe Qualität bedachtes<br />

Handwerkertum. Seine immensen schöpferischen Energien <strong>und</strong> seinen Zukunftsglauben hatte<br />

es im stürmischen industriellen Wachstum zum Ausdruck gebracht“. (Argon in Lucie-Smith<br />

1985. S. 14.)<br />

Zu dem von Oelmüller (1982) als notwendig zu berücksichtigenden „Erfahrungshorizont“ der<br />

bürgerlichen Gesellschaft gehören also nicht nur Krieg <strong>und</strong> Faschismus als Extreme, sondern<br />

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auch die Normalität des alltäglichen Kapitalismus, wie man ihn kaum besser studieren konnte<br />

als in den USA:<br />

„Auf breiter, noch engagierterer Front sah sich die junge Kunst Amerikas dem gegenüber,<br />

was man gemeinhin „Konsumgesellschaft“ nennt. Der industrielle Apparat wächst an sich<br />

selbst; um sein Wachstum zu beschleunigen <strong>und</strong> seine Hegemonie zu sichern, muß die Menge<br />

der Konsumgüter über alle Bedürfnisse hinaus zunehmen“. (Ebd. S. 15.) Es verw<strong>und</strong>ert also<br />

nicht, wenn die USA nicht nur in ökonomischer, sondern zunehmend in kultureller Hinsicht<br />

die Hegenomie erwarben: „Seit den Anfängen der Moderne haben europäische Künstler den<br />

Atlantik überquert, um sich an Ort <strong>und</strong> Stelle umzusehen ..., nach dem zweiten Weltkrieg aber<br />

erlebte Amerika eine wahre Flut von Besuchern. Der New-York-Aufenthalt schien <strong>für</strong> den<br />

ehrgeizigen jungen Künstler nahezu ebenso wichtig wie einst der Rom-Besuch <strong>für</strong> die Maler<br />

<strong>und</strong> Bildhauer des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts.“ (Lucie-Smith in Lucie-Smith 1985, S. 15.)<br />

Oelmüller formuliert daher – auch aufgr<strong>und</strong> dieser skizzierten Situation – <strong>für</strong> einen Diskurs<br />

Kunst <strong>und</strong> Schönes als „Erfahrungshorizont der Gegenwart“ die folgenden<br />

Rahmenbedingungen:<br />

Anknüpfen an Erfahrungen gegenwärtiger Kunst, die also unter den Lebensbedingungen der<br />

wissenschaftlich-technischen Welt entstanden ist. Interessant <strong>für</strong> uns seine Sichtweise dieser<br />

gegenwärtigen Welt als differenzierte soziale Systeme, zum Beispiel solche der Wissenschaft,<br />

der Wirtschaft, der Technik, der Politik, der militärischen Rüstung, als Ergebnis von<br />

Modernisierungsprozessen ökonomischer, sozialer, politischer, wissenschaftlicher, religiöser<br />

<strong>und</strong> kultureller Art, als letzte Voraussetzung unserer personalen <strong>und</strong> sozialen Identität sowie<br />

unserer Wirklichkeitserklärungen, Handlungsorientierungen <strong>und</strong> Möglichkeiten zur<br />

Kontingenzbewältigung. Weitere Stichworte: räumliche <strong>und</strong> zeitliche Entgrenzung, gerade im<br />

Blick auf Kunst (z.B. Internationalität unserer Kunstrezeption). Und optimistisch: „Er (der<br />

Diskursteilnehmer; M.F.) wird auch feststellen, dass es durchaus Kriterien <strong>und</strong> Gründe da<strong>für</strong><br />

gibt, ob jemand ein Künstler oder ein Scharlatan ist, ob etwas Kunst ist oder eine Ware der<br />

Kulturindustrie, die nur des Profit willens gemacht <strong>und</strong> verkauft wird, ob etwas Kunst ist oder<br />

Kitsch, der nichts zu denken gibt, sondern herrschende Klischees <strong>und</strong> Vorurteile bestätigt <strong>und</strong><br />

verfestigt“. (Oelmüller 1982, S. 60.)<br />

Ein zweites Element des Erfahrungshorizontes betrifft eine Einsicht in die Grenzen der<br />

Wirkungsmöglichkeiten von Kunst <strong>und</strong> – damit verb<strong>und</strong>en – eine Warnung vor einer<br />

Überforderung der Künste. Hier sieht er so unterschiedliche Autoren wie Schelling,<br />

Heidegger <strong>und</strong> Adorno, die gemeinsam den hohen Stellenwert des Kunstwerkes als<br />

„Platzhalter der verlorenen Wahrheit in dürftiger Zeit“ sehen. Er stellt jedoch auch bei<br />

Vertretern einer „mäßigen Überforderung“ (Gehlen: Entlastung; Ritter <strong>und</strong> Marquard:<br />

Kompensation) die uns auch noch zu interessierenden Fragen nach Belegen <strong>für</strong> diese<br />

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Zuschreibungen <strong>und</strong> befragt die Positionen nach ihren – ebenfalls zu belegenden –<br />

anthropologischen Implikationen.<br />

Ein letzter Hinweis betrifft die Berücksichtigung neuer philosophisch-wissenschaftlicher<br />

Methoden (Phänomenologie, Psychoanalyse, Sozialgeschichte, Strukturalismus, Semiotik<br />

u.a.). Allerdings verweist er darauf, dass entsprechende Arbeiten oft da enden, wo die<br />

eigentlichen Fragen erst beginnen.<br />

Die Lebensdaten wichtiger Akteure (ohne Vollständigkeit) im ästhetischen Diskurs sind<br />

gerade im Hinblick auf den beschriebenen „Erfahrungshorizont“ nicht ohne Interesse: Th. W.<br />

Adorno (1903-1969), W. Benjamin (geb. 1892, Selbstmord 1940 auf der Flucht vor der<br />

Gestapo), G. Lukacs (1885-1971), J.P. Sartre (1905-1980), E. Bloch (1885-1977), J. Dewey<br />

(1859-1952), R. Ingarten (1893-1970), A. Gehlen (1904-1976), M. Heidegger (1889-1976),<br />

H. Marcuse (1892-1980).<br />

Zeitgenossen waren sie alle, von ihrem Denken vielfach, zum Teil allerdings sehr<br />

verschlungen aufeinander bezogen. Den ersten Weltkrieg haben bereits alle bewusst erlebt,<br />

ebenso wie die Revolutionen in Russland <strong>und</strong> Deutschland. Die Weimarer Zeit ist die Zeit des<br />

Studiums – <strong>und</strong> dann trennen sich die Wege. Die einen müssen emigrieren, andere<br />

(Heidegger, Gehlen) setzen ihre akademische Karriere im Nazi-Deutschland fort.<br />

Benjamin<br />

Auf W. Benjamin bin ich bereits oben zu sprechen gekommen. Spätestens jetzt ist die<br />

warenmäßig organisierte Industriegesellschaft in ihrem Verhältnis zu Kunst, speziell in den<br />

Kategorien bürgerlich-idealistischer <strong>Kunsttheorie</strong> wie „Kunstwerk“ <strong>und</strong> „Autonomie“ explizit<br />

im Mittelpunkt des Denkens.<br />

Mit den neuen technischen Möglichkeiten wird die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken<br />

nicht erst erf<strong>und</strong>en, diese gab es immer schon (so Benjamin 1963, S. 11). Doch mit der<br />

massenhaften technischen Reproduzierbarkeit entsteht eine neue Qualität; Verlust <strong>und</strong><br />

Echtheit (ebd., S. 14 ff.), eine Entwertung des Hier <strong>und</strong> Jetzt, kurz: der Verlust seiner Aura,<br />

die zugleich die Zerstörung von Tradition bedeutet. Entscheidend – auch im Hinblick auf die<br />

Wirkung, die nun eben nicht mehr die der Kontemplativität des Einzelnen ist –, ist das<br />

entstehende neue Verhältnis der Masse zur Kunst, das sich (u.a.) in der nun möglichen<br />

sichtbaren kollektiven Rezeption etwa des Films zeigt: an dieser Stelle entsteht als neue<br />

Rezeptionsform die „zerstreute Rezeption“ (ebd. S. 47 ff.). Quasi ein Nebenprodukt dieses<br />

kleinen Textes von W. Benjamin ist das im Nachwort aus der Logik der Masse <strong>und</strong> der<br />

Notwendigkeit ihrer Formierung entwickelte Konzept einer „Ästhetisierung von Politik“,<br />

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wodurch der Faschismus eine neue Form von Vergemeinschaftung entwickelt hat, an die Kant<br />

bei seinem Konzept der transzendentalen Geschmacksgemeinschaft wohl noch nicht hat<br />

denken können.<br />

Technik wirkt also bei Benjamin durchaus emanzipatorisch, insofern sie die Hermetik <strong>und</strong> das<br />

Elitäre der Aura zerstört. Und das nicht nur bezogen auf den einzelnen. Vielmehr gewinnt<br />

dieser theoretische Ansatz – auch <strong>für</strong> eine Kunstsoziologie – ihre Bedeutung darin, dass sie<br />

„die Rezeptionsproblematik nicht an der Unmittelbarkeit subjektiven Kunsterlebnisses<br />

festmacht, sondern einen theoretischen Rahmen epochaler Veränderungen der<br />

Rezeptionshaltungen entwirft“ (Bürger in Bürger 1978, S. 16).<br />

Ohne Frage hat dieser Perspektivwechsel großen Einfluss darauf, wie Wirkungen von Kunst<br />

ermittelt werden können: „Nur so kann der Gefahr einer Auflösung der Rezeptionsforschung<br />

in positivistische Einzeluntersuchungen begegnet werden“ (ebd.). Allerdings gerät Benjamin<br />

mit dieser Bewertung der Zerstörung des auratischen Kunstwerkbegriffs in Kollision zu<br />

Adorno. Dieser sieht die Chancen eines warenmäßig organisierten Kunstbetriebs<br />

pessimistisch. Zwar bemerkt er auch „zerstreute Rezeption“, etwa bei der<br />

Unterhaltungsmusik, sieht darin jedoch – ebenso wie in der pädagogischen Musik der<br />

Musikanten r<strong>und</strong> um die musische Bewegung – nur Regression, Substanzverlust, Niedergang<br />

von Subjektivität.<br />

Dewey<br />

Adorno dürfte – auch aufgr<strong>und</strong> seines posthum veröffentlichten Hauptwerks „Ästhetische<br />

Theorie“ (1970) – heute einer der einflussreichsten <strong>und</strong> anregendsten Denker sein. Kein<br />

aktueller Diskurs – sei es der über Erhabenheit oder über Kunstwaren, sei es über ästhetische<br />

Erfahrung oder über das Kunstwerk – kann es sich leisten, auf Adorno zu verzichten.<br />

Interessant ist Adorno auch deshalb, weil er als einer der wenigen <strong>Ästhetik</strong>er als professionell<br />

ausgebildeter Musiker spricht. Meist beziehen sich <strong>Ästhetik</strong>er auf die Literatur oder die<br />

Bildende Kunst. Doch bevor diese Linie verfolgt wird, scheint mir ein kurzer Blick auf J.<br />

Dewey interessant, dessen Leben (<strong>und</strong> Lebenswerk) nicht nur real das Jahrh<strong>und</strong>ert nach der<br />

klassischen deutschen Philosophie bis zur Hoch-Zeit des Kalten Krieges zwischen den<br />

Großmächten erfasst, sondern der auch geistig in die intellektuellen <strong>und</strong> politischen<br />

Auseinandersetzungen dieser Zeit eingespannt ist. Mit Ch. S. Peirce zählt er zu den<br />

Begründern des „Pragmatismus“, der ersten eigenständigen US-amerikanischen Philosophie-<br />

Produktion, die insbesondere in der Person von Peirce unmittelbar an Kant anknüpft. Sein<br />

Erfahrungsfeld ist der oben beschriebene entwickelte Kapitalismus. Seine pädagogischen <strong>und</strong><br />

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politischen Reformvorstellungen lassen ihn in der Zeit nach der Oktoberrevolution zu einem<br />

Sympathisanten des jungen Sowjetstaats (<strong>für</strong> kurze Zeit) werden. Lenins Frau Krupskaja,<br />

zuständig <strong>für</strong> das Erziehungswesen, übernimmt etwa seine Überlegungen zur Projektmethode<br />

(die später in den USA der fünfziger Jahre wegen Sozialismus-Verdacht <strong>und</strong> angeblicher<br />

Ineffektivität ebenso abgelehnt wird wie bereits in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion<br />

wegen des Verdachtes, trojanisches Pferd der bürgerlichen Ideologie zu sein).<br />

Ebenso wie die Avantgarde auf künstlerischer Ebene will J. Dewey (1980) kunsthistorisch die<br />

Kluft zwischen Alltag <strong>und</strong> Kunst – ein Ergebnis des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, dessen sinnfälligster<br />

Aus druck das Verschwinden der Kunstwerke in Museen war – überbrücken auf der Basis<br />

seines pragmatischen Konzeptes von Erfahrung <strong>und</strong> handelnder Lebensbewältigung.<br />

Konsequent (im Rahmen des Pragmatismus) werden Kunst <strong>und</strong> Erfahrung mit Kunst <strong>für</strong><br />

diesen Zweck „instrumentalisiert“: Kunst – ebenso wie Wissenschaft <strong>und</strong> andere Formen<br />

menschlicher Weltbeziehung – wird handelnd erworben <strong>und</strong> hat welterschließende <strong>und</strong><br />

weltaufschließende Funktion. Dem entspricht die Vorstellung Deweys der gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Nichtabgeschlossenheit ästhetischer Erfahrung <strong>und</strong> – als Pendant hierzu auf der Seite der<br />

Kunstwerke – ihrer eigentümlichen Wirkung von Explizitheit <strong>und</strong> Implizitheit: Dinge –<br />

exemplifiziert am Kunstwerk – sind nicht so, wie sie einmal wahrgenommen wurden, sondern<br />

entfalten – auch abhängig von unterschiedlichen Gebrauchs- (<strong>und</strong> Verwertungs-)situationen –<br />

neue Dimensionen der Erkenntnis. Diese Wirkung entfaltet sich jedoch nicht nur durch<br />

handelnden Umgang mit Kunst. Sondern Aufgabe von Kunst wiederum ist es, neues Handeln<br />

zu provozieren. Es finden sich also in dem Deweyschen Konzept von Kunst alle wesentlichen<br />

Elemente des Pragmatismus: Instrumentalisierung in Bezug auf die kognitive Ausstattung des<br />

Menschen <strong>und</strong> deren Produkte, der Entwicklungsgedanke, Handeln <strong>und</strong> die optimistische<br />

Hoffnung <strong>und</strong> Überzeugung, dass der Mensch nicht nur entwicklungsbedürftig, sondern auch<br />

entwicklungsfähig ist. Kunst mag sich oft zu hermetisch vom Alltag entfernt haben, eine<br />

entscheidende Bestimmung, nämlich letztlich auf das Leben des Menschen bezogen zu sein,<br />

wird durch die Verabsolutierung dieser Entwicklung verfehlt: „Kunst ist eine Art der<br />

Voraussage, wie sie nicht in Tabellen <strong>und</strong> Statistiken anzutreffen ist, <strong>und</strong> sie gibt<br />

Möglichkeiten, menschliche Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel <strong>und</strong> Vorschrift,<br />

Ermahnung <strong>und</strong> Verwaltung anzutreffen sind“. (Dewey 1980, S. 402; vgl. Warmuth 2007).<br />

Unverhoffte Aktualität erhält in jüngster Zeit die pragmatische <strong>Ästhetik</strong> von J. Dewey durch<br />

eine Taschenbuchausgabe des Titels „Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Arts.“<br />

(dt.: Kunst leben. Die <strong>Ästhetik</strong> des Pragmatismus) von Richard Shusterman (1994), der auch<br />

biographisch eine spannende Synthese vorstellt: aufgewachsen in der US-amerikanischen<br />

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Tradition der analytischen Philosophie, ein enger Kollege von Richard Rorty, mit der<br />

europäischen, vor allem deutschen <strong>Ästhetik</strong>-Tradition vertraut, zunächst ein Anhänger von<br />

Adorno, der sich zunehmend der Praxis-Philosophie J. Deweys annähert <strong>und</strong> der von P.<br />

Bourdieu eingeladen wird, sein auch in deutscher Fassung vorliegendes Manuskript in der<br />

Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales vorzustellen. Auf der Basis der<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen des Pragmatisums verfolgt er in diesem Buch nicht nur das Anliegen, „Kunst<br />

als Erfahrung“ (J. Dewey) als gegenüber anderen essentialistischen, historischen,<br />

institutionsbezogenen etc. Definitionen von (hoher!) Kunst zu rehabilitieren, sondern zugleich<br />

die <strong>Ästhetik</strong> <strong>für</strong> die populäre Kultur (er diskutiert diese vor allem am Beispiel des Rap) zu<br />

öffnen. Und er tut dies gerade in der Verfolgung der emanzipatorischen Ziele Adornos in<br />

bewusstem Gegensatz sowohl zu diesem als auch zu dem mit der Postmoderne stark<br />

liebäugelnden R. Rorty, indem er systematisch die Borniertheit <strong>und</strong> Haltlosigkeit eines<br />

Begriffes von „hoher Kunst“ durch Ernstnehmen (<strong>und</strong> ad absurdum Führen) vorgeschlagener<br />

Begriffsbestimmungen aufzeigt.<br />

Eine zentrale Rolle spielen hierbei Wirkungsbehauptungen von hoher Kunst, die er als<br />

entweder nicht belegbar beziehungsweise nicht auf diese sinnvoll <strong>und</strong> begrifflich sauber<br />

eingrenzbar nachweist. Shusterman zeigt, wie gerade auch der (stark kommerzialisierte) Rap<br />

trotz seiner Einbettung in die Kulturindustrie leicht strengste Kriterien erfüllt, die im<br />

traditionellen <strong>Ästhetik</strong>diskurs nur der „Kunst“ vorbehalten sind (z.B. Autonomie <strong>und</strong> Distanz,<br />

ebd., S. 173 ff.), er zeigt die enge Verbindung von sozialer (-soziologischer) Betrachtung <strong>und</strong><br />

ästhetischem Ausdruck, zeigt die Verbindung von Kognition <strong>und</strong> Ästhetischem (etwa in<br />

knowledge rap), <strong>und</strong> er zeigt dies in minutiösen Detailanalysen, etwa in Textvergleichen<br />

zwischen T.S. Eliot <strong>und</strong> dem Titel „Talkin' All that Jazz“ der Gruppe 'Stetsasonic' aus dem<br />

Jahre 1988. In all diesen sorgfältigen Analysen verrät Shusterman seine Herkunft in der<br />

Analytischen Philosophie mit ihrer begrifflichen Pedanterie.<br />

So interessant nun dies auch sein mag, man wird diese „Rehabilitation“ von Popularkultur nur<br />

dann als nötig <strong>und</strong> provozierend empfinden, wenn man äußerst selbstgewiss ein hinreichend<br />

enges <strong>und</strong> konservatives Kunstkonzept hat, das ohnehin bei jeder neuen Kunstwelle zur<br />

Disposition steht (hier steckt – wie gesehen – das Problem etwa bei Adornos jeweils<br />

„fortschrittlichstem Material“, da ein Motor in der Entwicklung der Künste der ständige<br />

Versuch ist, jeweils aktuelle Auffassungen von Kunst zu sprengen). Vieles an Brisanz, mit der<br />

Shusterman seine Überlegungen präsentiert, verliert sich, wenn man der heute praktizierten<br />

(<strong>und</strong> etwa von Paetzold 1990 systematisch begründeten) Zweiteilung des <strong>Ästhetik</strong>-Geschäfts<br />

folgt, nämlich neben einer Konzeption des Kunstwerks eine Theorie der ästhetischen<br />

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Erfahrung begründen zu müssen, so dass auf alle Fälle ein Ignorieren der Popular-Kultur –<br />

sollte eine zu enge <strong>Kunsttheorie</strong> dies nahelegen – spätestens unter der Perspektive der<br />

„ästhetischen Erfahrung“ wieder rückgängig gemacht werden müsste, also geradezu eine<br />

theoretische Rückkopplungsschleife eingebaut ist.<br />

Diese Überlegung sollte jedoch nicht dazu führen, sich nicht auf die Diskussion der präzisen<br />

Analysen von Shusterman einzulassen. Dies gilt vor allem <strong>für</strong> seine Auseinandersetzung mit<br />

der Postmoderne, insbesondere mit einem von ihm identifizierten Hauptzug, einer<br />

„Ästhetisierung der Ethik“, die er an dem auch im deutschen Diskurs zunehmend<br />

einflussreicher werdenden Richard Rorty (Ideal des ästhetischen Lebens des Ironikers, vgl.<br />

Rorty 1992) diskutiert <strong>und</strong> damit die typisch anglo-amerikanische (<strong>und</strong> französische)<br />

Mischung von Wittgenstein, Nietzsche <strong>und</strong> Heidegger aufs Korn nimmt, die zum Kern der<br />

postmodernen Philosophie gehört. Dies ausführlich zu diskutieren gehört jedoch in einen<br />

anderen Kontext, auch wenn diese Ästhetisierungsdiskussion kultur- <strong>und</strong><br />

gesellschaftspolitisch aufmerksam beobachtet werden muss (Häußermann/Siebel 1993). Denn<br />

der Verdacht liegt meines Erachtens nahe, dass sich G. Fülberths damalige Kritik am Konzept<br />

der Zivilgesellschaft auch auf den sorgsam seine Privatethik vor der Öffentlichkeit<br />

abschottenden Rorty anwenden lässt: „Hier äußert sich der metropolitane Citoyen, welcher<br />

sich beim Genuß der Wonnen, welche ihm der Imperialismus bietet, nicht gern durch zu viel<br />

Staat stören läßt <strong>und</strong> schnell rebellisch wird <strong>und</strong> wehklagt, wenn es ihm nicht zivil genug<br />

zugeht.“ (Fülberth 1991, S. 48).<br />

Marcuse<br />

Neben der wirkungsmächtigen Diskussion der Kulturindustrie, die – wie oben erwähnt – etwa<br />

in dem „soziologischen Lehrstück“ des Dreigroschenprozesses Jahre vor ihrer<br />

Veröffentlichung durch Adorno <strong>und</strong> Horkheimer im Jahre 1945 exemplarisch von Brecht<br />

Anfang der dreißiger Jahre durchexerziert wurde, hat Marcuse vor allem 1937 in dem in der<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Sozialforschung – damals noch aus dem Pariser Exil herausgegeben –<br />

erschienenen Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“ mit der idealistischen<br />

<strong>Ästhetik</strong> des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen abgerechnet. Die ideologische Funktion der Kultur<br />

in der bürgerlichen Gesellschaft wird nur staatserhaltend – eben affirmativ – gesehen:<br />

„Auf die anklagenden Fragen gab das Bürgertum eine entscheidende Antwort: die affirmative<br />

Kultur. Sie ist in ihren Gr<strong>und</strong>zügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums<br />

antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit<br />

der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus<br />

mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen<br />

Gesellschaft all diese Ideen einen fortschrittlichen, über ihre erreichte Organisation des<br />

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Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich<br />

stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener<br />

Massen <strong>und</strong> der bloß rechtfertigenden Selbsterhebung. Sie verdecken die leibliche <strong>und</strong><br />

psychische Verkümmerung des Individuums“ (Marcuse 1965, S. 11).<br />

Marcuse ist auch skeptisch im Hinblick auf die These, die Bloch als „Vorschein einer Utopie“<br />

der Kunst zuschreibt:<br />

„Die Kultur soll die Frage <strong>für</strong> den Glücksanspruch der Individuen übernehmen. Aber die<br />

gesellschaftlichen Antagonismen, die ihr zugr<strong>und</strong>e liegen, lassen den Anspruch nur als<br />

verinnerlichten <strong>und</strong> rationalisierten in die Kultur eingehen“ (ebd., S. 67 f.). „Kulturelle<br />

Bildung“, so Marcuse,“ hat dabei Sorge da<strong>für</strong> zu tragen, daß die Realisierung von<br />

Glücksansprüchen nicht durch Veränderung der materiellen Lebensordnung, sondern durch<br />

„ein Geschehen in der Seele des Individuums“ herbeigeführt wird: Humanität als (bloß)<br />

innerer Zustand (ebd., S. 71).<br />

Die nicht mehr vorhandene Einheit von Schönheit <strong>und</strong> Wahrheit wird auch an ihren<br />

unterschiedlichen Wirkungen deutlich:<br />

„Die Schönheit der Kunst ist – anders als die Wahrheit der Theorie – verträglich mit der<br />

schlechten Gegenwart, in ihr kann sie Glück gewähren. Die wahre Theorie erkennt das Elend<br />

<strong>und</strong> die Glücklosigkeit des Bestehenden. Auch wo sie den Weg zur Veränderung zeigt,<br />

spendet sie keinen Trost.“ (Ebd. S. 86.).<br />

Ausdruck da<strong>für</strong>, dass diese Trennung von (schlechter) Lebenswelt <strong>und</strong> (idealer) Schönheit hat<br />

stattfinden können, war die in Deutschland praktizierte Unterscheidung der Begriffe „Kultur“<br />

<strong>und</strong> „Zivilisation“. Zur Möglichkeit einer nicht-affirmativen Kunst in der bürgerlichen<br />

Gesellschaft findet sich bei Marcuse wenig Konkretes, eher der Hinweis auf die stets<br />

vorhandene Ambivalenz zwischen der Versöhnung mit der (schlechten) Welt <strong>und</strong> dem<br />

Wachhalten des Bewusstseins einer möglichen besseren Wirklichkeit.<br />

Dabei steht nicht das einzelne Kunstwerk im Mittelpunkt seines Interesses, sondern eher das<br />

„Ästhetische“ insgesamt im Rahmen einer materialistischen Kultur-(<strong>und</strong> nicht Kunst-)theorie.<br />

Die zentrale Wirkungstheorie bei Marcuse (vgl. Paetzold 1974, S. 105 ff.), die Katharsis –<br />

man erinnere sich an die Affinität Marcuses zu Freud – enthält diese Ambivalenz zwischen<br />

Versöhnung mit der Welt <strong>und</strong> kritischer, schreckhafter Entzweiung.<br />

Bei Gehlen (vgl. Gehlen 1986) siegt später entschieden der resignative Anteil: die die<br />

Gesellschaft stabilisierenden Institutionen siegen gegenüber dem ohnmächtig rebellierenden<br />

Subjekt, so dass diesem nur noch entlastender Reflexionsgenuss ohne eine Erschütterung der<br />

Gesellschaft verbleibt.<br />

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Falsch, weil hoffnungslos ist diese Position, weil damit letztlich die auch kritische Potentiale<br />

freisetzende Trennung von Kunst <strong>und</strong> Leben kultur-industriell eingeebnet werden würde.<br />

Interessant daher die Überlegungen Paetzolds zu einer nicht-affirmativen, aber auch nicht<br />

werkorientierten <strong>Ästhetik</strong>:<br />

„Die Theorie nicht werkorientierter <strong>und</strong> ästhetischer Erfahrungen müßte in enger Beziehung<br />

zu der von der Tradition her vertrauten Werkästhetik konstruiert werden: denn einmal kann<br />

dies schon darüber belehren, daß die Kritik am ästhetischen Schein als einem fetischhaften<br />

Sein höherer Ordnung von der modernen Kunst selbst in Gang gesetzt wurde. Diese reduziert<br />

die dem Ästhetischen als solchem anhaftenden affirmativen Züge <strong>und</strong> vor allem das<br />

Chimärische einer solch erreichten Versöhnung. Dieser Vorgang der Kritik ... fördert die nicht<br />

am Werk orientierte <strong>Ästhetik</strong>. <strong>Ästhetik</strong>-Theorie hat über die moderne Kunst hinaus als<br />

Fluchtpunkt Ästhetisches ins Auge zu fassen, das dem gesellschaftlichen Leben ohne Verlust<br />

konstitutiv inhärent geworden wäre <strong>und</strong> das nicht nur dessen kritisches Gegenbild im<br />

„unpraktischen Werk“ verkörpert“. (Paetzold 1974, S. 136).<br />

Adorno<br />

Adorno – im Hinblick auf die Rolle der Kulturindustrie eher noch skeptischer als Marcuse<br />

(vgl. etwa das entsprechende Kapitel in Horkheimer/Adorno 1971, S. 108 ff.) will im<br />

Gegensatz zu dessen Position nicht auf den Kunstwerkbegriff verzichten – <strong>und</strong> dies wiederum<br />

in – von Marcuse geteilter – gesellschaftskritischer <strong>und</strong> emanzipatorischer Absicht. Kunst als<br />

Erkenntnis – dies ist auch eine entscheidende Aufgabenbestimmung bei Adorno. Allerdings<br />

ist <strong>für</strong> den gelernten Musiker <strong>und</strong> Komponisten (Adorno ist Schüler von A. Berg) klar, dass es<br />

sich um eine andere Form als um diskursive begriffliche Erkenntnis handelt.<br />

Adorno will – wie erwähnt – den Kunstwerkbegriff retten. „Kunstwerke sind Nachbilder des<br />

empirisch Lebendigen, soweit sie diesem zukommen lassen, was ihnen draußen verweigert<br />

wird, <strong>und</strong> dadurch von dem befreien, wozu sie ihre dinghaft-auswendige Erfahrung zurichtet.“<br />

(Adorno 1970, S. 14). Sie beziehen sich also (mimetisch) auf eine Wirklichkeit,<br />

transzendieren sie jedoch (im Glücksfall), sie sind autonom <strong>und</strong> zugleich fait social (ebd., S.<br />

16), haben auf alle Fälle – einmal entstanden – ein „Leben sui generis“, auch unabhängig von<br />

den Entstehungsbedingungen <strong>und</strong> Absichten des Künstlers (ebd., S. 15): „Kunstwerke gehen<br />

nicht in ihrer Genese auf.“ (S. 400). Kunstwerke sind Träger von Wahrheit <strong>und</strong> fordern daher<br />

vom Betrachter Erkenntnis (ebd., S. 30): „Dem Hegelschen Satz, den Brecht als Devise sich<br />

erkor: die Wahrheit sei konkret, genügt vielleicht im Zeitalter des Grauens nur noch die<br />

Kunst. Das Hegelsche Motiv von der Kunst als Bewußtsein von Nöten hat über alles von ihm<br />

Absehbare hinaus sich bestätigt.“ (Ebd., S. 35). Doch stets wirkt – eben auch auf diese Weise<br />

– der Aspekt, fait social zu sein, was hier heißt: Teil von Kulturindustrie zu werden. Und<br />

diese lässt – anders als bei Benjamin – nicht die geringste Chance emanzipatorischen<br />

Wirkens: „Entkunstung von Kunst“ betreibt sie (S. 32), sie wird schließlich – da Kunst als<br />

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Ware zum Ding unter Dingen wird – Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die unzulängliche rein psychologische<br />

Betrachtungsweise von Kunst, bei der ohne Anstrengung des Begriffs man sie bloß als<br />

Projektionsfläche <strong>und</strong> Vehikel <strong>für</strong> die Psychologie des Betrachters missbraucht. Hier ist bei<br />

Adorno der systematische Platz ästhetischer Bildung, insofern diese den Widerstand dagegen<br />

schult, dass Kunst bloßes Konsumgut wird, sondern vielmehr dem Rezipienten substantiell<br />

werden lassen soll, was ein Kunstwerk ist. Allerdings: „Von solcher Bildung ist Kunst heute,<br />

bereits bei den Produzierenden, weithin abgeschnitten.“ (S. 500).<br />

Zeitgenössische Kunst muss notwendig abstrakt sein – man erinnere sich an Oelmüllers<br />

Forderung, dass sich <strong>Ästhetik</strong> auf diejenige Kunst beziehen möge, die in dieser unserer<br />

wissenschaftlich-technischen Welt entstanden ist <strong>und</strong> sich auf diese bezieht –, denn diese<br />

Welt ist selber abstrakt, da sie durch den inhaltsnegierenden Tauschwert vexiert wird. Kunst<br />

ist daher als abstrakte Kunst „Mimesis des Verhärteten“, des verdinglichten Bewusstseins in<br />

der verwalteten Welt.<br />

Adorno ist sich mit Hegel einig in der höheren Bewertung des Kunstschönen gegenüber dem<br />

Naturschönen: denn dessen Schönheit ist bloß die abstrakter Verständigkeit (S. 118). Dagegen<br />

zielt künstlerische Erfahrung <strong>und</strong> deren Reflexion, die „<strong>Ästhetik</strong>“, auf konkrete<br />

Allgemeinheit, auf Nachvollzug der den Kunstwerken immanenten Logizität (S. 371 f.).<br />

Kunst ist kritisch, wenn sie das Bewusstsein des Leidens wach hält <strong>und</strong> von der Idee des<br />

„richtigen Lebens“ zehrt. Sie ist Statthalter einer besseren Praxis. Dem Warenfetisch kann sie<br />

nur als autonome Kunst entgehen: Das Kunstwerk ist autonomer Sinnzusammenhang – dies<br />

ist der „ästhetische Schein“, der erst dann sich auflöst als bloßer Schein, wenn die<br />

Gesellschaft sich ändere, so dass Schein als von ihr abgespaltene Sphäre von Sinn nicht mehr<br />

notwendig ist. Ästhetischer Schein ist also „hypothetisch-kontingentes Versprechen einer<br />

sinnvollen Einrichtung der Gesellschaft“ (Paetzold 1974, S. 90). Und dies leistet nur<br />

avancierte Kunst, nämlich dass sie „(neben der Theorie) in der industriellen<br />

Herrschaftsgesellschaft, nach dem geschichtlichen Ende der vom Proletariat wesentlich<br />

getragenen Emanzipationsbewegung, einen Modus gesellschaftlicher Kritik verkörpert, <strong>und</strong><br />

zwar sowohl hinsichtlich der Zwecke der Gesellschaft als auch hinsichtlich dessen, was die<br />

Gesellschaft sich selber dünkt.“ (Ebd., S. 73).<br />

Kunst spricht also – kraft ihrer Formen – <strong>für</strong> das Kontingente, Sinnliche, Nichtidentische, ist<br />

in dieser Weise nicht-rationale Vernunft, die sich gegen die alltägliche irrationale Rationalität<br />

richtet (Eagleton 1994, S. 361). Und dies leistet gerade nichtgegenständliche Kunst, denn je<br />

mehr sich Kunst – auch im Protest – auf etwas bezieht, desto mehr zeigt sie gemeinsames<br />

Einverständnis damit. (Ebd., S. 359).<br />

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Avancierte Kunst dagegen, das „fortschrittlichste Material“, lässt <strong>für</strong> einen kurzen Augenblick<br />

erkennen, was es bedeuten könnte, frei zu sein: „Kunst ist vielleicht die einzig verbliebene<br />

nicht-verdinglichte, nicht-instrumentalisierbare Tätigkeit.“ (Ebd., S. 380).<br />

Eagleton fasst diese Position wie folgt zusammen:<br />

„Zunächst glaubt man einen Moment lang ein wenig naiv, die herrschende Ordnung durch<br />

bestimmte ästhetische Inhalte untergraben zu können. Doch gerade weil diese Inhalte<br />

erkennbar <strong>und</strong> einsichtig sind sowie den Gesetzen der Grammatik gehorchen, fallen sie der<br />

gesellschaftlichen Logik zum Opfer, gegen die sie sich wenden. Sie mögen radikal sein,<br />

immerhin aber handelt es sich bei ihnen um Kunst. Sie mögen etwas Unappetitliches<br />

darstellen, aber sie tun es zumindest mit jener skrupellosen Treue gegenüber dem Original,<br />

die den pornographischen Hunger der bürgerlichen Klasse nach Wirklichkeit zufriedenstellt.<br />

Also muß man wohl die Inhalte ablegen <strong>und</strong> nur die Formen zurückbehalten, die in ihren<br />

positiveren Momenten ein Glücksversprechen oder eine organische Versöhnung verbinden<br />

<strong>und</strong> die in ihren negativen Momenten eine schroffe <strong>und</strong> nicht artikulierbare Opposition zum<br />

Gegebenen aufweisen. Doch auch jede dieser Formen unterliegt dem Verdikt, das Herbert<br />

Marcuse über „affirmative Kultur“ gefällt hat. Gerade die künstlerische Vollendung der Kunst<br />

bewirkt, auch wenn sie jetzt nur das Problem der reinen Form ist, eine falsche Sublimierung,<br />

die eben jene Energien bindet <strong>und</strong> verschwinden läßt, die sie <strong>für</strong> die Zwecke einer politischen<br />

Veränderung freizusetzen hoffte. Wir stolpern hier über den Widerspruch aller Utopien, daß<br />

schon die Bilder der von ihnen entworfenen Harmonie die radikalen Antriebe zu zerstören<br />

drohen, die sie zu fördern hoffen. Also muß auch auf die Form, wie rein <strong>und</strong> leer sie auch<br />

immer sein mag, verzichtet werden. Übrig bleibt dann nur die Anti-Kunst, eine Kunst also,<br />

die von der herrschenden Ordnung nicht anzueignen ist, weil sie – <strong>und</strong> das ist ihre letzte<br />

Verschlagenheit – überhaupt keine Kunst ist. Wenn sich Anti-Kunst jedoch nicht aneignen<br />

<strong>und</strong> institutionalisieren läßt, weil sie sich vorab schon weigert, sich von der gesellschaftlichen<br />

Praxis zu distanzieren, dann wirft das die Frage auf, wie sie sich dadurch um jede<br />

Kritikmöglichkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Leben bringt.“ (Ebd., S 381 f.).<br />

Paetzold fasst seine Darstellung neomarxistischer <strong>Ästhetik</strong>en (Bloch, Marcuse, Adorno,<br />

Benjamin) wie folgt zusammen:<br />

1. Kunst ist nicht bloße Reproduktion <strong>und</strong> Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern – wie<br />

in der klassischen deutschen Philosophie – Organon von Wahrheit. Ästhetisches wird zum<br />

Versprechen einer erst noch zu entwickelnden gesellschaftlichen Ordnung, wird zum<br />

Schein.<br />

2. Kunst wird zu spezifischem Paradigma von Rationalität, das zugleich Kritik des<br />

wissenschaftlichen <strong>und</strong> des Alltagsverstandes ist.<br />

3. Die Zwecklosigkeit ästhetischer Objekte ermöglichen eine Kritik der gesellschaftlich<br />

dominierenden Zweck-Mittel-Relationen. Ästhetischen Gebilden kommt eine relative<br />

Autonomie zu.<br />

4. Kunst entsteht zwar in konkreten gesellschaftlichen Konstellationen, bleibt aber durch das<br />

bisher Gesagte der Wirklichkeit gegenüber fremd, distanziert, war erst deren Erkenntnis<br />

ermöglicht. Künstler betreiben daher eine bewusst vollzogene „künstlerische<br />

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Entfremdung“ von dieser Gesellschaft in kritischer Absicht. Es gibt ein mögliches<br />

zweifaches Misslingen von Kunst: das Ende von Kunst in der Kulturindustrie <strong>und</strong> das<br />

Verbot ästhetischer Erfahrung in einer totalitären Gesellschaft.<br />

5. Ein Ende von Kunst – als deren „Aufhebung im Hegelschen Sinne“ – kann erreicht<br />

werden dadurch, dass aus (ästhetischem) Schein Realität wird, sich also die schlechte<br />

Realität in eine gute sich ändert.<br />

In systematischer Hinsicht hat Paetzold (wie andere auch) die zweifache<br />

Begründungsnotwendigkeit von ästhetischer Theorie herausgearbeitet: als Theorie<br />

ästhetischer Wahrnehmung <strong>und</strong> als Werkästhetik, die er später systematisch aus der Sicht<br />

einer „transformierten Transzendentalphilosophie“ (auf der Gr<strong>und</strong>lage der Überlegungen von<br />

K.O. Apel) entfaltet hat (Paetzold 1990).<br />

Die aktuelle kunsttheoretische Diskussion: der halbierte Adorno<br />

Postmoderne<br />

Mit diesem Hinweis sind wir bei der aktuellen <strong>Ästhetik</strong>diskussion angelangt, an der, wie<br />

bereits Jean Paul in bezug auf die Romantik vermerkte, heutzutage kein Mangel ist. Dabei<br />

wurde der bislang gut geordnete <strong>Ästhetik</strong>diskurs, bei dem die bisher in den<br />

Kapitelüberschriften einschlägiger Textsammlungen unterschiedenen Schulen (vgl.<br />

Henrich/Iser 1994) zwar unterschiedlich lebendig, jedoch brav nebeneinander friedlich<br />

koexistierten, durch den Angriff der Postmoderne, vor allem vorangetrieben durch<br />

französische Philosophen, kräftig aufgemischt.<br />

Der „Erfahrungshorizont“ der bürgerlichen Gesellschaft bekam insofern einen neuen Akzent,<br />

als es – möglicherweise – in der Binnenstruktur dieser Gesellschaft zu erheblichen<br />

Veränderungen gekommen ist (vgl. Honneth 1994), dieser Gesellschaftstyp durch das<br />

erzwungene Abdanken sozialistischer Gesellschaftstypen quasi Monopolcharakter erhielt, auf<br />

der ideologisch-philosophischen Ebene ein – eben: postmodernes – kritisches Verhältnis zu<br />

den vermuteten geistigen Gr<strong>und</strong>lagen der Moderne (Aufklärung, Fortschritt, Vernunft etc.)<br />

inzwischen nicht mehr bloß eine akademische Außenseiterrolle spielt, sondern geradezu<br />

Mainstream-Position geworden ist: Die bürgerliche Gesellschaft hält sich ihre Kritiker in<br />

einer solch überraschend bedeutenden <strong>und</strong> gehätschelten Art <strong>und</strong> Weise, dass man geradezu<br />

gezwungen ist, sich nach der Funktionalität dieser „Kritik“ zu fragen, sei es, dass die<br />

bürgerliche Gesellschaft irre wird an ihrem Erfolg, sei es, dass ein neues Bewusstsein über ein<br />

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gewachsenes destruktives Potential in dieser Gesellschaft entstanden ist, <strong>für</strong> dessen Steuerung<br />

nunmehr eine neue Orientierungsleistung gesucht wird.<br />

Modethemen sind in der heutigen <strong>Ästhetik</strong>diskussion „Das Erhabene“ (Preis 1989), oft<br />

verb<strong>und</strong>en mit einer Thematisierung einer neuen Naturästhetik (Böhme 1989, 1992; Seel<br />

1991), <strong>und</strong> dies wiederum oft verb<strong>und</strong>en mit einer Diskussion des Körpers (D. Kamper).<br />

Ästhetische Wahrnehmung, beziehungsweise Wahrnehmung insgesamt, wird unter der<br />

Perspektive der Entwicklung neuer elektronischer Medien verhandelt („virtuelle Realitäten“;<br />

P. Virilio, Baudrillard). „Dekonstruktion“ ist das Zauberwort, das J. Derrida eingebracht hat,<br />

hier mit dem gemeinsamen Anliegen von Lyotard, die großen Meta-Erzählungen der<br />

klassischen Philosophie radikal in Frage zu stellen. Es gibt bei den neuen Philosophen<br />

unterschiedliche Bezüge auf Kunstbereiche: Lyotard bezieht sich oft auf bildende Kunst,<br />

Baudrillard ist Medientheoretiker, Derrida ist u.a. Literaturtheoretiker. Adorno war wie<br />

erwähnt einer der wenigen <strong>Ästhetik</strong>er, die sich bei ihren Bemühungen um eine philosophische<br />

<strong>Ästhetik</strong> auf Musik bezogen. Theater <strong>und</strong> Tanz spielten lange als empirische Bezugsgrößen<br />

<strong>für</strong> die <strong>Ästhetik</strong> fast keine Rolle. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert, seit das<br />

Performative – etwa über die Arbeiten der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte – an<br />

Relevanz gewonnen haben.<br />

Ohne auch nur annähernd hier den Anspruch erheben zu wollen, dieses schillernde Phänomen<br />

der Postmoderne als <strong>Kunsttheorie</strong>, Gesellschaftslehre, Zeitgeist- <strong>und</strong> Feuilletonerscheinung<br />

etc. beschreiben zu wollen, will ich einige Beobachtungen mitteilen. Die erste ist die bereits<br />

vermerkte Feststellung einer großen Komplexität <strong>und</strong> eines großen Reichtums an<br />

Überlegungen zu den unterschiedlichsten Fragen <strong>und</strong> Wissensgebieten. Da<strong>für</strong>, dass ein<br />

wichtiges Anliegen darin besteht, die Unmöglichkeit globaler Systementwürfe zu zeigen, ist<br />

nicht bloß eine Fülle, sondern sogar eine Fülle von systematisch aufeinander bezogenen<br />

Theoriestücken in den letzten Jahren entstanden.<br />

Das „Universum postmodernen Wissens“ erfasst die Gesellschaftstheorie (Auflösung des<br />

sozialen Zusammenhangs, Desintegration, Individualisierung), die Subjekttheorie („Tod des<br />

wirklichkeitsmächtigen Subjekts“; Probleme, authentische Identitäten zu entwickeln; Verlust<br />

der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung; stattdessen Notwendigkeit <strong>und</strong> Möglichkeit<br />

ständiger (ästhetischer) experimenteller Selbsterfindung; allerdings immer wieder Gefahr der<br />

bloßen Simulation von medial vermittelten Biographien); Politikwissenschaft (Kritik an<br />

Vorstellungen liberaler Demokratie; u.a. subjekttheoretisch mit der Hypostasierung von<br />

„Differenz“ etwa des einzelnen gegenüber allen anderen begründet); dies wiederum eng<br />

verb<strong>und</strong>en mit der Infragestellung der Möglichkeit von Normbegründungen. Alles wird<br />

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eingebettet von Universalannahmen über die Unmittelbarkeit ästhetischer Erfahrung in der –<br />

mehr oder weniger ausgeprägt – das Ästhetische als Alternative <strong>für</strong> das Rationale angeboten<br />

wird. Dabei erscheint es geradezu paradox, mit welch rationalem Begründungsaufwand – von<br />

Nietzsche über Heidegger bis zu dem späten Wittgenstein – diese Position der Zerstörung der<br />

Vernunft belegt wird (vgl. <strong>für</strong> eine kurze <strong>und</strong> prägnante kritische Darstellung Honneth 1994.<br />

S. 11 ff.) Es ist allerdings problematisch, ein in allen Facetten gültiges gemeinsames Etikett<br />

<strong>für</strong> die Philosophen zu finden, die man üblicherweise zu der Postmoderne zählt. Kimmerle<br />

(1992, S. 15 ff.) schlägt als Sammelbezeichnung „Philosophie der Differenz“ vor. Politisch<br />

belegen die Denker das gesamte Spektrum von links nach rechts. Doch zurück zur <strong>Ästhetik</strong>.<br />

Zu dem Schlüsselkonzept beim Verständnis aktueller <strong>Ästhetik</strong>diskussionen ist dabei die<br />

Entdeckung beziehungsweise der Umgang mit Kontingenz geworden. In einer<br />

„<strong>Kunsttheorie</strong>“, die – ebenso wie der vorliegende Text – in pragmatischer Absicht (dieses<br />

Mal: in der Absicht, eine kunsttheoretische Begründung von <strong>Kulturpolitik</strong> zu liefern)<br />

geschrieben wurde, hebt A. Göschel (1994, S. 75 ff.) den „Kontingenzverdacht“ als zentrales<br />

Motiv <strong>für</strong> einen Umgang mit Kunst (<strong>und</strong> daher pragmatisch <strong>für</strong> eine politische <strong>und</strong> finanzielle<br />

Unterstützung eines entsprechenden Kunstbetriebs) in den Vordergr<strong>und</strong>. In Anlehnung an N.<br />

Luhmann <strong>und</strong> R. Rorty (1989) besteht dieser Kontingenzverdacht in der Vermutung, dass im<br />

Kunsterleben ein Blick über die Grenzen der zweck-rational organisierten Gesellschaft, ein<br />

Blick jenseits der von Menschen gemachten Realität geworfen werden könnte. Kunst ist hier<br />

das ganz andere, das von menschlichem Herrschaftswillen Autonome, das gerade zum<br />

Zwecke dieser Funktion, Erhabenheit zumindest in diesem einen Moment – in früheren Zeiten<br />

war dies das, was man Kairos nannte – verspüren zu lassen, existiert. Nicht der Einzelne mit<br />

seinen Selbstverwirklichungs- <strong>und</strong> Authentizitätswünschen, sondern das Erleben des nur noch<br />

<strong>und</strong> ausschließlich Selbstreferentiellen der Kunst wird zum eigentlichen <strong>und</strong> ausschließlichen<br />

Zweck des Kunsterlebens.<br />

Diese Konzeption radikalisiert also den Gedanken der Autonomie <strong>und</strong> die Verweigerung<br />

eines gegenständlichen Bezugs bei Adorno. Selbst auf die Argumentationsfigur, dass bei<br />

Adorno durch die Selbstbezüglichkeit des autonomen Kunstwerks – eben weil kontrafaktisch<br />

autonom, nicht zweckrational eingeb<strong>und</strong>en – hierdurch immanent Kritik an der Gesellschaft<br />

geübt wird, weil es dadurch immerhin noch zum Schein eines möglichen besseren Lebens<br />

wird: selbst hierauf wird in dieser Position verzichtet. Der von Adorno entwickelte Gedanke<br />

des Doppelcharakters von Kunstwerken, nämlich autonom <strong>und</strong> fait social zu sein, was eben<br />

auch ermöglichte, Kunst nicht als irgendwie immer schon Vorhandenes zu verstehen, sondern<br />

als ein in konkreten gesellschaftlichen Situationen Entstandenes <strong>und</strong> in der ständigen Gefahr<br />

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Schwebendes, der Kulturindustrie <strong>und</strong> dem Warenfetisch verfallen zu können: dieser Gedanke<br />

wird zugunsten einer hypostasierten Autonomie, die dadurch eine vollständige<br />

Beziehungslosigkeit wird, aufgegeben. Der hermetische Charakter von Kunst, der die<br />

notwendige Distanz zum Bewusstwerden der gesellschaftlichen Lage, zur Entwicklung von<br />

Erkenntnis von Wahrheit – ein entscheidender Topos bei Adorno – herstellt, der aber durch<br />

„Vermittlung“ überw<strong>und</strong>en werden kann, wird in dieser Konzeption nicht mehr möglich: die<br />

Kluft zu dem total abgeriegelten Kunstwerk kann nur durch einen nicht weiter zu erklärenden<br />

Akt der Intuition, eines „fruchtbaren Augenblicks“, übersprungen werden.<br />

Es ist gerade nicht ein nicht-auratischer Umgang in politisch-emanzipatorischer Absicht, wie<br />

ihn etwa Peter Weiß seine Personen in der „<strong>Ästhetik</strong> des Widerstandes“ im Umgang mit dem<br />

Pergamonaltar als Akt der Aneignung erleben lässt. Es ist also gerade nicht das<br />

Bewusstwerden von Widersprüchen, sondern das Gefühl des Erhabenen über eine<br />

Kontemplation als interessenlose sinnliche Wahrnehmung, wie sie möglicherweise von<br />

Lyotard vertreten wird, demzufolge Kunst keinen Zeichencharakter hat, daher keine Mimesis<br />

von irgendwas ist, keine Referenz zu Wirklichkeit oder Subjektivität hat, sondern kein<br />

anderes Ziel verfolgt, als dadurch sich selbst – eben autonom – also ausschließlich<br />

selbstreferentielles Ereignis zu sein. Eine solche „Kontingenzerfahrung“ ist also die<br />

Erfahrung, dass es etwas gibt, das nicht vom Menschen gemacht wurde, das sich zumindest<br />

einer unmittelbaren Zwecksetzung entzieht.<br />

O. Marquard entwickelt zwei Kontingenzbegriffe, die auch in diesem Zusammenhang<br />

relevant sein könnten:<br />

1. ein rein religiöser Kontingenzbegriff: Gott ist der Souverän, die Kreatur das Kontingente.<br />

Ohne Gott, so Marquard, entwickeln sich zwei weitere Kontingenzen:<br />

2. Der Mensch verharrt in der Rolle der Kreatur, die Kontingenzen hinnehmen muss<br />

(Schicksalsschläge, unabänderliche Begebenheiten etc.), erlebt also Zufälle, die<br />

Notwendigkeiten sind.<br />

3. Der Mensch wird selbst zum Schöpfer, der auch anders handeln könnte: Kontingenz als<br />

Beliebigkeit.<br />

Auf eine zentrale Kontingenzerfahrung reagiert die Soziologie <strong>und</strong> die Gesellschaftskritik –<br />

wie oben gesehen – spätestens seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: Es ist geradezu ein Spezifikum der<br />

bürgerlichen Gesellschaft, dass sich der Einzelne einer Welt von Sachzwängen ausgeliefert<br />

sieht, auf die er keinen Einfluss zu haben scheint.<br />

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Solche Kontingenzerfahrungen – man nennt sie traditionell „Entfremdung“ oder mit dem<br />

späteren Marx das Regiment des Warenfetischs – sind nun meines Erachtens nicht auch noch<br />

durch Kunst zu erweitern. An diese erlebte Machtlosigkeit knüpfen vielmehr zahlreiche<br />

<strong>Kunsttheorie</strong>n <strong>und</strong> Kunstwerke an. Daher war eine zentrale Funktion von Kunst in<br />

zahlreichen vorgestellten <strong>Ästhetik</strong>- <strong>und</strong> Kunstkonzeptionen: in Kunst einen<br />

„kontingenzüberwindenden, kontingenzverkraftenden Sinn“ zu finden (so Koppe in Oelmüller<br />

1981, S. 191).<br />

Es stellt sich also die Frage, die bereits oben gestellt wurde: wie wird die restliche Hälfte des<br />

„halbierten Adorno“ gefüllt: Kunst nicht als Vehikel, sondern als Austragungsort<br />

menschlicher Emanzipation einfach dadurch, dass sie Erfahrung einer nichtentfremdeten<br />

Existenz ermöglicht, die also ihr kritisches Potential nicht aus einem Gegenstandsbezug, der<br />

sie bloß Wirklichkeit verdoppeln ließe, sondern aus ihrer Autonomie gewinnt. Kein Entwurf<br />

einer „bestimmten Negation“ also, die über eine allgemeine Kritik hinausginge („Mitten im<br />

falschen Leben“, so Adorno, „kann es kein richtiges geben.“) Von Adorno also die<br />

Erhabenheit, aber ohne dessen kritisches Potential. Möglicherweise füllt Heidegger diese<br />

Lücke, der das „interesselose Wohlgefallen“ unterstützt: „Um etwas schön zu finden, müssen<br />

wir das Begegnende selbst rein als es selbst, in seinem eigenen Rang <strong>und</strong> seiner Würde vor<br />

uns kommen lassen ... wir müssen das Begegnende als solches freigeben in dem, was es ist,<br />

müssen ihm das lassen <strong>und</strong> gönnen, was ihm selbst gehört <strong>und</strong> was es uns zubringt.“<br />

(Heidegger, zitiert nach Eagleton 1994, S. 302). Doch der Preis <strong>für</strong> diese neue Füllung ist<br />

recht hoch, da diese mit der sehr voraussetzungsvollen Philosophie Heideggers bezahlt<br />

werden muss. Ideologisch konsequent wäre es jedoch, da Heidegger die übliche Währung ist,<br />

mit der die Postmoderne ihre Destruktion der klassischen Meta-Erzählungen bezahlt.<br />

Allerdings wäre dies eine Ergänzung Adornos, die dieser bei seinem jahrzehntelangen Kampf<br />

gegen den „Jargon der Eigentlichkeit“ – <strong>und</strong> die dahinterstehende Ideologie – nicht sonderlich<br />

geschätzt hätte.<br />

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3. Philosophische Zugänge: Kunst <strong>und</strong> der Diskurs des Schönen<br />

Überblick<br />

In diesem Kapitel werden einige Gr<strong>und</strong>informationen über den aktuellen <strong>Ästhetik</strong>diskurs<br />

zusammengestellt. Es geht also weniger um die reale Entwicklung der Künste, sondern um<br />

Reflexionsversuche, dies begreifbar zu machen. Hegel meinte einmal, „Philosophie sei ihre<br />

Zeit auf den Begriff gebracht“. Kunst, so könnte man auf der Gr<strong>und</strong>lage des bisher<br />

Dargestellten formulieren, wäre dann „ihre Zeit zum Ausdruck gebracht“. Kunst steht so in<br />

einem reflexiven Verhältnis zur Realität, wobei zu dieser Realität auch die bisherige<br />

Kunstentwicklung <strong>und</strong> der theoretische Diskurs über diese Entwicklung gehört. <strong>Ästhetik</strong><br />

wiederum ist Reflexion dieser Entwicklung, wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass sich<br />

Philosophie stets auch immanent auf andere philosophische Entwürfe, Vorschläge <strong>und</strong><br />

Konzeptionen stützt, sodass sich ein komplexes Interdependenzgeflecht ergibt (Abb.9)<br />

Abb. 9 Zusammenhang von Kunst, <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> Gesellschaften<br />

reale<br />

Kunstentwicklung<br />

gesellschaftlicher Rahmen:<br />

reale <strong>und</strong> geistige Entwicklungen<br />

Reflexion über<br />

Kunstpraxis<br />

Wenn der künstlerische Leiter einer der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst<br />

davon spricht, dass es der Kunst nach wie vor um die „...Erarbeitung <strong>und</strong> Entwicklung von<br />

Interpretationsmodellen <strong>für</strong> die verschiedenen Aspekte heutiger Vorstellungswelten...“<br />

(Enwezor 2002, S. 40) geht, dann spricht er von „Kulturfunktionen“, die diese Kunst – immer<br />

noch – erfüllen soll. Ähnliche Aussagen gibt es von VertreterInnen der Literatur, des<br />

Theaters, der Musik oder des Tanzes. Man erwartet also nach wie vor in den Künsten, dass sie<br />

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den Gesellschaften immer wieder Möglichkeiten verschaffen, sich selbst den Spiegel<br />

vorzuhalten, Lebensstile zu reflektieren, Identitätsangebote zu produzieren <strong>und</strong><br />

Orientierungen bereitzustellen, die eine Verortung in Raum <strong>und</strong> Zeit ermöglicht. Dies gilt<br />

selbst dann, wenn in einer postmodernen oder dekonstruktivistischen Sicht all diese Konzepte<br />

<strong>und</strong> Vorstellungen radikal in Frage gestellt werden – eben auch als spezifisches<br />

Deutungsangebot, dass nämlich die heutige Gesellschaft mit solchen Konzepten nicht mehr zu<br />

begreifen ist (Zima 1994, 1997, 2000). In der Geschichte der Menschheit entstanden als<br />

„Medien“ einer solchen Selbstgestaltung, Selbstreflexion <strong>und</strong> Weltaneignung Religion <strong>und</strong><br />

Mythos, aber auch Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst. Ernst Cassirer (1990) nennt diese<br />

Hervorbringungen menschlichen Geistes symbolisch-kulturelle Formen <strong>und</strong> ihre Gesamtheit<br />

„Kultur“. In dieser Hinsicht steht also die Kunst durchaus in Konkurrenz zu anderen<br />

Sinngebungsinstanzen, so dass die Skepsis von Enwezor, ob <strong>und</strong> wie die zeitgenössische<br />

Kunst diese Aufgabe der Integration noch erfüllen kann, verständlich wird. Und tatsächlich<br />

zeigt die Geschichte, dass nicht alle symbolisch-kulturellen Formen zu jeder Zeit gleichmäßig<br />

in Anspruch genommen worden sind (Fuchs 2008 – Kampf). Vielmehr geraten bestimmte<br />

Formen immer wieder in Verdacht, ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können. So wurde<br />

der Mythos abgelöst durch Wissenschaft <strong>und</strong> Religion, die Religion wiederum erlebte in der<br />

Säkularisierung des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts einen Prozess der Entwertung. Und seit einigen Jahren<br />

ist der Glaube an die Wissenschaft stark beschädigt. Verständlich ist daher die Skepsis<br />

gegenüber der zeitgenössischen Kunst bei Enwezor, weil die Art <strong>und</strong> Weise, wie sie diese die<br />

genannten Funktionen erfüllt, ebenfalls ins Gerede gekommen ist. Zum Teil lag das sicherlich<br />

an innerkünstlerischen Entwicklungen, zum Teil hatte es mit der generellen Infragestellung<br />

von Sinngebungsangeboten zu tun. Es ist also zu fragen, wie die Künste die genannten<br />

Kulturfunktionen überhaupt erfüllen können.<br />

Gleichgültig, wie Kunst letztlich definiert oder verstanden wird, geht es darum, etwas zur<br />

Anschauung oder zu Gehör zu bringen, etwas den Sinnen zu präsentieren, das<br />

wahrgenommen werden kann. Der etymologische Rückbezug der <strong>Ästhetik</strong> auf aisthesis –<br />

Wahrnehmung – bleibt in jedem Fall relevant, selbst dort, wo Kunst die Wahrnehmung als<br />

Gr<strong>und</strong>modus ihrer Funktionsweise in Frage stellt. Doch wird man zur Kenntnis nehmen<br />

müssen, dass die Sinne längst nicht mehr die untrügerische Quelle von Wissen durch<br />

Wahrnehmung sind, <strong>für</strong> die man sie einmal gehalten hat. Die Sinne trügen <strong>und</strong> lügen – <strong>und</strong><br />

sind zudem leicht zu manipulieren. Auch dies ist daher ein Anlass, sich mit der<br />

Funktionsweise der Künste auseinander zu setzen. Selbstzweifel an der eigenen<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Darstellungskraft <strong>und</strong> Wirksamkeit waren zudem immer schon starke Motoren zur<br />

Weiterentwicklung der Künste. Dies ging – gerade in der jüngeren Zeit – soweit, den<br />

Kunstbegriff bzw. zentrale ästhetische Kategorien total in Frage zu stellen. Auch hat die<br />

Konjunktur der <strong>Ästhetik</strong> in den 90er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts („Postmoderne“) ihr selbst<br />

nicht unbedingt gut getan. Es könnte jedoch sein, dass nach dem Ende dieser Denkweise als<br />

Modeerscheinung (siehe etwa das Themenheft „Postmoderne – Eine Bilanz“ des MERKUR,<br />

Heft 594/595, Sept. Okt. 1998) nunmehr eine Bilanz gezogen werden kann, die die<br />

zutreffenden Erkenntnisse der radikalen Vernunftskritik der Postmoderne einbezieht. Mir<br />

scheint, dass die Entwicklung der Künste, so wie sie etwa auf der documenta XI präsentiert<br />

wurden, Anlass zur Annahme einer solchen Synthese gibt. Allerdings hat die documenta XII<br />

sich schon wieder von diesem Ansatz abgewendet. Es sind in den letzten Jahren einige<br />

interessante Texte zur <strong>Ästhetik</strong> erschienen, die sich erneut um die Klärung von ästhetischen<br />

<strong>und</strong> kunsttheoretischen Gr<strong>und</strong>begriffen bemühen. Ich argumentiere auf einer<br />

anthropologischen Basis, die mit dem Namen von Ernst Cassirer verb<strong>und</strong>en ist (s. o.).<br />

Demnach muss der Mensch aktiv seine Beziehung von Welt gestalten (er muss sein Leben<br />

führen, so Plessner). Und hierbei gestaltet er sich selbst. Eine anthropologische Perspektive<br />

lässt sich an alle Momente des ästhetisch-künstlerischen Prozesses anlegen. Neben der<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Frage danach, welche Rolle Kunst bei der Anthropogenese gespielt hat, kann<br />

man etwa nach den Ursprüngen des Ästhetischen sowohl auf der Seite des Subjekts als auch<br />

auf der Seite des gestalteten bzw. wahrgenommenen Gegenstandes fragen (Abb. 10).<br />

Diese Gegenüberstellung von Subjekt <strong>und</strong> einem Gegenüber („Objekt“) wird vermittelt durch<br />

seine Aktivität, durch Tätigkeit. Auf sehr allgemeine Weise lässt sich – quasi als Gr<strong>und</strong>modus<br />

des Seins in der Welt – dies durch das Schema in Abb. 11 darstellen.<br />

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Abb. 10<br />

Anthropologie* des Subjekts (Marx:<br />

Geschichte der fünf Sinne)<br />

� Anthropologie der Sinne**<br />

� Auge<br />

� Ohr<br />

� Nase<br />

Anthropologie des Ästhetischen<br />

� Anthropologie der gestalteten Umwelt<br />

� Häuser<br />

� Städte<br />

� Anthropologie der sinnlichen<br />

Wahrnehmung/Erfahrung/Erkenntnis<br />

� Anthropologie des Körpers/Leibes<br />

� Anthropologie des Schönen � Anthropologie des Designs <strong>und</strong> des<br />

Schmucks von Alltagsgegenständen<br />

� Anthropologie ästhetischer Produktivität, � Anthropologie der Kunstobjekte<br />

Herstellungslust, Formungslust<br />

� Anthropologie der Urteilskraft<br />

� Anthropologie des Symbolgebrauchs<br />

*Anthropologie, d.i.u.a.: Psychologie,<br />

Biologie, Natur- u. Kulturgeschichte,<br />

Philosophie<br />

** inkl. (Kultur-)Geschichte der Sinne<br />

Abb. 11<br />

Subjekt Tätigkeit Objekt<br />

Für die Zwecke dieses Textes taugt dieses allgemeine Schema, um nicht nur den Text zu<br />

strukturieren, sondern um eine erste Ordnung in <strong>Ästhetik</strong>-Konzeptionen zu finden: So gibt es<br />

Ansätze, Kunst aus der Sicht des Subjekts, des Objekts („Kunstwerk“) oder der künstlerischen<br />

Tätigkeit zu begreifen. Zahlreiche ästhetische oder kunsttheoretische Kategorien lassen sich<br />

diesen drei Gr<strong>und</strong>kategorien zuordnen (Abb. 12) <strong>und</strong> spielen daher in denjenigen ästhetischen<br />

Ansätzen, die Subjekt, künstlerische Tätigkeit bzw. Objekt in den Mittelpunkt stellen, jeweils<br />

eine unterschiedlich bedeutsame Rolle.<br />

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Abb. 12<br />

Zentrale Kategorien<br />

bzw. <strong>Ästhetik</strong>ansätze<br />

Annäherungen an die <strong>Ästhetik</strong><br />

aus der Perspektive von Subjekt, Tätigkeit <strong>und</strong> Objekt<br />

SUBJEKT<br />

TÄTIGKEIT<br />

(z. B. Kant)<br />

(z. B. Dewey)<br />

� aisthesis i. S. von sinnlicher � künstlerisch-ästhetische Praxis:<br />

Erkenntnis<br />

Rezeption<br />

� ästhetische Erfahrung<br />

Produktion<br />

� ästhetische Wahrnehmung � Formung, Gestaltung (Poiesis)<br />

� ästhetische Bewertung/ � Konstruktion<br />

ästhetische Urteilskraft � Bewegung in gestalteten<br />

� Katharsis<br />

Räumen<br />

� Geschmack � Dichten, Musizieren etc. als<br />

� ästhetisches Verstehen<br />

symbolische Tätigkeiten<br />

� Sinne (Auge, Ohr, Nase, M<strong>und</strong>, � „symbolische Arbeit“ (Willis)<br />

Tastsinn)<br />

� ästhetische Rationalität<br />

� zwischen Subjekten: ästhetische<br />

Kommunikation<br />

� Spüren, Leib<br />

� Erfahren von<br />

Gegenständlichkeit<br />

� Menschen im Raum (Stadt,<br />

Haus), d. h. Relevanz von<br />

Architektur <strong>und</strong> Stadtplanung<br />

Rezeptionsästhetik<br />

Produktionsästhetik<br />

OBJEKT<br />

(z. B. Hegel)<br />

� das KUNSTWERK<br />

� Geschichte der Künste<br />

(Kunst-, Literaturetc.<br />

-geschichte)<br />

� Verkörperung/<br />

Vergegenständlichung<br />

� ästhetische „Ontologie“<br />

� Baukultur; geformte<br />

Gegenstände<br />

� Design, angewandte Kunst<br />

Werkästhetik<br />

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Es ist nun möglich, jedes dieser Strukturelemente von Kunst (als Tätigkeit) in den Mittelpunkt<br />

von ästhetischen Überlegungen zu stellen: Ich will es hier überblicksweise tun <strong>und</strong> in den<br />

später folgenden Abschnitten vertiefen. Dabei verwende ich ein einfaches semiotisches<br />

Gr<strong>und</strong>modell (Abb.13; Fuchs 2000; 2010).<br />

Abb. 13<br />

Syntax<br />

(Formsprache,<br />

Gestaltungsqualitäten)<br />

Sigmatik<br />

(gegenständlicher<br />

Bezug)<br />

Zeichen<br />

Pragmatik<br />

(tätiger Umgang mit<br />

dem Zeichen)<br />

Bezogen auf ein Kunstwerk (Objekt) sieht die Anwendung dieses Gr<strong>und</strong>modells aus wie folgt<br />

(Abb. 14). Diese Abbildung berücksichtigt über die einfachen Strukturmomente hinaus noch<br />

die Tatsache, dass Kunstproduktion <strong>und</strong> -rezeption in einem gesellschaftspolitischen Kontext<br />

stattfinden, der vielfältig diese Prozesse der Produktion bzw. Rezeption prägt.<br />

Semantik<br />

(begrifflicher Bezug,<br />

Bedeutung)<br />

Nimmt man die künstlerische Tätigkeit als Ausgangspunkt – <strong>und</strong> sieht diese in einem<br />

historischen Prozess – dann lässt sich im zeitlichen Ablauf das folgende Schema konstruieren<br />

(Abb. 15), das zeigt, wie künstlerische Kompetenzen <strong>und</strong> Dispositionen immer wieder durch<br />

Tätigkeit in „Werken“ vergegenständlicht werden, die wiederum Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die<br />

Entwicklung von (neuen) Kompetenzen <strong>und</strong> Dispositionen bei anderen Menschen sind.<br />

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Abb. 14<br />

Gesellschaftlich-kultureller Kontext: ästhetische Kommunikation,<br />

eher objektive<br />

Dimension von Kunst<br />

ges. Genese<br />

Syntax<br />

<strong>und</strong> (Formensprache)<br />

Funktion<br />

von<br />

Form <strong>und</strong> Gestalt<br />

Semiotik der Kunst<br />

Relevanz von Sujets<br />

Sigmatik<br />

(gegenständliche Referenz)<br />

Kunstwerk oder -prozess<br />

z. B. Ikonographie Hermeneutik<br />

Produktion<br />

künstl. Prozess<br />

Psychologie u. Soziologie<br />

des Künstlers<br />

ökonomische, politische, kulturelle etc. Rahmenbedingungen<br />

Pragmatik<br />

Distribution<br />

(Kunstvermittlung,<br />

-kritik, -markt)<br />

Kunstdiskurs<br />

ökon. Funktionen von Kunst<br />

Kunstherstellung u. -gebrauch<br />

Rezeption<br />

(Gebrauch);<br />

Wirkungen auf<br />

Subjekt<br />

Psychologie <strong>und</strong> Soziologie<br />

des Kunstgebrauchs<br />

ges.<br />

Reservoir<br />

Semantik<br />

(„Bedeutung“) an Bedeutungen<br />

eher<br />

subjektive<br />

Dimension<br />

von Kunst<br />

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Abb. 15 Entstehung <strong>und</strong> Wirkung von Kunst im zeitlichen Ablauf zusammen mit jeweils „zuständiger“ Fachdisziplin<br />

Soziologie <strong>und</strong> Sozialgeschichte<br />

der Kunst <strong>und</strong> der Sinnlichkeit des Menschen (historische Anthropologie)<br />

gesellschaftliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage eines<br />

Umgangs mit<br />

Kunst <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong><br />

genetische<br />

Erbschaft <strong>für</strong><br />

ästhetisches<br />

Handeln (Fähigkeit<br />

zum Umgang mit<br />

Bildern <strong>und</strong> Tönen,<br />

mit Form <strong>und</strong><br />

Gestalt, Symbolkompetenz)<br />

Biologie <strong>und</strong> Psychologie der Kunst<br />

Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> in<br />

Persönlichkeitstheorien<br />

subjektive<br />

Disposition zur<br />

Kunst/<strong>Ästhetik</strong><br />

künstlerischästhetische<br />

Tätigkeit<br />

(produktiv <strong>und</strong><br />

rezeptiv)<br />

Theorien künstlerischästhetischer<br />

Tätigkeit,<br />

ästhetische Handlungstheorien,<br />

<strong>Pädagogik</strong> der Künste<br />

einzelne<br />

Kunstwissenschaften<br />

Werk<br />

Prozess<br />

Rückwirkung<br />

auf Mensch<br />

<strong>und</strong><br />

Gesellschaft<br />

Wirkungstheorien<br />

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Das künstlerisch aktive Subjekt ist dabei gleich dreifach mit „Objekten“ konfrontiert, nämlich<br />

durch Erkennen, Gestalten <strong>und</strong> Rezeption. Unter Nutzung klassischer ästhetischer Kategorien<br />

lässt sich dies modellieren wie in Abbildung 6 gezeigt.<br />

Das Subjekt im Mittelpunkt kann also erkennendes, produzierendes oder kunst-<br />

reproduzierendes Subjekt sein. Geht man hingegen von der Tätigkeit aus, so lassen sich<br />

Dimensionen wie in Abb. 16 unterscheiden.<br />

Zusammenfassung: Kunst lässt sich sinnvoll aus der Sicht der Strukturelemente von Tätigkeit,<br />

also im Hinblick auf das aktive Subjekt, die künstlerische Tätigkeit <strong>und</strong> das entstehende Werk<br />

(Produkt oder Prozess), betrachten. Es ist letztlich eine Frage der persönlichen Überzeugung,<br />

was im Mittelpunkt von <strong>Kunsttheorie</strong> steht. Letztlich wird jedoch jede umfassende<br />

<strong>Kunsttheorie</strong> alle Teile des Prozesses in den Blick nehmen müssen.<br />

Abb. 16<br />

Dimensionen der künstlerischen Tätigkeit<br />

externe soziale Dimension:<br />

Kunst als gesellschaftliche<br />

Erscheinung<br />

psychologische<br />

Dimension:<br />

kognitive, emotionale<br />

<strong>und</strong> kooperativ-soziale<br />

Entwicklung inklusive<br />

Aneignung des Selbst<br />

Was ist Kunst? Wann ist Kunst?<br />

künstlerisch-ästhetische<br />

Tätigkeit<br />

gegenständliche Dimension 2:<br />

Kunst als Aneignungsform<br />

von Wirklichkeit<br />

Die klassische Frage danach, was Kunst ist, hat sich inzwischen in die Frage danach<br />

verschoben, wann Kunst ist (siehe hierzu die aufschlussreichen Bücher von Wolfgang<br />

Ullrich). Was bedeutet dies <strong>und</strong> warum ist dies geschehen?<br />

interne soziale Dimension:<br />

Kunst als sozialer Prozess/<br />

künstl. Tätigkeit als<br />

sozialer (Gruppen-)Prozess<br />

gegenständliche Dimension 1:<br />

Kunst als praktischgegenständliches<br />

Verhalten<br />

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Lange Zeit diskutierte die westliche Philosophie die Frage, was eigentlich ein Kunstwerk zum<br />

Kunstwerk macht. Ich will nur am Rande darauf hinweisen, dass diese Diskussion in jeder der<br />

heutigen Kunstsparten <strong>für</strong> sich gesondert geführt wurde, bis Baumgarten im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

nicht nur <strong>Ästhetik</strong> – basierend auf dem Wahrnehmungsbegriff – als philosophische<br />

Teildisziplin konstituierte <strong>und</strong> zugleich einen einheitlichen Kunstbegriff geschaffen hat, der<br />

Bilder <strong>und</strong> Texte, Skulpturen <strong>und</strong> Musikstücke gleichermaßen als „Kunst“ erfasste. Dies war<br />

bis dahin nicht üblich gewesen. Das Ringen um den Kunststatus (Eagleton 1994) hatte etwa<br />

mit den Vorstellungen über Bildung zu tun: Musik gehörte als eher mathematische Disziplin –<br />

im Verständnis von Pythagoras – zu den klassischen Fächern der mittelalterlichen Universität;<br />

Malerei <strong>und</strong> Bildhauerei waren dagegen lange Zeit rein handwerkliche Künste (vgl. Hauser<br />

1972). Die Frage nach „Kunst“ ist zudem verb<strong>und</strong>en mit der Stellung des Künstlers als<br />

Schöpfer eines Werkes in der Gesellschaft; ein Verständnis, das sich erst im Zuge der<br />

Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägt hat (Ruppert 1998). Diese<br />

sozialgeschichtliche Perspektive, die einen <strong>Ästhetik</strong>- <strong>und</strong> Kunstdiskurs, wie wir ihn heute<br />

kennen, lediglich 250 Jahr zurückverfolgen kann, schließt natürlich nicht aus, dass über<br />

einzelne Fragen, die heute zum <strong>Ästhetik</strong>diskurs gehören, seit Jahrh<strong>und</strong>erten diskutiert wurde,<br />

etwa über die Frage der Schönheit (Scheer 1997, Plumpe 1993).<br />

Lange Zeit versuchte man, in den Gestaltqualitäten – also in objektiv erfassbaren <strong>und</strong> als<br />

zeitlos verstandenen Merkmalen – eines „Kunst-„Objekts das „Wesen der Kunst“ zu finden.<br />

Der entwickelste Ansatz einer solchen objektivistischen <strong>Ästhetik</strong> ist sicherlich die<br />

informationstheoretische <strong>Ästhetik</strong>, wie sie in Deutschland prominent von Max Bense<br />

vertreten wurde (vgl. die Theoriensammlung Henrich/Iser 1982). Nach wie vor ist die Suche<br />

nach <strong>und</strong> die Identifikation von objektiven Gestaltqualitäten eine wichtige Aufgabe der<br />

Kunstanalyse <strong>und</strong> Bestandteil jeglichen Kunstverstehens. Allerdings geschieht dies heute<br />

weniger in einer philosophischen <strong>Ästhetik</strong>, sondern vielmehr in den einzelnen<br />

Kunstwissenschaften. Hierbei kommt es gelegentlich zu Konkurrenzen über die jeweiligen<br />

„Zuständigkeiten“ zwischen <strong>Ästhetik</strong> als philosophischer Disziplin <strong>und</strong> den einzelnen<br />

Kunstwissenschaften (vgl. Schmücker 1998, S. 9ff). Doch hat die Entwicklung der Künste<br />

selbst dazu geführt, dass eine derart „objektive“ Bestimmung von Kunst immer schwieriger<br />

wurde: Man kann geradezu als Motor der Entwicklung der Künste den Versuch sehen, den<br />

jeweils vorfindlichen Kunstbegriff zu sprengen. Eine entscheidende Etappe in diesem Prozess<br />

war – etwa in der Bildenden Kunst – der schrittweise Verlust des Gegenständlichen im späten<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert bis zu den ready-mades von Marcel Duchamp, bei denen lediglich eine kleine<br />

Manipulation an Industrieprodukten vorgenommen wurde <strong>und</strong> die dadurch zu „Kunstwerken“<br />

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erklärt wurden. Spätestens an dieser Stelle wurde deutlich, was eine Sozialgeschichte bzw.<br />

eine sozial sensible, eher immanente Kunstgeschichte ebenfalls herausgebracht hat: Das<br />

Verständnis dessen, was „Kunst“ eigentlich ist, hängt sehr stark davon ab, was ein sozialer<br />

Kontext <strong>für</strong> Kunst hält. Es ist also bei der Definition von Kunst eine Verschiebung<br />

festzustellen, die vom Kunstwerk über den produzierenden Künstler nunmehr bei den<br />

soziokulturellen Kontexten landet. Der us-amerikanische Kunsttheoretiker Danto (1984) hat<br />

diese Auffassung vorgeschlagen, Dickie hat sie weiter ausgearbeitet: Ohne eine sozial-<br />

historische Einordnung ist das jeweils vorfindliche Kunstverständnis nicht nachzuvollziehen.<br />

Die Studien von Pierre Bourdieu (hier v.a. 1999 <strong>und</strong> 1987) zeigen zudem, wie sehr die<br />

Definition dessen, was Kunst ist, mit Macht <strong>und</strong> Einfluss zu tun hat. Man wusste zwar immer<br />

schon – nicht zuletzt aus den Biographien von KünstlerInnen, die sich mit neuen Ansätzen bei<br />

Kritik, Publikum <strong>und</strong> Markt durchsetzen mussten –, dass „Kunst“ sehr stark von diesen drei<br />

Mächten, also von (Fach)-Publikum, Kritik <strong>und</strong> Kunst-Marktinstitutionen abhängt. Bourdieu<br />

hat jedoch das notwendige sozialwissenschaftliche Instrumentarium zur Analyse dieser<br />

sozialen Definitionskämpfe geliefert <strong>und</strong> am Beispiel von Flaubert (Bourdieu 1999; vgl. auch<br />

Jurt 1995) gezeigt, wie KünsterInnen in der Lage waren, das <strong>für</strong> sie relevante soziale „Feld“<br />

über neue ästhetische Maßstäbe zu definieren. Ästhetische Maßstäbe heißt dabei natürlich<br />

auch <strong>und</strong> insbesondere: Formqualitäten, wobei natürlich auch Sujet <strong>und</strong> Inhalt ebenfalls zu<br />

Kunstrevolutionen führten: Die Entdeckung des Porträts etwa – gerade von Nichtadligen – in<br />

der Renaissance oder die Entdeckung der Armen <strong>und</strong> Tagelöhner, etwa bei Courbet. Die sich<br />

durchsetzende Autonomie des Feldes findet sich etwa auch in der Gesellschaftstheorie von<br />

Luhmann (v.a. 1996), in der das Subsystem Kultur/Kunst über Kunstwerke kommuniziert.<br />

Dieser Ansatz wurde inzwischen auch auf die historische Rekonstruktion einzelner Sparten<br />

angewandt (s.u.). Gerade <strong>für</strong> soziologische Ansätze, Kunst zu verstehen, spielt das<br />

Rezeptionsverhalten, also der soziale Kontext des Kunstgebrauchs – in semiotischer Sprache:<br />

die Pragmatik – eine wichtige Rolle. Doch wird diese nur dadurch ermöglicht, dass es<br />

objektiv unterscheidbare Formqualitäten (<strong>und</strong> spezifische Inhalte) gibt, auf die sich diese<br />

pragmatische Dimension bezieht <strong>und</strong> die daher (mit-)entscheiden, was als Kunstwerk<br />

gehandelt wird.<br />

Zu diesen Formqualitäten gehören auch die Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Gestaltqualitäten der<br />

Präsentation. Es macht eben einen Unterschied, ob „Kunst“ in der Wohnung, in der Galerie,<br />

im Museum, in einer Ausstellung oder auf der Straße präsentiert wird. Dies bringt zum<br />

Ausdruck, dass es in vielfacher Hinsicht um Beziehungen geht, die sowohl von den<br />

Gestaltqualitäten im Kunstobjekt selbst abhängen, die aber auch mit den Beziehungen<br />

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zwischen Kunstobjekt <strong>und</strong> Umgebung zu tun haben. Dies ist ein erstes Ergebnis bei einer<br />

Bestimmung dessen, was „Kunst“ heute sein kann: Ein gestaltetes Objekt oder ein Prozess,<br />

das bzw. der durch die Art der Gestaltung <strong>und</strong> Präsentation in vielfache Beziehung zu seiner<br />

sozialen <strong>und</strong> gegenständlichen Umgebung tritt, das oder der ein immanenter Zusammenhang<br />

von Gestalt-Beziehunen ist <strong>und</strong> insbesondere mit dem Kunstbetrachter eine Beziehung<br />

eingeht. Man kann nun sagen, dass die gezielte Herstellung solcher Beziehungen zur Aufgabe<br />

von Kunst gehört (Kleimann 2002). Damit hätte man einen Schritt in ein funktionalistisches<br />

Verständnis von Kunst getan, also sich auf das Feld der Beantwortung der Frage „Wozu<br />

Kunst?“ begeben (Fuchs/Liebald 1995, Kleimann/Schmücker 2001). Dies ist eine<br />

traditionsreiche Frage, auf die man eine Unzahl von Antworten geben kann. In einer Studie<br />

(in Fuchs/Liebald 1995) habe ich 90 Antworten auf diese Frage gesammelt (siehe auch<br />

Mäckler 1987 oder Hauskeller 2005). Eine weitere Initiative zur Beantwortung dieser<br />

Funktionsfrage findet sich in Kleimann/Schmücker (2001). Dieses Buch ist nicht nur<br />

interessant im Hinblick auf die unterschiedlichen Antworten, die gegeben werden. Es zeigt<br />

zugleich, dass trotz der gerade in Deutschland vorherrschenden Ideologie der Kunstautonomie<br />

nach wie vor sinnvoll über die Funktionen von Kunst diskutiert werden kann (Gethmann-<br />

Siefert 1995, Bollenbeck 1994). Das Spektrum der Antworten ist breit, von der<br />

Erkenntnisfunktion bis zur Entwicklung eines „Gefühls zur Welt“ – <strong>und</strong> beides wird durchaus<br />

auch verstanden als Subversion, die mit Kunst herkömmliche gesellschaftliche Werthaltungen<br />

<strong>und</strong> Sichtweisen in Frage stellen will <strong>und</strong> soll. Systematisch bringt Schmücker die möglichen<br />

Funktionen von Kunst in einem Tableau unter (Abb.17).<br />

Nun gibt es gegen solche funktionalen Bestimmungen von Kunst Einwände. Hierbei ist es<br />

nützlich, den Unterschied von „Funktionen“ <strong>und</strong> „Wirkungen“ im Kopf zu behalten:<br />

„Funktionen“, so mag man definieren, ergeben sich aus der absichtsvollen Herstellung von<br />

„Wirkungen“. Wirkungen können daher beabsichtigt oder nicht beabsichtigt sein. Auch eine<br />

streng antifunktionalistische Sicht von Kunst kann daher danach fragen, ob – trotz aller<br />

Autonomie – der Umgang mit Kunst soziale oder individuelle Wirkungen zeigt. Es liegt auf<br />

der Hand – <strong>und</strong> die Geschichte zeigt es auch – dass eine enge Funktionalisierung von Kunst,<br />

z. B. in politisch-ideologischer Hinsicht, nicht immer gelingt oder anders gelingt, als<br />

beabsichtigt. Warum jedoch Kunst stets Wirkungen hervorruft, beantwortet in Hinblick auf<br />

den Einzelnen die Kunstpsychologie, in Hinblick auf soziale Zusammenhänge die<br />

Kunstsoziologie.<br />

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Die meist genannten Funktionen beziehen sich zum einen auf solche Wirkungen, die man im<br />

einzelnen Individuum vermutet. Überwiegend sind es jedoch Funktionen, die etwas mit<br />

sozialen Kontexten zu tun haben. In einem erweiterten Sinne kann man diesen Sachverhalt<br />

unter der Rubrik „Kommunikation“ einsortieren, sofern man ein Verständnis von<br />

Kommunikation unterstellt, das weit genug ist, dass es neben Sprache (als diskursivem<br />

Medium) weitere Medien zulässt (in der Terminologie der Philosophin S. Langer (1979):<br />

präsentative Symbole). Jede kommunikationstheoretische Deutung von Kunst hat sich mit<br />

dem Diktum Adornos (1970) auseinanderzusetzen, dass „kein Kunstwerk ... in Kategorien der<br />

Kommunikation zu beschreiben <strong>und</strong> zu erklären (sei)“. Schmücker (1998), der (trotzdem) eine<br />

kommunikationstheoretische Deutung von Kunst vorschlägt, muss sich daher mit diesem<br />

Diktum auseinander setzen, <strong>und</strong> er baut seine Argumentation auf der Tatsache auf, dass es<br />

auch im Prozess des Kunstverstehens um Bedeutungen geht. Kunstwerke sind daher Medien<br />

im Kommunikationsprozess (282). Es sind allerdings „Medien sui generis“. Was heißt das?<br />

Kommunikation ist „jeder Verweisungszusammenhang eines Zu-Verstehen-gebens <strong>und</strong> eines<br />

Zu-Verstehen-suchens“. Bei der Kommunikation mit <strong>und</strong> über Kunst geht es dabei nicht um<br />

die „Erzielung eines intersubjektiven Einverständnisses“; dies nennt Schmücker<br />

„diskontinuierlich“. „Kunst“ liegt also dann vor, wenn wir in einem Artefakt/Prozess ein<br />

potenzielles Medium eines solchen diskontinuierlichen Prozesses sehen.<br />

Kunstwerke laden somit zur Kommunikation ein ohne die „Last“, ein einvernehmliches<br />

Verständnis zu erzielen. Man mag dies in traditioneller Terminologie eine „entlastete“<br />

Kommunikation nennen <strong>und</strong> damit einen Anschluss zu klassischen <strong>Ästhetik</strong>en (z. B. Kant,<br />

Schiller) herstellen, bei denen die Handlungsentlastung als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“<br />

formuliert wird. Die Möglichkeit, auf ein „einvernehmliches Verständnis“ zu verzichten, liegt<br />

darin begründet, dass „Bedeutung“ – also das, worauf Kunstwerke eindeutig verweisen<br />

könnten – nicht existiert, zumindest nicht so, wie wir es in der Alltagskommunikation<br />

erwarten. Eco (1972, 1995) sprach in diesem Zusammenhang vom „offenen Kunstwerk“<strong>und</strong><br />

zielte auf die Bedeutungsoffenheit künstlerischer Zeichen. Trotzdem vermutet der Teilnehmer<br />

an der Kommunikation eine Botschaft, die man ihm mitteilen will. Der Modus der<br />

Wahrnehmung, nämlich als ästhetische Wahrnehmung (vgl. Abschnitt 4), versetzt den<br />

Rezipienten in diesen Zustand des erwartungsvollen Entlastet-Seins. Es wird also<br />

entscheidend darum gehen, ästhetische Wahrnehmung als spezifische Wahrnehmung zu<br />

präzisieren.<br />

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Abb. 17 Funktionen der Kunst<br />

generelle Funktionen potentielle Funktionen<br />

konstitutive<br />

Funktion<br />

kunstästhetische<br />

Funktion<br />

nichtkonstitutive<br />

Funktion<br />

ästhetische<br />

Funktionen<br />

kunstinterne<br />

Funktionen<br />

Traditionsbildungs-<br />

funktion(en)<br />

Innovationsfunktion(en)Reflexions-<br />

funktion(en)<br />

Überlieferungs<br />

-funktion(en)<br />

Schmücker in Kleimann/Schmücker 2001, S. 28<br />

kommunikative<br />

Funktionen<br />

expressive<br />

Funktion(en)<br />

appellative<br />

Funktion(en)<br />

konstative<br />

Funktion(en)<br />

dispositive<br />

Funktionen<br />

emotive<br />

Funktion(en)<br />

Motivationsfunktion(en)Distanzierungsfunktion(en)<br />

therapeutische<br />

Funktion(en)<br />

Unterhaltungsfunktion(en)<br />

kunstexterne Funktionen<br />

soziale<br />

Funktionen<br />

kognitive<br />

Funktionen<br />

mimetischmnestische<br />

Funktionen<br />

dekorative<br />

Funktionen<br />

Identitätsbildungsfunktion(en) Schmuckfunktion(en)Distinktionsfunktion(en)<br />

Illustrationsfunktion(en)<br />

Status Erkenntnisdokumenta- indizierende funktion(en)rische Funktion(en)<br />

Funktion(en)<br />

kultische<br />

Funktion(en)<br />

Erinnerungsfunktion(en)<br />

ethisch-explorative<br />

Funktion(en)<br />

politische Funktion(en)<br />

religiöse Funktion(en)<br />

(sonstige) weltanschauliche<br />

Funktion(en)<br />

geselligkeitskonstitutive<br />

Funktion(en)<br />

ökonomische<br />

Funktion(en)<br />

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Die pädagogische Bedeutsamkeit dieser Aufgabe wird bei dem phänomenologischen Ansatz<br />

von Böhme (2001, S. 180) deutlich, der <strong>Ästhetik</strong> als Wahrnehmungslehre begreift, die sich<br />

um die affektive Betroffenheit des Menschen kümmert. „Wahrnehmung“ ist dabei eine<br />

„Weise, sein eigenes Da sein zu spüren“ (ebd., S. 81) <strong>und</strong> weiter: „Zur Erfüllung dessen, was<br />

Menschsein heißt, gehören auch sinnliche Erfahrungen. Doch die Kompetenz dazu kann heute<br />

nicht mehr als naturgegeben angesehen werden, vielmehr muss man sie erwerben, <strong>und</strong><br />

zumindest zu sagen, was man da erwerben muss, dazu ist die neue <strong>Ästhetik</strong> der Ort“ (ebd.<br />

S.180).<br />

Kunst, so der bisherige Gedankengang, ist eine spezifische Kommunikation, die insofern<br />

entlastet ist, als eine Notwendigkeit zur Einigung auf ein bestimmtes Verständnis der<br />

Mitteilung nicht vorhanden ist. Die Umschaltung auf diesen Modus der Entlastung erfolgt<br />

über die Wahrnehmung des Ästhetischen: Dieses schafft Neugier <strong>und</strong> Interesse an dem Inhalt<br />

ohne den Zwang zur Eindeutigkeit. Dies wiederum ist nur möglich, wenn kein<br />

Handlungszwang besteht, wenn also die Situation handlungsentlastet ist (Böhme 2001, S.<br />

183ff.).<br />

Bekanntlich knüpfen ältere <strong>Ästhetik</strong>-Entwürfe hieran eine Funktion von Kunst: Den<br />

Menschen erleben zu lassen, dass er überhaupt in der Lage ist, derart befreit („entlastet“) sich<br />

mit der Welt <strong>und</strong> sich selbst auseinanderzusetzen. Schillers <strong>Ästhetik</strong> (1959) etwa sieht hierin<br />

gerade das emanzipatorische politische Potenzial des Ästhetischen: Freiheit zu erleben.<br />

Dieser Gedanke des Freiheitserlebens taucht in vielen <strong>Ästhetik</strong>-Konzeptionen auf, oft<br />

verb<strong>und</strong>en mit dem Aspekt, „Freiheit“ als zutiefst menschliche Daseinsform zu reklamieren.<br />

So findet Martin Seel (2000) in dem Erscheinenden als Gemeinsames aller ästhetischen<br />

Objekte dessen Ausgangspunkt <strong>für</strong> seinen <strong>Ästhetik</strong>-Entwurf. Und dieses „Erscheinen“<br />

erfassen die Sinne als „genuine Art der menschlichen Weltbegegnung“ (ebd., S. 9). „Die<br />

Aufmerksamkeit <strong>für</strong> das Erscheinende ist so zugleich eine Aufmerksamkeit <strong>für</strong> uns<br />

selbst.“(ebd.) Kunstbegegnung ist daher eine qualifizierte Weise der Selbstbegegnung des<br />

Menschen. Im Kunsterlebnis, so die These, erlebt der Mensch insbesondere, wie er eigentlich<br />

sein könnte. Kunstwerke hätten dann die Aufgabe, auf diese spezifische Weise<br />

wahrgenommen werden zu können, um dem Menschen diese Selbsterkenntnis, nämlich frei<br />

sein zu können, zu ermöglichen So lautet etwa auch die Erklärung des Phänomens der<br />

Schönheit in der Anthropologie von Gehlen (1950; siehe auch Schmidt 1997, dort<br />

insbesondere die Ausführungen über die Kategorie der Entlastung, die das Ästhetische von<br />

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Arbeit <strong>und</strong> Ethik/Moral unterscheidet). Gehlen leitet dieses Spezifikum des Ästhetischen aus<br />

der gattungsgeschichtlichen Entwicklung der Instinktreduktion ab. Dies ist auch die Basis <strong>für</strong><br />

seine (kritische) Deutung der modernen bildenden Kunst (Gehlen 1986): Gerade die<br />

bürokratisierte Gesellschaft hat eine „Sehnsucht nach Außenseitern <strong>und</strong> Nonkonformisten,<br />

das Publikum liebt es, wenn ihm das als erreichbar vorgeführt wird.“ (ebd., S. 223). In diese<br />

Richtung gehen auch aktuelle Vorstellungen, die in Kunst die Möglichkeit sehen,<br />

Kontingenzerfahrungen zu machen, dass also alles auch völlig anders sein könnte, als es ist.<br />

Es scheint sich hierbei also um ein anthropologisches Faktum zu handeln, das aktuell auch die<br />

Neurowissenschaften bestätigen: nämlich die elementare Freude des Gehirns am Entwerfen<br />

(Pfütze 1999, S. 26). Diese entwerfende Praxis heißt in der aristotelischen Terminologie<br />

Poiesis. Sie bezieht sich zum einen auf die „creatio ex nihilo“, die Schöpfung aus dem Nichts,<br />

also den kreativen Akt des Künstlers als Akt der Formung auf der Basis einer Formungslust.<br />

Sie findet sich jedoch auch beim Publikum, nämlich bei der (rezeptiven) Freude, mit der<br />

Kunst Formerfahrungen zu machen (<strong>und</strong> machen zu wollen!) <strong>und</strong> Beziehungen einzugehen,<br />

die zweckfrei sind <strong>und</strong> nicht auf Arbeit zielen (ebd., S.27).<br />

Das Bemerkenswerte an der bisherigen Begriffsbestimmung von Kunst, die ich auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einiger neuerer Versuche <strong>und</strong> im Anschluss an traditionelle Theorien<br />

vorgenommen habe, besteht darin, dass zwar Subjekt <strong>und</strong> Objekt im Kunstprozess<br />

unterscheidbar bleiben, aber nur der wechselseitige Bezug den künstlerisch-ästhetischen<br />

Prozess definiert: Auch das spezifische Mensch-Welt-Verhältnis in der Kunst ist in erster<br />

Linie ein Verhältnis, eine Relation (Abb. 18). Mit dieser Sichtweise findet die <strong>Ästhetik</strong> als<br />

philosophisch-wissenschaftliche Disziplin Anschluss an die Entwicklungen moderner<br />

Wissenschaften seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, nicht Dinge, sondern Relationen in den Mittelpunkt<br />

zu stellen (vgl. Cassirer 1923). Es liegt auf der Hand, dass die semiotische Sichtweise diesen<br />

relationalen Ansatz übernimmt, da es um<br />

� immanente Beziehungen von Gestaltungsqualitäten (Syntax),<br />

� die Beziehungen zwischen den gegenständlichen Artefakten <strong>und</strong> Deutungen (Semantik),<br />

� die Beziehung zwischen Artefakt <strong>und</strong> einem real vorhandenen Gegenstand (Sigmatik) <strong>und</strong><br />

� die soziale Beziehung Artefakt/Produzent bzw. Rezipient geht.<br />

Im Mittelpunkt dieses Textes steht zwar das Subjekt. Doch deutlich wird, dass die spezifisch<br />

ästhetischen Wirkungen im Subjekt nur dann erzielt werden, wenn auf der Objektseite – unter<br />

Einbeziehung des räumlich-sozialen Kontextes des Kunstwerkes oder -prozesses – die<br />

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entsprechenden „ontologischen“ Voraussetzungen vorliegen. Man muss daher auch dann nach<br />

allen drei Strukturmerkmalen der Tätigkeit, also nach Subjekt, Tätigkeit <strong>und</strong> Objekt, im<br />

Künstlerisch-Ästhetischen fragen, wenn man sich verstärkt nur <strong>für</strong> eines der drei genannten<br />

Momente interessiert: also nach der Spezifik des Objektiv-Ästhetischen, nach der<br />

Konstitution des Subjekts, das in der Lage ist, mit diesen ästhetischen „Botschaften“<br />

umzugehen oder diese zu schaffen, <strong>und</strong> nach den spezifisch ästhetischen Praxen <strong>und</strong><br />

Tätigkeiten, die Subjekt <strong>und</strong> Objekt in Produktion oder Rezeption miteinander vermitteln.<br />

Hilfreich ist dabei der Definitionsversuch von Gelfert (1998), der fünf<br />

Bestimmungsmerkmale von Kunst erarbeitet:<br />

� Kunst hat einen Werkcharakter, ist also Ergebnis menschlicher Arbeit<br />

� Kunst hat einen Selbstzweck, dient nicht der unmittelbaren Lebenserhaltung<br />

� Kunst hat eine finite Form, was heißt: sie ist vollständig durchformalisiert<br />

� Kunst ist scheinhaftig, ist abgehoben von der Wirklichkeit<br />

� Kunst ist zeitlos, gleichgültig ob es sich um ein Werk oder eine Aufführung<br />

(“Zeitlosigkeit des Augenblicks“) handelt.<br />

Die folgende Grafik (Abb. 19) bringt diese Bestimmungsmomente in einen systematischen<br />

Zusammenhang (Gelfert 1998, S. 57)<br />

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Abb. 18<br />

Subjekt<br />

I. Ästhetische Erfahrung:<br />

- Sinnlichkeit<br />

- Gegenwärtigkeit<br />

- Erfüllungscharakter<br />

Spielarten:<br />

- kontemplative<br />

Aufmerksamkeit<br />

- impressives Ausdruckserleben<br />

- ästhet.-exist.<br />

Wahrnehmung<br />

- komprehensive<br />

Kunsterfahrung<br />

Reflexionsstufe<br />

Das ästhetische Weltverhältnis<br />

III. ästhetisch-künstlerische<br />

Tätigkeiten i.e.S.<br />

III. ästh. Komm.<br />

Formen der ästh. Komm.<br />

- Werkzeug<br />

- Beschreibung<br />

- Kommentar<br />

- Charakterisierung<br />

- Interpretation<br />

- reflektierter Wert<br />

08/04<br />

IV. ästh. Rationalität (Teil der prakt. Rationalität)<br />

= Vernünftigkeit eines Tuns mit Ziel der Optimierung erfüllter ästh.<br />

Erfahrungen<br />

a) Meinungsbildung<br />

b) Handlungsbestimmung<br />

6 Normen:<br />

- Aufmerksamkeit<br />

- Unvoreingenommenheit<br />

- Abstand von fremdrationaler Voreingenommenheit<br />

- erforderliches Wissen<br />

- praktische Vorbereitung<br />

- Bereitschaft zur Reflexion <strong>und</strong> Korrektur<br />

II. ästhetische Phänomene<br />

Kunst<br />

Natur<br />

zweckgeb<strong>und</strong>ene<br />

Gestaltung<br />

im Anschluss an Kleimann, B.: Das ästhetische<br />

Weltverhältnis. München: Fink 2002<br />

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Abb. 19 Bestimmungsmerkmale der Kunst<br />

Bestimmungsmerkmale der Kunst<br />

Die Welt<br />

(= Gesamtheit aller Gegenstände <strong>und</strong> Sachverhalte)<br />

geistig wahrnehmbar sinnlich wahrnehmbar<br />

(Mathematik usw.)<br />

Quelle: Gelfert, S. 57<br />

Natur Menschenwerk<br />

zweckhaft: Selbstzweck:<br />

Arbeit Kultus<br />

offene finite<br />

Form Form<br />

Zur Relevanz der Kulturtheorie <strong>für</strong> die <strong>Ästhetik</strong>: Ein Einschub<br />

wirklich: scheinhaft:<br />

Ritus Kunst<br />

Performanz: Werk:<br />

zeitloser zeitlose<br />

Augenblick Dauer<br />

Die documenta XI erinnert daran, dass <strong>und</strong> wie die Künste in einem kulturellen Kontext<br />

entstehen <strong>und</strong> kulturelle Funktionen, so wie sie eine anthropologische Zugangsweise<br />

verständlich macht, auf eine bestimmt Art <strong>und</strong> Weise erfüllen. Walter Benjamin, der bei den<br />

Kuratoren dieser documenta eine große Rolle spielt, sagte einmal, dass jede Hervorbringung<br />

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einer Gesellschaft in Kultur <strong>und</strong> Wissenschaft zugleich auch ein Dokument der Barbarei sei.<br />

Dies ist im Auge zu behalten, wenn man sich wie in diesem Text mit einem Denken über<br />

Kunst befasst, das zunächst einmal nur in einer europäischen Tradition entstanden ist <strong>und</strong> nur<br />

dort Sinn macht. Insbesondere sind hierbei solche Bestimmungen von Kunst im Hinblick auf<br />

ihre Geschichte <strong>und</strong> Genese zu untersuchen, die heute oft als „ontologisch“-zeitlose<br />

Bestimmungen dargestellt werden. Theorien der Kunst, die oft auch die Praxis <strong>und</strong> das<br />

Selbstverständnis der Künstler beeinflusst haben, sind auch Ideologien der Kunst, also<br />

interessens-, zeit- <strong>und</strong> ortsgeb<strong>und</strong>ene Deutungsangebote, die gerade nicht frei von Macht- <strong>und</strong><br />

Herrschaftsbestrebungen sind. So entsteht etwa der heute als Kern jeglicher <strong>Kunsttheorie</strong><br />

geltende Autonomiegedanke erst am Ende des 18. <strong>und</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, nämlich mit dem<br />

philosophischen <strong>und</strong> künstlerischen Werk von Kant, Schiller <strong>und</strong> Goethe, von Beethoven,<br />

Wordsworth, Hugo <strong>und</strong> Flaubert. Und diese Auffassung einer autonomen Kunst wird nur<br />

nachvollziehbar, wenn man sie einordnet in ihren kulturellen (<strong>und</strong> auch politisch-<br />

ökonomischen) Kontext. Dies gilt ebenso <strong>für</strong> die damit verwandte Idee eines autonomen<br />

Subjekts, eines Individuums, das sich erstmals als Person <strong>und</strong> nicht als Teil eines Kollektives<br />

versteht, so wie sie in der Renaissance entstanden ist (Fuchs 2001).<br />

Bei näherer Betrachtung erweisen sich dabei auch die scheinbar so feststehenden<br />

Epochenbezeichnungen <strong>und</strong> ihre kulturellen Bedeutungen als rückwirkende Konstruktionen<br />

<strong>und</strong> Erfindungen, die oft mehr mit der Zeit ihrer Erfindung als mit tatsächlichen Abläufen zu<br />

tun haben. Auch Geschichte ist nämlich Teil der Herstellung einer kulturellen Selbstdefinition<br />

der jeweiligen Gegenwart. Die Erfindung der Renaissance im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, die Erfindung<br />

der Griechen am Anfang desselben Jahrh<strong>und</strong>erts, die Erfindung Ägyptens <strong>und</strong> des Orients (so<br />

Burke, Said <strong>und</strong> Asmann in Schröder/Breuninger 2001) – z. T. in imperialistischer Absicht<br />

bzw. im Zuge der Kolonialisierung dieser Gebiete durch europäische Staaten – spielen eine<br />

zentrale Rolle in den Eroberungsgeschichten der Neuzeit:<br />

„Alle kulturellen Identitäten sind nicht einfach gegeben. Sie sind ein kollektives Konstrukt<br />

auf der Basis von Erfahrung, Gedächtnis, Tradition (die ihrerseits ebenfalls konstruiert <strong>und</strong><br />

erf<strong>und</strong>en sein kann) <strong>und</strong> einer ungeheuren Vielfalt von kulturellen, politischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Praktiken <strong>und</strong> Formen. Zweitens: Vom ausgehenden 18. Jahrh<strong>und</strong>ert an bis heute sind die<br />

zentralen Begriffe des Westens, Europas <strong>und</strong> der europäisch-westlichen Identität fast immer<br />

eng verb<strong>und</strong>en mit Aufstieg <strong>und</strong> Fall der großen imperialistischen Mächte, vor allem<br />

Großbritanniens, Frankreichs, Rußlands <strong>und</strong> der USA. Keine Beschreibung der euopäischen<br />

kulturellen Identität <strong>und</strong> der Künste kann meiner Meinung nach die Beziehung zwischen<br />

Kultur <strong>und</strong> Herrschaft einfach übersehen.“ (Said in Schröder/Brenninger 2001, S. 41).<br />

Damit werden die hier vorgetragenen Untersuchungen, die sich auf die ästhetische Dimension<br />

konzentrieren <strong>und</strong> die die politisch-hegemoniale Wirkung zunächst einmal vernachlässigen,<br />

keineswegs obsolet. Allerdings wird deutlich, wie relevant die Kulturtheorie <strong>für</strong> eine Theorie<br />

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der Künste wird <strong>und</strong> welchen Wert das Projekt der documenta XI – mit den zugehörigen<br />

politologischen, soziologischen <strong>und</strong> ökonomischen Reflexionen zur Globalisierung <strong>und</strong> zum<br />

Postkolonialismus – zum Verständnis der kulturellen Funktion von Kunst in der heutigen Zeit<br />

hat, da es die Entwicklung der Künste <strong>und</strong> Kulturen konsequent in diese Prozesse der Macht<br />

<strong>und</strong> Herrschaft einordnet (Enwezor 2002). Gerade in einer solchen Perspektive muss es daher<br />

interessieren, wie es den Künsten <strong>und</strong> dem Ästhetischen gelingen kann, die genannten<br />

Prozesse der Konstruktion von Identitäten, der Selbstbeobachtung <strong>und</strong> Verortung erfolgreich<br />

zu gestalten <strong>und</strong> wie die oft verkannte <strong>und</strong> subversive Macht des Kulturellen erkannt <strong>und</strong><br />

dann auch emanzipatorisch nicht gegen die Menschen, sondern zu ihren Gunsten angewendet<br />

werden kann. Das Ziel kann also nur eine politisch, ökonomisch <strong>und</strong> soziologisch aufgeklärte<br />

ästhetische Theorie sein. Akzeptiert man dies, wird man bei Durchsicht der meisten<br />

relevanten Texte eine deutliche Verabsolutierung des europäischen Entwicklungsweges als<br />

allgemein-menschlichem feststellen müssen. Ich gehe zwar davon aus, dass trotz dieses<br />

Reflexionsdefizits – das allerdings traditionsgemäß zur Spezifik einer rein philosophischen<br />

bzw. fach-kulturwissenschaftlichen Zugangsweise zur Kunst gehört – im Gr<strong>und</strong>satz die<br />

Funktionsweise von Kunst/<strong>Ästhetik</strong> erfasst sind, sofern man sich das Anwendungsfeld auf<br />

den westlichen Bereich reduziert denkt.<br />

Notwendig ist zudem die Einbettung der <strong>Kunsttheorie</strong> in eine aufgeklärte Kultursoziologie.<br />

Bourdieu etwa verortet systematisch Kunst im System sozialer Praktiken. Und es ist<br />

vermutlich kein Zufall, dass ausgerechnet ihm ein respektloser Blick auf Kunst gelingt, denn<br />

er hat viele Jahre in Nordafrika verbracht <strong>und</strong> dort die Auswirkungen des Kolonialismus auf<br />

lokale Kulturen studieren können. <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> erfassen also durchaus<br />

Zutreffendes, doch bleibt so lange ein Ideologieverdacht bestehen, wie die historische <strong>und</strong><br />

geographische Eingeb<strong>und</strong>enheit vernachlässigt wird. <strong>Ästhetik</strong> als Ideologie beschreibt Terry<br />

Eagleton (1994) im Hinblick auf die Machtkämpfe <strong>und</strong> die Durchsetzung des Bürgertums in<br />

Europa. Nunmehr muss die Perspektive erweitert werden um einen „postkolonialen Blick“, so<br />

wie es die Kuratoren der documenta XI versuchen (Young 2001).<br />

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Abb. 20<br />

Die Vieldimensionalität von <strong>Kunsttheorie</strong>n<br />

Das Subjekt im ästhetischen Prozess<br />

Ökonomie<br />

Die Internationalisierung<br />

des Kunstmarktes <strong>und</strong> der<br />

Kulturindustrie<br />

Anthropologie Soziologie<br />

Philosophie<br />

Kunst als symbol.kulturelle<br />

Form<br />

philosophische<br />

Bestimmung des<br />

Ästhetischen<br />

zwischen<br />

aisthesis <strong>und</strong><br />

Reflektion<br />

Kunst(theorie)<br />

Kunst im Prozess der<br />

kulturellen Interessen, der<br />

Hybridisierung <strong>und</strong><br />

Kreolosierung; kulturelle<br />

Hegemonie<br />

Kulturtheorie<br />

Kunst <strong>und</strong> die<br />

„feinen Unterschiede“<br />

Kunst als Teil<br />

kultueller Identität<br />

<strong>und</strong> als Möglichkeit<br />

der Unterdrückung<br />

Politik: Macht <strong>und</strong><br />

Herrschaft<br />

Paetzold (1990) sieht zwei Aufgaben, die eine philosophische <strong>Ästhetik</strong> zu leisten hat: die<br />

Erklärung von „ästhetischer Erfahrung“ <strong>und</strong> die Bestimmung dessen, was „Kunst“ heißt.<br />

„Ästhetische Erfahrung“ sieht er als Produkt des Zusammenwirkens von Sinneswahrnehmung<br />

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<strong>und</strong> Reflexion. Ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinneswahrnehmung <strong>und</strong> Reflexion ist<br />

(nicht nur) bei Paetzold geradezu das Schema von Erfahrung schlechthin. Entscheidend ist<br />

ihre besondere Qualität, dass sie sich im Erfahrungsprozess selbst zur Gegenstand der<br />

Erfahrung macht. Zur Einordnung der beiden von Paetzold genannten Aufgaben der<br />

philosophischen <strong>Ästhetik</strong> braucht man eine Vorstellung darüber, welche Funktionsbereiche<br />

sich im – natürlich ganzheitlich agierenden – Subjekt unterscheiden lassen. Man braucht ein<br />

Modell der Persönlichkeit (Fuchs 2001). Denken, Fühlen <strong>und</strong> Handeln sind nach wie vor<br />

aktuelle Unterscheidungen (Roth 2002). Andere Autoren fügen den Willen bzw. das Urteilen<br />

als eigenständige Dimensionen dazu. Kants drei Kritiken befassen sich bekanntlich mit dem<br />

Erkennen, dem Urteilen <strong>und</strong> Handeln. In der aktuellen Kompetenzforschung<br />

(Erpenbeck/Heyse 1999) geht man von folgender Persönlichkeitsstruktur aus, in die die drei<br />

anthropologisch <strong>und</strong> bildungstheoretisch begründbaren Beziehungsdimensionen des Subjekt<br />

(zu sich, zur Zeit, zur sozialen <strong>und</strong> gegenständlichen Umwelt, Fuchs 2008) einbezogen sind<br />

(Abb. 21).<br />

Abb. 21<br />

Persönlichkeit, Bewusstheit <strong>und</strong> Reflexivität<br />

bewusstes<br />

Verhältnis zu<br />

Geschichte <strong>und</strong><br />

Zukunft<br />

(Zeitkompetenz)<br />

Wissen Fähigkeiten<br />

Fantasie Fertigkeiten<br />

Willen Erfahrungen<br />

bewusstes<br />

Verhältnis zu sich<br />

(Selbstkompetenz)<br />

bewusstes<br />

Verhältnis zu<br />

Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Natur<br />

(u. a.<br />

Sozialkompetenz)<br />

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Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> haben es damit zu tun, dass etwas zur Anschauung (i.w.S.) gebracht wird.<br />

Zunächst sind es daher die Sinne <strong>und</strong> die Sinnesfunktionen im Subjekt, denen entsprechende<br />

Gegenstandsqualitäten auf der Objektseite gegenüberstehen. (Abb. 22).<br />

Abb. 22<br />

Reflexivität <strong>und</strong> Gegenstandsbezug der Sinne<br />

Subjekt mit<br />

Organen/Sinnen:<br />

� Auge/Sehen<br />

� Nase/Riechen<br />

� Haut/Fühlen<br />

� Zunge/Schmecken<br />

� Ohr/Hören<br />

Reflexivität der Sinne<br />

KONTEXT: Kultur <strong>und</strong> Soziales<br />

Künstlerische Aktivitäten/<br />

Aktivitäten der Rezeption<br />

Objekt mit<br />

Gegenstandsqualitäten<br />

<strong>und</strong> Bedeutungen<br />

� Visuelles<br />

� Akustisches<br />

…<br />

…<br />

…<br />

Die Funktionsweise der verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten werden<br />

aktuell in den Neurowissenschaften untersucht (Roth 2002). Es scheint sicher zu sein, dass<br />

rein sensualistische oder abbildtheoretische Konzeptionen von sinnlicher Wahrnehmung<br />

falsch sind. Sinnliche Wahrnehmung ist ein einheitlicher Prozess des Bewertens,<br />

Wahrnehmens, Einordnens <strong>und</strong> Konstruierens, der sich zudem nur zu einem kleinen Teil im<br />

Bewussten abspielt. Es ist zudem an die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zu<br />

erinnern, dass auch sinnliche Wahrnehmung durch das Prisma bereits gebildeter Begriffe<br />

hindurch geschieht (Holzkamp 1973). Mir scheint, dass hier sowohl die Konzepte des<br />

„Habitus“ <strong>und</strong> des „praktischen Sinns“ (Bourdieu), aber auch die Überlegungen des<br />

Anthropologen Helmut Plessner zu den nichtdiskursiven Weltzugangs- <strong>und</strong> Ausdrucksformen<br />

des Menschen mit diesen aktuellen Ergebnissen der Hirnforschung kompatibel sind. Dies<br />

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heißt auch, die sozial- <strong>und</strong> kulturgeschichtliche Dimension bei den Sinnen zu berücksichtigen,<br />

was heißt: Die Sinne verändern sich in Abhängigkeit von Ort <strong>und</strong> Zeit, konkret: Der Mensch<br />

heute sieht, hört, fühlt, schmeckt, riecht anders als der Mensch der Antike oder des<br />

Mittelalters (Jütte 2000).<br />

Sinnliche Wahrnehmung des Menschen ist reflexiv. Dies heißt, dass sich im Prozess der<br />

Wahrnehmung ein Dreifaches abspielt:<br />

� Der Mensch sieht, hört, fühlt etc. etwas, das außerhalb von ihm selbst liegt::<br />

Objektwahrnehmung.<br />

� Der Mensch spürt sich selbst als Wahrnehmenden im Prozess der Wahrnehmung:<br />

Selbstwahrnehmung.<br />

� Gerade in der Ästhetischen Wahrnehmung nimmt er eine verdichtete <strong>und</strong> bewertete Form<br />

eines (fremden) Wahrnehmungsergebnisses wahr, das zum Zweck des<br />

Wahrgenommenwerdens hergestellt wurde: das Kunstwerk.<br />

Nimmt man die Ausführungen des letzten Abschnittes über die Aspekte der Entlastung dazu,<br />

wird das Resümee von Schmidt (1997, S. 369) verständlich:<br />

„Ästhetische Erfahrungen vermitteln kein Wissen über die Welt, sie sind nicht der Inbegriff<br />

von Welterschließung noch die blanke Negation hermeneutischer<br />

Erschließungsmöglichkeiten von Welt, aber sie halten unsere sinnlichen<br />

Wahrnehmungsfähigkeiten <strong>und</strong> intellektuellen Deutungs- <strong>und</strong> Verstehenskompetenzen offen<br />

<strong>für</strong> die Erfahrbarkeit der Welt. Diese Funktion können ästhetische Erfahrungen erfüllen,<br />

insofern ihre aus dem iterativen Zusammenspiel imaginativer Vorstellungen <strong>und</strong> semantischer<br />

Aneignungsversuchen gespeiste Unverfügbarkeit zu keinem der beiden Pole hin aufgelöst<br />

wird.“<br />

Insofern ästhetische Erfahrung die Reflexivität von Wahrnehmung enthält, vermittelt sie an<br />

einer entscheidenden Stelle Erkenntnisse über die Wahrnehmung selbst als Quelle von<br />

Wissen, vermittelt also Wissen über (den Erwerb von) Wissen bzw. Nichtwissen. Es ist<br />

offensichtlich, dass wir es hier mit einer entscheidenden Kulturfunktion zu tun haben. Das<br />

Wissen ist – neben der Orientierung an Werten <strong>und</strong> Einstellungen – entscheidend <strong>für</strong> unsere<br />

Orientierung in der Welt. Insofern ist es von großer Bedeutung, über Möglichkeiten zu<br />

verfügen, die Mittel, die Orientierungsleistungen erbringen müssen, bewerten zu können.<br />

Ästhetische Erfahrung ist eine solche Möglichkeit der Bewertung unserer Erkenntnis- <strong>und</strong><br />

Orientierungsmittel.<br />

Ästhetische Erfahrung – als Einheit einer spezifischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Reflexivität – hat<br />

als Gegenüber die spezifische Gestalt des (ästhetischen) Objekts (vgl. hierzu Abschnitt 4).<br />

Ästhetische Erfahrung, so oben, hat einen bestimmten Modus zur Voraussetzung: die<br />

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Erwartung einer bedeutsamen Mitteilung in einer von Handlungsnotwendigkeiten entlasteten<br />

Situation.<br />

Es bedarf also einer spezifischen individuellen Disposition, will man ästhetische Erfahrungen<br />

machen. Zu dieser Disposition gehört Neugierde:<br />

„Ästhetische Erfahrung“, so Schneider (1996, S. 55; Sperrungen entfernt), „ist eine<br />

kontemplative, auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete<br />

Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Bewahrung der Eigenheit dieses Gegenstandes<br />

willen erfolgt <strong>und</strong> der evaluativen ebenso wie der existentiellen Wahrnehmung eine neue<br />

Perspektive auf ihn eröffnet.“<br />

Die Suche nach Neuem sieht auch der Wahrnehmungspsychologe Walter Schurian (1986, S.<br />

13) als Spezifikum des ästhetischen Verhaltens:<br />

„Die Ausgangspunkte <strong>und</strong> Ziele der Bewegung des Ästhetischen sind vielfältiger Natur, eines<br />

jedoch befindet sich in der „Suche nach dem Anderen“. Damit ist die unstillbare Energie des<br />

Menschen angesprochen, die ihn unaufhörlich bewegt, allen Dingen um eine jeweils andere<br />

Dimension nachzugehen. Das Ästhetische richtet sich letztlich aus auf die anderen Seiten der<br />

Wirklichkeit, die unbeleuchteten Ansichten. Es sucht hinter dem Erkannten das Unerkannte,<br />

hinter dem Geschauten das Ungeschaute.“<br />

Dies ist also das Eigenartige: Ein geradezu anthropologisch f<strong>und</strong>ierter Drang nach Neuem –<br />

<strong>und</strong> die ebenfalls immer wieder heraustretende Gr<strong>und</strong>angst gegenüber dem Anderen, die bis<br />

hin zur Gewalt gegen Fremdes <strong>und</strong> Fremde führt (Kramer 1993); die Sinnlichkeit, die sich mit<br />

der Oberfläche, dem Schein des Objektes befasst <strong>und</strong> gleichzeitig hinter dieser Oberfläche das<br />

Neue, Unbekannte, Unsichtbare sucht. Der Mensch schwankt offenbar zwischen dem Bedarf<br />

an Gewissheit <strong>und</strong> Tradition <strong>und</strong> der Offenheit <strong>für</strong> <strong>und</strong> Neugier auf Unerkanntes. Vermutlich<br />

ist gerade das Ästhetische als das von Zwängen <strong>und</strong> Erwartungen Entlastete sehr geeignet,<br />

diesen Zwiespalt an Bedürfnissen zu tragen.<br />

Im Hinblick auf die bislang verwandten Kategorien lässt sich folgende Präzisierung festlegen<br />

Abb. 23<br />

Ästhetische Erfahrung<br />

Sinnliche Wahrnehmung<br />

Ästhetische Wahrnehmung Ästhetische Reflexion<br />

Ästhetische Erfahrung<br />

Bei Schneider (1998, S. 62) findet sich folgende differenzierte Grafik (Abb. 24), die<br />

allerdings die von Paetzold übernommenen Unterscheidungen zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

Erfahrung nicht übernimmt. Diese Unterscheidung ist jedoch sinnvoll gerade in<br />

125


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pädagogischer Hinsicht, da Wahrnehmungsschulung <strong>und</strong> Reflexionsschulung durchaus<br />

unterschiedliche Felder der ästhetischen Bildung sind, die zudem mit unterschiedlichen<br />

Methoden gestaltet werden können. Insbesondere gehört zur Reflexion die ästhetische<br />

Urteilsbildung, die man eben nicht bei dem spontanen Geschmacksurteil „gefällt mir/gefällt<br />

mit nicht“ belassen muss. Auch in ästhetischer Hinsicht lässt sich das Urteilen insofern<br />

diskursiv <strong>und</strong> rational gestalten, als man Begründungen <strong>für</strong> sein Urteil finden muss.<br />

Kant spricht in diesem Zusammenhang von Reflexionsurteilen, <strong>und</strong> letztlich erwarten wir von<br />

der Kunstkritik nicht bloß abschließende Werturteile, sondern die Offenlegung ästhetischer<br />

Maßstäbe, die zu dem Urteil geführt haben. Dieser Ansatz, ästhetische Urteilsbildung ein<br />

Stück weit zu durchleuchten, findet u. a. eine Stützung in der Neurowissenschaft. Diese belegt<br />

offenbar, dass nicht nur das Unbewusste beim Menschen das Bewusste eindeutig überwiegt,<br />

sondern ebenso das Emotionale das Rationale. Wenn es also richtig ist, dass das Ästhetische<br />

eine gute, möglicherweise die einzige Möglichkeit darstellt, das Unbewusste <strong>und</strong> das<br />

Emotionale im Menschen anzusprechen, vielleicht sogar zu entwickeln oder zu „kultivieren“,<br />

dann muss man um so mehr jede Möglichkeit nutzen, in der bewusste Rationalität zumindest<br />

in Grenzen eingeführt <strong>und</strong> geformt werden kann.<br />

Wie tief man sich im Feld des Unbewusst-Emotionalen <strong>und</strong> menschheitsgeschichtlich sehr<br />

Alten bewegt, zeigten die Überlegungen von Hans-Dieter Gelfert. Er identifiziert vier<br />

„Uraffekte“ im Menschen: Eifersucht, Wut, Furcht, Ekel. Diese lassen sich ästhetischen<br />

Erlebnisformen zuordnen, so dass sich ein Schema ergibt (Abb. 25).<br />

Affektgesteuerte Lustvorgänge, so rezipiert Gelfert die Neurowissenschaften, haben ihren<br />

Platz im limbischen System. Auf menschlichem Niveau gelingt es „dem gebildeten<br />

Menschen“ (S. 54f.), bewusst mit diesen Prozessen der Lust <strong>und</strong> Unlust umzugehen: Er kann<br />

sich spielerisch auf Bedrohung oder Verletzung einlassen, <strong>und</strong> dies gelingt um so mehr, je<br />

intensiver er mit der ästhetischen Gestalt umgehen kann.<br />

Schurian (a.a.O., S. 96) bringt die genannten Begriffe <strong>und</strong> psychischen Befindlichkeiten in<br />

folgenden komplexen Zusammenhang (Abb. 26).<br />

126


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Abb.: 24 Die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche von Aisthetik, <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> Kunstästhetik<br />

ästhetische<br />

Kunsterfahrung<br />

(=ästhetische<br />

Wahrnehmung<br />

ästhetischer Kunst)<br />

GEGENSTAND<br />

DER<br />

KUNSTÄSTHETIK<br />

(=KUNST-<br />

PHILOSOPHIE)<br />

ästhetische Erfahrung<br />

(= ästhetische Wahrnehmung)<br />

GEGENSTAND DER (ALLGEMEINEN) ÄSTHETIK<br />

ästhetische<br />

Naturerfahrung<br />

(=ästhetische<br />

Wahrnehmung der<br />

Natur)<br />

GEGENSTAND<br />

DER<br />

NATURÄSTHETIK<br />

Aisthesis<br />

(= menschliche Wahrnehmung)<br />

GEGENSTAND DER AISTHETIK<br />

ästhetische<br />

Erfahrung<br />

(=ästhetische<br />

Wahrnehmung)<br />

sonstiger<br />

Sinnesdinge<br />

GEGENSTAND DER<br />

ALLTAGSÄSTHETIK<br />

ODER EINER<br />

ANDEREN<br />

SPEZIALÄSTHETIK<br />

nichtästhetische<br />

Wahrnehmung<br />

ästhetischer Kunst<br />

nichtästhetische Wahrnehmung<br />

(identifizierend, verstehend, evaluativ, existenziell)<br />

nichtästhetische<br />

Wahrnehmung der<br />

Natur<br />

nichtästhetische<br />

Wahrnehmung<br />

sonstiger<br />

Sinnesdinge<br />

127


Abb. 25<br />

Uraffekte <strong>und</strong> das Ästhetische<br />

Das Erhabene<br />

Furcht<br />

Quelle: Gelfert 1998, S. 43<br />

Pflegeverhalten<br />

Submission<br />

Fluchtverhalten<br />

Eifersucht<br />

Das Schöne<br />

Appetenz<br />

Aversion<br />

Das Groteske<br />

Ekel<br />

Werbungsverhalten<br />

Dominanz<br />

Angriffsverhalten<br />

Wut<br />

Das<br />

Pittoreske<br />

128


Abb. 26<br />

Vielschichtigkeit der psychischen Wahrnehmungen<br />

Ebenen der<br />

Vielschichtigkeit<br />

Evolutivsymbolische<br />

Ebene<br />

Selbstreflexive<br />

Ebene<br />

Komplexität<br />

Psychische<br />

Prozesse<br />

Überbewußtsein<br />

<strong>Ästhetik</strong><br />

Planung<br />

Sozialisation<br />

Individuation<br />

Psychische<br />

Tätigkeit<br />

Ästhetische<br />

Wahrnehmung<br />

Verlangen Inspiration<br />

Gestaltung<br />

Verhalten<br />

Reflexive Ebene Bewußtes<br />

Anpassen Verhalten<br />

Organismische<br />

Ebene Gefühle<br />

Zelluläre Ebene Stoffwechsel<br />

Empfindung<br />

Organelle Ebene Intrazelluläre<br />

Prozesse<br />

Dissipative<br />

Strukturebene<br />

Kontextualität<br />

Schwingungen<br />

Übergang innen,<br />

außen<br />

Abnahme von Komplexität Abnahme von Kontextualität<br />

Empfindung<br />

Information<br />

Empfindung<br />

Orientierung<br />

Schwingung<br />

Nun zurück zur ästhetischen Urteilsbildung. Natürlich ist Ausgangspunkt <strong>und</strong> ständiges<br />

Ärgernis in der Diskussion über ästhetische Werturteile der Ausspruch, über Geschmack ließe<br />

sich nicht streiten. Offensichtlich ist dies empirisch falsch. Denn vermutlich wird über nichts<br />

mehr gestritten als darüber, ob ein bestimmtes Kleidungsstück gefällt, ob einem die Frisur<br />

steht, ob ein bestimmtes Bild „schön“ ist etc. Geschmacksurteile sind zunächst rein subjektiv,<br />

129


können also eigentlich nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Erfahrungsspektrums des Urteilenden<br />

verstanden werden. Andererseits treten sie oft auf mit einem Anspruch auf<br />

Allgemeingültigkeit. Sie entziehen sich der formalen Logik, <strong>und</strong> trotzdem hat es immer<br />

wieder Bemühungen gegeben, eine Logik solcher Urteile zu entwickeln.<br />

Neben der (formalen) Logik ästhetischer Urteile kann man die Frage danach stellen, worauf<br />

sich die Urteile eigentlich beziehen <strong>und</strong> was sie als Gr<strong>und</strong>lage haben. Diese systematische<br />

Analyse führt zwangsläufig zu einer Untersuchung der ästhetischen Erfahrung – als Basis des<br />

Urteilens -, der Logik ästhetischer Urteile <strong>und</strong> des Gegenstands, also des (ästhetischen)<br />

Objekts. Dies entspricht daher der Gliederung der Arbeit von Otto (1993). Einen Gedanken<br />

dieser Arbeit will ich hier skizzieren. Die Ausdrucksqualität von Kunstwerken als auslösendes<br />

Moment von Wohlgefallen spielt auch in Ottos Arbeit eine Rolle. Allerdings wird die These<br />

vertreten (<strong>und</strong> begründet), dass nicht notwendigerweise das Urteil, dass in einem Kunstwerk<br />

der Ausdruck eines Gefühls gelungen ist, mit dem Empfinden dieses Gefühls zusammenfallen<br />

muss. Die Feststellung des Gelingens im Kunstwerk ist vielmehr ein kognitiver Akt, ob das<br />

gezeigte „nachvollziehbar, aufschlussreich, einleuchtend oder „stimmig“ ist“ (ebd., S. 193).<br />

Die Lust am Schönen wird so – paradoxerweise – zu einer kognitiven Lust, die verb<strong>und</strong>en ist<br />

mit der Freude am Erkennen, Verstehen, Begreifen, Wiedererkennen. Ästhetische Erfahrung<br />

ist hier also wesentlich eine kognitive Erfahrung. Einigermaßen konsequent lässt sich mit<br />

dieser Position begründen, dass der Gegenstand der ästhetischen Beurteilung die innere<br />

Struktur, die Form des Präsentierten ist (S. 195; so auch die <strong>Ästhetik</strong> Kants).<br />

Einen zwar auch „kognitivistischen“ Weg, eine (begrenzte) Objektivität subjektiver<br />

ästhetischer Werturteile zu finden, beschreitet Piecha (2002). Sein Ansatz zielt darauf, die<br />

individuellen Hintergründe der ästhetischen Bewertung zu entschlüsseln <strong>und</strong> dadurch<br />

intersubjektiv verstehbar zu machen. Die Bewertungsprozesse selber, die stets mit<br />

Wahrnehmungsprozessen verb<strong>und</strong>en sind, beziehen ihre Rationalität aus der Relevanz <strong>für</strong> das<br />

urteilende Subjekt. Dies ist die kognitive Funktion von Emotionen, die notwendig <strong>für</strong> eine<br />

Orientierung in der Welt ist (so ähnlich auch die aktuelle Emotionspsychologie; vgl. Goleman<br />

1997 <strong>und</strong> de Sousa 1997). Auch Piecha argumentiert mit neurowissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen, die von einer vorbewussten Bewertung aller Ereignisse durch das emotionale<br />

Zentrum im Gehirn (insbesondere dem limbischen System) ausgehen.<br />

130


Das Objekt<br />

Als Gegenstand eines ästhetischen Interesses kommen im Gr<strong>und</strong>satz zwei Arten an Prozessen<br />

oder Dingen in Frage: Artefakte oder Prozesse, die in ästhetischer Absicht gestaltet sind (die<br />

man ggf. noch einmal in Kunstwerke oder Design-Gegenstände unterteilen kann), <strong>und</strong> Dinge<br />

<strong>und</strong> Prozesse des Alltags einschließlich der Natur.<br />

Bei letzterem wird man die oben vorgetragene These modifizieren müssen, dass die<br />

ästhetische Wahrnehmung eine Wahrnehmung im Hinblick auf die Erwartung einer<br />

intendierten Mitteilung ist. Man kann allerdings auch die Bedeutungsfrage stellen, wenn man<br />

nicht von einer ästhetischen Gestaltungsabsicht ausgeht. So kann die Natur mit ihrem<br />

Reichtum an Formen <strong>und</strong> Farben natürlich Objekt einer ästhetischen Betrachtung werden, die<br />

gemessen an oben vorgestellten Kriterien der Formqualität die Natur anschaut (Böhme 1989,<br />

Seel 1991). Doch war es immer schon Anliegen der <strong>Ästhetik</strong>, Gemeinsamkeiten <strong>und</strong><br />

Unterschiede in der ästhetischen Betrachtung ästhetischer oder natürlicher Objekte zu<br />

untersuchen. Bekanntlich hat Kant in seiner <strong>Ästhetik</strong> der Naturbetrachtung den Begriff der<br />

Erhabenheit vorbehalten. Die Frage nach einer intentionalen Botschaft in der Natur ist sofort<br />

mit ontologischen oder theologischen Aspekten verb<strong>und</strong>en. Denn unterstellt man eine solche<br />

Botschaft, so unterstellt man zugleich eine Absicht <strong>und</strong> einen Schöpfer. Auch wenn man<br />

einen solchen nicht unterstellen möchte, macht der ästhetische Blick Sinn, da<br />

handlungsentlastende Naturbetrachtung ebenfalls zu dem Genuss an Formen führt <strong>und</strong><br />

ebenfalls Erkenntnisse über den Zustand der Natur – <strong>und</strong> sich selbst – gewinnen lässt:<br />

„Es geht im Gr<strong>und</strong>e um das „Sichbefinden des Menschen in Umwelten“. Die durch den<br />

Menschen veränderte natürliche Umwelt wird <strong>für</strong> ihn nur deshalb zum Problem, weil er das<br />

Destruktive dieser Veränderungen nun am eigenen Leib zu spüren bekommt. Das bringt ihm,<br />

dem Menschen, zu Bewusstsein, dass er selbst als leiblich sinnliches Wesen in Umwelten<br />

existiert, <strong>und</strong> zwingt ihn, diese seine eigene Natürlichkeit wieder in sein Selbstbewusstsein zu<br />

integrieren.“ (Böhme 1989, S.).<br />

Eine <strong>Ästhetik</strong> der Natur wurde daher in den letzten Jahren auch als ökologische Naturästhetik<br />

entwickelt. Denn möglicherweise ist ein ästhetisches Interesse, das die Natur eben nicht unter<br />

dem Aspekt der Verwertung <strong>und</strong> des vordergründigen Nutzens betrachtet, eine wichtige<br />

Alternative zu ihrem heutigen Verschleiß. Der Mensch auch als Wesen der Natur kann so<br />

genau diesen Aspekt seines Seins studieren – mit durchaus beachtlichem Erkenntniswert.<br />

Körper, Leiblichkeit, Sinne: all dies erinnert an die Naturverb<strong>und</strong>enheit des Menschen – auch<br />

als Quelle des Leidens. Es scheint zudem, dass in den Zeiten der Biowissenschaften der<br />

Mensch selbst als Gestaltungsobjekt ins Blickfeld gerät, so dass die Frage, was an der Natur<br />

überhaupt noch „natürlich“ ist, zu der wichtigsten Frage insgesamt werden kann. Gerade die<br />

131


Biowissenschaften <strong>und</strong> die naturwissenschaftlich vorgehenden Neurowissenschaften setzen<br />

das Verhältnis von Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaften erneut auf die Tagesordnung, da sie um<br />

den gleichen „Gegenstand“ konkurrieren. Gestaltete nicht-ästhetische Produkte können<br />

ebenfalls einem ästhetischen Zugang unterworfen werden. In der Tat nutzen auch die Künste<br />

die Wirkung der Verfremdung, Alltagsgegenstände gegen ihre geplante Verwendungsweise<br />

zu verstehen – man erinnere sich an Duchamps ready-mades. Form <strong>und</strong> Gestalt werden so als<br />

Gr<strong>und</strong>momente menschlicher Existenz erkennbar. Eine <strong>Ästhetik</strong> des Alltags kann lehren, mit<br />

der gegenständlichen Welt bewusst umzugehen (Selle/Boehe 1986). Auch dies ist daher ein<br />

Bereich von ästhetischer <strong>und</strong> kultureller Bildung, hier in der Dimension der Herstellung eines<br />

bewussten Verhältnisses zu seiner räumlichen Umgebung.<br />

Von besonderem Interesse müssen jedoch Prozesse <strong>und</strong> Produkte sein, die in ästhetischer<br />

Absicht hergestellt werden. Der Begriff des Kunstwerks hat – wie oben erwähnt – eine junge<br />

Geschichte. Er war als Begriff kaum durchgesetzt, als schon vielfältige kunstpraktische<br />

Versuche stattfanden, die ihn umdeuten oder gar völlig destruieren wollten. Die Definition<br />

von Kunst <strong>und</strong> Kunstwerken ist also ein laufender Prozess. Und jedes Werk ist ein weiterer<br />

Beitrag zu diesem Prozess, da Kunst als zunehmend selbstreferentieller Prozess immer auch –<br />

<strong>und</strong> ständig mehr – mit ihren eigenen Produkten über sich selbst <strong>und</strong> ihre Entwicklung<br />

kommuniziert.<br />

Zur Entstehung des Kunstwerkbegriffs gehört die Herausbildung der Künstlerprofession <strong>und</strong><br />

eines spezifisch künstlerischen sozialen Feldes. „Kunst“ ist in dieser Perspektive, was eine<br />

ausgewählte Gruppe von Menschen da<strong>für</strong> hält. Diese soziologisch klingende Erklärung ist<br />

weniger skandalös, als sie beim ersten Lesen erscheinen mag. Denn das Diskursfeld, das sich<br />

um die Definition bemüht, ist durchaus fachk<strong>und</strong>ig <strong>und</strong> erledigt sein Werk vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> theoretischer Reflexionen <strong>und</strong> praktischer Entwicklungen. Und: Der Diskurs<br />

geschieht unter Bezug auf die hergestellten Dinge <strong>und</strong> Prozesse. Diese sind immer auf<br />

irgendeine Weise sinnlich wahrnehmbar, so dass die Rede von einer „Ontologie des<br />

Kunstwerks“ Sinn macht (über lange Jahre vor allem in zwei verschiedenen Ansätzen, die<br />

sich zum einen auf Heidegger, zum anderen auf Lukacs bezogen). Inzwischen greift man auch<br />

in jüngeren Publikationen auf diesen Begriff wieder zurück. Dass es sinnvoll ist, von einer<br />

„Ontologie“ zu sprechen, wurde eine Weile in frage gestellt, etwa seit die Technik leichte<br />

Reproduktionsverfahren entwickelt hat: Das „Kunstwerk in Zeiten technischer<br />

Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1963) ist in der Tat im Hinblick auf Originalität <strong>und</strong><br />

Authentizität zu untersuchen. Aktuell ist es die Virtualität der neuen elektronischen Medien,<br />

die insbesondere den Dingcharakter <strong>und</strong> die Materialität von Kunstwerken <strong>und</strong> -prozessen<br />

132


thematisiert (vgl. die etwas ältere Diskussion in Oelmüller 1983). In der kunsttheoretischen<br />

Diskussion hat man die in semiotischen Ansätzen ansonsten eher verpönte Rede über eine<br />

„Ontologie des Kunstwerks“ letztlich doch akzeptiert, eben weil die Semiotik nach einem<br />

sinnlich wahrnehmbaren Artefakt als materiellem Zeichenträger <strong>und</strong> seiner Bedeutung<br />

(Semantik) fragt. Gerade die Frage nach der Bedeutung stellt sich <strong>für</strong> jede Kunstsparte sehr<br />

spezifisch. Am schwierigsten ist diese Frage sicherlich bei der Musik zu beantworten<br />

(Dahlhaus 1975). Doch zeigen oben vorgestellte aktuelle Antwortversuche auf die Frage nach<br />

Kunst produktive Richtungen <strong>für</strong> möglichen Antworten auf: die Unterstellung einer<br />

Bedeutung auf der Basis von Neugierde, allerdings entlastet von der Notwendigkeit zur<br />

Einigung; Kunstwerke sind bedeutungsoffen, allerdings nicht bedeutungslos.<br />

Die vermutlich ausführlichste Ontologie von (bildender) Kunst hat der Philosoph Hans Heinz<br />

Holz (1996, 1997, 1997) in seiner dreibändigen „Philosophie der Bildenden Künste“<br />

entworfen. Holz war einer der wissenschaftlichen Begleiter der legendären documenta V, so<br />

dass die Annahme, seine Kunstphilosophie stütze sich lediglich auf die Klassik mit ihren<br />

ausgefeilten <strong>und</strong> allseits anerkannten Kunstwerken <strong>und</strong> den ebenso anerkannten „klassischen“<br />

<strong>Ästhetik</strong>-Standards – <strong>und</strong> haben auch nur dort Gültigkeit – nicht trägt. Holz versucht,<br />

„ursprüngliche Strukturen der Sichtbarkeit als allgemeine Bedingungen der Erfahrung von<br />

Gegenständen aufzuweisen <strong>und</strong> darin die objektive Weise des Sich-Zeigens von Dingen zu<br />

erkennen...“ (Bd. V, 1997, S. 7). Den Zusammenhang zwischen Mensch (Abschnitt 3) <strong>und</strong><br />

(Kunst-)Werk sieht Holz in einer „Korrespondenz von anthropologischen <strong>und</strong> ontologischen<br />

Universalien“ (ebd., S. 12), die sich zwangsläufig durch die Anthropogenese ergibt: Der<br />

Mensch wäre nicht lebensfähig, wenn seine Denkstrukturen nicht in irgendeiner Weise mit<br />

den Strukturen der Natur übereinstimmen würden. Allerdings braucht er immer wieder<br />

(Selbst-)Erkenntnismittel, um die Gr<strong>und</strong>lage seines Seins zu analysieren: „Ich meine nämlich<br />

die Reflexionsformen, in denen der Mensch seine gegenständlichen Verhältnisse in den von<br />

ihm geschaffenen Werken ausdrückt, sind durch die Daseinsformen der Materie vorgegeben<br />

<strong>und</strong> haben also einen ontologischen Sinn.“ (ebd., S. 13). Ontologie des Seins <strong>und</strong> Strukturen<br />

der Erkenntnis sind also nicht dasselbe, allerdings auf Gr<strong>und</strong> der bloßen Tatsache, dass der<br />

Mensch (über-)lebt, eng miteinander verb<strong>und</strong>en.<br />

Es mag überraschen, dass selbst der Idealist Ernst Cassirer (1959, S. 45), der der geistigen<br />

Kraft zur Formung den Vorrang gegenüber dem Materiellen gibt, diese auf das Faktum der<br />

lebendigen Existenz des Menschen <strong>und</strong> seine Evolution zurückführt: Auch das Geistige ist<br />

Ergebnis eines natürlichen Prozesses, ist quasi die höchste Stufe im immerwährenden<br />

Schaffungsprozess der Natur. Kunst wird – nicht nur bei Holz – also zu einem bevorzugten<br />

133


Untersuchungsfeld <strong>für</strong> die „Funktionsweise“ des Menschen schlechthin: „Das Kunstwerk“, so<br />

Holz (a.a.O., S. 13), „entwickelt uns Seinsmöglichkeiten; <strong>und</strong> diese Möglichkeiten sind die<br />

unendlich mannigfaltigen Varianten eines elementaren Repertoires von Strukturen.“.<br />

Es geht also um ein Strukturanalyse des Kunstwerkes, die berücksichtigt, dass Kunstwerke<br />

Wirklichkeit dreifach in sich aufnehmen können (ebd., S. 16):<br />

� als Abbild<br />

� als Ausdruck einer Sache, ohne mit ihr gleich zu sein<br />

� als Schaffung einer neuen Wirklichkeit,<br />

wobei sich die verschiedenen Wirklichkeiten vielfach aufeinander beziehen.<br />

Es geht also insgesamt darum, die spezifische Weise zu untersuchen, wie sich Strukturen der<br />

Welt, Strukturen des Geistes, Strukturen der Begriffe <strong>und</strong> schließlich die Strukturen<br />

unterschiedlicher Symbolsysteme aufeinander beziehen, hier speziell: die Strukturen der<br />

symbolisch-kulturellen Form Kunst. Diese müssen jedoch <strong>für</strong> jede Kunstsparte <strong>und</strong><br />

Ausdrucksform gesondert untersucht werden. Das heißt, dass hier die allgemeine Betrachtung<br />

über Kunst schlechthin endet <strong>und</strong> die vielfältigen Theorien der einzelnen Kunstsparten<br />

beginnen.<br />

Künstlerische Tätigkeiten<br />

Diesen Abschnitt kann ich kurz halten, da sich über künstlerische Tätigkeiten nur konkret, das<br />

heißt bezogen auf die Praxis in jeder Kunstsparte reden lässt. Es ist also die Praxis des<br />

Musizierens, des Theaterspielens <strong>und</strong> Tanzens, des Dichtens bzw. Lesens, des Malens <strong>und</strong><br />

Plastizierens sowie generell des Spielens zu untersuchen. In besonderer Weise ist es in<br />

pädagogischer Hinsicht wichtig zu wissen, wie sich immer reichhaltiger Praxen <strong>und</strong><br />

Tätigkeiten im Zuge der Ontogenese entwickeln, d.h. es sind hier die<br />

Entwicklungspsychologien der Musik, des Tanzes etc. zuzuziehen. Dies ist dann allerdings<br />

kein Gegenstand der <strong>Kunsttheorie</strong> mehr. Daher hier nur einige Hinweise. Die Ontogenese<br />

künstlerischer Tätigkeit ist eingebettet in die gesamte Entwicklung des Kindes. Es sind alle<br />

Persönlichkeits-Dimensionen berührt: Die Kognition, die emotional-motivationale <strong>und</strong> die<br />

sensumotorische Dimension. Künstlerische Tätigkeiten hängen mit basalen Lebensfunktionen<br />

zusammen <strong>und</strong> ergeben sich aus diesen: aus der Entwicklung der Sinne, also der – zunächst<br />

<strong>und</strong> natürlich sich entwickelnden – Entwicklung des Hörens, Sehens etc.; aus der Genese der<br />

Körpersynchronisation, der Hand-Auge-Ohr-Koordinierung. Am Beispiel der Musik werden<br />

in einem Handbuch (Bruhn/Oerter/Rösing, 1993) im Hinblick auf die Ontogenese des<br />

Musikalischen des Menschen etwa abgehandelt:<br />

134


� Hören: vor der Geburt; in den ersten Lebensmonaten<br />

� Singen <strong>und</strong> Erkennen von Melodien<br />

� Rhythmus<br />

� Tonalität <strong>und</strong> Harmonie<br />

Es wird der soziale Nahraum berücksichtigt mit seinem Einfluss durch Peers, Elternhaus,<br />

Schule <strong>und</strong> Medien bis hin zur Entwicklung einer musikalischen Urteilskraft <strong>und</strong> der Genese<br />

von musikalischen Präferenzen <strong>und</strong> musikalischem Geschmack.<br />

Man kann künstlerische Tätigkeiten einordnen in das System zu entwickelnder Tätigkeiten.<br />

Hier bietet sich eine tätigkeitsorientierte Psychologie an, die sich auf die russischen<br />

Psychologen Wygotzki (1974) <strong>und</strong> Leontiew (1982) bezieht <strong>und</strong> wie sie in (ehemals<br />

westlichen) psychologischen Handlungstheorien einbezogen worden ist. Hierbei zeigt sich,<br />

dass die oben als philosophische Kategorie der Tätigkeit mit ihren einfach Strukturmomenten<br />

Subjekt – Mittel/Tätigkeit – Objekt auch in der Psychologie genutzt werden kann (Holzkamp<br />

1983).<br />

Rolf Oerter beschreibt in dem bereits erwähnten Handbuch Musikpsychologie<br />

(Bruhn/Oerter/Röring) seine handlungstheoretische Verständnisweise von Musik <strong>und</strong><br />

menschlicher Entwicklung mit den Kategorien der Leontiewschen Tätigkeitspsychologie<br />

(unter Einbeziehung von Piaget), die zudem als Gr<strong>und</strong>prinzipien der Anthropologie bekannt<br />

sind (Fuchs 1999), nämlich mit den folgenden (dialektischen) Begriffspaaren:<br />

� Aneignung/Vergegenständlichung,<br />

� Subjektivierung/Objektivierung,<br />

die er auf einer Vierfeldertafel zueinander in Beziehung setzt (a.a.O., S. 257).<br />

Abb. 27<br />

Aneignung Vergegenständlichung<br />

Subjektivierung Musik hören, die der eigenen<br />

Stimmungslage<br />

entgegenkommt<br />

Objektivierung den Aufbau eines<br />

Musikstückes beim Anhören<br />

rekonstruieren<br />

komponieren, improvisieren,<br />

über erlebte Musik sprechen<br />

Musik werkgetreu spielen<br />

Mit diesem Ansatz lässt sich Musizieren als spezifische Tätigkeit einbeziehen in das System<br />

weiterer Tätigkeiten (Kossakowski u.a. 1977; Abb.28).<br />

135


Abb. 28 System von Tätigkeiten<br />

Spieltätigkeit<br />

Arbeitstätigkeit künstlerische<br />

Tätigkeit<br />

gesellschaftspolitische<br />

Tätigkeit<br />

Lerntätigkeit<br />

All diese Tätigkeiten haben die „allgemeinen Strukturmomente“ (Subjekt-Mittel-Objekt)<br />

gemeinsam, müssen jedoch in Hinblick auf die Rolle der Intentionalität (Zweckorientierung<br />

bei Arbeit <strong>und</strong> Politik, gemilderte Zweckorientierung beim Lernen, Zweckfreiheit beim Spiel<br />

<strong>und</strong> den Künsten) unterschieden werden (Sieben 2001). Zudem sind alle Tätigkeitsformen<br />

sozialgeschichtlich überformt, d. h. sie finden jeweils historisch-konkret unter bestimmten<br />

Bedingungen statt, die ein Handlungsrepertoire, gesellschaftlich sanktionierte Handlungsziele,<br />

Gegenstände, Frei- bzw. Zwangsräume, Möglichkeiten, Chancen <strong>und</strong> Einschränkungen<br />

bereitstellen (Kuckhermann/Wigger-Kösters 1985). Eine Einordnung der künstlerischen<br />

Tätigkeit in die Tätigkeitspsychologie gestattet es zudem, die entwickelten Konzeptionen der<br />

Tätigkeitsregulation auf die künstlerische Praxis anzuwenden, also zu fragen, wie sich die<br />

Momente der Handlungsregulation in diesem spezifischen Handlungsfeld konkretisieren<br />

(Kossakowski u.a. 1977, S. 111ff.) Abb. 29<br />

Abb. 29 Tätigkeitsregulation<br />

Behalten<br />

Erkennen<br />

Tätigkeit<br />

Erleben<br />

Kontrollieren Entscheiden<br />

Streben<br />

Bewerten<br />

136


Der Begriff des Symbols als theoretisches Hilfsmittel der <strong>Kunsttheorie</strong><br />

Ein „Symbol“ verbindet eine (geistige) Bedeutung mit einem (materiellen) Substrat (Cassirer<br />

1990). Es lässt sich auf dieser Gr<strong>und</strong>lage eine Theorie der Künste innerhalb einer Theorie der<br />

Symbole entwickeln (Abb. 30).<br />

Abb. 30<br />

Theorie der Künste<br />

Syntax:<br />

Form <strong>und</strong> Gestalt<br />

wahrnehmendes<br />

Sinnesorgan:<br />

Ohr/M<strong>und</strong><br />

Auge<br />

Körper<br />

Haut<br />

M<strong>und</strong><br />

Nase<br />

(bei Rezeption<br />

<strong>und</strong> Produktion)<br />

Erläuterungen<br />

Sinnlich wahrnehmbar ist am Symbol die Gestaltung, das gegenständliche Substrat mit seiner<br />

spezifischen Materialität <strong>und</strong> Gestalt. Es lassen sich physikalisch von anderen Symbolträgern<br />

unterscheiden:<br />

� Akustisch wahrnehmbare Töne <strong>und</strong> Geräusche<br />

� Visuelles<br />

Sigmatik: gegenständliche Referenz;<br />

materielles Substrat;<br />

Zeichenkörper<br />

Pragmatik (Produktion <strong>und</strong><br />

Rezeption)<br />

Sinnesaktivität:<br />

Hören/Sprechen<br />

Sehen<br />

Fühlen/Tasten<br />

Schmecken<br />

Riechen<br />

bei Produktion:<br />

Gestalten<br />

sowie weniger bis gar nicht als elaborierte Kunstformen verbreitet<br />

Semantik:<br />

Bedeutung; Deutung<br />

künstlerische<br />

Symbolform/Objekt:<br />

Sprache/Dichtung/Musik<br />

Malerei/Skulptur/Tanz/<br />

Theater/Gestik/Mimik/<br />

Architektur<br />

137


� Taktiles, also materielle Oberflächenqualitäten, die durch Fühlen <strong>und</strong> Tasten erfasst<br />

werden,<br />

� Gerüche <strong>und</strong> Geschmacksrichtungen.<br />

Es ist offensichtlich, dass das Sehen <strong>und</strong> Hören <strong>und</strong> – in Grenzen – das Fühlen (etwa Ertasten<br />

von Skulpturen) auf der rezeptiven Seite <strong>für</strong> die Künste relevant sind. Auf der produzierenden<br />

Seite ist es entsprechend<br />

� die Herstellung von Hörbarem (Musik, gesprochene Dichtung)<br />

� die Herstellung von Sichtbarem (Bildende Kunst, aber auch Tanz, Theater <strong>und</strong><br />

Architektur).<br />

Der Körper als Ganzes ist beteiligt in der Architektur.<br />

In der Formung <strong>und</strong> Gestaltung dieser sinnlichen Artefakte kommt die ästhetische Dimension<br />

zum Ausdruck. Ästhetische Erfahrung, so Abschnitt 3, kommt jedoch erst durch die<br />

Hinzufügung von Reflexion zustande. Damit ist zum einem das Verständnis der Formsprache<br />

gemeint. Es bezieht sich jedoch auch auf die Bedeutungsdimension, die erst auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage von vorhandenem Wissen über mögliche Bezüge entfaltet werden kann. Wie sehr<br />

hier soziokulturelles Wissen notwendig ist, sieht man, wenn man die Versuche zum Verstehen<br />

alter F<strong>und</strong>e bzw. von Artefakten fremder Kulturen betrachtet, also in das Feld einer<br />

archäologischen Hermeneutik übergeht.<br />

In Hinblick auf den letzten Abschnitt lässt sich künstlerische Praxis nicht nur einordnen in<br />

Theorien des Symbolischen, sondern auch – aus der Sicht des Subjekts – in Theorien zur<br />

(Onto-)Genese von Symbolkompetenzen.<br />

Betrachtet man das Symbol als diejenige Relation im Semiotischen Schema (siehe Abb. 4),<br />

die die Beziehung Zeichenträger – Bedeutung thematisiert, dann ist die Semiotik die<br />

übergreifende Theorie, die die einzelne Dimension des Symbolgebrauchs präziser benennt<br />

(wie gesehen: die Formqualitäten des materiellen Symbolträgers in der Syntax, die Rolle des<br />

Symbol-Gebrauchs in der Pragmatik).<br />

138


Musik etwa, die im letzten Abschnitt skizziert wurde, lässt sich daher einordnen in:<br />

Abb. 31<br />

Musik in der Semiotik<br />

Pragmatik: Psychologie der musikalischen Tätigkeit; produktiver <strong>und</strong> rezeptiver<br />

Umgang mit Musik; zugleich: soziale Konstitutionsbedingungen des<br />

musikalischen Feldes (i.S. von Bourdieu)<br />

Syntax: Entwicklung der Formaspekte in der Musik<br />

Semantik: „Bedeutung“ in der Musik, so wie sie in der Musikalischen Hermeneutik<br />

untersucht wird (z. B. Dahlhaus 1975)<br />

Die Tätigkeit, Symbole zu erfinden, also eine geistige Welt („Bedeutung“) mit einem<br />

Materiellen zu verbinden <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine gewisse Dauer mit dieser Verbindung so zu arbeiten,<br />

dass das Materielle das Geistige repräsentiert, ist bei Cassirer das Spezifikum des Menschen.<br />

Es ist daher durchaus interessant zu sehen, wann in der Phylogenese diese Fähigkeit entsteht.<br />

So ist das etwa von Ernst Haeckel formulierte „Gesetz“ von der Parallelität von Onto- <strong>und</strong><br />

Phylogenese zwar nicht generell anerkannt, wird aber zumindest als heuristisches Instrument<br />

immer wieder gerne genutzt (vgl. den Beitrag „Ontogeny and Phylogeny“ der beiden<br />

Herausgeber in Lock/Peters 1996, S. 371 ff). Holzkamp (1973, S. 150 ff.) gibt den folgenden<br />

Ablauf der Entstehung von Symbolkompetenz an:<br />

� Zunächst: Vergegenwärtigung von Gebrauchswert-Antizipationen ist eng an auf stoffliche<br />

Veränderung gerichtete Tätigkeitsmomente geb<strong>und</strong>en.<br />

� Mit der Werkzeugreproduktion ergibt sich eine immer größere Verselbstständigung <strong>und</strong><br />

verselbstständigte Weitergabe von Wissen.<br />

� Es entwickelt sich eine selbstständige Übertragung von Wissen über Verfahren der<br />

Werkzeugherstellung.<br />

� Dazu gehört: Allgemeine Eigenschaften der objektiven Welt, die durch Arbeit zutage<br />

treten, sind nun nicht mehr bloß praktische Umgangserfahrung, sondern werden zur<br />

vergegenwärtigten <strong>und</strong> in dieser Form tradierbaren Erfahrung.<br />

� Gebrauchswertbestimmungen, die als Gegenstandsbedeutung im Werkzeug<br />

vergegenständlicht sind, werden immer mehr als Symbolbedeutung auf den Begriff<br />

gebracht, wobei diese Symbolbedeutung zunächst eng auf die Gegenstandsbedeutung<br />

bezogen bleibt.<br />

� Es entwickelt sich nun die Stufe des Sprachlich-Symbolischen. Ist diese Stufe erreicht,<br />

dann geschieht die Wahrnehmung durch den Begriff hindurch.<br />

139


� Verständigung über Dinge <strong>und</strong> Menschen ist nun auch in deren Abwesenheit möglich.<br />

(Ebd.).<br />

Man kann nunmehr untersuchen, wie die Entwicklung bei unterschiedlichen Symbolsystemen<br />

verläuft. Zwei Themen waren dabei immer schon von besonderem Interesse: die Genese von<br />

Sprache (gesprochene <strong>und</strong> Schriftsprache) <strong>und</strong> die Genese des Bildgebrauchs <strong>und</strong> des<br />

Zeichnens. An beiden Themen haben Ethnologen, Frühgeschichtler <strong>und</strong><br />

Entwicklungspsychologen gearbeitet <strong>und</strong> jeweils die kulturvergleichende, die phylogenetische<br />

<strong>und</strong> die ontogenetische Sichtweise eingenommen. Eine besondere Rolle spielen dabei die<br />

mathematischen Konzepte der Zahl <strong>und</strong> der geometrischen Gr<strong>und</strong>figuren, weil diese bereits<br />

zu einem frühen Zeitpunkt Funktionen der Orientierungen in der Welt übernehmen müssen.<br />

Ich will dies hier nicht weiter verfolgen, sondern lediglich darauf hinweisen, wo <strong>und</strong> wie<br />

diese Frage der Genese von Symbolkompetenzen weiter verfolgt werden kann. Neben diesen<br />

eher kognitiven Medien (Zahl, Sprache) spielen dabei zunehmend nonverbale<br />

Ausdrucksmedien (Gestik, Mimik etc.) eine Rolle, um die sich insbesondere Helmut Plessner<br />

verdient gemacht hat <strong>und</strong> die nunmehr in der Historischen Anthropologie (Wulf 1997 mit<br />

zahlreichen Stichworten wie „Geste“, „Rhythmus“, „Bewegung“) untersucht werden. Es liegt<br />

auf der Hand, dass gerade diese nichtdiskursiven Modi der Kommunikation <strong>und</strong><br />

Weltbegegnung in künstlerischem Kontext von entscheidender Bedeutung sind. Sie sind es<br />

zudem in der Soziologie, so wie sie insbesondere Bourdieu ausgearbeitet hat: Denn die<br />

verinnerlichten Gesten, Haltungen, Bewertungen, Ausdrucksmodi etc. <strong>und</strong> die Differenzen in<br />

den Ausprägungen bei bestimmten sozialen Gruppen („Habitus“) formieren entscheidend das<br />

vielfältig gegliederte soziale Feld <strong>und</strong> entscheiden - als „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987)<br />

– über den sozialen Rangplatz der betreffenden Person (zur „Geste“ <strong>und</strong> ihrer Rolle als Mittel<br />

der Sinngebung im sozialen Prozess, die mimetisch verstanden werden muss, siehe den<br />

Beitrag von Wulf in Wulf 1997, S. 516 ff.). Dieses „gestische Körperwissen“ (ebd., S. 524)<br />

entsteht weit gehend unabhängig vom Bewusstsein (vgl. Roth 1997, 2001). Man eignet es sich<br />

in sozialen Situationen an, es verdichtet sich zu einem „Habitus“ (Bourdieu) <strong>und</strong> prägt den –<br />

ebenfalls weit gehend unbewusst ablaufenden – „praktischen Sinn“ (Bourdieu) als<br />

alltagsrelevantes Orientierungsinstrument des Menschen. Auch hier glaube ich, dass<br />

zivilisationsgeschichtliche Untersuchungen zur Rolle der Gestik <strong>und</strong> Mimik (Elias), eine<br />

Philosophie der Gestik (Plessner, Flusser), eine Neurowissenschaft des gestischen<br />

Körperwissens (Roth) <strong>und</strong> eine Soziologie der „feinen Unterschiede“ in Gestik <strong>und</strong> Mimik<br />

(Bourdieu) letztlich zusammenlaufen <strong>und</strong> eine Basis gerade <strong>für</strong> die „performing arts“ <strong>und</strong> die<br />

zugehörige <strong>Pädagogik</strong> bieten (Belgrad/Niesyto 2001).<br />

140


Ein letzter Hinweis. Symbole stehen zwischen Mensch <strong>und</strong> Welt, sie sind Mittel (also<br />

„Medien“) des Weltzugangs. Jede Symboltheorie ist daher eine Medientheorie im<br />

allgemeinen Sinne.<br />

Ernst Cassirer unterscheidet unterschiedliche symbolische Formen, also spezialisierte<br />

Bereiche von Symbolen, die jeweils das Ganze der menschlichen Existenz (die „Welt“) in den<br />

Blick nehmen, dies jedoch auf je unterschiedliche Weise tun. Cassirer spricht von einem<br />

„Brechungsindex“ einer jeden symbolischen Form. Bildende Kunst nimmt die Welt über<br />

„Bilder“ wahr, Sprache hat „Wörter“ <strong>und</strong> „Sätze“ zur Verfügung, Religion über<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> Ideen von „Gott“. Wissenschaft hat spezifische wissenschaftliche Begriffe,<br />

etwa den Begriff der Zahl. Es gibt also je abgrenzbare Möglichkeiten, sich mit den<br />

symbolischen Formen ein Bild von der Realität (also „Wirklichkeiten“) zu schaffen (Abb.<br />

32). Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman stützt sich in seiner Symboltheorie auf<br />

diesen Gedanken der „Weisen der Welterzeugung“.<br />

Das Verständnis von Symboltheorie als Medientheorie findet sich auch in der ambitionierten<br />

mehrbändigen Geschichte der Medien von Werner Faulstich (1996 ff.). Hier (ebenso wie<br />

knapper bei Hörisch 2001) wird Mediengeschichte als Kulturgeschichte geschrieben, die von<br />

Ritualen, von Tanz, Theater <strong>und</strong> der Höhlenmalerei über die Schrift- <strong>und</strong> Buchkultur bis zu<br />

den neuen elektronischen Medien reicht (besser – bei Faulstich – reichen wird; bislang ist er<br />

erst in der frühen Neuzeit angekommen). Das „Symbol“ verbindet also Medien- mit<br />

Kulturgeschichte, Medien- mit Kulturtheorie <strong>und</strong> schließlich Medien- mit Kulturpädagogik<br />

(hierzu Belgrad/Niesyto 2001). Spätestens seit der documenta XI ist zudem klar geworden,<br />

dass auch die <strong>Kunsttheorie</strong> heute nicht mehr ohne Medienästhetik verstanden werden kann<br />

(siehe hierzu Reck 1991, 1994; Schell 2000).<br />

141


Abb. 32<br />

Symbolische Formen als Weisen der Welterzeugung<br />

Energien zur<br />

Schaffung<br />

unterschiedlicher<br />

(ideeller)<br />

Symbolsysteme<br />

als<br />

Formen<br />

des<br />

Erkennens<br />

der<br />

Realität/der<br />

Schaffung<br />

spezifischer<br />

Wirklichkeiten<br />

Mensch<br />

Sprache<br />

Religion<br />

Mythos<br />

Kunst<br />

Wissenschaft<br />

Technik<br />

Wirtschaft<br />

Staat<br />

unterschiedliche<br />

Wirklichkeiten<br />

sprachliche<br />

Wirklichkeit<br />

religiöse<br />

Wirklichkeit<br />

mythologische<br />

Welt<br />

ästhetische<br />

Wirklichkeit<br />

wissenschaftliche<br />

Wirklichkeit<br />

Welt der<br />

Technik<br />

Welt der<br />

Wirtschaft<br />

politische Welt<br />

Kultur: Summe der symbolischen Formen<br />

Bezug zur<br />

realen<br />

Welt über<br />

spezifischenBrechungsindex<br />

der<br />

symbolischen<br />

Formen<br />

D<br />

I<br />

E<br />

W<br />

E<br />

L<br />

T<br />

142


4. Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> – eine unheilige Allianz?<br />

Die obigen historischen Anmerkungen haben bereits gezeigt, wie eng ethische mit<br />

ästhetischen Fragen zusammenhängen. Die Realgeschichte der Künste verstärkt diesen<br />

Zusammenhang. Die Frage danach, wie wir leben wollen, dürfte die Kernfrage der Moderne<br />

sein. Damit stellt sich aber auch das Problem, wie die zunehmende Autonomie der Künste<br />

(s.u.) <strong>und</strong> zugleich ihre praktische Relevanz zusammen gedacht werden können. Dieser Frage<br />

gehe ich in diesem Kapitel nach. Obwohl zunächst eine Konzentration auf Ethik-Diskurse<br />

vorliegt, behalte man den hier unterstellten engen Zusammenhang von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> im<br />

Auge, deren gemeinsamer Fokus die Handlungsfähigkeit des Subjekts, also: das gute Leben in<br />

einer wohlgeordneten Gesellschaft ist.<br />

Das antike Ideal der Einheit des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen ist dabei eine erste Antwort auf<br />

diese Frage nach dem Zusammenhang von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>.<br />

Die Bedeutung moralphilosophischer Fragen vergrößert sich seit Beginn der Neuzeit<br />

ungemein. Denn nunmehr stellt sich – auch auf Gr<strong>und</strong> des ersten großen Bedeutungsverlustes<br />

der Kirche im Zuge der Reformation – erst recht die Frage nach dem richtigen Handeln. Es<br />

müssen nämlich citoyen <strong>und</strong> bourgeois, Privates <strong>und</strong> Öffentliches, Staatsbürger <strong>und</strong> Christ<br />

zunehmend individuell auf eine Linie gebracht werden, was bedeutet, dass der Einzelne<br />

durchaus unterschiedliche <strong>und</strong> z. T. widersprüchliche Handlungsanforderungen integrieren<br />

muss. Die „Entdeckung des Individuums“ (Dülmen 1997) verschärft das individuelle<br />

Entscheidungsproblem. Autonomie – also „Selbstgesetzgebung“ – hat ihren Preis in der Mühe<br />

<strong>und</strong> Last, nunmehr die Verantwortung <strong>für</strong> das eigene Handeln übernehmen zu müssen. Der<br />

Protestantismus verstärkt diese Autonomisierungstendenz des Einzelnen, insofern nunmehr<br />

jeder <strong>für</strong> sich unmittelbar bei Gott Rechenschaft <strong>für</strong> sich ablegen muss (Fuchs 2001, Taylor<br />

1994 <strong>und</strong> 2009). Äußere Normerwartungen von Fürst <strong>und</strong> Kirche werden in die Instanz des<br />

Gewissens hinein verlagert (Kittsteiner 1991). Und ein zunehmend ausgebautes öffentliches<br />

Erziehungssystem hilft dabei, die moralische Entwicklung des Einzelnen zu unterstützen(Berg<br />

u.a. 1987 ff). Moralische Integration war immer schon eine zentrale gesellschaftliche<br />

Funktion der öffentlichen Erziehung. Dabei ist es – gerade heute wieder – die Frage der<br />

Werteerziehung, die in der <strong>Pädagogik</strong> eine besondere Rolle spielt. Der – auch entnervte –<br />

Ausruf „Ach, die Werte!“ von Hartmut von Hentig (1999) bringt dies zum Ausdruck.<br />

Dahinter steckt ein in der Tat wichtiges Problem: Das individuelle Gewissen, das sich an<br />

gesellschaftlich anerkannten Werten orientiert, erspart eine Menge Polizei, da dann der<br />

Einzelne das freiwillig tut, was er tun soll. Norbert Elias <strong>und</strong> auf andere Weise Michel<br />

143


Foucault <strong>und</strong> Charles Taylor haben nachgezeichnet, wie die Entwicklung dieser<br />

Verinnerlichung der Disziplinierung zunehmend bewusst betrieben werden. Es entstand<br />

nämlich ein immer ausgreifenderer Staat, der sich zunehmend um die Mentalität der Bürger<br />

kümmerte („Polizey“; Raeff 1983). Das öffentliche Erziehungssystem spielte hierbei eine<br />

zentrale Rolle. Auf philosophischer Ebene wurde dies durch Ansätze verstärkt, die bewusst<br />

<strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> Ethik zusammenhalten. Die Erinnerungen an diese Entwicklungen im 17. <strong>und</strong><br />

vor allem im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert sind daher wichtig, weil sie das Ausgangmaterial sowohl <strong>für</strong> die<br />

Moralphilosophie als auch <strong>für</strong> die <strong>Ästhetik</strong> von Kant lieferten bis hin zu den – von ihm dann<br />

allerdings umgedeuteten – Begriffen wie dem der Lust/Unlust oder der Zweckmäßigkeit. Die<br />

englische <strong>Ästhetik</strong> (Shaftesbury, Hutcheson <strong>und</strong> später Burke) entwickelte sich dabei als<br />

Opposition zu der rationalen <strong>und</strong> streng regelorientierten französischen <strong>Ästhetik</strong>. Sie setzte<br />

vielmehr auf das Subjekt <strong>und</strong> seine Empfindungen <strong>und</strong> spielte in dieser Hinwendung zum<br />

Subjekt bei der Entwicklung der psychologischen <strong>Ästhetik</strong> eine zentrale Rolle (Allesch 1987).<br />

Insgesamt gilt das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert auch als Zeit der „Erfindung“ einer psychologischen<br />

Zugangsweise zum Menschen. Der Entwicklungsroman als Gattung zeigt dies. Goethes<br />

„Wilhelm Meister“ <strong>und</strong> Moritz’ „Anton Reiser“ sind berühmte Beispiele. Es geht um<br />

Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften, Begierden, durchaus auch als Teil einer<br />

Innerlichkeit, so wie sie Taylor (1994) als eine „Quelle des Selbst“, also als Gr<strong>und</strong>lage der<br />

modernen Individualität beschrieben hat.<br />

Ein Vergleich zwischen der englischen <strong>und</strong> der französischen Gartenarchitektur zeigt deutlich<br />

die Unterschiede: Hier der Wildwuchs, der Gefühle auslöst, dort das regelgeleitete Werk, in<br />

dem man normative Ordnungsvorstellung – <strong>und</strong> natürlich die Macht des Königs –<br />

wiederfinden will. Die genannten englischen Philosophen – man könnte sie als Pendants zu<br />

den „Popularphilosophen“ in Deutschland verstehen – verhandelten über das Erhabene <strong>und</strong><br />

das Schöne (Burke) oder über den „Ursprung unserer Ideen von Schönheit <strong>und</strong> Tugend“<br />

(Hutcheson). Relevant sind sie, weil sie nicht nur in England, sondern auch auf dem<br />

Kontinent ein großes Publikum fanden <strong>und</strong> etwa auch Kant vor der Abfassung seiner<br />

entsprechenden Kritiken bei seiner Hochschullehrertätigkeit als Lehrbuch dienten. Nicht<br />

zuletzt gehen berühmte Ideen wie die Verbindung von Schönheit <strong>und</strong> Zweckfreiheit, die<br />

später Kant aufgegriffen hat, auf diese Autoren zurück. Die deutschsprachige<br />

Popularphilosophie (u.a. Johann Jacob Engel, Christian Garve, Johann Georg Sulzer) griff<br />

(ekklektisch) viele dieser Ideen auf, sorgte <strong>für</strong> Übersetzungen oder band sie in eigenen Essays<br />

<strong>und</strong> andere Texte ein.<br />

„Es ging um die „Ästhetische Ordnung des Handelns“. So wird in der Popularphilosophie<br />

nicht zufällig die exponierte Sphäre der ästhetischen Darstellung – Literatur, Drama <strong>und</strong><br />

144


Theater – zu einem bedeutenden Bezugspunkt moralphilosophischer Handlungsdiskussionen.<br />

Denn die Darstellungssphäre zeigt Handlungen in einem Gestaltungszusammenhang, der zur<br />

Anschauung bringt, auf welche Weise <strong>und</strong> an welchen Schaltstellen die „Seelenkräfte“ tätig<br />

werden <strong>und</strong> wie diese den Entwicklungsgang von Handlungen prägen.“ (Bachmann-Medeck<br />

1989, S. 5).<br />

Auch die Bewegung hin zu einer „Kunstreligion“ lässt sich in diesem<br />

Überschneidungsbereich von Moralphilosophie <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> verorten. Denn angesichts des<br />

durch die Macht der Vernunft im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert unter Druck geratenen Glaubens (Hazard<br />

1949) suchte man nach spirituellen Alternativen oder Kompensationen.<br />

Das öffentliche Erziehungssystem – daran sei noch einmal erinnert – hat die Aufgabe der<br />

Integration der nachwachsenden Generation in die je vorfindliche Gesellschaft . Und hierbei<br />

ist die Werteübernahme ein entscheidendes Moment. Die Frage ist dabei nicht nur, welche<br />

Werte es sind, die in einer pluralistischen Gesellschaft vermittelt werden sollen; gefragt<br />

werden muss auch, ob <strong>und</strong> wie Wertevermittlung funktioniert. Immerhin findet auch in dieser<br />

erziehungswissenschaftlichen Frage heute ein Paradigmenwechsel statt: dass nämlich die<br />

Vorstellung einer linearen Ursache-Wirkung-Beziehung verfehlt ist. Es gibt kaum einen<br />

geraden Weg der Werteinstruktion <strong>und</strong> -vermittlung. Eine in vielerlei Hinsicht mit<br />

Gr<strong>und</strong>überzeugungen dieses Textes übereinstimmende Expertise (Liebau 1999) zeigt dies.<br />

Dies ist jedoch nicht das Ende der Werteerziehung, sondern vielmehr ein anspruchsvoller<br />

Beginn. Wie sich dies erklärt, soll später gezeigt werden.<br />

Diese eher assoziative Reise sowohl durch die überreiche aktuelle Ethik- <strong>und</strong> Moraldiskussion<br />

als auch durch die Geschichte moralphilosophischen Denkens hat – eher implizit – einige<br />

Ergebnisse erbracht, die ich nunmehr explizit sichern will.<br />

1. Bei ethisch-moralischen Fragen geht es nicht nur um (materielle) Lebensentscheidungen,<br />

sondern immer auch um die Begründung dieser Entscheidungen, um das Bemühen, solche<br />

Entscheidungen sich oder anderen verständlich zu machen, um die Frage der<br />

Verallgemeinerbarkeit der moralischen Urteile. Die vielleicht am meisten praktisch<br />

orientierte philosophische Disziplin birgt dabei möglicherweise die kompliziertesten<br />

theoretischen Fragestellungen.<br />

2. Es geht um Praxis, um das Handeln von Menschen, um seine Ausrichtung, Umsetzung,<br />

Begründung. Der Mensch ist ein handelndes, tätiges Wesen. Ethik <strong>und</strong> Moralphilosophie<br />

bieten daher philosophische Theorien des menschlichen Handelns an.<br />

3. Die Notwendigkeit des Handelns bringt die Notwendigkeit des Entscheidens <strong>und</strong><br />

Auswählens mit sich: Handeln bedeutet auch immer, durchaus begründete<br />

145


Handlungsalternativen nicht zu befolgen. Eine Philosophie des Handelns ist daher immer<br />

auch eine Philosophie des Lassens (Seel 2002).<br />

4. Handeln hat eine Vielzahl von äußeren <strong>und</strong> inneren Rahmenbedingungen zu<br />

berücksichtigen. Im Hinblick auf die äußeren Rahmenbedingungen sind es<br />

gesellschaftliche Verhaltenserwartungen („Normen“), ist es also die klassische Frage nach<br />

Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen (Sittlichkeit), die der Disziplin auch ihren Namen gegeben hat:<br />

Moral bezieht sich auf mos/mores (lat.): Sitten; ebenso wie ethos (gr.) Sitten <strong>und</strong><br />

Gepflogenheiten meint. Das Verhalten im Sozialen beschreibt die Sozialethik <strong>und</strong> die<br />

politische Philosophie. Ein zentrales Thema ist hier etwa das Problem der Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Solidarität. Handeln heißt aber auch: Realisierung der individuellen Weise des<br />

Lebens; heißt: Verfolgung individueller Glücksansprüche <strong>und</strong> Freiheitserwartungen;<br />

bedeutet: Umsetzung der individuellen Lebenskunst. Hiermit beschäftigt sich die<br />

Individualethik. Möglich ist dabei auch ein Zugang, der nicht die einzelne Handlung (oder<br />

die Handlung des Einzelnen) <strong>und</strong> ihre Folgen untersucht, sondern die moralische<br />

Disposition des Handelnden: Seine Tugenden <strong>und</strong> Schwächen.<br />

5. Wenn Handeln sich in der Moderation sozialer <strong>und</strong> individueller Ansprüche vollzieht,<br />

wenn also Individual- <strong>und</strong> Sozialethik vermittelt werden müssen, dann sind moral-<br />

philosophische Fragen entschieden Bildungsfragen. Denn „Bildung“ als Leben im<br />

aufrechten Gang (E. Bloch) hat immer auch die Aufgabe der Herausbildung von<br />

(individuumsbezogener) Autonomie <strong>und</strong> (sozialbezogener) Solidarität (Liebau 1999, S.<br />

149; Fuchs 2001).<br />

6. Der Mensch entwickelt vielfältige Welt- <strong>und</strong> Selbstverhältnisse. Es ist sinnvoll, etwa<br />

einen theoretischen, ästhetischen <strong>und</strong> moralischen Weltzugang zu unterscheiden. Gerade<br />

weil die früher selbstverständliche Einheit des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen auseinander<br />

gebrochen ist, ist es heute eine wichtige Aufgabe, erneut einen Zusammenhang zu finden.<br />

Denn Leben ist ganzheitlich <strong>und</strong> lässt sich letztlich nicht in Fachdisziplinen <strong>und</strong><br />

Schubladen aufteilen (vgl. Welsch 1996).<br />

Eine Möglichkeit, diese Vielzahl von Aspekten zu bündeln, scheint mir ein anthropologisches<br />

Vorgehen zu sein: vom Menschen selbst auszugehen. Böhme (1997) erarbeitet seinen<br />

Ethikzugang anhand der Idee, dass sich Ethik mit der Frage befasse, was es bedeute, „gut<br />

Mensch zu sein“. Wohlgemerkt, es heißt nicht: ein guter Mensch zu sein. Es geht vielmehr<br />

um den Vollzug der Tatsache, zum Gattungswesen Mensch zu gehören, also<br />

Bestimmungsmerkmale des Menschseins in einer gewissen optimalen Form auszuleben –<br />

146


ganz nach dem anthropologischen Gr<strong>und</strong>satz: Der Mensch müsse erst werden, was er – von<br />

seinen Anlagen <strong>und</strong> Möglichkeiten her – ist. Dieser Bezug auf das menschliche Leben als<br />

Kern der Ethik ist zwar verbreitet, doch gibt es auch zahlreiche andere Ansätze. Mir scheint<br />

jedoch – gerade <strong>für</strong> praktische (pädagogische <strong>und</strong> politische) Zwecke – dieses Vorgehen<br />

unvermeidbar: „Solange (der Mensch) noch nicht geboren <strong>und</strong> noch nicht zu eigenem<br />

Handeln fähig ist, kann er kein moralisch zurechenbares Subjekt sein; <strong>und</strong> wenn er gestorben<br />

ist, erlischt sein Anspruch auf eigene Lebensführung ganz von selbst.“ (Gehrhardt 1999, S.<br />

20). Es ist stets der Mensch, der sein Leben selbstbewusst führt, <strong>und</strong> dieses Leben muss auf<br />

die spezifisch menschlichen Bedingungen bezogen sein. Diese liegen sowohl in seiner<br />

genetischen Mitgift als auch in den sozial-kulturellen Kontexten (ebd., S. 21f.). Und auch dies<br />

fällt auf: Ethikdiskurse haben immer dann Konjunktur, wenn das Leben krisenhaft wird. Das<br />

mag in besonderer Weise jeweils am Ende von Jahrh<strong>und</strong>erten sein, wenn ein größerer Bedarf<br />

an Rückblicken entsteht. In der Tat ist eine Reihe bedeutender Ethiktexte um<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwenden entstanden (Kant, Nietzsche). Gesellschaftliche Krisen nehmen allerdings<br />

keine Rücksicht auf den Kalender.<br />

Ein Wort zur Terminologie. Es gibt in der philosophischen Literatur keine einhellige<br />

Verwendungsweise der Begriffe Moralphilosophie oder Ethik. Ich übernehme die folgenden<br />

Bestimmungen: Ethik ist – als philosophische Disziplin – eine Reflexionswissenschaft, das<br />

heißt, es geht um die – oft metatheoretische – Frage nach Begründungsmustern in der –<br />

praxisbezogenen – Moraldebatte. Daher wird in diesem Kontext „Ethik“ synonym mit<br />

„Moralphilosophie“ verwendet. Hierbei wird Ethik oft sehr stark zur Meta-Ethik, so etwa bei<br />

Kutschera 1982 oder insgesamt im Kontext der vor allem in angelsächsischen Ländern<br />

verbreiteten Analytischen Philosophie. Derartige Ethik-Lehrbücher lesen sich über weite<br />

Strecken wie logische Traktate <strong>und</strong> beschäftigen sich etwa mit der Logik des Sollens. „Ethik“<br />

wird jedoch auch häufig als individuumsbezogene Lehre des guten Lebens verwendet <strong>und</strong><br />

behandelt etwa Fragen der Lebenskunst (Schmid 1998). Historisch ist Ethik auch als<br />

Reflexion einer bewussten Lebensführung entstanden (Gerhardt 1999). In dieser<br />

individuumsbezogenen Sichtweise werden oft Fragen der Tugend abgehandelt, also der je<br />

individuellen Disposition <strong>für</strong> richtiges oder falsches Handeln („Ethos“ als individuelle<br />

Gesinnung; vgl. Rippe/Schaber 1998). Dass dieses eher altertümliche Wort seine Aktualität<br />

nicht verloren hat, erkennt man leicht daran, dass eine moderne Übersetzung des griechischen<br />

„arete“ schlicht „Kompetenz“ heißt.<br />

Wer von „Moral“ spricht, hat häufig die mores, also die gesellschaftlich vorhandenen Sitten<br />

<strong>und</strong> Gebräuche im Sinn, also Normen <strong>und</strong> (gesellschaftliche) Werte. Dann versteht sich eine<br />

147


entsprechende Moralerziehung als je individuelle Aneignung von gesellschaftlichen Normen<br />

(etwa in Anschluss an Kohlberg; vgl. Oser/Althoff 1994).<br />

An dieser Stelle liegt im heute vielleicht anregendsten Streit um Ethik <strong>und</strong> Politik der<br />

entscheidende Unterschied: Gesellschaftliche Normen formulieren das „Rechte“. Sie sagen,<br />

was der Mensch tun soll, was seine Pflichten sind. Normen sind von „Natur aus“ auf<br />

Allgemeinheit <strong>und</strong> Allgemeingültigkeit angelegt. Ethikkonzeptionen, die allgemeingültige<br />

universelle Normen in den Mittelpunkt stellen, werden heute im Anschluss an Kant vom<br />

Philosophischen Liberalismus (J. Rawls) vertreten. Dagegen setzt der Kommunitarismus auf<br />

die lokale Gemeinschaft, auf die überschaubare <strong>und</strong> abgegrenzte Kultur, auf die jeweils<br />

sittliche Gültigkeit, aus der Werte <strong>für</strong> den Einzelnen abgeleitet werden. Hier geht es um das<br />

Gute, das in der individuellen Lebensform realisiert wird („Projekt des guten Lebens“). Es<br />

stehen also das Gute gegen das Rechte, das Sittliche gegen das Rechte, das Lokale gegen das<br />

Universelle, die Kommunitaristen gegen die Liberalen, es steht Aristoteles gegen Kant, die<br />

Gesinnung gegen Verantwortung.<br />

In pädagogischer Hinsicht geht es um (gesamtgesellschaftliche) Werte wie etwa die Werte der<br />

Demokratie, die je individuell (kritisch?) angeeignet werden sollen, um eine begründende<br />

Urteilsbildung bei dem einzelnen zu ermöglichen <strong>und</strong> eine stabile Handlungsdisposition<br />

(„Tugenden“) zu entwickeln. So beschreibt Brumlik die (platonischen) Kardinaltugenden<br />

(Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Mäßigung) <strong>und</strong> die christlichen Tugenden (Glaube, Liebe,<br />

Hoffnung) als „subjektive Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens im Horizont einer<br />

universalistischen <strong>und</strong> solidarischen Moral“ (zitiert nach Liebau 1999, S. 151). Tugendethik,<br />

die Suche nach dem individuell guten Leben <strong>und</strong> eine universalistische Moral können so in<br />

Einklang miteinander gebracht werden.<br />

Den Menschen selbst <strong>und</strong> sein Handeln, seine Tätigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, macht<br />

Ethik zu einem systematischen Versuch einer Selbstaufklärung des Individuums in<br />

praktischer Absicht (Gerhardt 1999, S. 101). Eine Gr<strong>und</strong>legung der Ethik kann daher<br />

sinnvollerweise im Rahmen einer philosophischen Anthropologie geschehen. Dies führt<br />

zwanglos zur Klärung entscheidender ethischer Gr<strong>und</strong>begriffe wie Freiheit <strong>und</strong> Wollen,<br />

Verantwortung <strong>und</strong> Person. Als zentrales Prinzip, an dem sich moralische Urteile orientieren,<br />

kann, so Gerhardt (ebd. S. 99f.) ganz Verschiedenes gelten: gelingendes Leben, das<br />

persönliche Glück, das Gewissen, Wesentlich ist in jedem Fall, dass alle diese Prinzipien<br />

ihren Ursprung letztlich im Selbstverständnis des handelnden Wesens haben müssen. (ebd.).<br />

Abbildung 33 (Gr<strong>und</strong>positionen der normativen Ethik) sortiert einige Ethik-Konzeptionen<br />

entsprechend ihrem Ansatzpunkt im Hinblick auf die (Logik der) menschlichen Handlung.<br />

148


Abb. 33 Gr<strong>und</strong>positionen der normativen Ethik<br />

Tugend Gesinnung/Wille Handlung<br />

Quelle: Peters/Rolf 2002<br />

Wirkungen/<br />

Folgen<br />

Tugendethik Gesinnungsethik Verantwortungsethik<br />

(Platon, Aristoteles,<br />

Thomas von Aquin,<br />

MacIntyre<br />

Regel<br />

Kategorischer<br />

Imperativ<br />

(Kant)<br />

Konsens<br />

Diskursethik<br />

(Habermas)<br />

einzelne Situationen<br />

Existenzialistische Ethik<br />

(Sartre, Camus)<br />

Folgen <strong>für</strong> den<br />

Handelnden<br />

Lustbefriedigung/Fr<br />

eude<br />

Hedonismus<br />

(Aristipp, Epikur)<br />

Glückseligkeit<br />

Eudämonismus<br />

(Aristoteles)<br />

Gegenseitigkeit<br />

Ethik der Goldenen Regel<br />

Aufgeklärter Egoismus<br />

Folgen <strong>für</strong> alle Betroffenen<br />

Utilitarismus<br />

(Bentham, Mill, Smart)<br />

Folgen <strong>für</strong> die anderen<br />

Altruismus:<br />

Mitleid<br />

Ethik des Mitleids<br />

(Schopenhauer)<br />

Nächstenliebe<br />

Ethik der<br />

Nächstenliebe<br />

(Jesus von Nazareth)<br />

149


C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Der Mensch <strong>und</strong> sein Handeln<br />

Der Mensch entwickelt Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisse, <strong>und</strong> er entwickelt sie bewusst. Er<br />

entwickelt unterschiedliche Formen dieser Verhältnisse, die zugleich Aneignungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsweisen von sich <strong>und</strong> der (sozialen <strong>und</strong> natürlichen) Welt sind: politisch-soziale<br />

<strong>und</strong> technische, sprachliche <strong>und</strong> künstlerische, moralische <strong>und</strong> ökonomische, kognitive <strong>und</strong><br />

emotionale. Ernst Cassirer unterscheidet daher verschiedene „symbolisch-kulturelle Formen“<br />

der Welt- <strong>und</strong> Selbstaneignung: Kunst <strong>und</strong> Staat, Religion <strong>und</strong> Mythos, Sprache <strong>und</strong> Politik,<br />

Technik, Wissenschaft <strong>und</strong> Wirtschaft. Keine ist verzichtbar, jede leistet Spezifisches <strong>und</strong><br />

Unverzichtbares, auch wenn sie bei aller Unterschiedlichkeit letztlich im handelnden Subjekt<br />

integriert werden. Die Mensch- <strong>und</strong> Weltverhältnisse haben verschiedene Ausformulierungen<br />

erfahren. Kant unterscheidet in seiner „Gr<strong>und</strong>legung zur Metaphysik der Sitten“ etwa die<br />

folgenden Fähigkeiten bzw. Bestimmungsmerkmale des Menschen (vgl. auch Gerhardt 1999):<br />

1. Die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, das heißt, den Dingen einen Wert zu verleihen.<br />

2. Die Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben.<br />

3. Die Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung.<br />

4. Die Fähigkeit, moralisch zu handeln.<br />

5. Ein vernünftiges Wesen zu sein.<br />

6. Das einzige Geschöpf zu sein, das die Naturkausalität transzendieren kann.<br />

Ausführlicher ist eine vergleichbare Liste in der „schwachen Anthropologie“ von Martha<br />

Nussbaum (z. B. in Nussbaum 1999, S. 49 ff.):<br />

"Die Gestalt der menschlichen Lebensform - Sterblichkeit: Alle Menschen haben den Tod vor<br />

sich <strong>und</strong> wissen nach einem bestimmten Alter auch, daß sie ihn vor sich haben. Dieses<br />

Faktum überformt mehr oder weniger jedes andere Element des menschlichen Lebens.<br />

Außerdem haben alle Menschen eine Abneigung gegen den Tod. Auch wenn unter<br />

bestimmten Umständen der Tod gegenüber verfügbaren Alternativen vorgezogen wird, ist der<br />

Tod eines geliebten Menschen oder die Aussicht auf den eigenen Tod ein Anlaß zu Kummer<br />

<strong>und</strong>/oder Angst.<br />

Der menschliche Körper: Wir alle leben unser Leben in Körpern einer bestimmten Art, deren<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Verletzbarkeiten als solche keiner einzelnen menschlichen Gesellschaft<br />

mehr angehören als einer anderen. Diese Körper, die (angesichts des enormen Spektrums von<br />

Möglichkeiten) weitaus ähnlicher als unähnlich sind, sind gewissermaßen unsere Heimstatt,<br />

indem sie uns bestimmte Optionen zugleich machen <strong>und</strong> andere verwehren, <strong>und</strong> indem sie uns<br />

nicht nur bestimmte Bedürfnisse, sondern auch bestimmte Möglichkeiten zu außer<br />

gewöhnlichen Leistungen verschaffen. Die Tatsache, daß jeder Mensch irgendwo hätte leben<br />

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<strong>und</strong> jeder Kultur hätte angehören können, macht einen großen Teil dessen aus, was unsere<br />

wechselseitige Anerkennung begründet; diese Tatsache hängt wiederum in hohem Maße mit<br />

der allgemeinen Menschlichkeit des Körpers, mit seiner großen Verschiedenheit gegenüber<br />

anderen Körpern zusammen. Die Körpererfahrung ist sicherlich kulturell geprägt, aber der<br />

Körper selbst, der in seinen Anforderungen der Ernährung <strong>und</strong> anderen damit<br />

zusammenhängenden Anforderungen kulturell invariant ist, legt Grenzen <strong>für</strong> das Erfahrbare<br />

fest <strong>und</strong> garantiert eine weitgehende Überschneidung.<br />

Unter "Körper" lassen sich mehrere weitere Eigenschaften aufzählen, die ich hier nicht weiter<br />

erörtern kann: Hunger <strong>und</strong> Durst, das Bedürfnis nach fester <strong>und</strong> flüssiger Nahrung; ein<br />

Bedürfnis nach Behausung; sexuelles Bedürfnis <strong>und</strong> Begehren; die Fähigkeit, sich zu<br />

bewegen <strong>und</strong> die Lust an der Mobilität; die Fähigkeit zur Lust <strong>und</strong> die Abneigung gegen<br />

Schmerz.<br />

Kognitive Fähigkeit - Wahrnehmen, Vorstellen, Denken: Alle Menschen haben diese<br />

Fähigkeit, zumindest in einer gewissen Form, <strong>und</strong> sie wird als überaus wichtig angesehen.<br />

Frühkindliche Entwicklung: Alle Menschen fangen ihr Leben als hungrige Säuglinge an, die<br />

sich ihrer Hilflosigkeit bewußt sind <strong>und</strong> ihre wechselnde Nähe <strong>und</strong> Distanz sowohl davon als<br />

auch von denjenigen erleben, von denen sie abhängig sind. Diese gemeinsame Struktur des<br />

Lebensanfangs, so verschieden sie durch unterschiedliche gesellschaftliche Gegebenheiten<br />

auch gestaltet sein mag, gewährt eine Gemeinsamkeit der Erfahrung im Bereich von Gefühlen<br />

wie Kummer, Liebe <strong>und</strong> Zorn. Und dies ist wiederum eine Hauptquelle unserer Fähigkeit, uns<br />

in den Leben anderer wiederzuerkennen, die sich von uns in mannigfacher Hinsicht<br />

unterscheiden.<br />

Praktische Vernunft: Alle Menschen beteiligen sich (oder versuchen es) an der Planung <strong>und</strong><br />

Führung ihres eigenen Lebens, indem sie bewerten <strong>und</strong> diese Bewertungen dann in ihrem<br />

Leben zu verwirklichen suchen.<br />

Zugehörigkeit zu anderen Menschen (Affiliation; soziale Bindung): Alle Menschen<br />

anerkennen <strong>und</strong> verspüren ein gewisses Gefühl der Zugehörigkeit oder der sozialen Bindung<br />

zu anderen Menschen <strong>und</strong> ein Gefühl der Anteilnahme ihnen gegenüber. Außerdem<br />

wertschätzen wir die Lebensform, die durch diese Anerkennung <strong>und</strong> Zugehörigkeit gebildet<br />

wird.<br />

Bezug zu anderen Spezies <strong>und</strong> zur Natur: Die Menschen erkennen, daß sie nicht die einzigen<br />

lebenden Wesen in ihrer Welt sind: daß sie Tiere neben anderen Tieren <strong>und</strong> auch neben<br />

Pflanzen sind, in einem Universum, das als komplexe Verkettungsordnung sie sowohl<br />

unterstützt als auch begrenzt. Von dieser Ordnung sind wir in zahllosen Hinsichten abhängig,<br />

<strong>und</strong> wir empfinden auch, daß wir dieser Ordnung eine gewisse Achtung <strong>und</strong> Anteilnahme<br />

schulden, sosehr wir uns auch darin unterscheiden mögen, was genau wir schulden, wem<br />

gegenüber <strong>und</strong> auf welcher Basis.<br />

Humor <strong>und</strong> Spiel: Menschliches Leben räumt überall, wo es gelebt wird, Platz <strong>für</strong> Erholung<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> das Lachen ein. Die Formen, die das Spiel annimmt, sind zwar überaus vielfältig,<br />

trotzdem erkennen wir andere Menschen über kulturelle Schranken hinweg als die<br />

Lebewesen, die lachen.<br />

Vereinzelung: Sosehr wir auch in Bezug zu anderen <strong>und</strong> <strong>für</strong> andere leben, so sind wir, ist<br />

jeder von uns "der Zahl nach einer", der von Geburt an bis zum Tod die Welt auf einem<br />

separaten Weg durchläuft. Jede Person empfindet ihren eigenen Schmerz <strong>und</strong> nicht den einer<br />

anderen. Selbst die intensivsten Formen menschlicher Interaktion sind Erfahrungen des<br />

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wechselseitigen Reagierens oder Antwortens (responsiveness) <strong>und</strong> nicht der Verschmelzung.<br />

Diese offenk<strong>und</strong>igen Tatsachen müssen erwähnt werden, besonders dann, wenn wir von<br />

einem Fehlen des "Indiviualismus" in anderen Gesellschaften hören.<br />

Starke Vereinzelung: Aufgr<strong>und</strong> der Vereinzelung hat jedes menschliche Leben sozusagen<br />

seinen eigenen Kontext <strong>und</strong> seine Umgebung - Gegenstände, Orte, eine Geschichte,<br />

besondere Fre<strong>und</strong>schaften, Standorte, sexuelle Bindungen -, die nicht genau die gleichen sind<br />

wie die von jemand anderem <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> derer die Person sich in einem gewissen Maß<br />

selbst identifiziert. Auch wenn die Gesellschaften sich in Grad <strong>und</strong> Art der strengen<br />

Vereinzelung unterscheiden, die sie jeweils zulassen <strong>und</strong> fördern, ist bisher noch kein Leben<br />

bekannt, das es tatsächlich (wie Platon es wünschte) unterläßt, die Wörter "mein" <strong>und</strong> "nicht<br />

mein" in einem persönlichen <strong>und</strong> ungeteilten Sinn zu verwenden."<br />

Martha Nussbaum weist darauf hin, dass diese Liste Fähigkeiten <strong>und</strong> Grenzen enthält. Im<br />

Hinblick auf die Fähigkeiten beschreibt sie eine "Minimalkonzeption des Guten". Die<br />

Grenzen wiederum sind ständige Herausforderung ihrer Überschreitung. Wichtig ist die<br />

Unterscheidung zweier Schwellen: die Schwelle zum menschlichen Leben <strong>und</strong> die Schwelle<br />

zum guten menschlichen Leben - auch als Ziel <strong>für</strong> die politische Gestaltung <strong>und</strong> als Meßlatte<br />

zur Beurteilung bestimmter Gesellschaften. Diese zweite Schwelle wird durch die folgende<br />

Liste beschrieben:<br />

� Fähig zu sein, bis zum Ende eines vollständigen menschlichen Lebens zu leben, soweit,<br />

wie es möglich ist; nicht frühzeitig zu sterben, bevor das Leben so vermindert ist, daß es<br />

nicht mehr lebenswert ist.<br />

� Fähig zu sein, eine gute Ges<strong>und</strong>heit zu haben; angemessen ernährt zu werden;<br />

angemessene Unterkunft zu haben; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung zu haben;<br />

fähig zu sein zur Ortsveränderung.<br />

� Fähig zu sein, unnötigen <strong>und</strong> unnützen Schmerz zu vermeiden <strong>und</strong> lustvolle Erlebnisse zu<br />

haben.<br />

� Fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen; fähig zu sein, zu phantasieren, zu denken <strong>und</strong><br />

zu schlußfolgern.<br />

� Fähig zu sein, Bindungen zu Dingen <strong>und</strong> Personen außerhalb unserer selbst zu<br />

unterhalten; diejenigen zu lieben, die uns lieben <strong>und</strong> sich um uns kümmern; über ihre<br />

Abwesenheit zu trauern; in einem allgemeinen Sinne lieben <strong>und</strong> trauern sowie Sehnsucht<br />

<strong>und</strong> Dankbarkeit empfinden zu können.<br />

� Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden <strong>und</strong> sich auf kritische<br />

Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen.<br />

� Fähig zu sein, <strong>für</strong> <strong>und</strong> mit anderen leben zu können, Interesse <strong>für</strong> andere Menschen zu<br />

zeigen, sich auf verschiedene Formen familialer <strong>und</strong> gesellschaftlicher Interaktionen<br />

einzulassen.<br />

� Fähig zu sein, in Anteilnahme <strong>für</strong> <strong>und</strong> in Beziehung zu Tieren, Pflanzen <strong>und</strong> zur Welt der<br />

Natur zu leben.<br />

� Fähig zu sein, zu lachen, zu spielen <strong>und</strong> erholsame Tätigkeiten zu genießen.<br />

� Fähig zu sein, das eigene Leben <strong>und</strong> nicht das von irgend jemand anderem zu leben.<br />

� Fähig zu sein, das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt <strong>und</strong> in seinem eigenen Kontext<br />

zu leben."<br />

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Menschenwürde, Freiheit, Kultur <strong>und</strong> Bildung: Der anthropologische Rahmen<br />

In Regelwerken wie dem Gr<strong>und</strong>gesetz oder der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte<br />

ist der Begriff der (Menschen-)Würde zentral. Sie ist aufs engste verb<strong>und</strong>en mit dem Konzept<br />

der Person. In der Rechtsgeschichte ist die Person Trägerin subjektiver Rechte, die ihre<br />

Unantastbarkeit, ihren Anspruch auf Entwicklung etc. garantieren sollen. Viele Dokumente<br />

argumentieren naturrechtlich: Der Mensch ist als „Person“ geboren, er muss sich diese Rechte<br />

nicht erst durch Verdienste erwerben, er hat sie „von Natur aus“. So beginnt etwa die<br />

amerikanische Verfassung damit, dass sie die entscheidenden (Freiheits-)Rechte als<br />

unhintergehbaren natürlich/kreatürlichen Ausgangspunkt aller weiteren Darlegungen nimmt.<br />

In christlicher Tradition gibt es Begründungen mit der Gottähnlichkeit des Menschen (imago<br />

dei), dort in vielfacher Verwobenheit mit christlich-mystischen Ideen zur Bildung: Der<br />

Mensch muss zu dem werden, was er ist. Kant sieht die Würde des Menschen in seiner<br />

Fähigkeit begründet, das Sittengesetz aus sich selbst zu entwerfen <strong>und</strong> in sich selbst<br />

anzuerkennen. Der Mensch, so Kant, darf niemals Mittel <strong>für</strong> einen Zweck, sondern muss<br />

immer Selbstzweck sein (so eine der Formulierungen des kategorischen Imperativs in der<br />

„Kritik der praktischen Vernunft“). Und diese Selbstzweckhaftigkeit unterscheidet „Würde“<br />

(als inneren Wert) von einem „Preis“ – <strong>und</strong> ist nur dem Menschen eigen (Gr<strong>und</strong>legung zur<br />

Metaphysik der Sitten, 1974, S. 68). Diese Würde ist – als Unverfügbarkeit des menschlichen<br />

Lebens – Kern der Menschen- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechte. Zu dieser Selbstzweckhaftigkeit gehört<br />

entschieden die Selbstgesetzgebung („Autonomie“). Und diese hat die Bewusstheit in der<br />

Steuerung der eigenen Tätigkeit zur Voraussetzung, welche wiederum nur dadurch entsteht,<br />

dass der Mensch in Distanz zu sich tritt <strong>und</strong> – reflexiv – sich selbst zum Gegenstand von<br />

Betrachtungen machen kann. Freiheit ist also bewusste Selbsttätigkeit auf der Basis eines<br />

distanziert-reflexiven Verhältnisses zu sich. Dieses wiederum ermöglicht die (bewusste)<br />

Formung bloßer Sinnlichkeit als eigentlich kulturschaffender Tätigkeit des Menschen (in<br />

Cassirers Kulturphilosophie). „Formung“ heißt dabei auch: Vergegenständlichung<br />

menschlicher Wesenskräfte. Die materielle Kultur, die Gesamtheit geschaffener Kulturwerke<br />

ist – wie Marx es zur Industrie sagt – das „aufgeschlagene Buch menschlicher Wesenskräfte“.<br />

Das Eigenste des Menschen liegt distanziert <strong>und</strong> geformt vor ihm im kulturellen Werk. Dieser<br />

vielleicht etwas komprimierte Gedanke zeigt die Verwobenheit zentraler Kategorien:<br />

� der Mensch hat Würde im Sinne einer Selbstzweckhaftigkeit,<br />

� Gr<strong>und</strong>lage der menschlichen Existenz ist Distanz <strong>und</strong> Reflexion,<br />

� „Kultur“ ist Formung <strong>und</strong> Gestaltung, ist u.a. Schaffung von Strukturen<br />

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� <strong>und</strong> Form <strong>und</strong> Struktur sind letztlich Kern von Freiheit.<br />

Bevor ich zeige, dass m.E. ein anthropologischer Blick diese Verwobenheit von<br />

Menschenwürde, Kultur <strong>und</strong> Freiheit erklärbar macht, will ich einige kulturgeschichtliche<br />

Hinweise zu dem Streit zwischen Moral <strong>und</strong> Vernunft geben, der in der Geschichte der<br />

Philosophie lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt hat.<br />

Mit Descartes beginnt nicht nur in den meisten Darstellungen der Philosophie-Geschichte die<br />

neuzeitliche Philosophie, sondern es wird eine – gerade <strong>für</strong> Moralphilosophie hoch relevante<br />

– Trennung festgeschrieben: Zwischen der res extensa, der ausgedehnten Natur, <strong>und</strong> der res<br />

cogitans, dem Reich des Verstandes <strong>und</strong> des Denkens, später erweitert zu einem Verständnis<br />

des Menschen als zwar sittlich geb<strong>und</strong>enem, aber in seinen Handlungen <strong>und</strong> seinem Willen<br />

im Gr<strong>und</strong>satz freien Vernunftwesen. Es ist eine herausragende Leistung in dieser ersten<br />

Etappe der neuzeitlichen Philosophie <strong>und</strong> Naturforschung, die Gesetzmäßigkeit <strong>und</strong> den<br />

Determinismus der Natur herausgearbeitet zu haben: Die Natur funktioniert ohne äußere<br />

Eingriffe, <strong>und</strong> diese Funktionsweise der Natur ist <strong>für</strong> den Menschen erkennbar. Mathematik,<br />

so Galilei, ist die Sprache, in der Gott die Natur geschrieben hat. Und diese Mathematik ist<br />

beherrschbar. Gott als ständig eingreifende Macht wurde so nicht nur verzichtbar, sondern<br />

würde sogar stören (Fuchs 1984). Dies ist der ideologische Kern der neuen Naturphilosophie.<br />

Denn politisch zielte sie darauf, die Willkür der Fürsten in der Gesellschaft als ebenso<br />

verzichtbar darzustellen wie ein Eingreifen Gottes in die Natur. Natur, Gesellschaft <strong>und</strong> der<br />

Mensch selbst funktionieren nach gleichen erkennbaren Gesetzen. Naturphilosophie,<br />

Gesellschaftstheorie <strong>und</strong> Anthropologie können daher parallel nach gleichen<br />

Konstruktionsprinzipien aufgebaut werden. Dies ist eine rationale Gestaltung von natürlicher<br />

<strong>und</strong> geistiger Welt, <strong>und</strong> dies ist ein Kernelement der Aufklärung <strong>und</strong> der „Mechanisierung des<br />

Weltbildes“ (Dijksterhuis). Der Mensch ist offensichtlich (auch) ein Naturwesen <strong>und</strong> damit<br />

weithin den Naturgesetzen unterworfen. Doch wo bleibt dann die freie Willensentscheidung?<br />

Es ist also kein W<strong>und</strong>er, dass in dem Maße, in dem die Naturwissenschaften in ihrem Ziel,<br />

einen vollständigen Determinismus in der Natur nachzuweisen, Erfolg hatten, bei der Frage<br />

des Menschen selbst Schwierigkeiten entstanden. Dies ist <strong>für</strong> die Folgezeit daher das zentrale<br />

philosophische Problem: Die Freiheit des Willens ebenso denkbar zu machen wie den<br />

Determinismus der Natur.<br />

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Und ein anderer Prozess findet statt: Die Entstehung der neuzeitlichen (bürgerlichen)<br />

Gesellschaft zusammen mit dem Kapitalismus als Wirtschafts- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung.<br />

Max Weber (1993) hat in seiner immer noch rege diskutierten Studie Anfang des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts gezeigt, dass der „Geist des Protestantismus“ sehr eng mit dieser neuen<br />

Wirtschaftsordnung zu tun hat: Es ist das autonome Individuum, das sein Leben unmittelbar<br />

vor Gott rechtfertigt <strong>und</strong> das auf Leistung orientiert ist. Die Entwicklung neuer Staatstheorien<br />

<strong>und</strong> die Genese – manche sprechen von „Erfindung“ – von Individualität gehen Hand in<br />

Hand. Denn wenn äußerer Zwang <strong>und</strong> Fürstenwillkür abnehmen sollen, so muss ein<br />

Äquivalent <strong>für</strong> diese wegfallende Instanz der Normdurchsetzung gef<strong>und</strong>en werden. Norbert<br />

Elias beschreibt in seinen Studien zur Geschichte der Zivilisation, wie dies entstanden ist:<br />

Durch Hineinverlagerung des äußeren Zwangs in das Individuum hinein. Michel Foucault<br />

zeichnet in anderen Studien diesen Entwicklungsweg zu einer immer stärkeren<br />

Disziplinierung nach. Der Mensch domestiziert <strong>und</strong> diszipliniert sich selbst. Fremdherrschaft<br />

über sich wird zunehmend zur Selbstherrschaft wobei auch die Strategien der Fremdherrschaft<br />

immer ausgeklügelter werden. Es setzt sich ein Staatsverständnis durch, bei dem der Staat<br />

letztlich noch die letzte Gefühlsregung kontrollieren will (Taylor 2009, hier in völliger<br />

Übereinstimmung mit Foucault). Insbesondere seit der letzten Krise der Moderne in der<br />

zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hat man diesen geschichtlichen Verlauf scharf kritisiert.<br />

Zur Erinnerung: die Aufklärung, die das philosophische F<strong>und</strong>ament <strong>für</strong> die oben skizzierte<br />

Entwicklung geliefert hat, wurde in ihrer einseitigen Bevorzugung der Vernunft zu Lasten der<br />

Fantasie, der Sinnlichkeit, der Begierde, der Lust, des Leibes bereits von der Romantik scharf<br />

kritisiert. Diese Kritik hat seither nie aufgehört. Doch erhielt sie im Zuge der „Postmoderne“<br />

eine neue Schubkraft, insofern das „Andere der Vernunft“ (Böhme/Böhme 1983) rehabilitiert<br />

wurde. Freud beschreibt mit seiner Entdeckung des Unbewussten auf der Ebene der<br />

innerpsychischen Regulation das, was Elias <strong>und</strong> Foucault kulturgeschichtlich zeigen: Der<br />

Triumph der Vernunft hat seinen Preis in einer erneuten, nun aber subtileren Unterdrückung.<br />

Die angepriesene (äußere) Befreiung des Menschen geht einher mit der Durchsetzung einer<br />

rigiden (inneren) Herrschaft.<br />

Philosophisch lässt sich dies an Kant festmachen, der in seiner Moralphilosophie den oben<br />

genannten Widerspruch zwischen dem Determinismus der Natur – das „Begehren“ gehört zu<br />

dem Naturanteil im Menschen – <strong>und</strong> der Freiheit des Menschen lösen muss. Seine Lösung<br />

kann mit einiger Berechtigung als „Vollendung der protestantischen Ethik“ gedeutet werden<br />

(Böhme/Böhme 1983, S. 334): Mensch wird Mensch nicht bloß durch seine Fähigkeit zur<br />

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theoretischen Vernunft, weil die Erkenntnis alleine nicht zu freiem Verhalten führt. Es muss<br />

das (naturverb<strong>und</strong>ene) Begehrungsvermögen bezwungen werden.<br />

Der Mensch hat ein Ich, so Kant, also ein Bewusstsein seiner selbst: „Dadurch ist er eine<br />

Person <strong>und</strong> ... von Sachen ..., durch Rang <strong>und</strong> Würde ganz unterschiedenes Wesen.“ (Kant,<br />

zitiert nach Wetz 1998, S. 39). Und es ist ein Bewusstsein seiner selbst, das das Bewusstsein<br />

eines Gesetzes in ihm wesentlich mit einschließt. Dies ist die Voraussetzung seiner<br />

Autonomie, die – <strong>und</strong> dies war ein revolutionärer Schritt – seine Würde als Mensch ausmacht.<br />

Bis dahin war die Gottesebenbildlichkeit der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die besondere Würde des Menschen<br />

(vgl. Wetz 1998; Fuchs 2001).<br />

Glückseligkeit, so wie es in den meisten bis dahin vorliegenden Moralkonzeptionen seit der<br />

Antike unterstellt wird, kann keine letztgültige Messlatte <strong>für</strong> das Handeln des Menschen sein,<br />

denn sie ist zu nah an seinem Naturanteil.<br />

So entwickelt Kant eine Konstruktion, die nicht von je zufälliger Sinnlichkeit,<br />

unkontrollierbaren Trieben oder sozialen Zusammenhängen abhängt: Der freie Wille ist<br />

Ausgangspunkt der Moral(theorie) <strong>und</strong> nicht ein Bezug auf Gott, Glückseligkeit, moralischen<br />

Sinn, common sense oder die Wünsche <strong>und</strong> Triebe des Leibes. Dies mündet dann in die<br />

Formulierung eines formalen „Normenkontrollverfahrens“ (Böhme), des Kategorischen<br />

Imperativs. Dieser gestattet zwar die Beurteilung von Handlungsmaximen, macht jedoch<br />

keine Aussage darüber, was der Mensch konkret zu tun <strong>und</strong> zu lassen habe – immerhin eine<br />

der vier Fragen, die Kant zufolge die Philosophie beantworten muss. Allerdings zielt der<br />

Kategorische Imperativ auf Allgemeingültigkeit <strong>und</strong> Universalität. Es gibt in der<br />

„Gr<strong>und</strong>legung zur Metaphysik der Sitten“ <strong>und</strong> in der „Kritik der praktischen Vernunft“ eine<br />

ganze Reihe von Formulierungen dieses regulativen Gr<strong>und</strong>satzes. Alle zielen darauf, die<br />

individuelle Handlungsentscheidung so zu behandeln, als ob sie allgemeines Naturgesetz oder<br />

Prinzip allgemeiner Gesetzgebung werden sollte, so dass im Hinblick auf Allgemeingültigkeit<br />

kein Unterschied zwischen Natur- <strong>und</strong> Sittengesetz besteht: Beide Reiche, von denen die<br />

neuzeitliche Philosophie bei Descartes ihren Ausgang nimmt, sind somit wohlgeordnet.<br />

Für die Zwecke dieses Textes ist der kritische Blick auf das Kernstück moderner Ethik, die<br />

Autonomie der Person, die mehrheitlich als Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die Würde des Menschen<br />

genommen wird <strong>und</strong> die wiederum eng verb<strong>und</strong>en – wenngleich nicht identisch – mit der<br />

Ausformulierung der Menschenrechte ist, von hoher Bedeutung. Es lässt sich so nämlich zum<br />

einen der ebenfalls zunächst nur im Hinblick auf die philosophische Theorienkonstruktion bei<br />

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Kant verständliche Topos von der „Autonomie der Kunst“ verstehen. Die gemeinsame<br />

Gr<strong>und</strong>idee ist die Unterstellung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen (in der<br />

Moraltheorie) bzw. der Kunst (in der <strong>Ästhetik</strong>). Es lässt sich zum zweiten eine Verbindung<br />

zur Genese von bürgerlichem Individuum, bürgerlicher Gesellschaft, Moralphilosophie <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong> aufzeigen (Fuchs 2001). Und man kann unverändert weiterbestehende<br />

Begründungsprobleme in der Ethik nachvollziehen. Denn so einsichtig die Kantsche Ethik als<br />

Teil der Unterdrückungsgeschichte des Begehrens, der Fantasie etc. durch die Vernunft auch<br />

erscheinen mag: die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert begonnene Verfallsgeschichte eben dieser Vernunft<br />

lässt sich – so wie es Lukacs (1983/84) in einem polemischen Werk getan hat – von der<br />

Romantik bis Hitler ebenfalls nachverfolgen. Es fällt offenbar schwer, den Menschen in<br />

seiner Ganzheitlichkeit als Vernunft- <strong>und</strong> Naturwesen, als rationales <strong>und</strong> irrationales Wesen,<br />

als Kulturschöpfer <strong>und</strong> -zerstörer (Thurn 1990) gleichermaßen zu erfassen. Dies ist jedoch die<br />

Anforderung an eine zeitgemäße Anthropologie <strong>und</strong> Kulturtheorie.<br />

Eine Kulturtheorie – so das Ergebnis des Exkurses – ist zu entwickeln als Anthropologie<br />

(Cassirer 1990), <strong>und</strong> diese enthält als Kern eine Moralphilosophie der Freiheit <strong>und</strong> Würde.<br />

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese idealtypische Konstruktion von „Kultur als<br />

Artikulation von Freiheit“, die sich zudem im Selbstlauf durchsetzt, von Cassirer nach den<br />

Erfahrungen mit dem Faschismus in seinem letzten Buch (Mythus des Staates, 1949) sehr viel<br />

stärker unter der Notwendigkeit einer bewusst humanistischen Gestaltung gesehen wurde<br />

(vgl. auch Thurn 1990): Denn dieser „Selbstlauf“ der Geschichte kann durchaus in die<br />

Barbarei führen. Auch dies ist eine Gr<strong>und</strong>frage der Philosophie der Moderne: Ob die<br />

Fortschritte in den Wissenschaften zu Fortschritten in der Humanisierung der Menschheit<br />

geführt hätten. Berühmt wurden entsprechende Preisfragen von Akademien im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> entsprechende Preisschriften etwa von Rousseau oder Kant. Kant gab am<br />

Anfang seiner Schrift über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793;<br />

hier: Bd. VIII, S. 665f.) die salomonische Antwort: Weder sei die Welt besser noch schlechter<br />

geworden. Der Mensch sei eben von Natur aus beides: gut <strong>und</strong> böse. Und: Auch hier ist der<br />

Mensch letztlich das, wozu er sich macht (S.694).. Und dies muss auch so sein auf Gr<strong>und</strong> der<br />

Freiheit seines Willens. Es wird daher der Ansatz von Graeser (1999) hochplausibel, die<br />

Frage der Selbstachtung in den Mittelpunkt der Ethik zu stellen: Der Mensch entscheidet sich<br />

letztlich danach, was <strong>für</strong> eine Person er sein will, in welcher Weise er also bewusst Stellung<br />

bezieht zu den eigenen Wünschen, Trieben, Begehrlichkeiten.<br />

<strong>Ästhetik</strong> spielt hierbei eine doppelte Rolle: als Sinnlichkeit <strong>und</strong> als Gestaltungs(=Formungs)-<br />

lehre. Als Sinnlichkeit hat sie es damit zu tun, dass sie Dinge <strong>und</strong> Prozesse zur Anschauung<br />

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bringt – <strong>und</strong> damit zugleich eine Distanz schafft, die notwendig ist <strong>für</strong> Prozesse der (Selbst-)<br />

Reflexion. Als Gestaltung ist sie – quasi als Formung in Reinkultur – erlebte Freiheit <strong>und</strong><br />

zeigt besonders eindringlich den Mensch als Menschen, also als (schaffendes, formendes)<br />

„Kultur“-Wesen. Ästhetische Praxis ist daher gelebte Freiheit – ein Gedanke, den Schiller<br />

(1959) zu seiner politischen <strong>Ästhetik</strong> in seinen „Briefen“ weiterentwickelt. Die Gestaltung<br />

eines Werkes produziert zudem eine Form besonderer Art: Denn jedes künstlerische Werk ist<br />

ein „Kosmos“, eine geordnete Ganzheit. Hierbei, in der Herstellung von Form, entwickelt sich<br />

der handelnde Mensch selbst, formt sich selbst.<br />

Moralphilosophie als Handlungslehre <strong>und</strong> Bildung als Selbstgestaltung kommen daher<br />

geradezu ideal überein in der ästhetischen Gestaltung: die Entwicklung von Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> die Herstellung von Kultur sind zwei Seiten derselben Medaille. Schwemmer (1997)<br />

nennt dies die „kulturelle Existenz des Menschen“. Zugleich affiziert das Ästhetische das<br />

Subjekt unmittelbar, insofern es als expressiver Ausdruck das Emotionale des Menschen<br />

erfasst – <strong>und</strong> sorgt in moralphilosophischer Hinsicht <strong>für</strong> eine Moralpsychologie, also <strong>für</strong> eine<br />

gefühlsmäßige Involviertheit des Subjekts. Dies gilt sogar <strong>für</strong> die Wahrnehmung von<br />

„Schönheit“. Gehlen (1950) beschreibt – wie oben erwähnt –, wie der Mensch in der<br />

Wahrnehmung von (Warn-)Signalen, auf die er früher als Naturwesen instinkthaft hätte<br />

reagieren müssen, nunmehr die Entscheidungsfreiheit über seine Reaktion genießt <strong>und</strong> die<br />

entsprechenden Signale als „schön“ empfindet: „Schönheit“ ist dann nichts anderes als<br />

bewusst erlebtes Befreitsein von äußeren oder inneren Zwängen.<br />

Zugleich geschieht durch diesen integrativen Akt von äußerer <strong>und</strong> innerer Gestaltung die<br />

Integration von Individuellem <strong>und</strong> Universellem. Denn der intimste Akt emotionaler<br />

Involviertheit im ästhetischen Prozess ist zugleich mit der Objektivität <strong>und</strong> Universalität des<br />

gegenständlichen Werks verb<strong>und</strong>en; in den Worten Kants: Es handelt sich um die Integration<br />

des „Reiches der Freiheit“ mit dem „Reich der Notwendigkeit“. Kant legt nicht von ungefähr<br />

die (auch ästhetische) Urteilskraft als Vermögen zwischen Verstand (der sich auf das „Reich<br />

der Notwendigkeit“ der Naturgesetze bezieht) <strong>und</strong> Vernunft (die das praktische Handeln des<br />

Sollens steuert). (Siehe Vorwort der Kritik der Urteilskraft, wo er das Tableau der Vermögen<br />

darstellt).<br />

Die Verbindung des Einzelnen mit dem Allgemeinen im Ästhetischen wird in einigen<br />

<strong>Ästhetik</strong>konzeptionen beschrieben. Bei Kant ist es der „sensus communis“, der Gemeinsinn<br />

(§§ 20ff in der „Kritik der Urteilskraft“), der dies leistet. Dieser Gemeinsinn (zunächst im<br />

Ästhetischen) ist das soziale Geschmacksurteil in mir selbst, das quasi als regulatives Prinzip<br />

bei jeder ästhetischen Urteilsbildung mitwirkt. Es bleibt bei einem höchst individuellen Urteil,<br />

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bei dem jedoch von Anfang an „der Andere“ in mir dabei ist. Die Ähnlichkeit mit Theorien<br />

zur Entstehung von Identität etwa im Symbolischen Interaktivismus (G. H. Mead), bei dem<br />

durch Perspektivverschränkung der Andere Teil von mir selbst wird, ist offensichtlich.<br />

Ähnlich ist auch die <strong>Ästhetik</strong> von Holz (1996) im Anschluss an Georg Lukacs: Im<br />

individuellen ästhetischen Prozess erlebt der Mensch das, was durch Zugehörigkeit zu der<br />

Gattung Mensch „menschenmöglich“ ist. Es gelangt das „partikulare Alltagsindividuum zum<br />

Selbstbewusstsein der Menschengattung“, so Lukacs. Individualität <strong>und</strong> Sozialität stehen also<br />

in einem engen dialektischen Beziehungsverhältnis, das gerade moralphilosophisch von<br />

höchster Bedeutung ist. Dieser kulturelle Prozess – hier gezeigt am Ästhetischen – ist also<br />

immer schon implizit sittlich aufs höchste imprägniert.<br />

Mit diesem Rahmen ist ein anthropologisches Konzept formuliert, das als Band <strong>für</strong> die<br />

verschiedenen Dimensionen dieses Textes <strong>und</strong> auch als Basis <strong>für</strong> <strong>Kulturpolitik</strong> (Fuchs 2007)<br />

<strong>und</strong> Kulturpädagogik (Fuchs 2008) dienen kann. Unschwer ist etwa aus der Vorstellung der<br />

anthropologischen Gr<strong>und</strong>prinzipien der Distanz <strong>und</strong> (Selbst-)Reflexivität der Tätigkeit <strong>und</strong><br />

der Notwendigkeit einer bewussten Lebensführung ein gehaltvolles Bildungskonzept<br />

abzuleiten: „Bildung“ ist eine qualifizierte Verschränkung von Mensch <strong>und</strong> Welt, ist die<br />

Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zu seiner natürlichen <strong>und</strong><br />

gesellschaftlichen Umwelt, zu Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. „Bildung“ entsteht so<br />

als Kultivierung dessen, was den Menschen zum Menschen macht, nämlich als Kultivierung<br />

des Menschenmöglichen. Der gebildete Mensch versucht, auf gute Art <strong>und</strong> Weise Mensch zu<br />

sein, „gut Mensch zu sein“, wie Böhme (1997) es formuliert.<br />

Die Mensch-, Welt- <strong>und</strong> Selbstverhältnisse, die bewusst ausgeprägt werden im<br />

Bildungsprozess, beziehen sich auf die unterschiedlichen Aneignungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsweisen: das Theoretische, das Ästhetische <strong>und</strong> das Moralische. In der<br />

Kulturphilosophie von Ernst Cassirer erhalten alle diese Weltzugangsweisen – zusammen mit<br />

unterschiedlichen Formen praktischer Weltgestaltung wie Wirtschaft, Technik oder Politik –<br />

ihren festen Platz.<br />

Das handelnde (gebildete) Subjekt muss sich entscheiden, wie es mit sich, der Welt, dem<br />

Sozialen umgeht. Das bedeutet insbesondere, dass ein jahrh<strong>und</strong>ertelanger Gegensatz, nämlich<br />

der Gegensatz zwischen dem Determinismus der Natur <strong>und</strong> dem Reich der Freiheit im<br />

Sozialen, überw<strong>und</strong>en werden kann. Denn der Mensch ist immer beides: Naturwesen in seiner<br />

Körperlichkeit <strong>und</strong> gestaltendes Kulturwesen in seiner Menschlichkeit. Dabei ist auch die<br />

Natur längst zu einem Gestaltungsraum geworden, wobei ethisch-moralische Diskurse unser<br />

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Naturverhältnis prägen (müssten), etwa in ökologischen Fragen. Die aktuelle Frage nach der<br />

Rechtfertigbarkeit der Gentechnologie lässt schließlich jede Grenze zwischen Natur <strong>und</strong><br />

Mensch verschwinden, wenn die Biowissenschaften als Naturwissenschaften in das Innerste<br />

des Genpools des Menschen eingreifen <strong>und</strong> somit Menschlichkeit schlechthin zum<br />

Gegenstand ihrer einzelwissenschaftlichen Bearbeitung machen wollen.<br />

Bildung ist Kultivierung des Menschseins <strong>und</strong> schließt somit die ästhetische <strong>und</strong> moralische<br />

Dimension ausdrücklich mit ein. Bildung ist tätige Gestaltung des Lebens, ist Vermittlung<br />

individueller Lebensansprüche mit sozialen Bedingungen.<br />

Im folgenden will ich drei Themenkomplexe herausgreifen:<br />

� Das Problem der Allgemeingültigkeit normativer Regelungen wie etwa der<br />

Menschenrechte vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer kulturrelativistischen Kritik am<br />

Universalismus.<br />

� Das Verhältnis von ästhetischem <strong>und</strong> moralischem Weltzugang.<br />

� Die Frage der Vermittlung von Individual- <strong>und</strong> Sozialethik.<br />

Das Ästhetische <strong>und</strong> das Moralische<br />

Am Anfang der eigenständigen philosophischen Disziplin „<strong>Ästhetik</strong>“ stand eine geradezu<br />

klassische moralphilosophische Forderung, nämlich die Forderung nach Anerkennung. Es<br />

ging zwar nicht um die Anerkennung von Personengruppen, die gedemütigt oder<br />

marginalisiert werden (Margalit 1997), sondern um die Anerkennung der sinnlichen<br />

Erkenntnis gegenüber der theoretischen Vernunft (bei E. Baumgarten). Möglicherweise<br />

enthält diese historische Reminiszenz bereits eine wichtige Pointe unserer Fragestellung:<br />

<strong>Ästhetik</strong> hat immer auch mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Insofern diese geschult,<br />

erweitert, von Vorbehalten <strong>und</strong> Einschränkungen befreit wird zu Gunsten einer möglichst<br />

umfassenden (Welt- <strong>und</strong> Selbst-) Wahrnehmung – etwa bei Ungleichheit, Ungerechtigkeit,<br />

Unsolidarität –, ist diese Form der <strong>Ästhetik</strong> eine notwendige Voraussetzung <strong>für</strong> moralisches<br />

Urteilen.<br />

Und weiter: Insofern Künste etwas zur Anschauung (im weitesten Verständnis, also bezogen<br />

auf alle Sinne) bringen, also Lebensformen, Handlungen <strong>und</strong> Entscheidungen, aber auch<br />

Verhaltensdispositionen <strong>und</strong> Emotionen wie Skrupel, Hass, Neid, Lust, Freude etc.,<br />

ermöglichen sie dem wahrnehmenden Individuum eine eigene Stellungnahme, fordern diese<br />

auf Gr<strong>und</strong> der Emotionalität der Zurschaustellung vielleicht geradezu heraus. <strong>Ästhetik</strong> ersetzt<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

hier zwar keineswegs moralisch-ethische Erwägungen, ist aber deren unbedingte<br />

Voraussetzung.<br />

Bevor ich diesen Vermittlungsvorschlag zwischen Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> weiter darstelle, will<br />

ich kurz auf den Streit über die Rolle der Ethik in der <strong>Ästhetik</strong> bzw. umgekehrt hinweisen.<br />

Auf die klassische, inzwischen aber zerbrochene Einheit des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen<br />

habe ich bereits mehrfach hingewiesen. Man kann dies gar nicht oft genug tun. Denn dies –<br />

<strong>und</strong> nicht die getrennte Behandlung von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> – ist der Ausgangspunkt der<br />

Philosophie. Selbst Kant, der die Trennung der verschiedenen Vernunftformen in ihrer<br />

spezifischen Eigenlogik geradezu zementiert hat, spricht in seiner ästhetischen Hauptschrift<br />

(Kritik der Urteilskraft) in §59 „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“. Wenn<br />

Freiherr von Knigge eine Anleitung zum guten Benehmen schreibt, dann geschieht diese<br />

Erziehung des ästhetischen Geschmacks mit der moralischen Zielstellung des guten<br />

Benehmens in der Gesellschaft. Die Bühne als moralische Anstalt war dem eifrigen Schüler<br />

Kants, Friedrich Schiller, ein Anliegen, das er u.a. in seinen „Briefen zur ästhetischen<br />

Erziehung“ philosophisch systematisch dargestellt hat. Für den Praktiker der Kunst mag dies<br />

leicht sein. Der philosophische Kant-Schüler muss jedoch das ästhetische Geschmacksurteil,<br />

das unmittelbare Gefallen in der Anschauung, vermitteln mit dem Sittlich-Guten, mit dem<br />

Prozess der bewussten Selbst-Gesetzgebung („Autonomie“). Die Versöhnung von<br />

Sinnlichkeit <strong>und</strong> Vernünftigkeit gelingt in diesem philosophischen Entwurf daher auch erst,<br />

nachdem die unmittelbare Sinnlichkeit gehörig in der „Ausbildung des<br />

Empfindungsvermögens“ kultiviert wurde.<br />

Auch dies eine relevante Lehre <strong>für</strong> unsere Zwecke: Sinnlichkeit scheint zwar dem Naturwesen<br />

Mensch anzugehören, aber erst eine „kultivierte Sinnlichkeit“ – auch <strong>und</strong> gerade als Ergebnis<br />

ästhetisch-kultureller Bildungsprozesse – wird zu einer Instanz, die <strong>für</strong> moralphilosophische<br />

Fragen Bedeutung hat.<br />

Politischer Missbrauch von Kunst, d. h. eine (un-)moralische Verwendungsweise des<br />

Ästhetischen, funktioniert offensichtlich in der Geschichte. Die politische <strong>Ästhetik</strong> der Bilder<br />

– von Leni Rieffenstahl, von politischen Inszenierungen bis hin zu den Kathedralen-ähnlichen<br />

Fotos vom 11. September – wirkt ebenso wie Musik oder eine gelungene Choreografie von<br />

Parteitagen (es müssen dabei noch nicht einmal die Reichsparteitage der NSDAP sein). Es<br />

gab <strong>und</strong> gibt Agitprop, politisches Theater, politische Literatur: feinsinnig oder mit dem<br />

Holzhammer. Es gibt die gutmeinende Moralerziehung in Kinderliteratur <strong>und</strong> -theater, es gibt<br />

Rock gegen Rechts, Theater gegen Drogen, Literatur gegen Armut. An moralischer<br />

Aufladung des Ästhetischen ist kein Mangel, so dass man den Streit <strong>für</strong> eine (neue)<br />

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Autonomie von Kunst fast nachvollziehen kann. Kunst funktioniert sogar in diesen platten<br />

Varianten der Bekehrung <strong>und</strong> Indoktrination, weil sie so nah an der Emotionalität des<br />

Menschen angesiedelt ist. Einen guten Gr<strong>und</strong> hier<strong>für</strong> bietet eine Erklärung der Entstehung des<br />

Ästhetischen als eigenständigen Weltzugangs des Menschen, der diese mit der emotionalen<br />

Expressivität in Verbindung bringt. Die suggestive Macht von Bildern, Tönen, Bewegungen<br />

<strong>und</strong> Worten macht sich heute ein großer Wirtschaftszweig, die Werbung, zunutze. Was so<br />

offensichtlich funktioniert – <strong>und</strong> hier nicht unbedingt zum Nutzen des Menschen – lässt sich<br />

dann auch pädagogisch nutzen.<br />

Die Emotionalisierung von Inhalten ist eine erste Möglichkeit, eine Verbindung von Ethik<br />

<strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> herzustellen: nämlich als Herstellung moralischer Gefühle <strong>und</strong><br />

Handlungsmotivation (so ähnlich auch E. Dissanayake, s. o.).<br />

Ein weites Feld ethischer Bedeutsamkeit einer ästhetischen Praxis ist – wie bereits eingangs<br />

erwähnt – der Bereich der Wahrnehmung. Es geht um das Zeigen <strong>und</strong> Schauen, um die<br />

Kultivierung der Anschauung, um die Ermöglichung einer reichhaltigen ästhetischen<br />

Erfahrung. Erinnern wir uns: Handeln, um das es uns hier geht, hat Gründe, Folgen, Kontexte.<br />

Es beruht auf Entscheidungen, auf dem Abwägen von Alternativen. Akzeptiert man dies, dann<br />

wird auch plausibel, wie hilfreich es ist, Handlungsalternativen kennenzulernen, den<br />

„Möglichkeitsraum“ des Handelns zu erweitern (nach R. Musils „Möglichkeitswelten“). Dann<br />

ist es sinnvoll, Probehandeln zu realisieren, bei dem keine Sanktionen folgen. Es wird helfen,<br />

Konsequenzen spielerisch kennenzulernen, Modelle von Handlungsentscheidungen zu<br />

studieren. Es liegt auf der Hand: All dies geschieht im Bereich des Ästhetisch-Künstlerischen.<br />

Dort findet man reichhaltige Angebote an literarischen „Handlungsfolgenabschätzungen“, an<br />

Lebens-entwürfen, an moralischen Entscheidungssituationen. Man erinnere sich, dass dies<br />

geradezu die Entstehungsursache von Theater als künstlerischer Form bei den Griechen war:<br />

Die Darstellung von tragischen Verstickungen, großen Gefühlen, moralischen Dilemmata.<br />

Eine eigene ästhetische Praxis lässt einen involviert sein in moralische Prozesse <strong>und</strong> Abläufe.<br />

„Die ästhetische Erfahrung“, so Düwell 1999, S. 318, „fordert nicht moralisches Handeln,<br />

sondern bringt die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Lebenswelt zur Anschauung.<br />

Menschen werden in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt gezeigt, atmosphärische<br />

Gestimmtheit wird verfremdet, überhöht oder verdichtet erfahrbar, die vertraute Erfahrung<br />

von Raum <strong>und</strong> Zeit wird verwirrt <strong>und</strong> damit anschaulich. Die Welt <strong>und</strong> die Werte von<br />

Menschen werden in einer Weise dargestellt, die ihre Hinneigung <strong>und</strong> ihre Abneigung zum<br />

moralisch richtigen Handeln fasslich werden lässt. Dieses Spektrum an<br />

Erfahrungsmöglichkeiten leistet zwar keine Erkenntnis des moralisch Richtigen, jedoch<br />

werden Spielräume eröffnet, die in vieler Hinsicht ethische Reflexion <strong>und</strong> moralisch<br />

Handlungsmöglichkeiten ermöglichen <strong>und</strong> erweitern“.<br />

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Zeigen <strong>und</strong> Wahrnehmen ist also der Gr<strong>und</strong>modus des Ästhetischen in seiner Relevanz <strong>für</strong><br />

das Moralische. Mit anderen Worten, aber in der Intention <strong>und</strong> Aussage ähnlich, habe ich<br />

unter Hinweis auf Texte von Martin Seel seinerzeit die <strong>Ästhetik</strong> – auch <strong>und</strong> gerade innerhalb<br />

der kulturellen Bildungsarbeit – auf unser damaliges Projekt r<strong>und</strong> um die Lebenskunst<br />

bezogen. „Lebenskunst“, ich erinnere daran, ist zentrales Thema der Individualethik. Es geht<br />

um das „Projekt des guten Lebens“, das je individuell, aber im sozialen Kontext realisiert<br />

werden soll. Auch hierbei spielt eine – in der kulturellen Bildung geschulte – sozial sensible<br />

Wahrnehmung eine entscheidende Rolle:<br />

„Denn um der Individualität von Lebensformen <strong>und</strong> Lebensläufen willen sind allgemeine<br />

Gr<strong>und</strong>sätze der sozialen <strong>und</strong> politischen Anerkennung geboten. Daher schließt unverzerrte<br />

soziale Rücksicht immer eine spezifische Wahrnehmungsfähigkeit mit ein; die Fähigkeit,<br />

wahrzunehmen, was <strong>für</strong> die jeweils Betroffenen Bedingungen eines <strong>für</strong> sie günstigen Lebens<br />

sind; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie es Betroffenen unter vermeintlich günstigen oder<br />

vermeintlich ungünstigen Bedingungen tatsächlich ergeht; die Fähigkeit wahrzunehmen, in<br />

welchen zahllosen Formen sich ein gutes menschliches Leben realisieren kann; die Fähigkeit<br />

wahrzunehmen, wie hartnäckig gerade moderne Gesellschaften vielen ihrer Mitglieder den<br />

Zugang zu einem <strong>für</strong> sie guten Leben versperren; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie wenig die<br />

eigene partikulare Vorstellung von einem guten Leben von anderen geteilt wird; die Fähigkeit<br />

wahrzunehmen, wie sehr es allen anderen ebenso wie mir selbst um ein <strong>für</strong> sie gutes Leben<br />

geht; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie sehr wir alle der Zerbrechlichkeit unseres<br />

Wohlergehens ausgesetzt sind; die Fähigkeit wahrzunehmen, wie eine individuell<br />

durchgehaltene, sozial gestützte <strong>und</strong> rechtlich gesicherte Wahrnehmung der Interessen<br />

anderer die gemeinsamen Aussichten auf ein gelingendes Leben bessern kann; die Fähigkeit<br />

wahrzunehmen, wie sehr die Wechselseitigkeit dieser Wahrnehmungen einen sozialen Raum<br />

der freizügigen Realisierung individueller <strong>und</strong> kollektiver Lebensprojekte konstituiert <strong>und</strong><br />

erhält.“<br />

Und weiter:<br />

„Eine Wahrnehmungsfähigkeit dieser Art - sei es als Wahrnehmung einzelner durch einzelne,<br />

sei es als institutionalisierte Berücksichtigung vieler durch viele - ist eine wesentliche Wurzel<br />

gesellschaftlicher Solidarität; ihr entstammt das Motiv, Rücksichten zu nehmen, die nicht auf<br />

eine wie immer indirekte Berücksichtigung nur des eigenen Interesses rückführbar sind. In ihr<br />

liegt überdies eine spezifisch moderne Wurzel von Solidarität, da sie über jede substantielle<br />

<strong>und</strong> jede vom Subjekt dieser Wahrnehmung kulturell geleitete Vorstellung von einem guten<br />

Leben hinausreicht - oder jedenfalls hinausreichen kann.<br />

Sie ist auf das Gelingen <strong>und</strong> Mißlingen partikularer Realisierungen eines guten Lebens<br />

gerichtet, ohne auf bestimmte dieser Realisierungen fixiert zu sein - oder fixiert sein zu<br />

müssen. Sie basiert nicht auf einer mit anderen geteilten Konzeptionen des Guten, sondern auf<br />

einer sozialen Aufmerksamkeit <strong>für</strong> die formal verstandene Möglichkeit eines guten<br />

Lebens.“(Seel 1996, S. 258 f .).<br />

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Es liegt auf der Hand, dass dieses soziale Verständnis von Wahrnehmung nicht nur mit dem<br />

oben angedeuteten Konzept von Bildung kompatibel ist. Versteht man zudem unter<br />

„kultureller Bildung“ jene allgemeinbildenden Prozesse, die sich in künstlerisch-ästhetischen<br />

Praxen ergeben, dann wird dieses Wahrnehmungskonzept geradezu zu einem Bindeglied von<br />

Glücksrealisierung, <strong>Pädagogik</strong>, Politik <strong>und</strong> Moral.<br />

Allerdings zeigt sich dann auch, dass es nur mit bestimmten Theorien der Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong><br />

kompatibel ist, die eben einen solchen sozialen Horizont ästhetischer Gestaltung einbeziehen<br />

– <strong>und</strong> zu anderen Theorien weniger passt (wenn diese zu stark ihren Gegenstandsbereich<br />

eingrenzen bzw. (autopoietisch <strong>und</strong> selbstreferentiell) um sich selbst kreisen.<br />

Ich fasse zusammen:<br />

Es liegt in der Natur philosophischer Reflexionen, zu keinem allseitig akzeptierten Ende zu<br />

kommen. Meinungsstreit ist das Wesen der Philosophie. Doch was machen <strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong><br />

Politik, die handeln müssen? „Der Handelnde hat immer Unrecht!“ sagt Friedrich Dürrenmatt.<br />

Dies ist so, weil aus einer Fülle von Handlungsmöglichkeiten nur eine einzige ausgewählt<br />

wird, obwohl <strong>für</strong> die dann abgelehnten Handlungsmöglichkeiten ebenfalls gute Gründe<br />

sprechen. Dies ist auch der Fall angesichts einer Fülle von Ethikkonzeptionen. Der<br />

Angreifbarkeit des konkreten Vorschlages bewusst, will ich trotzdem einige allgemeine<br />

Thesen zu einem Verständnis von Ethik formulieren, so wie es <strong>für</strong> die <strong>Pädagogik</strong><br />

anwendungsfähig ist:<br />

1. Basis sowohl des Ästhetischen als auch des Ethisch-Moralischen ist die Anthropologie, ist<br />

eine Auffassung des Menschen als kulturell verfasstes Wesen in seiner<br />

Widersprüchlichkeit <strong>und</strong> Komplexität, insbesondere in seinen produktiven <strong>und</strong><br />

destruktiven Möglichkeiten.<br />

2. Dazu gehört, dass der Mensch Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisse entwickelt, die theoretische,<br />

ethisch-moralische <strong>und</strong> ästhetische Anteile haben. Diese unterschiedlichen Anteile lassen<br />

sich zwar analytisch trennen, treten jedoch in der Praxis immer zusammen auf <strong>und</strong> finden<br />

letztlich im handelnden Subjekt eine Integration: Das Leben, insbesondere das<br />

menschliche Leben ist Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkt moralphilosophischer <strong>und</strong> ästhetischer<br />

Reflexion. Solche Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisse sind etwa die symbolisch-kulturellen<br />

Formen in der „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer, nämlich<br />

Sprache, Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft, Mythos <strong>und</strong> Religion, Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Technik.<br />

3. Die Bedürftigkeit des einzelnen Menschen <strong>und</strong> die – entwickelbare – leibliche<br />

Ausstattung auf der einen Seite <strong>und</strong> die sozial-kulturellen (sittlichen) Kontexte, in die der<br />

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Mensch eingebettet ist, auf der anderen Seite, sind gleichermaßen „Bedingungsfelder“<br />

seiner Entwicklung, die sich zudem wechselseitig konstituieren: So leistet der Einzelne<br />

einen Beitrag zur Ausgestaltung des Sozial-Kulturellen, adaptiert, verändert, entwickelt es<br />

<strong>und</strong> trägt es weiter. Dieses Soziokulturelle wiederum ist eine entscheidende<br />

Enwicklungsbedingung <strong>für</strong> sein individuelles Werden. Das Ich <strong>und</strong> der/das Andere stehen<br />

also nicht (nur) einander gegenüber, so dass man nach der Vorrangigkeit des einen oder<br />

anderen fragen könnte: Beide konstituieren sich wechselseitig.<br />

4. Insbesondere entstehen in diesem individuellen Entwicklungs- <strong>und</strong> aktiven<br />

Aneignungsprozess die Wert- <strong>und</strong> Norm-Orientierungen des Einzelnen durch eine<br />

Habitualisierung der je vorhandenen Sittlichkeit („Üblichkeit“), die in all seinen Welt-<br />

<strong>und</strong> Selbstbeziehungen (Nr. 3) eine Rolle spielen: Diese enthalten nämlich stets eine<br />

wertende Beziehung zur Welt. In seinem Bildungsprozess entwickelt der Einzelne dann<br />

ein bewusstes Verhältnis zu dieser vorliegenden Norm- <strong>und</strong> Wertewelt <strong>und</strong> wird diese<br />

akzeptieren oder verändern wollen.<br />

5. Es lassen sich – analytisch – ästhetische <strong>und</strong> moralisch-ethische Werte unterscheiden.<br />

Diese sind wesentlich Bestandteil der Persönlichkeit <strong>und</strong> eng verb<strong>und</strong>en mit dem<br />

Volotiven <strong>und</strong> Motivationalen: Der Mensch erkennt, bewertet, fühlt sich motiviert (oder<br />

nicht) etwas zu tun oder zu lassen.<br />

6. Die Berücksichtigung individueller („Glück“), sozial-kultureller („Sittlichkeit“) <strong>und</strong><br />

globaler Aspekte ist gleichermaßen anzustreben.<br />

7. Daraus ergibt sich, dass man dreierlei braucht:<br />

� eine Vorstellung des individuell guten, sinnhaften, glücklichen Lebens (Lebenskunst;<br />

Ethik des guten Lebens, Individualethik)<br />

� einen funktionierenden Nahraum, dessen Sitten <strong>und</strong> Gebräuche („Üblichkeiten“)<br />

sowohl „Heimat“ als auch normative Einengung sind (Sozialethik)<br />

� ein faires Verfahren, weitgehend universell gültige <strong>und</strong> akzeptierte Regelungen<br />

herbeizuführen, eben weil vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Globalisierung nur ein ethisch-<br />

moralischer Minimalkonsens sowie ein zivilgesellschaftliches Verhandlunsprozedere<br />

bei Meinungsverschiedenheiten eine friedvolle Gestaltung des Zusammenlebens er-<br />

möglichen (moral-philosophischer Universalismus).<br />

Die an Aristoteles orientierte kommunitaristische Zugangsweise ermöglicht die Reflexion<br />

des sozial-kulturellen Kontextes („Sittlichkeit“). Die aktuelle Individualethik stellt den<br />

Einzelnen in den Mittelpunkt („Lebenskunst“). An Kant orientierte universalistische<br />

Ansätze versuchen, Werte <strong>und</strong> Normen in größter Allgemeinheit verhandelbar zu machen<br />

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(z.B. die Diskurs-Ethik). Eine praxisbezogene Ethik kann daher nur als Integration dieser<br />

drei genannten Ansätze entwickelt werden.<br />

8. Der gemeinsame anthropologische Bezug von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> führt quasi<br />

zwangsläufig zu dem Begriff von Bildung. Bildung als eine bewusste Form der<br />

Lebensgestaltung, als Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zur sozialen <strong>und</strong><br />

natürlichen Umwelt, zur Zeit lässt sich ohne Mühe als Pointierung dessen darstellen, was<br />

eine Anthropologie im Sinne von Plessner <strong>und</strong> Cassirer als das spezifisch Menschliche<br />

ausweist. Die besondere Qualität der (menschlichen) Welt- <strong>und</strong> Selbstverhältnisse bringt<br />

eine ästhetische <strong>und</strong> eine moralische Dimension mit sich, so dass – in der Logik dieses<br />

Gedankens wenig verw<strong>und</strong>erlich – im gebildeten <strong>und</strong> sich bildenden Subjekt Ethik <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong> zusammenlaufen (müssen): Das Subjekt steht im Mittelpunkt ästhetischer <strong>und</strong><br />

moralischer Praxis, steht im Mittelpunkt der Selbst- <strong>und</strong> Weltgestaltung. Das gebildete<br />

Subjekt muss äußere Ansprüche der Community bzw. der universellen Moral mit<br />

individuellen Ansprüchen an das eigene Leben vermitteln, muss Erkennen, Bewerten,<br />

Urteilen <strong>und</strong> Fühlen integrieren. Die Prozesshaftigkeit dieser sich immer wieder<br />

stellenden Anforderungen kommt in der Rede von „Bildung als nichtabschließbarem<br />

Prozess“ zum Ausdruck.<br />

9. Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> als philosophische Spezial-Disziplinen sind in diesem Prozess<br />

relevant. Zwar handelt jeder immer schon ästhetisch oder ethisch-moralisch. Doch wenn<br />

Bildung das Bemühen um Bewusstheit der Lebensvollzüge wesentlich mit einschließt,<br />

dann gehört hierzu auch das Bewusstmachen von Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen<br />

moralischer <strong>und</strong> ästhetischer Urteile <strong>und</strong> ihres kohärenten Zusammenhangs im Leben des<br />

Einzelnen. Und hierbei haben die Reflexionen über die Logik dieser<br />

Beurteilungsprozesse, so wie sie die verschiedenen <strong>Ästhetik</strong>- <strong>und</strong> Ethik-Konzeptionen<br />

anbieten, ihren Nutzen <strong>und</strong> ihre Berechtigung in der Kulturpädagogik: als<br />

Reflexionstheorien des ethisch-ästhetischen Handelns. Dabei muss die Offenheit der<br />

individuellen Entscheidung <strong>für</strong> bestimmte Konzeptionen von Ethik bzw. <strong>Ästhetik</strong> gewahrt<br />

bleiben, da sich kaum ein archimedischer Punktfinden lässt, von dem aus sich eine<br />

letztgültige Entscheidung über „wahr“ <strong>und</strong> „falsch“ einzelner Theorien treffen ließe.<br />

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Aus einer praktischen Sichtweise ist daher notwendig, was aus der Sicht der philosophischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung eher schwierig ist: Die gleichzeitige Relevanz der drei sich ansonsten<br />

bekämpfenden Ethik-Ansätze zu behaupten. Gehört man nicht zu dem engen Kreis einer<br />

philosophischen Schule, fällt eine solche Integration auch Fachphilosophen leichter <strong>und</strong> ist<br />

sogar verbreitet. Ein Beispiel: Walter Schulz („Ethische Maximen“, in Apel u.a. 1984, Reader<br />

Bd. 1, S. 431ff) nennt drei ethische Minimalanforderungen:<br />

� Rückgriff auf Kants Bestimmung des Menschen als Zweck an sich selbst<br />

� der Wille zum Leben als Gr<strong>und</strong>prinzip (s. Schweitzer)<br />

� die Minderung des Leidens <strong>und</strong> die Mehrung der Wohlfahrt; das größte Glück der größten<br />

Zahl (in behutsamem Bezug auf utilitaristische Traditionen).<br />

Der gemeinsame Bezug auf den Menschen, seine Bestimmungsmerkmale, Bedürfnisse <strong>und</strong><br />

Chancen macht zudem die Integration von Ethik <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> denkbar. Denn beiden geht es<br />

um individuelle Dispositionen, die in allen Weltzugangsweisen (kulturell-symbolische<br />

Formen) zu finden sind. Sie überschneiden sich zum einen dort, wo die moralische<br />

Urteilsbildung darauf angewiesen ist, Gegebenheiten <strong>und</strong> Verläufe genau wahrzunehmen<br />

(aisthesis), Handlungsmöglichkeiten zu (er)kennen („Möglichkeitsdenken“ in der<br />

Kulturarbeit) <strong>und</strong> vielleicht sogar probehandelnd ausführen zu können. Eine Überschneidung<br />

ist andererseits dort zu finden, wo wahrgenommene Dinge <strong>und</strong> Prozesse zwar auch ästhetisch,<br />

aber eben auch ethisch-moralisch bewertet werden, wo moralische Überzeugungen in der<br />

ästhetisch-kulturellen Praxis entstehen, ebenso wie die Motivation zu moralischem Handeln.<br />

<strong>Ästhetik</strong>, die Werte <strong>und</strong> das gute Leben: Individualethik<br />

Die individualethische Sicht will ich anhand zweier Themen behandeln, die zur Zeit zu den<br />

aktuellsten Themen gehören: die Frage nach den Werten <strong>und</strong> das „Projekt des guten Lebens“.<br />

Lebenskunst <strong>und</strong> Lebensformen<br />

„Lebenskunst“ hat in den letzten Jahren auch über engere Fachgrenzen hinweg eine gewisse<br />

Konjunktur erlebt. Für eine philosophische Habilitationsschrift äußerst ungewöhnlich war die<br />

Tatsache, dass Wilhelm Schmid (1998) mit seiner „Philosophie der Lebenskunst“ einen<br />

Bestseller geschrieben hat. Doch bereits vorher hat Ulrich Baer (1997) dieses Konzept <strong>für</strong> die<br />

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kulturelle Bildungsarbeit vorgeschlagen, woraus sich ein umfangreiches Modellprojekt der<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung Kulturelle Jugendbildung entwickelt hat (BKJ 1999, 2000, 2001). Das<br />

„gute Leben“ bzw. die „alltägliche Lebensweise“ haben bereits vorher sowohl in der<br />

Philosophie (Nozick 1993) als auch in der Soziologie (Projektgruppe 1995) Furore gemacht.<br />

Dies ist in den genannten BKJ-Büchern umfassend dargestellt. Eine Traditionslinie in dieser<br />

reichen Diskussion will ich hier hervorheben: Die Unterscheidung unterschiedlicher<br />

Lebensformen. Wer in der Moralphilosophie über „Lebensformen“ spricht, ist in der Regel<br />

näher an Aristoteles als an Kant. Denn es geht ihm weniger um univeralistische Werte,<br />

sondern vielmehr um die Vielgestaltigkeit je individueller Lebensvollzüge in sozial-<br />

kulturellen Kontexten. Bereits Eduard Spranger hat in seinem Buch „Lebensformen“ bald<br />

nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende – mit vielen Neuauflagen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg –<br />

eine „Ethik der Persönlichkeit“ vorgelegt, die ausführlich als „Gr<strong>und</strong>typen der Individualität“<br />

den theoretischen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen, religiösen <strong>und</strong> den Machtmenschen<br />

beschreibt. Einzelne dieser Typen waren schon vorher untersucht worden – wobei ich von<br />

literarischen Darstellungen von Persönlichkeiten, die sich etwa ganz der Politik oder Kunst<br />

widmen, einmal absehe. So beschäftigt sich Marx ausführlich mit den<br />

Handlungsanforderungen an den Bourgeois („Charaktermaske“), eine Denkrichtung, die<br />

später Werner Sombart („Der Bourgeois“, 1923) in materialreichen Studien fortführt. Der<br />

„homo politicus“ oder der „homo oeconomicus“ gehören seit langem als Typisierungen von<br />

Verhaltensweisen zum Angebot der wissenschaftlichen Literatur. Berühmt wurde auch der<br />

Versuch von Kierkegaard, („Entweder – Oder“), nach einer Darstellung der Nachteile der<br />

ästhetischen <strong>und</strong> der ethischen Lebensform die religiöse Lebensform als Lösung anzubieten.<br />

All diese Versuche haben eine lange philosophische Tradition der Reflexion der eigenen<br />

Lebensform. Insbesondere hat die Moderne die Aufgabe mit sich gebracht, das eigene Leben<br />

bewusst als zentrale Gestaltungsaufgabe zu betrachten (Fuchs 2001).<br />

Doch hatte die Arbeit von Spranger insofern eine besondere Qualität, als sie systematisch ein<br />

um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende weithin diskutiertes Thema auf die Person bezog: die „Wertsphären<br />

der Gesellschaft“, mit denen sich alle großen Soziologen – so etwa auch Max Weber –<br />

intensiv befassten. Es ist kein Zufall, dass im Werk von Weber der Begriff der<br />

„Lebensführung“ eine wichtige Rolle spielt. Im selben geistigen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Kontext entsteht die „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer, in der<br />

Kunst, Sprache, Wissenschaft, Religion, Mythos, Wirtschaft, Staat <strong>und</strong> Technik als<br />

symbolisch-kulturelle Formen vorgestellt werden. Diese symbolisch-kulurellen Formen<br />

beschreiben im wesentlichen die „Wertsphären“ des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Heute findet man sie in<br />

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der systemtheoretischen Soziologie, die sorgsam die Subsysteme Politik, Kultur, Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaft untersucht (Münch 1991). Die Auszeichnung von Menschentypen, die sich<br />

in der Gestaltung ihres eigenen Lebens sehr stark an einer der Cassirerschen symbolisch-<br />

kulturellen Formen orientieren, liegt nahe. Zumindest in späteren Auflagen gibt es bei den<br />

genannten Autoren vielfältige gegenseitige Verweise.<br />

Ein aktueller Versuch, die Idee der Lebensformen mit je individuellen Vorstellungen der<br />

Realisierung von „Glück“ zu verbinden, ist das Buch „Glücksache – Die Kunst, gut zu leben“<br />

der Ethikerin Annemarie Pieper (2001). Auch sie unterscheidet – freilich ohne ihre berühmten<br />

Vorbilder zu erwähnen – die ästhetische, ökonomische, politische, sittliche, ethische <strong>und</strong><br />

religiöse Lebensform mit je eigenen spezifischen Vorstellungen vom Glück: das sinnliche<br />

Glück, Glück als kalkulierter Nutzen, das technisch perfekte Glück, Tugend als Quelle von<br />

Glück, das asketische <strong>und</strong> stoische Glück, den mystischen Weg zum Glück – je nach<br />

gewählter Lebensform.<br />

„Unter Lebensform“, so Pieper 2001, S. 27 f., „ist eine frei gewählte Weise des Existierens zu<br />

verstehen.... Die Lebensform beruht auf der individuell entwickelten Vorstellung eines guten<br />

Lebens, die zunächst als Zukunftsentwurf dem Leben probeweise <strong>und</strong> vorläufig eine Richtung<br />

gibt. ...Die Lebensform als ausgebildeter Selbstentwurf enthält die Glückskonzepte, die das<br />

Individuum in seine Vorstellung vom guten Leben integriert hat <strong>und</strong> mehr oder weniger<br />

erfolgreich umsetzen konnte.“<br />

Man sieht, dass dieser Entwurf anthropologisch (<strong>und</strong> politisch) äußerst voraussetzungsvoll ist:<br />

Die Freiheit persönlicher Entscheidung muss gewährleistet sein; die Auswahl der Lebensform<br />

erfolgt in großer Bewusstheit der Möglichkeiten; der Einzelne ist zudem fähig zur Revision<br />

eigener Lebenskonzepte. Eine solche Vorstellung vom gelungenen gelebten Leben braucht<br />

zudem vielerlei Ressourcen: materielle Ressourcen, die einen Grad an menschlicher Existenz<br />

ermöglichen, so wie sie die anthropologischen Armutsforscher Martha Nussbaum <strong>und</strong><br />

Armatya Sen beschreiben; aber auch die Ressource Bildung als Lebenskompetenz, die einen<br />

in die Lage versetzt, bewusste Entscheidungen in der beschriebenen Form treffen zu können.<br />

Das Ästhetische hat mit dieser „Ethik der Lebensführung“ gleich mehrfach zu tun. Zum einen<br />

ist die ästhetische Lebensform eine eigenständige Art, sein Leben zu gestalten, das seine<br />

Sinnerfüllung, das Einlösen von Glücksansprüchen über das Ästhetische realisiert. Es ist das,<br />

was Martin Seel die „Möglichkeit selbstzweckhaften Lebens“ (Seel 1996, S. 26) nennt.<br />

Ästhetische Praxis ist in dieser – freilich etwas überhöht dargestellten – Form erlebte <strong>und</strong><br />

gelebte Freiheit. An dieser partizipiert man auch dann, wenn man nicht immer oder nicht<br />

überwiegend diese ästhetische Lebensform praktiziert. Denn jedes individuelle Glück setzt<br />

sich aus einer Mischung der verschiedenen Glücksformen zusammen. Allerdings warnt<br />

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Martin Seel vor einer Überschätzung der „<strong>Ästhetik</strong> der Existenz“ (i.S. von Foucault oder auch<br />

Schiller): Das Dasein besteht nicht nur nicht vollständig, sondern sogar nur zu einem geringen<br />

Teil aus selbstzweckhaften Handlungen. „Instrumentelles Gelingen <strong>und</strong> alle übrigen Arten<br />

erfolgreichen, zielorientierten Handelns sind keineswegs zu verachten“ (ebd. S. 18). Und<br />

weiter: „Die <strong>Ästhetik</strong> ist ein Teil einer Ethik der Lebensführung, aber mehr auch nicht. Ein<br />

ästhetischer Begriff guten Lebens .. wäre ein wichtiger, aber einseitiger <strong>und</strong> daher allein<br />

ungenügender Begriff.“(ebd.).<br />

Eine weitere Dimension, <strong>Ästhetik</strong> <strong>für</strong> die Ethik (der Lebensführung) nutzbar zu machen, ist<br />

die Möglichkeit, sie als Erprobungsfeld von Lebensformen zu nutzen. Die Künste liefern ein<br />

reichhaltiges Repertoire gestalteter Lebensformen, bringen es zur Anschauung, bieten in<br />

einem Proberaum Probehandeln an. Sie sind Experimentierstuben <strong>für</strong> die eigene<br />

Lebenspraxis. Diese Überlegungen erhalten gerade heute eine hohe Relevanz, da man<br />

feststellten musste, dass Lebensformen unterschiedlich zukunftsfähig sind. Insbesondere ist<br />

die westliche Lebensform auf Gr<strong>und</strong> ihres enormen Ressourcenverbrauches in die Kritik<br />

geraten, da sie weltweit eine ungerechte Verteilung der Ressourcen voraussetzt. Der 11.<br />

September ist zu Recht als F<strong>und</strong>amentalkritik an dieser Lebensform – sowohl von den<br />

Terroristen, aber auch von politischen Vertretern des Westens – verstanden worden. Und man<br />

hat gesehen, wie vehement der Westen diese Lebensform verteidigen will. Die individuelle<br />

Frage der Gestaltung des eigenen Lebens ist also vielfältig mit sozialphilosophischen Fragen<br />

der Gerechtigkeit, der Ressourcenverteilung, der Macht verb<strong>und</strong>en. Eine <strong>Kulturpolitik</strong>, die<br />

eine Bewertung von Lebensformen zum Ziel hat, hat alleine hierin eine wichtige<br />

gesellschaftliche Legitimation.<br />

Werte <strong>und</strong> ihre Vermittlung<br />

Doch nun zu den Werten, insbesondere insofern sie über Bildung/Erziehung vermittelt<br />

werden sollen.<br />

Zunächst die Gemeinsamkeit von Bildung/Erziehung <strong>und</strong> den Werten: beides sind<br />

anthropologische Tatsachen. Der Mensch ist erzieh- <strong>und</strong> bildbar, dies ist seine<br />

anthropologische Mitgift. Und es ist auch notwendig, ihn zu bilden <strong>und</strong> zu erziehen (besser:<br />

ihn sich bilden zu lassen), da er nur so seine Menschlichkeit realisiert. Bilden <strong>und</strong> Erziehen<br />

sind jedoch niemals wertfrei, da stets normative Vorstellungen von „Mensch“ den<br />

pädagogischen Bemühungen zu Gr<strong>und</strong>e liegen. Ein erster Schritt einer redlichen <strong>Pädagogik</strong><br />

ist daher, die eigene Wertorientierung offen zu legen.<br />

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Als positive Ziele, die im Einklang mit einer weitreichenden Realisierung von Freiheit in der<br />

Gesellschaft stehen, formuliert Hartmut von Hentig (1996) die folgenden:<br />

� Abscheu <strong>und</strong> Abwehr von Unmenschlichkeit,<br />

� die Wahrnehmung von Glück,<br />

� die Fähigkeit <strong>und</strong> den Willen zur Verständigung,<br />

� ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz,<br />

� Wachheit <strong>für</strong> letzte Fragen,<br />

� die Bereitschaft zur Selbstverantwortung <strong>und</strong> Verantwortung in der res publica.<br />

Nicht nur Erziehung ist anthropologisch unvermeidbar, auch die Werte sind es. Werte<br />

entstehen aus Wertungsprozessen. Bei diesen verleiht der Einzelne/die Gruppe Prozessen,<br />

Dingen <strong>und</strong> Personen eine Bedeutung <strong>und</strong> (kollektiv oder einzeln) Sinnhaftigkeit in Bezug auf<br />

die eigene Existenz. „Werte“ sind also Relationen zwischen dem Subjekt <strong>und</strong> seiner<br />

(wahrgenommenen) Befindlichkeit <strong>und</strong> einem Objekt, das in seiner Relevanz <strong>für</strong> die<br />

subjektive Befindlichkeit beurteilt wird.<br />

„Kultur“ nennt Max Weber einen Wertbegriff, insofern „mit „Kultur“ ein vom Standpunkt des<br />

Menschen aus mit Sinn <strong>und</strong> Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen<br />

Unendlichkeit des Weltgeschehens bezeichnet wird“ (Weber 1988 – Wissenschaftslehre, S.<br />

180f.). Gr<strong>und</strong>lage der Wertens <strong>und</strong> damit der Werte sind Akte des Urteilens, der<br />

Stellungnahme des Menschen, der Sinnverleihung. Eine wichtige Differenzierung erhält man<br />

hierbei, wenn man die unterschiedlichen Verständnisweisen von „Mensch“ berücksichtigt;<br />

� es kann der einzelne, konkrete Mensch sein, der je <strong>für</strong> sich die Sinnhaftigkeit seines<br />

Lebens darstellen will (Individualethik)<br />

� es kann eine Gruppe von Menschen sein, die dies tut (Sozialethik)<br />

� es kann aber auch das Gattungswesen Mensch sein, zu dem sich der Einzelne oder die<br />

Gruppe in Beziehung setzt.<br />

Natürlich lassen sich „Werte“ auch als Abstrakta von den konkreten Prozessen menschlicher<br />

Tätigkeit ablösen. Sie lassen sich als selbstständige Ideen behandeln, die eine eigene ideelle<br />

Seinsweise in einem „Ideenhimmel“ führen (so etwa bei Max Scheler). Aber selbst dann<br />

erfüllen sie noch die Funktion, das individuelle <strong>und</strong> soziale Leben ordnen zu helfen. Form,<br />

also das Vorhandensein eines Rahmens, einer Struktur, ist notwendige Bedingung von<br />

Freiheit, so Ernst Cassirer in seiner Kulturphilosophie. Werte als ordnende Momente des<br />

Lebens sind daher anthropologisch unvermeidbar. Werte können sich verändern – eben weil<br />

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sich ihr letztlicher Bezugspunkt, das Leben selbst, ändert. Eines ist dabei festzuhalten: Es gibt<br />

heute keinen Verlust an Werten. Es mögen bestenfalls die „falschen“ Werte sein, an denen<br />

sich Menschen oder Menschengruppen orientieren.<br />

Werte auf das Leben zu beziehen, leistet zumindest dreierlei:<br />

� Werte liegen nicht irgendwo abstrakt getrennt vom Leben, sondern werden in diesem<br />

selbst wirksam. Man kann sie suchen <strong>und</strong> analysieren, wenn man das Leben betrachtet.<br />

� Werte können wiederum bewertet werden, da sie ihre orientierende Funktion im Leben<br />

gut oder schlecht erfüllen können.<br />

� Werte werden am besten im Leben, durch das Leben, zumindest durch eine tätige Praxis<br />

angeeignet. Und: Es werden immer Werte angeeignet (informelle Bildung;<br />

Habitualisierung).<br />

Werte „werden von uns (also) definiert, aber nicht erf<strong>und</strong>en, nicht durch eine Ethik<br />

konstituiert, sondern durch diese geklärt, begründet, bestätigt, in eine Rangfolge gebracht; sie<br />

können auch nicht von uns abgeschafft, sondern allenfalls verleugnet werden“ (v. Hentig<br />

1999, S. 69).<br />

Von Hentig gibt folgende Werte an (ebd., S. 162):<br />

1. Das Leben<br />

2. Freiheit/Selbstentfaltung/Selbstbestimmung/Autonomie<br />

3. Frieden/Fre<strong>und</strong>lichkeit<br />

4. Seelenruhe – zum Beispiel auf Gr<strong>und</strong> der erfüllten Pflicht oder aus Übereinstimmung mit<br />

dem eigenen Gewissen<br />

5. Gerechtigkeit<br />

6. Solidarität (Brüderlichkeit/Gemeinsamkeit (= Nichteinsamkeit) (Gemeinwohl ist die alles<br />

zusammenfassende Idee)<br />

7. Wahrheit<br />

8. Bildung/Wissen/Einsicht/Weisheit<br />

9. lieben können/geliebt werden<br />

10. körperliches Wohl/Ges<strong>und</strong>heit/Freiheit von Schmerz/Kraft<br />

11. Ehre/Achtung des Menschen/Ruhm<br />

12. Schönheit<br />

Man sieht, dass sich in dieser Liste durchaus kategorial Unterschiedliches findet: Individuelle<br />

Dispositionen („Tugenden“) <strong>und</strong> soziale Übereinkünfte <strong>und</strong> Rahmenbedingungen (Normen).<br />

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Dies deckt sich insofern mit einem verbreiteten Sprachgebrauch, als oft nicht zwischen<br />

Gütern, Werten <strong>und</strong> Tugenden unterscheiden wird <strong>und</strong> das „gute Leben“ ein solches Leben<br />

ist, in dem sich der Einzelne hinreichend viel eines spezifischen „Gutes“ aneignet <strong>und</strong> nach<br />

dem er strebt („Strebensethik“, vgl. Krämer 1992).<br />

Für das Sortieren der pädagogischen Aufträge im Hinblick auf ethisch-moralische Fragen<br />

macht von Hentig einen Vorschlag:<br />

� Ethik – durchaus im Sinne dieses Textes als Reflexionstheorie des (praktischen)<br />

moralischen Handelns – kann gelehrt <strong>und</strong> geübt werden: als Analyse- <strong>und</strong><br />

Diskursfähigkeit bezogen auf moralische Sachverhalte, auf Begründungskompetenz bei<br />

moralischen Forderungen.<br />

� Gelebte Moral wird als Einübung moralischer Handlungsweisen bei denen es um eine je<br />

individuelle Realisierung der genannten Werte geht, ebenfalls zum Gegenstand der<br />

<strong>Pädagogik</strong>.<br />

Werte, so wurde gesagt, entstehen aus Wertungsprozessen, <strong>und</strong> diese wiederum haben etwas<br />

mit dem Urteil zu tun, ob es eine Relevanz <strong>für</strong> das Leben gibt oder nicht. Dies erklärt auch,<br />

dass uns der Wertebegriff nicht nur bei der moralischen Bewertung von Handlungen<br />

begegnet, sondern auch bei ästhetischen oder ökonomischen Prozessen. Die ökonomische<br />

Wertlehre von Marx unterscheidet z. B. Tausch- <strong>und</strong> Gebrauchswert. Letzterer ist es, der den<br />

Menschen veranlasst, in das Marktgeschehen einzugreifen. Denn der Gebrauchswert eines<br />

Dinges ist die Gesamtheit seiner (<strong>für</strong> das Leben!) nützlichen Eigenschaften. Der ästhetische<br />

Wert wiederum bewertet die Gestaltqualität von natürlichen oder vom Menschen<br />

geschaffenen Dingen <strong>und</strong> Prozessen.<br />

Es gibt – etwa von Gehlen – interessante anthropologische Thesen darüber, wie „Schönheit“<br />

entstanden ist aus überlebensrelevanten Signalen, die sich dann in dem Maße von ihrer<br />

ursprünglichen Funktion gelöst haben, wie der Mensch aus seiner Instinktgeb<strong>und</strong>enheit<br />

herausgekommen ist. Die Erinnerung an diese Signale ist jedoch geblieben – <strong>und</strong> lösen eine<br />

Freude über die gewonnene Freiheit von Naturzwängen aus. Der Mensch feiert sich in der<br />

Freude an der Schönheit letztlich selbst. Die „Schönheit als Symbol der Freiheit“ (Kant) – <strong>für</strong><br />

das frühgeschichtliche Bewusstsein eine Selbstverständlichkeit. Auch bei Stämmen <strong>und</strong><br />

Ureinwohnern ist das Schöne noch vollständig in den Alltag integriert. Man vergisst hier zu<br />

Lande immer wieder, dass die „Autonomie der Kunst“ eine junge Erfindung ist. Kant<br />

brauchte die Zweckfreiheit ästhetischer Urteilskraft aus systematischen Gründen <strong>und</strong> um die<br />

Funktionsweise einer unbegrifflichen Erkenntnis verständlich zu machen.<br />

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Kurz: Der Bezug ästhetischer Werte zum Leben des Menschen stellt sich leicht her, wenn<br />

man in der Geschichte der Kunst hinter das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zurück geht. Damit ist das<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich Vergleichbare ästhetischer, ethischer <strong>und</strong> ökonomischer Werte gezeigt: Ihr<br />

gemeinsamer Bezug zum Leben.<br />

Kulturelle Bildungsarbeit kann in diesem Feld des Umgangs mit Werten <strong>und</strong> Wertungen<br />

vielfältig nützlich sein:<br />

1. Wiederum ist es zunächst der Aspekt, dass ästhetisch-kulturelle Praxis Handeln zur<br />

Anschauung bringt. Es lassen sich dabei individuelle Rechtfertigungen dieses Handelns –<br />

etwa am Beispiel literarischer Vorlagen – behandeln. Die dramatische Literatur ist voll<br />

davon, dass Menschen handeln müssen, schuldig werden, moralische Konflikte austragen.<br />

Möglicherweise funktioniert sogar das Lernen am Modell, insofern Handlungsweisen<br />

vorbildlich vorgelebt werden. Es sind also beide Dimensionen – die ethische <strong>und</strong> die<br />

moralische – in dieser Möglichkeit des Anschaulichmachens angesprochen.<br />

2. Es ist zudem die eigene künstlerische Praxis, die es – intensiver als in bloßer Anschauung<br />

– ermöglicht, in Rollen zu schlüpfen, sich mit der ganzen Person mit moralischen Fragen<br />

auseinander zu setzen. Wenn Werte etwas mit Leben zu tun haben, dann können sie durch<br />

Probehandeln im simulierten Leben sichtbar werden <strong>und</strong> sich auf die eigene Existenz<br />

beziehen lassen.<br />

Werteerziehung ist also möglich. Freilich nicht im Sinne einer Indoktrination. Selbst-Bildung,<br />

Selbst-Lernen funktioniert nur, wenn der Einzelne das zu Lernende als sinnvoll <strong>für</strong> das eigene<br />

Leben erkannt hat. Auch die edelsten Werte müssen individuell erfahren werden.<br />

Pädagogische Indoktrination ist also auch bei „guten“ Werten möglich – <strong>und</strong> aus ethisch-<br />

moralischen Gründen zu verwerfen. Denn die Autonomie des Einzelnen – immerhin Kern der<br />

Menschenwürde als oberstem Wert in unserer Gesellschaft – darf auch nicht in guter Absicht<br />

verletzt werden.<br />

Werteerziehung funktioniert in einer Umgebung, in der Werte gelebt werden. Eine lebendige<br />

Demokratie ist also die beste Lehrmeisterin <strong>für</strong> demokratische Werte. Eine <strong>Pädagogik</strong> der<br />

Teilhabe (E. Liebau) muss daher viel Wert auf die Organisationsformen <strong>und</strong><br />

Rahmenbedingungen der pädagogischen Inszenierung legen.<br />

Eine gelungene Werteerziehung bedeutet auch: Stärkung von Tugenden. Die erste<br />

ausgearbeitete Ethik war die Tugendlehre in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.<br />

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Innerhalb des Kommunitarismus hat die aristotelische Ethik eine gewisse Konjunktur erlebt<br />

(ich erinnere etwa an Martha Nussbaum).<br />

Wer in diesem alten Ethik-Buch von Aristoteles blättert, stößt auf viele bekannte Themen, u.a.<br />

� die Frage nach dem Glück im ersten Buch,<br />

� die Tugenden in den folgenden Büchern – u. a. mit der Erkenntnis, dass die Tugend aus<br />

Gewöhnung entsteht <strong>und</strong> durch Handeln gefestigt wird. Später werden neben der<br />

Gewöhnung auch noch Naturanlage <strong>und</strong> Lehre als Möglichkeit des Tugenderwerbs<br />

diskutiert (10. Buch, 10. Kapitel).<br />

Tugenden <strong>und</strong> Tugendkataloge sind heute obsolet geworden, gerade in der <strong>Pädagogik</strong>, aber<br />

auch in der Kunst, wo das tugendhafte Mädchen oder der Tugendbold nur selten<br />

Sympathieträger sind. Sek<strong>und</strong>ärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit oder Ordnung werden oft<br />

geschmäht, aber ebenso oft durch konservative pädagogische Bewegungen („Mut zur<br />

Erziehung“), <strong>Pädagogik</strong>ratgeber von Journalisten oder Politiker(gattinnen), die eine „feste<br />

Hand“ in der Erziehung <strong>und</strong> das „Ende der Schmuse- <strong>und</strong> Kuschelpädagogik“ fordern,<br />

rehabilitiert.<br />

Das Einüben moralischen Handelns, die Habitualisierung <strong>und</strong> Verfestigung von<br />

„tugendhaftem“ Handeln ist unvermeidbar <strong>und</strong> notwendig. Von Hentig beschreibt<br />

„Tugenden“ als diejenigen persönlichen Dispositionen, die die Realisierung von Werten<br />

ermöglichen. Und: Es sind immer mehrere individuelle Tugenden erforderlich, um einen der<br />

Werte umzusetzen.<br />

Gemeinsam geteilte Tugenden lassen einen „Ethos“ entstehen, nämlich eine gemeinsame<br />

Gr<strong>und</strong>haltung zum Leben – auch <strong>und</strong> gerade bei bestimmten Professionalitäten (Lehrer,<br />

Ärzte, Berater etc.). Dies reicht bis zu dem Projekt „Weltethos“ von Hans Küng, bei dem sich<br />

alle Religionen auf eine Anzahl von Gr<strong>und</strong>werten <strong>und</strong> -rechten verpflichten sollen – als<br />

gemeinsam geteilte <strong>und</strong> gelebte Gr<strong>und</strong>überzeugung des richtigen Lebens. Auch <strong>und</strong> gerade<br />

hier gilt jedoch: Es gibt sicherlich eine Wissensbasis <strong>für</strong> moralisch-ethische Fragen, etwa die<br />

fünf Quellen unseres Wissens von Gut <strong>und</strong> Böse, die Hartmut von Hentig aufführt: Gott, die<br />

Natur, die Tradition, die Vernunft, die Notwendigkeit. Man kann <strong>und</strong> sollte als Teil einer<br />

ethischen Bildung Tugenden auch analysieren, ordnen <strong>und</strong> diskutieren können. Moralisches<br />

Leben, Werteaneignung funktioniert jedoch nur in einer Umgebung, in der diese Werte gelebt<br />

werden.<br />

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Der Einzelne <strong>und</strong> die Gemeinschaft<br />

Die Entgegensetzung des Einzelnen <strong>und</strong> des Sozialen ist eine vergleichsweise junge<br />

Erscheinung. Das Beispiel der Diskussion über die Universalität der Menschenrechte –<br />

speziell im Hinblick auf die Kritik, sie gingen sehr stark von dem (einzelnen) autonomen<br />

Individuum westlicher Prägung aus – zeigt zudem, dass diese Entgegensetzung auch heute<br />

noch nicht in allen Kulturen gleichermaßen verbreitet ist.<br />

In der praktischen Philosophie zeigt sich die ursprüngliche Einheit von Individuellem <strong>und</strong><br />

Sozialem daran, dass neben personenbezogenen Reflexionen von Anfang an die Frage der<br />

politischen Ordnung mit diskutiert wird. Aristoteles etwa schreibt sehr einsichtig über das<br />

gelingende Leben des Einzelnen. Er tut dies vor der damals selbstverständlichen Einsicht,<br />

dass individuelles Glück nur in Verbindung mit der Übernahme politischer<br />

Mitgestaltungsaufgaben in der Polis erreicht werden kann. In der Meiner-Ausgabe seiner<br />

Schriften (Hg.: Rolfes/Bien) ist in der Vorbemerkung zu Bd. 4 (Politik, S. VII) der enge<br />

Zusammenhang von Individuum <strong>und</strong> Sozialem (hier: als Zusammenhang von politischer<br />

Philosophie <strong>und</strong> Anthropologie) zusammengefasst:<br />

1. Der Staat ist die ranghöchste <strong>und</strong> alle anderen Gemeinschaften/Gesellschaften umfassende<br />

Form menschlicher Gemeinschaft, weil er auf die Realisierung des höchsten <strong>und</strong><br />

umfassendsten Gutes, die menschliche Wesenserfüllung, zielt, d. h. eines autarken Gutes,<br />

dem kein Moment an Wünschbarkeit <strong>und</strong> Erfüllung mangelt.<br />

2. Der Staat gehört zu den von Natur aus bestehenden Dingen.<br />

3. Der Mensch ist von Natur ein staatliches Lebewesen.<br />

4. Der Staat ist früher als die Hausgemeinschaft <strong>und</strong> der Einzelne: er ist deren Substanz,<br />

Natur <strong>und</strong> Erfüllung.<br />

5. Der Mensch hat darum als einziges Lebewesen Sprache, weil er zur Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Sittlichkeit bestimmt ist.<br />

Zu bemerken ist, dass hier der „Staat“ die res publica ist <strong>und</strong> die ungewohnte Rede vom<br />

„staatlichen Wesen“ Mensch auf den Menschen als „zoon politicon“, also als politisches<br />

Wesen zielt.<br />

Auch Kant behandelt in seinen moralphilosophischen Schriften in seiner Metaphysik der<br />

Sitten die Rechtslehre, also gesellschaftliche Ordnungssysteme. Diese Tradition reicht bis<br />

heute, wenn etwa – um ein letztes Beispiel zu nennen – Jürgen Habermas seine<br />

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„kommunikative Vernunft“ zur Diskursethik weiterentwickelt <strong>und</strong> diese zu einer politischen<br />

<strong>und</strong> Sozialphilosophie präzisiert (Habermas 1993, 1996).<br />

Auch das Lebenskunst-Konzept der BKJ, das dem europäischen Gedanken der Konzentration<br />

auf den Einzelnen anzuhängen scheint, versucht an die griechische Tradition der Vermittlung<br />

des individuellen Glücks mit sozialem <strong>und</strong> politischem Engagement anzuknüpfen, etwa bei<br />

dem Thema Partizipation (BKJ 2000).<br />

Das Individual-Ethische hat also – auch im Verständnis dieses Textes – immer eine soziale<br />

<strong>und</strong> eine politische Dimension, <strong>und</strong> die Politik hat immer eine individuell-moralische<br />

Dimension. Ich will hier<strong>für</strong> an einige wenige Gesichtspunkte erinnern:<br />

1. Das Leben des Einzelnen kann nur dann gelingen, wenn Ressourcen vorhanden sind. Die<br />

meisten dieser Ressourcen können jedoch nur gemeinschaftlich hergestellt werden. Die<br />

Verantwortung <strong>für</strong> dieses Gemeinschaftliche ergibt sich daher auch bei einer engen<br />

individualistischen Perspektive.<br />

2. Dieses „Gemeinschaftliche“ bedeutet in Zeiten der Globalisierung schon längst nicht mehr<br />

„lokaler Nahraum“, sondern bezieht in wichtigen Fragen die gesamte Welt ein. Dies<br />

bedeutet u. a. die Einbeziehung der weltweiten Verteilung des extrem unterschiedlichen<br />

Verbrauchs von Ressourcen: Gerechtigkeit hört nicht an den Staatsgrenzen auf.<br />

3. Autonomie als Selbststeuerung gilt als zentraler Freiheitsgr<strong>und</strong>satz <strong>für</strong> das einzelne<br />

Subjekt. Sie ist jedoch auch die Basis der Demokratie. Herrschaft des Volkes heißt:<br />

Selbststeuerung der „Beherrschten“. Dies ist in unserem Gr<strong>und</strong>gesetz so formuliert (Art.<br />

20 GG) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Hauke Brunkhorst (in seinem Beitrag<br />

„Leitkultur <strong>und</strong> Demokratie“ in den Blättern <strong>für</strong> deutsche <strong>und</strong> internationale Politik 3/02,<br />

S. 298 ff.) erinnert daran, dass unser Gr<strong>und</strong>gesetz hierbei von dem antiken <strong>und</strong> liberalen<br />

Verständnis von Demokratie insofern abweicht, als es nicht um die Herrschaft einer<br />

Mehrheit über eine Minderheit geht <strong>und</strong> daher Minderheitenschutz notwendig sei.<br />

Demokratie im Sinne des Gr<strong>und</strong>gesetzes ist vielmehr Selbstherrschaft es ganzen Volkes<br />

als Ausdruck eines menschenrechtlichen Autonomieanspruchs: Nur die<br />

Selbstverpflichtung der Beteiligten kann als F<strong>und</strong>ament der Rechts- <strong>und</strong> politischen<br />

Ordnung gewonnen werden. Dies ist der Gr<strong>und</strong>gedanke der Französischen Revolution auf<br />

der Basis der Idee von Rousseau. Gravierende Folgen hat dieser Gedanke etwa dort, wo<br />

zu den Adressaten (die sich gemeinschaftlich selber steuern müssen) eben auch „Babys,<br />

Schwachsinnige, dauerhaft anwesende ebenso wie durchreisende Ausländer,<br />

Strafgefangene...“ (S. 300) gehören. Insbesondere wird dann die These einer Leitkultur<br />

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einer Mehrheitsgruppe, an der sich alle anderen zu orientieren haben, völlig obsolet <strong>und</strong><br />

widerspricht letztlich sogar dem Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> den Menschenrechten.<br />

4. Die aktuelle Diskussion über die Relevanz unterschiedlicher Teile des Völkerrechts gehört<br />

ebenfalls in diesen Komplex: die in den letzten Jahren aus Anlass unterschiedlicher<br />

Kriegshandlungen vorgetragene Argumentation, Menschenrechtsverletzungen im Staate<br />

erlauben die Verletzung dessen Souveränität <strong>und</strong> Selbstbestimmungsrechtes des<br />

entsprechenden Volkes. Problematisch an dieser Argumentation ist dabei, dass es recht<br />

willkürlich erscheint, welche Länder hierbei ins Blickfeld geraten <strong>und</strong> welche nicht <strong>und</strong><br />

wer darüber entscheidet, wann einmarschiert werden soll. Dies ist umso gravierender, als<br />

friedliche Streitbeilegung, die Herstellung <strong>und</strong> Erhaltung von Frieden <strong>und</strong> das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Kern der UNO-Charta gehören <strong>und</strong> zu dem oft<br />

genug hinter der – sicherlich oft zurecht vorgetragenen – Begründung der Verletzung von<br />

Menschenrechten handfeste Machtinteressen der Eingreifenden stehen. Moralphilosophie<br />

wird hier oft genug zur Unterstützung, vielleicht aber auch zur Verschleierung anderer,<br />

profanerer Interessen genutzt. Insbesondere ist es die Lehre des „gerechten Krieges“, die<br />

seit Jahrh<strong>und</strong>erten in der Diskussion um Krieg <strong>und</strong> Frieden zugezogen wird. Die neueste<br />

Variante kommt aus den USA, wo 58, z. T. international anerkannte<br />

Wissenschaftler/innen (wie Amitai Etzioni, Francis Fukuyama oder Samuel Huntington;<br />

publiziert in deutscher Übersetzung am 12.2.02 im Tagesspiegel) eine ethisch-moralische<br />

Argumentation <strong>für</strong> einen gerechten Krieg vorlegten. Dabei wird zwar nicht unmittelbar<br />

ein Freibrief <strong>für</strong> die USA zum Angriff auf den Irak <strong>und</strong> die anderen Mitgliedsstaaten der<br />

„Achse des Bösen“ (Bush) ausgestellt, aber es sind natürlich der Zeitpunkt der<br />

Veröffentlichung <strong>und</strong> das politische Klima hoch relevant <strong>für</strong> die Deutung des Papiers. Wir<br />

finden in diesem Text alle Probleme, die auch hier angesprochen werden: Universalismus<br />

bestimmter Menschenrechte, das Recht zum Aussetzen von nationaler Selbstbestimmung,<br />

das Ausblenden ökonomischer <strong>und</strong> politischer Interessen. In ethischer Perspektive bleibt<br />

es letztlich bei zwar im Westen verbreiteten, letztlich jedoch bloß individuell <strong>für</strong> richtig<br />

gehaltenen Glaubenssätzen („we believe“), die auf Gr<strong>und</strong> der militärisch-politischen<br />

Macht der USA, <strong>und</strong> nicht aus intellektuell zwingenden Gründen allgemeine Geltung<br />

erhalten (sollen). Anstelle des „gerechten Krieges“ fordern die Christlichen Kirchen, aus<br />

deren Traditionsbestand (Thomas von Aquin) dieser topos kommt, daher heute zurecht<br />

den „gerechten Frieden“.<br />

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Als Fazit ist festzuhalten: Selbst wenn man es praktisch realisieren <strong>und</strong> theoretisch einsichtig<br />

begründen könnte: es wird nicht funktionieren, ein Leben als autarker Einzelner „wie eine<br />

Insel“ zu führen.<br />

Die Rolle des Ästhetischen<br />

Der Zusammenhang der (universellen) Menschenrechte mit „Kultur“ im Sinne des weiten<br />

Kulturbegriffs der UNESCO ist nunmehr deutlich geworden. Aber welche Rolle spielt<br />

„Kunst“ im engeren Sinne, spielen die Künste <strong>und</strong> die <strong>Ästhetik</strong> in diesem Zusammenhang?<br />

Ich gebe einige Hinweise:<br />

1. Die ästhetisch-expressive Funktion bei Prozessen der Identitätsbildung ist hochbedeutsam.<br />

Immer schon präsentieren sich Menschen mit ihrer Selbstgestaltung <strong>und</strong> -inszenierung<br />

sich <strong>und</strong> anderen – <strong>und</strong> erhalten entsprechend Rückmeldungen. Mit Mitteln des<br />

ästhetischen Ausdrucks werden zudem soziale Geschmacksgemeinschaften (Milieus,<br />

Lebensstile) auch als Form einer gesellschaftlichen Integration gebildet. <strong>Ästhetik</strong> ist also<br />

notwendiges Mittel bei der Herstellung von Gesellschaftlichkeit <strong>und</strong> spielt daher auch eine<br />

Rolle bei der sozialethischen Frage nach Gleichheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit .<br />

2. Gerade multikulturelle Gesellschaften, so wie sie heute Lebensrealität in den meisten<br />

Ländern sind, müssen Formen entwickeln, mit der Pluralität der Kulturen <strong>und</strong><br />

Lebensweisen umzugehen. „Anerkennung“ ist in den letzten Jahren als notwendiges<br />

soziales <strong>und</strong> politisches Ziel in den Vordergr<strong>und</strong> gerückt (Honneth 1994). Und diese<br />

Anerkennung hat – neben sozialen, ökonomischen <strong>und</strong> politischen Dimensionen – auch<br />

eine ästhetisch-expressive Funktion. Denn Anerkennung bedeutet immer auch die<br />

Anerkennung der Vielfalt sinnlich wahrnehmbarer Oberflächen von Einzelnen <strong>und</strong><br />

Gruppen <strong>und</strong> deren Symbolen.<br />

3. <strong>Ästhetik</strong> ist also im sozialen <strong>und</strong> politischen Kontext entschieden eine politische <strong>Ästhetik</strong>.<br />

Dies bedeutet u. a., die Inszenierungsqualitäten des politischen Lebens wahrzunehmen<br />

<strong>und</strong> zu interpretieren. Politik braucht Symbole. Ein Missbrauch von Symbolen in der<br />

Politik findet jedoch auch statt, etwa wenn politische Handlungsfähigkeit in einer<br />

„Symbolischen Politik“ bloß noch simuliert wird. Die Ästhetisierung des Sozialen <strong>und</strong><br />

Politischen ist aber selber wieder ein Politikum, wenn der schöne Schein zur<br />

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Entmächtigung der Vielen führen soll. Und dies ist wiederum eine genuine Frage der<br />

praktischen Philosophie.<br />

4. Ein weiteres zentrales politisches Problem, bei dem ethisch-moralische Reflexionen<br />

unabdingbar sind, ist die Gentechnik. Moralische Argumente gibt es auf beiden Seiten:<br />

Die Be<strong>für</strong>worter heben die Möglichkeiten hervor, <strong>für</strong> bislang unheilbare Krankheiten<br />

Therapien entwickeln zu können. Das Leid von Eltern <strong>und</strong> betroffenen Menschen wiegt in<br />

der moralischen Waagschale viel. Zudem geht es um das verfassungsmäßige Gr<strong>und</strong>recht<br />

der Freiheit der Wissenschaft. Die Gegner be<strong>für</strong>chten dagegen eine letztlich mögliche<br />

Modellierung des Menschen. Ein schwerwiegendes Problem ist zudem, dass die<br />

Gentechnik an embryonalen Stammzellen arbeiten muss, will sie erfolgreich sein. Es muss<br />

also menschliches Leben – wenngleich auf embryonaler Stufe – zerstört werden. Im<br />

Mittelpunkt steht bei dieser Diskussion die Frage danach, was der Mensch eigentlich ist –<br />

<strong>und</strong> was seine Würde ausmacht. Es ist zudem die Frage zu beantworten, ab wann Mensch<br />

eigentlich Mensch ist (siehe dazu die „Allgemeine Erklärung über das menschliche<br />

Genom <strong>und</strong> Menschenrechte“ der UNESCO aus dem Jahre 1997; www.unesco.de). Ich<br />

will hier nur einige Anmerkungen machen, die ich aus einem Interview mit Jürgen<br />

Habermas (Die ZEIT Nr. 5, 24.02.2002, S. 33f.) entnehme. Jürgen Habermas ist in diesem<br />

Zusammenhang u. a. deshalb bedeutsam, weil er bei der Alternative zwischen dem Guten<br />

<strong>und</strong> dem Richtigen in seiner Diskursethik einer der Hauptvertreter des „Richtigen“ ist,<br />

also Fragen der Gerechtigkeit <strong>und</strong> der formalen Aspekte des Selbstseinkönnens favorisiert<br />

gegenüber der (inhaltlichen) Frage nach dem guten Leben. Jetzt bekennt er sich dazu, in<br />

aller anthropologischen Allgemeinheit die Frage nach dem Menschen aufzugreifen. Seine<br />

Antwort: Der lebensgeschichtliche Anfang der einzelnen Person muss unverfügbar<br />

bleiben. Nur dann „könnten sich die Menschen als Freie, Gleiche <strong>und</strong> Ebenbürtige<br />

verstehen.“ Auch das embryonale Leben ist vorpersonales-menschliches Leben, das nicht<br />

zum Zwecke der Optimierung der Gattung instrumentalisiert werden darf. „Wer die<br />

Gentechnik als Mittel zur Selbstoptimierung der „Gattung“ empfiehlt, hantiert mit einem<br />

Kollektivsingular, vor dem die Einzelnen zu instrumentalisierbaren Gattungsexemplaren<br />

verblassen.“ Selbstbestimmungsrecht der Individuen <strong>und</strong> Intersubjektivität als Gr<strong>und</strong>satz<br />

demokratischer Willensbildung würden dann außer Kraft gesetzt.<br />

Die Menschenwürde beginnt also, bevor der Mensch zur „Person“ wird, die autonom <strong>und</strong><br />

selbstbewusst zum Subjekt des eigenen Lebens werden kann. Dies ist der Kern des<br />

Person-Begriffs bei Kant <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage eines Verständnisses von „Würde“, <strong>und</strong> es ist<br />

Basis <strong>für</strong> die Formulierung der Menschenrechte. Wichtig dabei ist der Gr<strong>und</strong>gedanke,<br />

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dass alleine die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch das einzelne Individuum mit<br />

Ansprüchen auf die Einhaltung der Menschenrechte ausstattet. Zu diesen gehört, dass<br />

jeder Einzelne auch in die Lage zu versetzen ist, ein personales Leben der Selbststeuerung<br />

führen zu können. Und hierzu gehören Wohlergehen, die Ermöglichung moralischer<br />

Selbstbehauptung, das Recht auf eine Lebensführung nach eigener Wahl <strong>und</strong> die<br />

Förderung von Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen, also Bildung (vgl. Sturma: Person <strong>und</strong><br />

Menschenrecht, in: BKJ 2001). Und es gehört nach Habermas dazu, eine Offenheit des<br />

Schicksals <strong>für</strong> den Einzelnen zuzulassen <strong>und</strong> hinzunehmen, anstatt eine vorgängige<br />

gentechnische Optimierung vorzunehmen. Denn letztlich entstünde so eine „Tyrannei der<br />

Konformität“ – <strong>und</strong> gerade keine menschgemäße Pluralität auch in der Ausgestaltung des<br />

Menschseins.<br />

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5. Kunst <strong>und</strong> Gesellschaft – Sozialgeschichtliche <strong>und</strong> soziologische Aspekte<br />

Sozialgeschichtliche Aspekte<br />

In diesem Kapitel kann es in der Tat nur um Aspekte gehen. Denn man muss sich nur einmal<br />

die Komplexität des Themas verdeutlichen. Unter historischer Perspektive hat man es mit<br />

einer Geschichte der <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> der (allgemeinen) <strong>Kunsttheorie</strong> (z.B. Pochat 1986) zu tun;<br />

man hat es mit der Realgeschichte der einzelnen Kunstsparten zu tun, wobei man jede Sparte<br />

weiter ausdifferenzieren kann. So gibt es eine immanente Kunstgeschichtsschreibung (z.B. die<br />

vielbändige Propyläen-Kunstgeschichte), die weiter in die Realgeschichte einzelner Genres (z.<br />

B. Malerei, Bildhauerei, Architektur) ausdifferenziert werden kann. Es gibt die Geschichte der<br />

jeweiligen Professionalitäten; der Schauspielerin; einzelner Kultureinrichtungen. Es gibt die<br />

Geschichte von weiteren Einflussgrößen wie etwa des Mäzenatentums, der Kunstförderung,<br />

der Kunstpolitik. Es gibt die künstlerische Entwicklung in einzelnen Städten oder Regionen.<br />

Man kann dabei die Geschichtsdarstellungen anlegen nach entsprechenden<br />

historiographischen Paradigmen: als Sozial-, Kultur-, Zivilisations-, Mentalitäts- oder<br />

Ideengeschichte (so etwa Fischer-Lichte 1993). Man kann die Geschichte als Geschichte<br />

einzelner Motive oder als Wandel gesellschaftlicher Funktionen (Busch 1987) erzählen. All<br />

dies kann natürlich hier auch nicht ansatzweise geschehen. Wen dies interessiert, kann sich<br />

auf gute Literatur zu allen Fragestellungen stützen. Hier geht es um eine durchaus<br />

willkürliche Auswahl von Fragestellungen <strong>und</strong> ihrer Bearbeitung, die die große Linie des<br />

Textes – die kulturelle Eingeb<strong>und</strong>enheit der realen Entwicklung der Künste <strong>und</strong> der<br />

zugehörigen theoretischen Reflexion – illustrieren. Interessant ist hierbei der methodische<br />

Ansatz, so wie ihn Taylor (2009) in seiner Studie zur Säkularisierung verfolgt. Bei der<br />

Untersuchung der Frage, was die Ursachen da<strong>für</strong> waren, dass Religion gesellschaftlich<br />

verdrängt wurde <strong>und</strong> dabei – wie noch zu zeigen sein wird – z. T. durch Kunst als<br />

„funktionales Äquivalent“ zu ersetzen versucht wurde, wechselt er zwischen Real- <strong>und</strong><br />

Theoriegeschichte hin <strong>und</strong> her. Dabei kann er zum einen zeigen, wie reale Entwicklungen von<br />

Theoretikern aufgegriffen wurden oder wie sie zumindest einen Plausibilitätsrahmen <strong>für</strong><br />

Reflexionen darstellen („Philosophie als ihre Zeit in Begriffen erfasst“, so Hegel). Er kann<br />

aber auch zeigen, wie Theorieentwürfe <strong>und</strong> Begriffe praktisch wirksam werden, insofern<br />

immer mehr Menschen sie als soziale Handlungsmuster in ihre Alltagspraktiken übernehmen.<br />

Am Beispiel von Religion: Beten, der Besuch von Gottesdiensten, andere alltägliche Kult-<br />

Handlungen (Hochzeiten, Beerdigungen etc.) sind solche Alltagspraktiken, die in enger<br />

Beziehung zu konfessionellen Vorstellungen von Glauben, Religion, Gott oder Kirche stehen.<br />

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Dieses Vorgehen lässt sich auf Kunst übertragen. Auch hier gibt es Alltagspraktiken wie<br />

Singen <strong>und</strong> Tanzen, wie den Besuch von Konzerten, Theateraufführungen <strong>und</strong> Ausstellungen<br />

– <strong>und</strong> es gibt theoretische Entwürfe, die bei dem Verständnis solcher Praktiken helfen <strong>und</strong><br />

entsprechende Deutungsvorschläge unterbreiten.<br />

Diese Korrelation der Praxis- bzw. Handlungsformen auf der einen Seite <strong>und</strong> den Theorien<br />

auf der anderen Seite passt in mehrfacher Hinsicht in unseren Kontext. Zum einen ist ein<br />

solcher praxeologischer Ansatz brauchbar – sogar: notwendig – in (kultur-)pädagogischen<br />

Kontexten (Fuchs 2008). Auch orientieren sich die hier bevorzugten (<strong>und</strong> später noch<br />

vorgestellten) soziologischen Ansätze an dieser Ausrichtung (etwa Bourdieu <strong>und</strong> Foucault).<br />

Auch sozialisationstheoretische Forschungen etwa zum Wandel von Subjektformen<br />

(Reckwitz 2006) nutzen diesen Zugriff.<br />

Die Verbindung von realer Kunstpraxis, gesellschaftlichem Rahmen <strong>und</strong> Theorie-Ebene wird<br />

heute in verschiedenen Darstellungen untersucht. Einige Beispiele.<br />

Der Klassiker einer geisteswissenschaftlich orientierten Kulturgeschichte der Neuzeit – will<br />

man die zeitlich begrenztere Arbeit von Jacob Burckhardt (2007) über die Renaissance einmal<br />

ausklammern – ist die Kulturgeschichte von Friedell (2009). Als Darstellungen der<br />

Kulturgeschichte gehen beide Werke weit über den Bereich der Künste hinaus <strong>und</strong> stellen<br />

vielfältige Zusammenhänge zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Philosophie, Politik, Alltagsleben<br />

<strong>und</strong> eben auch den Künsten her. Umfassend ist die „Sozialgeschichte der Kunst <strong>und</strong> Literatur“<br />

von Arnold Hauser (1990; zuerst 1953), der Theorie- <strong>und</strong> Realgeschichte verbindet mit der<br />

Genese der Vermittlungsformen <strong>und</strong> ihren Institutionen sowie der sozialen Stellung der<br />

Künstler. Es scheint so, dass man am ehesten in Darstellungen der Geschichte der Literatur (z.<br />

B. Hoffmann/Rösch 1996), der Bildenden Kunst (Held/Schneider 2007, Busch 1987) <strong>und</strong> des<br />

Theaters (Fischer-Lichte 1993) fündig wird, wenn es um die Erfassung des komplexen<br />

Zusammenhangs zwischen Gesellschaft, Kunstpraxis <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong> geht. Die<br />

Musikgeschichtsschreibung verfährt dagegen oft immanent (Ausnahme: Kaden 1993;<br />

neuerdings Blanning 2010, der allerdings kein Musikhistoriker „vom Fach“ ist). Die Theorien<br />

der Künste <strong>und</strong> die <strong>Ästhetik</strong> sind offenbar im Hinblick auf kulturgeschichtliche<br />

Zugriffsweisen eher weniger bearbeitet. Selbst der marxistisch orientierte Terry Eagleton<br />

(1994) berührt den gesellschaftlichen Rahmen bestenfalls bei den Bezügen zur politischen<br />

Wirklichkeit (auch hier eine Ausnahme: Kösser 2006). Immerhin deckt sich dies mit der<br />

Genese der Naturwissenschaften, deren primäre gesellschaftliche Nutzung auch im politisch-<br />

ideologischen Bereich lag.<br />

Eagleton (1994, S. 3) schreibt: „Meine These besteht nun, grob gesagt, darin, dass die<br />

Kategorie des Ästhetischen in der europäischen Moderne deshalb so große Bedeutung<br />

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gewinnen konnte, weil sie zwar von der Kunst spricht, aber immer auch andere Themen<br />

meint, die <strong>für</strong> den Kampf um politische Hegemonie von größter Bedeutung sind. Denn die<br />

begriffliche Konstruktion des ästhetischen Artefakts ist in der Moderne nicht zu trennen von<br />

der Konstruktion der vorherrschenden ideologischen Form der modernen Klassengesellschaft<br />

sowie von einer ganz neuen Form menschlicher Subjektivität, die mit der<br />

Gesellschaftsordnung einhergeht.“<br />

Es geht also um die Formung des Einzelnen, es geht um gesellschaftliches Bewusstsein, es<br />

geht um individuelle <strong>und</strong> kollektive Formen der Welt- <strong>und</strong> Selbstwahrnehmung, <strong>und</strong> es geht<br />

letztlich um Macht.<br />

Eagleton verweist auch auf die immanente <strong>und</strong> unvermeidbare Dialektik des Ästhetischen, die<br />

ich mir zu eigen mache:<br />

„Das Ästhetische ist … gleichzeitig das Geheimnis der menschlichen Subjektivität in der<br />

frühkapitalistischen Gesellschaft <strong>und</strong> der Entwurf menschlicher Energie als eines radikalen<br />

Endzwecks, also einer unerbittlichen Feindschaft gegen alles vormächtige oder<br />

instrumentalistische Denken.“ (S. 9).<br />

Burckhardt (2007) nennt in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen drei „Potenzen“: den<br />

Staat, die Religion <strong>und</strong> die Kultur, die sich wechselseitig beeinflussen, so dass man<br />

systematisch sechs Einflussrichtungen unterscheiden kann, die er auch alle nacheinander<br />

untersucht. Damit darf Burckhardt durchaus als Vorläufer der auf Talcot Parsons<br />

zurückgehenden Vierfeldermatrix (Münch 1991) betrachtet werden, wobei die<br />

wechselseitigen Beeinflussungen dort „Interpenetration“ genannt werden (vgl. Plumpe 1993,<br />

der im Sinne der Systemtheorie von Luhmann die Genese der <strong>Ästhetik</strong> als Genese der<br />

ästhetischen Kommunikation darstellt <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> als philosophische Fremdbeschreibung<br />

des Kunstsystems begreift, S.23). Plumpe weist zu Recht darauf hin, dass die Philosophie<br />

kein Monopol auf eine solche Beschreibung hat. Vielmehr gibt es noch die zugehörigen<br />

Kunst-, Literatur-, Tanz-, Theater- <strong>und</strong> Musikwissenschaften <strong>und</strong> es gibt ein Wissen der<br />

Kunst über sich selbst, das nicht mit der <strong>Ästhetik</strong> zusammenfällt (20). Die Kunstkritik in den<br />

Medien ist eine weitere Instanz der Kunstreflexion. Gelungen ist m.E. die Geschichte der<br />

Literatur im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert von S. J. Schmidt (1989), der – auf der Basis der soziologischen<br />

Systemtheorie – die Genese des sich zunehmend autonomisierenden „Sozialsystems<br />

Literatur“ darstellt <strong>und</strong> dabei die Literatur i.e. Sinne mit der Entwicklung des Sozialen, des<br />

Politischen <strong>und</strong> des Geistigen (Religion, Wissenschaft, andere Künste) in Beziehung setzt.<br />

Welches sind nun die Gr<strong>und</strong>linien der gesellschaftlichen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung in der<br />

Moderne?<br />

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Die bürgerliche Gesellschaft entwickelt sich als funktional differenzierte Gesellschaft (in der<br />

also Gesellschaftsfelder wie Politik, Kultur, Wirtschaft <strong>und</strong> Soziales zunehmend autonomer<br />

werden, nach selbstgesetzten Regeln funktionieren <strong>und</strong> mit je eigenen Medien – Macht, Sinn.<br />

Geld, Solidarität – kommunizieren) aus der mittelalterlichen ständisch geordneten<br />

Gesellschaft. Es entstehen Nationalstaaten mit einer eigenen, immer professioneller<br />

werdenden Verwaltung, es entsteht die Vorstellung, dass der Machthaber eine Legitimation<br />

durch das Volk benötigt (anstelle von Gottes Gnade zu regieren). Es setzt sich allmählich die<br />

Vorstellung einer Notwendigkeit rechtlicher Regelungen durch. Der wohlorganisierte,<br />

absolutistisch geführte Staat entsteht, der immer weitere Bereiche des Lebens unter seine<br />

Kontrolle bringen will, der aber auch die Verantwortung <strong>für</strong> diese Bereiche übernimmt<br />

(„Polizey“). Die Idee der Gestaltbarkeit von Ich <strong>und</strong> Welt entsteht, erstere auf der Basis der<br />

Vorstellung eines autonomen Individuums. Vernunft wird zum Leitprinzip. Der Gedanke von<br />

Fortschritt wird zur Normalität, überall sucht man nach dem Muster der Physik nach<br />

Gesetzmäßigkeiten. Es entsteht eine politische <strong>und</strong> literarische Öffentlichkeit, in der mittels<br />

der Medien der Künste über Politik <strong>und</strong> über die Künste selbst kommuniziert wird. Will man<br />

die Geschichte in Etappen unterteilen, so lassen sich knapp die folgenden<br />

Entwicklungsschritte – natürlich mit erheblicher Ungleichzeitigkeit in den verschiedenen<br />

Sparten – unterscheiden:<br />

Renaissance (15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Die Herausbildung bürgerlicher Individualität in der Renaissance. Regionaler Schwerpunkt<br />

der Bildenden Kunst ist (Nord-)Italien. Dort auch Entwicklung eines Handelskapitalismus.<br />

Entstehung der Neuen Wissenschaft mit einem neuen Interesse an Empirie („experimentelle<br />

Philosophie“); Renaissancehumanismus. Genese der Autonomie, der „Genialität“ <strong>und</strong> der<br />

eigenen – nicht bloß nachbildenden – Kraft des Künstlers (siehe jesusähnliches Selbstporträt<br />

von Dürer) <strong>und</strong> der Kunst als Teil einer Autonomisierungsbewegung, wo sich die Philosophie<br />

gegen die Theologie wehrt <strong>und</strong> wo eine eigenständigere politische <strong>und</strong> ethische Reflexion<br />

entsteht. Entstehung erster Ansätze eines Kunstmarktes <strong>und</strong> damit die Anonymisierung <strong>und</strong><br />

Vorbereitung des Publikums. Erste Befreiungsversuche der Künstler aus der einengenden<br />

Zunftordnung (hin zu den artes liberales). Man konstatiert ein Auseinanderklaffen der realen<br />

dynamischen Kunstentwicklung <strong>und</strong> der stagnierenden ästhetischen Reflexion (Jung 1995 in<br />

Bezug auf Tatarkiewicz), Dichtung gilt als höchste Kunstform. Es werden in größerer Zahl<br />

Flugblätter verteilt (spielten auch im Kontext der Reformation eine große Rolle);<br />

Meistersänger <strong>und</strong> Bänkelsänger; Entwicklung der Oper.<br />

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Barock (17. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Durchsetzung des Naturrechtes, Bedeutung des Reisens; 30-jähriger Krieg; Französischer<br />

Klassizismus, insgesamt kulturell führende Rolle Frankreichs (Ludwig XIV), Académie<br />

Française; 1648 Gründung der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris als<br />

Sachwalterin des Klassizismus, 1670: Gründung der Académie Royale d’Architecture durch<br />

Colbert; der Streit der anciens <strong>und</strong> der modernes; Beginn der neuzeitlichen Philosophie mit<br />

Descartes; die religiöse Funktion von Kunst wird weiter zurückgedrängt zugunsten der<br />

politischen (u.a. Schlösser, Gärten, Rathäuser) <strong>und</strong> der abbildenden Funktion (Busch 1987);<br />

Weiterentwicklung der Autonomie durch die Verbreitung der Institution des Hofkünstlers<br />

(Warnke 1996); Vormarsch der Orientierung an Vernunft: induktive <strong>und</strong> mathematisch-<br />

deduktive Methode in allen Wissenschaften; Universalwissenschaft: Leibniz, <strong>und</strong> neue<br />

Versuche der Versöhnung von Glauben <strong>und</strong> Wissen (Pascal, Leibniz); Verbreitung der<br />

Mechanisierung des Weltbildes; Aufgeklärter Absolutismus, neue sozial- <strong>und</strong> politische<br />

Philosophie; Vertragstheorie; Hobbes; Naturrecht; Pufendorf, Royal Society in London<br />

(1660); Akademie der Wissenschaften in Berlin (1700); Wanderbühnen im Theater.<br />

Aufklärung (18. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Von der Wanderbühne zum Nationaltheater (Fischer-Lichte 1993), weitere Autonomisierung<br />

der künstlerischen Felder; Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft; am Ende des<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts Beginn der Industrialisierung; Entwicklung der Öffentlichkeit mit den<br />

dazugehörigen Medien <strong>und</strong> Orten; theoretische Begründung des Kapitalismus (A. Smith);<br />

französischer Materialismus, Aufklärung; Enzyklopädie; das „pädagogische Jahrh<strong>und</strong>ert“,<br />

deutsche Klassik <strong>und</strong> Romantik, deutscher Idealismus; Begründung einer eigenständigen<br />

philosophischen Disziplin „<strong>Ästhetik</strong>“, Autonomisierung des Kunstbegriffs, Befreiung von<br />

althergebrachten Vorstellungen i. S. einer ars als regelgeleitete Technik; Liquidierung des<br />

Prinzips der Mimesis als bloßer Nachahmung; Kant; Kunstwissenschaften; der Roman setzt<br />

sich als literarisches Genre durch; das Genie, das sich selbst die Regeln gibt; Rationalität der<br />

ästhetischen Kommunikation (Kant); Profilierung der Kunstwissenschaften;<br />

Geschichtsdenken.<br />

Das 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Das 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert führen unmittelbar in die Gegenwart. Man muss sich nur einmal<br />

verdeutlichen, dass die Großeltern der älteren Menschen heute ihr Aufwachsen im<br />

Wilhelminischen Kaiserreich des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erlebt haben. Zu dieser unmittelbaren<br />

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Vorgeschichte der Gegenwart werden daher hier nur wenige Stichworte aufgeführt, weil die<br />

angesprochenen Entwicklungen Teil einer systematischen Darstellung der<br />

Gegenwartssituation sind. Alles, was sich kulturell im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelt hat, berührt<br />

uns heute noch unmittelbar. Das gilt speziell <strong>für</strong> die <strong>Kulturpolitik</strong> (Wagner 2009).<br />

Entstehung des modernen Künstlers (Ruppert 1998); Durchsetzung der bürgerlichen<br />

Gesellschaft in Ökonomie, Gesellschaft <strong>und</strong> Politik, Ausbau des bürgerlichen Kunstsystems<br />

(Theater, Museen etc.; Nipperdey 1990); Entstehung des Sozialismus; Hegel, Schopenhauer,<br />

Nietzsche; Entstehung einer systematischen <strong>Kulturpolitik</strong> (Wagner 2009).<br />

Entstehung der Soziologie, Autonomieästhetik; das Kaiserreich, der erste Weltkrieg, Weimar,<br />

der Nationalsozialismus <strong>und</strong> der Zweite Weltkrieg; schließlich die Nachkriegszeit mit dem<br />

besonderen Ereignis der deutschen Einigung.<br />

Einen Entwicklungsstrang will ich an dieser Stelle hervorheben, der bis heute in der<br />

Kunstentwicklung, in der <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> vor allem in der <strong>Kulturpolitik</strong> <strong>und</strong> -pädagogik eine<br />

Rolle spielt: eine kunstreligiöse Betrachtung von Kunst <strong>und</strong> Künstler.<br />

Hintergr<strong>und</strong> dieser Entwicklung ist ein mehrfacher Bedeutungsverlust: des Glaubens<br />

gegenüber dem Wissen, der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft („Säkularisierung“;<br />

Taylor 2009), der Institution der Kirche. Es ist plausibel, dass die Reformation ein<br />

entscheidender Schritt auf diesem Weg war. Denn die Reduktion sinnlich erlebbarer<br />

kultischer Handlungen in der katholischen Kirche, die Tatsache, dass nunmehr zwei (<strong>und</strong> mit<br />

den sich weiter absplitternden Glaubensrichtungen <strong>und</strong> Sekten eine ständig wachsende<br />

Vielfalt) christliche Kirchen existieren, die gleichzeitig wachsende Bedeutung rationaler<br />

Ethik- <strong>und</strong> Politikkonzepte, die Erfolge der Wissenschaften bei der Erforschung des<br />

Menschen <strong>und</strong> seiner Welt etc. Taylor (2009) zeichnet detailliert nach, wie allmählich durch<br />

die genannten Prozesse die kulturellen Gr<strong>und</strong>lagen des Glaubens zerstört werden.<br />

Gleichzeitig wächst mit den Künsten – begleitet von entsprechenden ästhetischen Reflexionen<br />

– ein Bereich heran, der sich auf den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit <strong>und</strong> durchaus auch<br />

in seiner Spiritualität konzentriert. Der Künstler wird in seinem kreativen Schaffensprozess<br />

als Kreator seit der Renaissance in Kategorien des schöpferischen Prozesses Gottes<br />

beschrieben. Kunst will zunehmend „authentisch“ sein, erschließt neue Dimensionen des<br />

Seins, liefert Sinn. Der Boden war also seit Beginn der Neuzeit da<strong>für</strong> bereitet, dass die<br />

Romantik all diese Ansätze aufgreift <strong>und</strong> noch einmal heftig überhöht. Schiller mit seinen<br />

ästhetischen Schriften ist die vielleicht wichtigste Bezugsperson (Safranski 2007, S. 29ff.).<br />

Zentral ist der Begriff des Spiels, der die als Verlust empf<strong>und</strong>ene Entzweiung (Verstand –<br />

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Gefühl; Einzelner – Gemeinschaft) wieder aufheben soll. Das Imaginäre, das Ironische, die<br />

Phantasie, eine mythologisch verklärte Geschichte: all dies wird auf der praktischen Ebene<br />

zur Gr<strong>und</strong>lage in Literatur, Bildender Kunst <strong>und</strong> Musik (Tieck, Novalis, Hoffmann u.a.).<br />

Begleitet wird dies von ästhetischen Reflexionen v.a. von Fichte, Schelling, der Brüder<br />

Schlegel. Es gibt (später) eine neue Religiosität – gelegentlich verb<strong>und</strong>en mit Übertritten zum<br />

sinnlich ergiebigeren Katholizismus. Es gibt aber auch eine immer stärkere Verschmelzung<br />

von Kunst <strong>und</strong> Religion. So wurden auch die „Reden über die Religion“ von Schleiermacher<br />

aufgenommen: Es geht um religiöse Erfahrung, es geht um Gefühl <strong>und</strong> Anschauung:<br />

„Schließlich, <strong>und</strong> das war <strong>für</strong> die Romantiker von höchster Bedeutung, war Schleiermachers<br />

Religion eine ästhetische.“ (Safranski 2007, S. 145). Die Romantik verstand sich daher als<br />

Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln (ebd., S. 393). Dieser Ansatz von Kunst als<br />

sinn- <strong>und</strong> identitätsstiftend, als Kompensation von Verlusterfahrungen, fiel gerade in<br />

Deutschland auf fruchtbaren Boden.<br />

Thomas Nipperdey (1990, Bd. 1, S. 593):<br />

„Die Welt der Kunst hat ihr eigenes Recht, ihr eigenes Gewicht. Und sie orientiert zugleich<br />

über die Wirklichkeit <strong>und</strong> das Leben, verklärend <strong>und</strong> versöhnend oder analysierend <strong>und</strong><br />

auflebend, präsentierend <strong>und</strong> diskutierend. Sie stiftet Sinn oder legt ihn dar, sie nimmt teil an<br />

dem neu in Gang gesetzten Prozess der Auseinandersetzung von Individuen <strong>und</strong> Welt.“<br />

Und weiter<br />

„Dass der Kunst eine solche neue Funktion im Leben zuwächst, hängt zunächst damit<br />

zusammen, dass ihre Trägerschicht sich ändert. Wir nennen das „Verbürgerlichung“ der<br />

ästhetischen Kultur.“<br />

Bernd Wagner (2009) zeichnet detailliert die Entwicklung des Kunstsystems <strong>und</strong> seiner<br />

Einrichtungen nach, die sich dieses sinnsuchende Bürgertum aufgebaut hat:<br />

„Zur engeren Wirklichkeitseinbindung der Kunst trat ihre schrittweise Sakralisierung mit<br />

ihrer Überhöhung über das Alltägliche <strong>und</strong> einem zumindest teilweisen Rückzug aus der<br />

Wirklichkeit. Kunst wurde <strong>für</strong> einen Teil des Bürgertums immer mehr zu einer weltlichen<br />

Religion …“ (279).<br />

Diese Analyse steht in engem Zusammenhang mit einem Bef<strong>und</strong> von Helmut Plessner (1994,<br />

zuerst 1935):<br />

„Kultur, der deutsche Inbegriff <strong>für</strong> geistige Tätigkeit <strong>und</strong> ihren Ertrag im weltlichen Feld, ist<br />

ein schwer zu übersetzendes Wort. Es deckt sich nicht mit Zivilisation, mit Kultiviertheit <strong>und</strong><br />

Bildung oder sogar Arbeit. All diese Begriffe sind zu nüchtern oder zu flach, zu formal bzw.<br />

zu „westlich“ oder an eine andere Sphäre geb<strong>und</strong>en. Ihnen fehlt die Schwere, die prächtige<br />

Fülle, das seelenhafte Pathos, das sich im deutschen Bewusstsein des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

mit diesem Wort verbindet <strong>und</strong> seine oft emphatische Verwendung verständlich macht.“ (S.<br />

73).<br />

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Und weiter:<br />

„Denn diese Kultur ist säkularisiertes Luthertum, nicht säkularisiertes Christentum. Sie atmet<br />

die Innerlichkeit <strong>und</strong> Freude am Schöpferischen, in ihrem Pathos der persönlichen<br />

Ursprünglichkeit, in ihrem kämpferischen Enthusiasmus, ihrer spekulativen Tiefe <strong>und</strong> dem<br />

leidenschaftlichen Ungenügen an einer bestehenden Ordnung …“ (79).<br />

Soziologische Aspekte<br />

Offenbar hat eine kunstsoziologische Betrachtungsweise von Kunst auch schon Eingang in<br />

die <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> gef<strong>und</strong>en. Denn wenn Peter Bürger oder Arthur Danto nicht<br />

nur Abschied nehmen von Wesensdefinitionen von Kunst, sondern vielmehr davon ausgehen,<br />

dass das, was jeweils unter „Kunst“ verstanden wird, von einem Kreis von Experten <strong>und</strong><br />

kunstnahen Institutionen (Kritiker, Akademien, Museen, Künstler <strong>und</strong><br />

Künstlerorganisationen, Sammlern, Kuratoren etc.) in einem ständigen Diskurs festgelegt<br />

wird, dann hat man das Deutungsrecht <strong>für</strong> „Kunst“ offensichtlich auf einen Kreis von<br />

Experten verlagert (art world; Kunstbetrieb). Mit gesellschaftlichen Wirkungen der Künste<br />

haben sich – wie oben erwähnt – auch schon die alten Griechen befasst. So gesehen ist Platon,<br />

der über die negativen Wirkungen von Homer <strong>und</strong> Co. nachdenkt, der erste Kunstsoziologe.<br />

Kunstsoziologie kann ausdifferenziert werden in Kunstsoziologie i.e.S. (also bezogen auf<br />

Bildende Kunst), Theater-, Musik- oder Literatursoziologie. Eine systematische<br />

Kunstsoziologie als Teil einer Allgemeinen Soziologie, die Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

begründet wird, findet Thurn (1973, S. 11ff.) im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Er zitiert Hippolyte Taine,<br />

der 1856 in seiner „Philosophie der Kunst“ nicht bloß die gesellschaftlichen Wirkungen von<br />

Kunst thematisiert, sondern auch auf die sozialen Bedingungen hinweist, unter denen Künstler<br />

ihre Kunst produzieren. Damit sind zwei Möglichkeiten einer soziologischen Zugangsweise<br />

genannt. Man kann sich zudem mit dem Publikum, also der Kunstrezeption befassen (z. B.<br />

Nutzerstudien von Kultureinrichtungen). Man kann (materialistisch) den Spuren<br />

gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf Form <strong>und</strong> Inhalt der Kunstwerke nachgehen.<br />

Kunst war auch im Rahmen einer Allgemeinen Soziologie interessant. Berühmt ist das<br />

Vorwort von Max Weber (1988, Bd. 1, S. 2ff.) zur „Protestantischen Ethik“, wo er Belege <strong>für</strong><br />

die nur im Abendland verbreitete Denkform der Rationalität auflistet.<br />

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„Aehnlich in der Kunst. Das musikalische Gehör war bei anderen Völkern anscheinend eher<br />

feiner entwickelt als heute bei uns; jedenfalls nicht minder fein. Polyphonie verschiedener Art<br />

war weithin über die Erde verbreitet, Zusammenwirken einer Mehrheit von Instrumenten <strong>und</strong><br />

auch das Diskantieren findet sich anderwärts. Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch<br />

anderwärts berechnet <strong>und</strong> bekannt. Aber rationale harmonische Musik: – sowohl<br />

Kontrapunktik wie Akkordharmonik, – Bildung des Tonmaterials auf der Basis der drei<br />

Dreiklänge mit der harmonischen Terz, unsre, nicht distanzmäßig, sondern in rationaler Form<br />

seit der Renaissance harmonisch gedeutete Chromatik <strong>und</strong> Enharmonik, unser Orchester mit<br />

seinem Streichquartett als Kern <strong>und</strong> der Organisation des Ensembles die Bläser, der<br />

Generalbaß, unsre Notenschrift (die erst das Komponieren <strong>und</strong> Ueben modernern Tonwerke,<br />

also ihre ganze Dauerexistenz überhaupt, ermöglicht), unsre Sonaten, Symphonien, Opern, –<br />

obwohl es Programmusik, Tonmalerei, Tonalteration <strong>und</strong> Chromatik als Ausdrucksmittel in<br />

den verschiedensten Musiken gab, – <strong>und</strong> als Mittel zu dem alle unsre Gr<strong>und</strong>instrumente:<br />

Orgel, Klavier, Violine: dies alles gab es nur im Okzident.<br />

Spitzbogen hat es als Dekorationsmittel auch anderwärts, in der Antike <strong>und</strong> in Asien,<br />

gegeben; angeblich war auch das Spitzbogen-Kreuzgewölbe im Orient nicht unbekannt. Aber<br />

die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung <strong>und</strong> der<br />

Ueberwölbung beliebig geformter Räume <strong>und</strong>, vor allem, als konstruktives Prinzip großer<br />

Monumentalbauten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage eines die Skulptur <strong>und</strong> Malerei einbeziehenden Stils, wie<br />

sie das Mittelalter schuf, fehlen anderweitig. Ebenso aber fehlt, obwohl die technischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen dem Orient entnommen waren, jene Lösung des Kuppelproblems <strong>und</strong> jene Art<br />

von „klassischer“ Rationalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale<br />

Verwendung der Linear- <strong>und</strong> Luftperspektive – welche die Renaissance bei uns schuf.“<br />

(Weber 1993)<br />

Hier befasst sich (Kunst-)Soziologie mit dem Zusammenhang kunst-immanenter<br />

Gestaltungsprinzipien (also eine genuine Problematik der betreffenden <strong>Kunsttheorie</strong>n <strong>und</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong>en) mit anderen Kulturmächten <strong>und</strong> übergreifenden geistigen Prinzipien.<br />

Thurn (1973) befasst sich in seinem Lehrbuch weiterhin mit der Soziologie der Kunstmuseen,<br />

des Kunsthandels, der Kunstkritik <strong>und</strong> der Kunstakademien, mit dem Zusammenhang von<br />

Kunst zum Staat <strong>und</strong> zum sozialen Wandel. Offensichtlich ist hier die Abgrenzung schwer zu<br />

entsprechenden Untersuchungen von Kunstwissenschaftlern, etwa Kunsthistorikern, die<br />

dieselben Forschungsgegenstände haben (etwa die Sozialgeschichte des Künstlers: Warnke<br />

1996 <strong>und</strong> Bätschmann 1997 als Kunsthistoriker oder Ruppert 1998 als Kulturwissenschaftler).<br />

In einem zweiten Teil bietet Thurn eine theoretische Formulierung der Kunstsoziologie mit<br />

der Symboltheorie von Pierre Bourdieu an. Bekanntlich stützt sich Bourdieu auf die<br />

(philosophische) Symboltheorie von Ernst Cassirer, sodass es hier nicht nur<br />

Anschlussmöglichkeiten zu philosophischen Theorien der Kunst gibt (Cassirer 1990, Kap IX,<br />

Langer 1979), sondern auch erhebliche Überschneidungen.<br />

Mit Bourdieu ist dabei einer der bedeutendsten Kultur- <strong>und</strong> Kunstsoziologen genannt. Auch<br />

Niklas Luhmann (1995) hat im Rahmen seiner Theorienproduktion ein umfassendes Werk zur<br />

Kunstsoziologie vorgelegt. Man kann feststellen, dass viele Soziologen das Thema Kunst<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

aufgreifen, sodass sich in der Kunstsoziologie heute das aus anderen soziologischen Feldern<br />

bekannte Spektrum unterschiedlicher Zugriffsweisen wiederfindet. Berühmt ist der Streit über<br />

die empirische Kunstsoziologie zwischen Alphons Silbermann <strong>und</strong> Theodor Adorno. Adorno<br />

selbst – wie alle Vertreter der Frankfurter Schule ein Wanderer zwischen den Welten der<br />

Soziologie <strong>und</strong> Philosophie (<strong>und</strong> bei ihm: der Literatur <strong>und</strong> Musik) – hat zahlreiche<br />

musiksoziologische Arbeiten verfasst. Aus dem Umkreis des Instituts <strong>für</strong> Sozialforschung gibt<br />

es weitere namhafte Autoren (Benjamin, Marcuse, Fromm), die sich ebenfalls mit<br />

kunstsoziologischen Fragen befasst haben. Dieser Theorieansatz wurde vielfältig – v.a. in den<br />

1970er Jahren – in der Literatur- <strong>und</strong> Kunstwissenschaft aufgegriffen (vgl. etwa Bürger<br />

1978). Eine halbwegs aktuelle (m.W. die z. Zt. immer noch aktuellste) Textzusammenstellung<br />

zur Kunstsoziologie (Gerhard 1997) befasst sich auch mit den oben genannten drei<br />

Themenschwerpunkten: Produzenten, Vermittler <strong>und</strong> Rezipienten <strong>und</strong> stellt als Großtheorien<br />

die Ansätze von Bourdieu, Howard Becker („art world“) <strong>und</strong> die Theorie rationalen Handelns<br />

vor. Relevante soziologische Theorieansätze kommen aus der interpretativen <strong>und</strong><br />

phänomenologischen Soziologie. Die „objektive Hermeneutik“ wurde als methodischer<br />

Zugang zum Verständnis von Kunstwerken geschätzt.<br />

Eine systemtheoretische Zugangsweise zur Kunst hat insbesondere in der<br />

Literaturwissenschaft eine größere Rolle gespielt. Die Studie von Schmidt (1989) wurde<br />

bereits mehrfach erwähnt. Der Gr<strong>und</strong>gedanke der soziologischen Systemtheorie (auf eine<br />

weitere Ausdifferenzierung in die unterschiedlichen Schulen verzichte ich hier) besteht darin,<br />

dass sich die Gesellschaft zunehmend in Subsysteme ausdifferenziert, die jeweils eigene<br />

Kommunikationsmedien entwickeln. „Selbstreferentialität“ <strong>und</strong> „Autopoiesis“ sind<br />

Gr<strong>und</strong>kategorien des Ansatzes von Luhmann (1995). Er beschreibt die Genese des sich<br />

zunehmend autonomisierenden Kunstsystems:<br />

„Offenbar hat sich Kunst also weniger im Privatinteresse der Oberschichten als vielmehr aus<br />

Anlass der Darstellung öffentlich-gemeinsamer Angelegenheiten des politischen oder<br />

religiösen Bereiches entwickelt, also schon im Hinblick auf bestimmte Funktionen.“ (221).<br />

„Kunst ist also Teil der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Eine Hauptaufgabe besteht dabei<br />

darin, Wahrnehmung in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft einzubeziehen“<br />

(227).<br />

Dabei tut sie dies auf eine spezifische, mit anderen Formen der Beobachtung <strong>und</strong><br />

Wahrnehmung nicht vergleichbaren Weise. Ein Spezifikum besteht dabei in folgendem:<br />

„Mehr als andere Funktionssysteme wie zum Beispiel Religion, Politik, Wissenschaft oder<br />

Recht, ist das Kunstsystem damit in der Lage, die Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen<br />

zu akzeptieren.“ (494).<br />

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Das Aufzeigen von Kontingenz, dass also alles auch ganz anders sein könnte, ist damit eine<br />

wichtige Aufgabe. Die Kunst gilt sogar in ihrer Uneindeutigkeit als Paradigma <strong>für</strong> die<br />

moderne Gesellschaft überhaupt:<br />

„Die Kunst zeigt in der Form des Leidens an sich selbst, dass es so ist wie es ist. Wer dies<br />

wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft.“<br />

(499).<br />

Luhmann kommt übrigens zu dem Ergebnis, dass die ästhetische Kommunikation über Kunst<br />

immer weniger durch eine <strong>Kunsttheorie</strong> oder <strong>Ästhetik</strong> geschieht, sondern Kunst selbst die<br />

Aufgabe übernimmt, über sich selbst zu reflektieren – mit ihrem kunstimmanenten Medium,<br />

also dem Werk. Dies entspräche auch der Forderung von Danto, der bereits früher gegen die<br />

„Entmündigung der Kunst“ (1993) durch die Philosophie Einwände erhoben hat. Gerhard<br />

Plumpe (1993) kommt am Ende seiner systemtheoretisch orientierten Geschichte der <strong>Ästhetik</strong><br />

zu einem ebenfalls interessanten Ergebnis:<br />

„Der Wirklichkeit ästhetischer Kommunikation in der Moderne wird die Funktionshypothese<br />

„Unterhaltung durch interessante Werke“ offenbar gerechter als jede programmfixierte<br />

Verengung auf Spezialitäten, mit denen man etwa avancierte Geister, Humanisten oder<br />

Gesellschaftskritiker beeindrucken mag.“ (Bd. 2. S. 304).<br />

Kommen wir nun zu dem sicherlich bedeutendsten Kultursoziologen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, zu<br />

Pierre Bourdieu. Pierre Bourdieu hat – wie fast alle seine Kollegen – immer schon ein<br />

besonderes Interesse <strong>für</strong> die Künste. In einer frühen empirischen Studie zum Museumsbesuch<br />

(Bourdieu/Darbel 2006; zuerst 1966) – quasi als Vorläufer der großen Studie „Die feinen<br />

Unterschiede“ (1987) – zeigt er, dass bei aller formalen Offenheit des Museums <strong>für</strong> alle dieses<br />

doch nur von einem bestimmten Teil der Bevölkerung genutzt wird. Er untersucht die Gründe<br />

da<strong>für</strong> <strong>und</strong> formuliert erstmals Ergebnisse, die er später immer wieder bestätigt sieht: Die<br />

individuelle kulturelle Praxis ist engstens verb<strong>und</strong>en mit Erziehung <strong>und</strong> Bildung; beides<br />

wiederum steht in engster Verbindung mit der sozialen Position <strong>und</strong> hat letztlich mit der<br />

Verteilung von Macht in der Gesellschaft zu tun. Er wehrt sich also vehement gegen die zu<br />

dieser Zeit noch verbreitete Annahme einer naturgegebenen Affinität zur Kunst, wobei die<br />

Kunst unmittelbar <strong>und</strong> ohne Anleitung ihre suggestive Kraft gegenüber dem Menschen<br />

entfaltet oder es aber auch nicht tut. Er wehrt sich zudem gegen einen quasireligiösen<br />

Umgang mit Kunst. Entsprechend beginnt das Buch: „Auch die Religion der Kunst hat ihre<br />

F<strong>und</strong>amentalisten <strong>und</strong> Modernisten, die sich allerdings darin einig sind, dass Fragen des<br />

kulturellen Heils nur in einer Sprache der Gnade gestellt werden können.“ (Bourdieu/Darbel<br />

2006, S. 13). Die „Liebe zur Kunst“ wird so zu einem „Zeichen der Erwählung“ (165).<br />

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Bourdieu kämpft gegen eine reine (Autonomie-)<strong>Ästhetik</strong>, vor allem gegen Kant, <strong>und</strong><br />

praktiziert dagegen den Ansatz, Geschmack als soziales Konstrukt nachzuweisen:<br />

„Ebenso wie Hegel der reinen Moral (auch hier ist Kant gemeint; M.F.) ein Ethos der<br />

„verwirklichten Moral“ entgegenstellt, lässt sich der reinen <strong>Ästhetik</strong> die im Kunstgeschmack<br />

verwirklichte <strong>Ästhetik</strong> entgegnen, ein Geschmack, der, dauerhaft ins Verhalten eingeprägt,<br />

nichts anderes ist als eine „zweite Natur“, die die erste zugleich überwindet <strong>und</strong> verfeinert.“<br />

(163).<br />

Früh bildet sich durch Bildung <strong>und</strong> Erziehung als individuelles System von Dispositionen <strong>und</strong><br />

Kompetenzen ein Habitus, der über die Zugangsmöglichkeiten zur Kunst entscheidet. Hierbei<br />

zeigen sich die „feinen Unterschiede“ (Distinktion) zwischen den Menschen, <strong>und</strong> all dies<br />

gehört zu dem Spiel um Macht. Es geht um eine neue Form von Gewalt, nämlich um<br />

„symbolische Gewalt“, einer letztlich von den Menschen akzeptierten Form von Gewalt, bei<br />

der es gelungen ist, einen gesellschaftlich produzierten Tatbestand, nämlich den Zugang oder<br />

den Ausschluss zu bzw. von Kunst, als naturgegeben hinzunehmen. Es geht auch um den<br />

„barbarischen Geschmack“ (Kant) der einfachen Leute, der – wie Bourdieu an seiner Studie<br />

über Fotographie als „illegitimer Kunst“ zeigt – immer wieder von den Sachwaltern der<br />

eigentlichen hohen Kunst diskriminiert wird. Kunstrezeption, die Nutzung von<br />

Kultureinrichtungen ist also alles andere als harmlos. Sie ist Teil eines Systems<br />

gesellschaftlicher Ordnung, das eben nicht von vorneherein auf eine „Kultur <strong>für</strong> alle“ angelegt<br />

ist, sondern das die Gnade eines Zugangs zur „hohen Kunst“ sehr sorgfältig verteilt, sodass an<br />

der individuellen kulturellen Praxis der Status in der Gesellschaft abgelesen <strong>und</strong> letztlich eine<br />

– in den Augen Bourdieus ungerechte – Sozialordnung <strong>und</strong> Machtverteilung erhalten wird.<br />

Nutzerstudien sind vermutlich bis heute der in der Praxis relevanteste Teil der Kunst- <strong>und</strong><br />

Kultursoziologie. Und das ist gut so. Denn es ist davon auszugehen, dass die Bourdieuschen<br />

Thesen zur kulturell produzierten Ungleichheit, zu Teilhabe <strong>und</strong> Ausschluss nach wie vor<br />

funktionieren. Daher kann man aus pädagogischen <strong>und</strong> psychologischen Gründen nur<br />

bedauern, wenn Einrichtungen der Hochkultur nur von einem so kleinen Teil der Bevölkerung<br />

– unter weitgehendem Ausschluss der Jugend <strong>und</strong> von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> –<br />

genutzt werden. Es ist aus Gründen der engen Verzahnung von politischer <strong>und</strong> kultureller<br />

Teilhabe auch ein Problem in politischer Hinsicht (zur Frage von Nutzungsverhalten siehe<br />

etwa die zahlreichen Studien des Zentrums <strong>für</strong> Kulturforschung).<br />

Die Seite der Rezeption <strong>und</strong> der alltäglichen kulturellen Praxis ist jedoch nur die eine<br />

kunstsoziologisch relevante Themenstellung. Die andere Seite, die der Produzenten <strong>und</strong><br />

Künstler, wird ebenfalls anspruchsvoll von Bourdieu thematisiert. So arbeitet er eng mit<br />

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Künstlern zusammen, wobei es ihm auch hier darum geht, die emanzipatorischen<br />

Möglichkeiten eines Kunstgebrauchs zu erhalten. Diese sieht er – als Mitbegründer von Attac<br />

– durch die ökonomische Globalisierung insgesamt <strong>und</strong> eine nur noch ökonomische<br />

Betrachtungsweise von Kunst gefährdet. In einem Gespräch zwischen Hans Haacke <strong>und</strong><br />

Bourdieu äußert etwa ersterer:<br />

Jesse Helms “hat uns daran erinnert, dass künstlerische Produktionen nicht nur Waren <strong>und</strong><br />

Mittel zum Ruhm sind, wie man in den achtziger Jahren glaubte, sondern auch symbolische<br />

Macht repräsentieren. Deshalb können sie auch in den Dienst von Herrschaft wie in den von<br />

Emanzipation gestellt werden.“ (Bourdieu//Haacke 1995, S. 10).<br />

Beide reden über Beeinflussungsversuche von Wirtschaft <strong>und</strong> Politik, aber auch über die<br />

Fähigkeit bei Künstlern, dass diese sich zur Wahrnehmung eigener Interessen organisieren. Es<br />

geht daher auch um die Ambivalenz nicht nur der Autonomie des Künstlers <strong>und</strong> des<br />

Kunstwerks, sondern um die Autonomie des Kunstsystems insgesamt. Denn so sehr<br />

Kunstfre<strong>und</strong>e Einmischungen in ihrem Manipulationsverdacht kritisiert werden, werden auch<br />

die Nachteile der selbstreferentiellen Abgeschlossenheit des Kunstsystems kritisiert. So reiße<br />

das Museum das Werk aus seinem Kontext heraus <strong>und</strong> fordere den „reinen“ Blick (95). In<br />

diesem Gespräch wird deutlich, wie über mäzenatische Spenden von Akademien <strong>und</strong> Museen<br />

<strong>und</strong> eine oft damit verb<strong>und</strong>ene Auswahl von Werken, Stelleninhabern <strong>und</strong> Themen Einfluss<br />

darauf genommen wird, was das Kunstsystem als „Kunst“ akzeptiert <strong>und</strong> definiert.<br />

Wie ein autonomes Kunstsystem – Bourdieu spricht von einem künstlerischen oder<br />

literarischen Feld – entsteht, wie Künstler selber um die ästhetische Deutungsmacht in ihrem<br />

eigenen Feld ringen <strong>und</strong> diese schließlich erwerben, beschreibt er in seiner Studie zu Flaubert<br />

(1999). Anhand dieser Fallstudie entwickelt er eine „Wissenschaft von den Kulturprodukten“,<br />

zeigt nicht nur die Strukturen des Feldes, sondern auch die Beziehungen des literarischen<br />

Feldes zum Feld der Macht. In einem letzten Teil dieses Buches findet sich eine Studie zur<br />

Genese der Autonomieästhetik, wobei er realgeschichtliche Entwicklungen der Kunst<br />

korreliert mit den jeweiligen <strong>Ästhetik</strong>-Programmen der philosophisch-theoretischen<br />

Reflexion.<br />

Philosophische <strong>Ästhetik</strong>en, die den „reinen“ Blick propagieren, also einen Zugang zur Kunst,<br />

der soziale <strong>und</strong> kulturelle Kontexte des Werkes <strong>und</strong> seines Schöpfers ausklammert – Bourdieu<br />

arbeitet sich hierbei immer wieder an Kant ab – liefern Vorlagen <strong>für</strong> das<br />

Selbst(miss)verständnis des Künstlers, haben dann aber auch normativen Einfluss auf die<br />

Rezeption, die erwünschte Form künstlerischer Wahrnehmung. Er verweist auf die Studie von<br />

Baxandall (1987), der die Genese einer spezifischen Kunstwahrnehmung in der Renaissance<br />

studiert. Einer zweckfreien autonomen Kunstproduktion entspricht am Ende des<br />

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Autonomiesierungsprozesses eine zweckfreie Wahrnehmung, die eine gewisse durch Bildung<br />

erworbene Kennerschaft voraussetzt:<br />

„Das Wohlbefinden, zu dem die Kunstbetrachtung verhilft, könnte daraus hervorgehen, dass<br />

das Kunstwerk einen Anlass darstellt, jenes gelungene, hier noch durch Zwecklosigkeit<br />

gesteigerte Verstehen zu empfinden, das als Erfahrung spontanen, vorbewussten <strong>und</strong><br />

unreflektierten Einklangs mit der Welt, als w<strong>und</strong>erbare Begegnung von praktischem Sinn <strong>und</strong><br />

objektivierten Bedeutungen das Glück ausmacht.“<br />

Ein zentraler Aspekt bei der Autonomisierung des Kunstsystems besteht darin, dass es<br />

anerkannte <strong>und</strong> akzeptierte gesellschaftliche Funktionen erfüllt (Selbstreflexion,<br />

Wahrnehmungssteigerung, Verdeutlichung von Kontingenz etc.). Dazu gehört wesentlich,<br />

dass es über einen kleinen Kreis von mittelbar betroffenen Experten wirksam wird: Es muss<br />

in die Gesellschaft hinein wirken. Hier spielt die Kunst als Teil des Mediensystems eine<br />

Rolle. Jürgen Habermas (1962) hatte seinerzeit in seiner Habilitationsschrift den<br />

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschrieben. Öffentlichkeit im Sinne eines verbreiteten<br />

Diskurses eines relevanten Teils der Bevölkerung über Fragen der Gesellschaft <strong>und</strong> Politik<br />

entsteht erst mit der bürgerlichen Gesellschaft. Eine solche Öffentlichkeit braucht Menschen,<br />

Medien, Orte, Themen, Anlässe. Es ist daher konsequent, wenn Werner Faulstich in seiner<br />

ambitionierten Geschichte der Medien in allen Bänden die Künste, ihre Träger <strong>und</strong><br />

Institutionen mit einbezieht: Kunst ist Teil der Öffentlichkeit <strong>und</strong> findet so die Möglichkeit,<br />

ihre Aufgabe als institutionalisierte Selbstreflexion der Gesellschaft zu erfüllen.<br />

Eine komplexe Graphik versucht, diese Wirkungszusammenhänge darzustellen (Abb. 34).<br />

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Abb. 34<br />

mittelbare<br />

Wirkung auf<br />

Publikum<br />

Mittelbare <strong>und</strong> unmittelbare Einflussmöglichkeiten der Künste <strong>und</strong> Medien<br />

ein Wirkungsmodell<br />

)<br />

Künste<br />

(Produzenten + Kulturwirtschaft<br />

E-Musik Literatur<br />

Theater/<br />

Oper/<br />

Konzert<br />

Bildende<br />

Kunst<br />

Politische Redaktion/Feuilleton/<br />

inklusive Kritik<br />

Meinungsbildende Medien<br />

Rückw irkung des<br />

Publikums-Geschmacks<br />

Kulturelle Öffentlichkeit<br />

KULTURVERBÄNDE<br />

unmittelbare Wirkung<br />

auf Publikum<br />

Medienstars<br />

Meinungsführer<br />

Bevölkerung<br />

strukturiert nach Milieus,<br />

Lebensstilen,<br />

Einflussgruppen etc.<br />

Massenmedien<br />

Produktion + Kulturwirtschaft<br />

Boulevard Theater<br />

Musical TV/Kino<br />

Musik-<br />

Demoskopie/<br />

Werbung<br />

Zeitungen<br />

industrie (U)<br />

Zeitschriften populäre<br />

Literatur<br />

Entscheider in Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft<br />

Prägung von:<br />

- Geschmack - sozialen Gesellungsformen<br />

- Einstellungen - Identitäten<br />

- Zeitgeist - Bew usstseinsformen<br />

- Weltbild - Wahlentscheidungen (politisch + Konsum)<br />

- kulturellem Gedächstnis<br />

mittelbare<br />

Wirkung<br />

POLITIK ÖKONOMIE SOZIALES andere KULTURBEREICHE<br />

(Wissenschaft, Religion etc.)<br />

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6. <strong>Kunsttheorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> in <strong>Pädagogik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kulturpolitik</strong><br />

Alle Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, so hat man herausgef<strong>und</strong>en, haben ihre je eigenen Theorien<br />

über Lehren <strong>und</strong> Lernen, über <strong>Pädagogik</strong>, die Schule <strong>und</strong> das Aufwachsen von Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen. Diese Alltagstheorien sind handlungsleitend, allerdings meist implizit <strong>und</strong> nur<br />

wenig von anerkannten soziologischen, psychologischen <strong>und</strong> pädagogischen Theorien<br />

beeinflusst. Trotz anderer Kenntnisstände in den Wissenschaften, von denen man durchaus im<br />

Studium oder später bei gelegentlicher Fachlektüre gehört hat, hat man es bei solchen<br />

Alltagstheorien oft mit kaum haltbaren Konzeptionen zu tun. Solche Theorien gibt es in<br />

jedem Praxisfeld. Auch KünstlerInnen reflektieren über ihre Tätigkeit <strong>und</strong> viele haben ein<br />

Studium absolviert. Es war sogar die Besonderheit in der Entwicklung des Künstlerberufs,<br />

dass KünstlerInnen in ihrer Ausbildung diese Stufe der Selbstreflexion im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

erreicht haben. Doch haben Künstlertheorien über Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> in den „offiziellen“<br />

Reflexionswissenschaften i.d.R. kein gutes Ansehen. So schreibt Eckart Liebau (in<br />

Bilstein/Kneip 2009, S. 43):<br />

„Entscheidend ist, dass das Kunstwerk seinen nie vollständig aufschlüsselbare, nie vollständig<br />

sprachlich darstellbaren Sinn in sich hat (<strong>und</strong> zwar häufig unabhängig von den Intentionen des<br />

Künstlers: Künstler-Theorien über ihre eigene Kunst enthalten manchmal hanebüchenen<br />

Unsinn).“<br />

Nun muss dies nicht unbedingt ein Problem sein. Gute Physiker sind eben auch nicht<br />

unbedingt gute Naturphilosophen oder Wissenschaftstheoretiker. Es sind immerhin zwei<br />

unterschiedliche Professionalitäten: das Machen <strong>und</strong> die Reflexion des Machens, auch wenn<br />

der Kunsttheoretiker Arthur Danto die Künste vor den philosophischen Deutungen in Schutz<br />

nehmen möchte.<br />

So gibt es auch in der <strong>Pädagogik</strong> der Künste <strong>und</strong> in der <strong>Kulturpolitik</strong> ausgesprochene <strong>und</strong><br />

verborgene Theorien der Künste, aus denen praktisch wirksame Folgerungen <strong>für</strong> die Praxis<br />

gezogen werden. Es ist allerdings nicht immer leicht, solche <strong>Kunsttheorie</strong>n zu rekonstruieren.<br />

Dass dies bei den impliziten Theorien nicht leicht ist, ist unmittelbar einzusehen. Aber selbst<br />

dort, wo theoretische Äußerungen zum Kunstverständnis vorliegen, ist damit nicht zugleich<br />

klar, dass dieses auch in der Praxis angewandt wird. Es gibt z. T. erhebliche<br />

Selbstmissverständnisse oder schlicht <strong>und</strong> einfach ein Auseinanderklaffen von Theorie <strong>und</strong><br />

Praxis. In einem vergleichbaren Fall hat man etwa das Kulturverständnis zweier Kulturämter<br />

untersucht, wobei das eine ein konservatives <strong>und</strong> das andere ein fortschrittliches<br />

Selbstverständnis (<strong>und</strong> einen jeweils entsprechenden Kulturbegriff) hatte. In der Förderpraxis<br />

beider Städte war trotz auseinanderklaffender Programmatik dagegen kein Unterschied<br />

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festzustellen. Diese Differenz kommt natürlich auch dadurch zustande, dass zwischen Praxis<br />

<strong>und</strong> Theorie kein unmittelbares Ableitungsverhältnis besteht, sondern vielmehr jede Praxis<br />

auf verschiedene Weise theoretisch reflektiert <strong>und</strong> kaum linear aus einer Theorie eine genau<br />

passfähige Praxis abgeleitet werden kann.<br />

Zum Kunstbegriff in der <strong>Kulturpolitik</strong><br />

In der <strong>Kulturpolitik</strong> dominiert der weite Kulturbegriff, so wie ihn die UNESCO 1982<br />

festgelegt hat. „Kultur“ hat demzufolge drei Dimensionen: die alltägliche Lebensweise, die<br />

Normen <strong>und</strong> Werte <strong>und</strong> die Künste. Wer sich allerdings Kulturetats von Kommunen, Ländern<br />

oder des B<strong>und</strong>es ansieht, wird feststellen, dass die drei Dimensionen unterschiedlich<br />

„bedient“ werden. Nun mag man einwenden, dass „Werte“ keinen identifizierbaren engeren<br />

Trägerbereich betreffen, sondern immer alle BürgerInnen damit angesprochen sind. Und die<br />

Gestaltung des Alltags ist letztlich Ziel der gesamten Politik <strong>und</strong> nicht bloß eines<br />

Teilbereichs. Doch ist die Konzentration auf traditionelle Kunstformen auffällig. Die Künste<br />

sind dabei unterschiedlich kostenintensiv: Ein Schriftsteller braucht nur sich <strong>und</strong> einen<br />

Schreibplatz, der Maler immerhin schon ein Atelier. Oper, Theater, Tanz <strong>und</strong> Film benötigen<br />

dagegen eine erhebliche institutionelle Rahmung. Auch sind <strong>für</strong> Museen gleich welcher<br />

thematischen Ausrichtung teuere Gebäude <strong>und</strong> einiges an Personal nötig. Es verw<strong>und</strong>ert daher<br />

nicht, dass Oper, Theater, Orchester <strong>und</strong> Museen den Löwenanteil der öffentlichen<br />

Kulturausgaben benötigen. Soziokultur <strong>und</strong> ihre Einrichtungen sowie die Förderung von<br />

Künstlern (was heißt: die Kunst der Gegenwart <strong>und</strong> der Zukunft) tauchen nur mit kleinen<br />

einstelligen Prozentsätzen im Haushalt auf. Dazu kommen auch noch nationale Traditionen.<br />

Deutschland mit seiner dichten Landschaft an Theatern, Opernhäusern <strong>und</strong> Museen legt<br />

bekanntlich Wert auf Musik. Auch die historische Vergewisserung spielte – gerade im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, als der Großteil unserer kulturellen Infrastruktur gebaut wurde – eine wichtige<br />

politische Rolle: Geschichte bzw. bestimmte geschichtliche Konstruktionen dienen stets dazu,<br />

nationale Mythen als identitätsstiftende Erzählungen zu nutzen. In Frankreich ist Literatur das<br />

kulturelle Leitmedium. Wie werden nun die erheblichen öffentlichen Aufwendungen <strong>für</strong> den<br />

Kunstbetrieb legitimiert? Immerhin plädieren Bourdieu <strong>und</strong> Haacke (1995) sehr <strong>für</strong> eine<br />

staatliche Förderung, sehen zwar deutlich die Gefahren der Einmischung, die <strong>für</strong> sie aber<br />

immer noch leichter zu bewältigen ist als die wirtschaftliche Einflussnahme. Nur der Staat<br />

kann eine Kultur ermöglichen, die keinen Markt hat (74). Kunst, so wird im Gespräch<br />

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zwischen den kunstsensiblen Soziologen <strong>und</strong> dem gesellschaftlich engagierten Künstler<br />

deutlich, ist eine Hüterin der Freiheit (87) <strong>und</strong> solle ihre kritische Funktion gegenüber Staat,<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Wirtschaft einnehmen. Sie stellt Öffentlichkeit her, wobei zum einen der<br />

Akzent auf der (eben auch: elaborierten) künstlerischen Formensprache liegt, diese<br />

Elaboriertheit allerdings auch Probleme mit der Zugänglichkeit bereiten kann. Interessant in<br />

diesem Buch ist die Bewusstheit, mit der Haacke mit seinen Kunstwerken eine Interpretation<br />

<strong>und</strong> Wertung anderer Kunstwerke geben will, ganz so, wie es Luhmann beschreibt: Kunst<br />

kommuniziert zunehmend über sich selbst mit Hilfe von Kunstwerken.<br />

Nun sind Bourdieu <strong>und</strong> Haacke keine Politiker mit Einfluss auf Fördermittel. Doch lässt sich<br />

dieses Kunstverständnis in einen größeren Rahmen einordnen, den seinerzeit Göschel (1991)<br />

vorgeschlagen hat (s.u.). Bevor ich darauf eingehe, will ich die beiden bedeutendsten<br />

<strong>Kulturpolitik</strong>konzeptionen der Nachkriegszeit vorstellen. Hilmar Hoffmann (1979) hat den<br />

Slogan „Kultur <strong>für</strong> alle“ geprägt. Er wehrt sich gegen eine Zweiteilung, derzufolge die<br />

anspruchsvolle Kunst <strong>für</strong> einen kleinen Bevölkerungsteil von Kennern vorgesehen ist <strong>und</strong> der<br />

Rest mit Feizeitangeboten oder „Alternativer Kultur“ abgespeist wird (11). Ihm geht es<br />

dagegen darum, alle Kunstangebote allen zugänglich zu machen, im Anschluss an Brecht also<br />

„den kleinen Kreis der Kenner zu einem großen Kreis der Kenner zu machen, denn Kunst<br />

brauche Kenntnisse“ (19). Hoffmann bekennt sich zu dem erweiterten Kulturbegriff, doch<br />

handelt er zu einem großen Teil über traditionelle Kunstformen, hält allerdings stets die<br />

Erreichbarkeit <strong>und</strong> das Publikum im Auge. <strong>Kulturpolitik</strong> – <strong>und</strong> damit die Künste – dienen der<br />

Vermittlung „lebenspraktischer Gr<strong>und</strong>qualifikationen“ (15), der Entfaltung von<br />

Kommunikation. Er spricht (positiv) von den „Nebennutzen“ der Künste: Verbesserung der<br />

kommunalen Lebensqualität, lokale Identität, Warnung gegenüber gesellschaftlichen Risiken.<br />

Letztlich landet er wieder bei der Autonomie <strong>und</strong> Selbstzweckhaftigkeit von Kunst, der<br />

kunstimmanenten Aufgabe, „schöne Dinge herzustellen“ (18). Bei den Abschnitten über<br />

einzelne Kunstformen <strong>und</strong> dazugehörige Einrichtungen werden weitere kunsttheoretische<br />

Argumente eingebracht: Zeigen eines noch nicht Vorhandenen im Anschluss an Ernst Bloch<br />

(35), Argumente der Aufklärung (Lessing, Schiller), Emanzipation (Kant), Herstellung einer<br />

kritischen demokratischen Öffentlichkeit.<br />

Bei dem Musiktheater ist von ästhetischen Bedürfnissen die Rede, es geht um individuelle<br />

Entfaltung, Genuss <strong>und</strong> Nutzen (73).<br />

Museen: Entwicklung von Urbanität mit Bildungsauftrag.<br />

199


C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Bildende Kunst: hat nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche<br />

Dimension (125). Stichworte zur letzteren: Stadtgestaltung, gegen Verdrängung des<br />

Bildnerischen, Bildung, gegen Individualisierung.<br />

Der zweite wichtige Autor der Nachkriegszeit ist Herrmann Glaser. Sein kulturpolitisches<br />

Gr<strong>und</strong>buch (1983 in zweiter Auflage), argumentiert erheblich geschlossener <strong>und</strong><br />

ambitionierter im Hinblick auf den zugr<strong>und</strong>e liegenden Kunst- <strong>und</strong> Kulturbegriff. Seine<br />

entscheidenden Bezugsautoren in kunsttheoretischer Hinsicht sind Schiller (mit seinen<br />

Briefen zur ästhetischen Erziehung), Marcuse, Benjamin, Bloch <strong>und</strong> Brecht. Leitprinzipien<br />

sind die Europa-Rats-Slogans „Demokratisierung von Kultur“ <strong>und</strong> „kulturelle Demokratie“,<br />

eine gesellschaftskritische Haltung, Kunst als Aufklärung. Glaser will mittels Kunst gegen<br />

Entfremdung angehen <strong>und</strong> sieht in der <strong>Kunsttheorie</strong> Schillers das „theoretische Pendant“ zu<br />

Marx’ Entfremdungstheorie (154). Es ist ein Schiller gelesen durch die Brille der Kritischen<br />

Theorie der Frankfurter Schule unter besonderer Berücksichtigung von Autoren aus der<br />

Richtung des Freudo-Marxismus (z. B. Marcuse):<br />

„So gesehen ist ästhetische Praxis politisch relevant, verheißt der Weg durch Schönheit zur<br />

Freiheit dem ans Leistungsprinzip ausgelieferten Menschen Daseinsalternativen, die hinter<br />

der ihn umfangenden Lebenswirklichkeit die Überwindung menschlicher<br />

Existenzbedingungen aufscheinen lassen.“ (172 f.)<br />

Auf dieser theoretischen Gr<strong>und</strong>lage – die in dieser elaborierten Form kein anderer<br />

<strong>Kulturpolitik</strong>er geleistet hat – entwickelt Glaser mit großer Konsequenz seine praktischen<br />

Vorschläge wie Kommunikationszentren, Kulturwerkstätten, neue Formen von Bibliotheks-<br />

<strong>und</strong> Museumsarbeit. Wie f<strong>und</strong>iert der Glasersche Ansatz im Hinblick einer Verankerung in<br />

einer spezifischen Auffassung von Kunst <strong>und</strong> Kultur ist, kann man durch einen Vergleich mit<br />

einem ambitionierten aktuellen Buch zur Neu-Konzeptionierung von <strong>Kulturpolitik</strong> sehen<br />

(Scheytt 2008): Hier genügen zwei Seiten über Kunst(theorie i.e.S.; nämlich 153 f.). Der Rest<br />

des Buches befasst sich mit der Gestaltung von Rahmenbedingungen, was allerdings <strong>für</strong> ein<br />

Buch über <strong>Kulturpolitik</strong> legitim ist. Die kunsttheoretischen Aussagen sind weitaus weniger<br />

emanzipatorisch angelegt als bei Glaser <strong>und</strong> Hoffmann, sondern sie formulieren ein<br />

Alltagsverständnis von Kunst, das <strong>für</strong> alle Parteien akzeptabel sein dürfte:<br />

� Kunst verarbeitet Realität in Vieldeutigkeit<br />

� Kunst zeigt Spannungen <strong>und</strong> Widersprüche<br />

� Kunst reflektiert den Alltag<br />

� Kunst zeigt Neues, durchaus auch Unbequemes.<br />

200


C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Kommen wir nun zu der Untersuchung von Göschel (1991). Diese Untersuchung ist<br />

hochrelevant <strong>für</strong> die <strong>Kulturpolitik</strong> (vgl. etwa die Bezüge in Fuchs 2007). Hier interessieren<br />

nur die kunsttheoretischen Teile. Göschel kommt auf der Basis empirischer Studien zu dem<br />

Ergebnis, dass sich im 10-Jahresabstand das Verständnis von Kultur wesentlich ändert (mit<br />

erheblichen Auswirkungen auf das Verständnis der <strong>Kulturpolitik</strong>), wobei Kern der<br />

Veränderung jeweils eine unterschiedliche Verständnisweise von Kunst <strong>und</strong> ihrer Rolle in der<br />

Gesellschaft ist.<br />

Göschel unterscheidet im Zeitablauf die folgenden Richtungen (siehe auch Göschel 1995,<br />

Studienbrief):<br />

� Das Werte- <strong>und</strong> Ethikmodell in der Nachkriegszeit der BRD, geprägt von den<br />

Bildungseliten der 1930er Jahrgänge. Kunst ist auratisch, ist das Reich des Schönen,<br />

Wahren <strong>und</strong> Guten, ist gerade nicht Alltag.<br />

� Das Arbeits-, Aufklärungs- oder Klassenmodell der 1960er <strong>und</strong> 1970er Jahre. Dieses ist<br />

kapitalismuskritisch <strong>und</strong> aufklärungsorientiert. Kunst ist hier eher Dokument des<br />

Klassencharakters der Gesellschaft<br />

� Das Lebenswelt- oder kommunikative Modell, getragen von der Generation der um 1950<br />

Geborenen. Hier wird der Wertewandel bereits berücksichtigt. Man sieht die<br />

Kolonialisierung der Lebenswelt durch Wirtschaft <strong>und</strong> Politik (Habermas). Kunst ist<br />

Selbstausdruck, Selbstverwirklichung durch Kunst ist ein zentrales Ziel.<br />

� Das Lebensstil- bzw. ästhetische Modell der um 1960 Geborenen. Kunst ist plural auf die<br />

sich ausdifferenzierende Lebensstilgesellschaft bezogen. Es gibt eine Ästhetisierung der<br />

Lebenswelt. Kunst ist ein selbstreferentielles „autonomes“ System. Kunst dient der<br />

Wahrnehmung von Wahrnehmung.<br />

Mit der Generationenabfolge von Göschel lassen sich die oben vorgestellten Konzeptionen<br />

von Glaser <strong>und</strong> Hoffmann zuordnen: ein aufklärerisches normatives Verständnis von Kunst<br />

auf der Basis des autonomen Subjekts vor dem Hintergr<strong>und</strong> der seinerzeit heftig diskutierten<br />

Legitimationsprobleme des bürgerlichen Staates, wobei die Affinität zur „hohen Kunst“ eine<br />

Anschlussmöglichkeit an die Vorgängergeneration bietet. Nur dass der gut eingeführte<br />

Kunstkanon einem größeren Bevölkerungsspektrum geöffnet werden soll: Der Aspekt der<br />

Kunstvermittlung spielt eine entscheidende Rolle.<br />

201


C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Die aktuelle Situation<br />

Es ist nicht primäre Aufgabe von <strong>Kulturpolitik</strong>, <strong>Kunsttheorie</strong> zu produzieren. Doch ist ein<br />

bestimmtes – natürlich positiv bewertetes – Verständnis der Künste die Basis <strong>und</strong> auch die<br />

Motivation von Menschen, die sich <strong>für</strong> Kultur <strong>und</strong> Kunst engagieren. Insbesondere gibt es<br />

starke Annahmen über die Wirksamkeit oder auch eine große Liebe zur Kunst, der die<br />

Wirksamkeit gleichgültig ist. In letzterem Fall zwingt man sich geradezu, in Legitimations-<br />

<strong>und</strong> Konzeptpapieren solche an sich nicht favorisierten Nebenwirkungen doch zu erwähnen.<br />

Dies tut man, weil kulturpolitische Papiere über Kunst eben politisch wirksam werden<br />

müssen: Sie müssen überzeugen. Dies gelingt nur dann, wenn man Argumentationsfiguren<br />

verwendet, von denen man annimmt, dass sie bei einem heterogenen Publikum Zustimmung<br />

finden (Fuchs 2010). Man stelle sich etwa eine Ratsversammlung in einer Kommune vor, die<br />

über den Kulturetat der Stadt zu befinden hat. Hier geht es also nicht nur um die ohnehin<br />

schon Überzeugten <strong>und</strong> Eingeweihten: Es müssen auch andere überzeugt werden. Nicht zu<br />

unrecht geht man dann davon aus, dass Argumente der Stadtentwicklung <strong>und</strong> des<br />

Stadtmarketings oder wirtschaftliche Argumente besser wirken als kunstimmanente<br />

Argumente.<br />

Politische Texte sind zudem oft Kollektivprodukte. Man denke etwa an Parteiprogramme oder<br />

Verbandspositionen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass man eine heterogene Gruppe von<br />

oft fachfremden Menschen auf eine einzige elaborierte <strong>Kunsttheorie</strong> festlegen könnte. Im<br />

Ergebnis kommt dann das übliche Gemenge von interessant klingenden<br />

Wirkungszuschreibungen zustande, das man kaum auf innere Kohärenz untersuchen kann.<br />

Trotzdem schlägt auch bei solchen Papieren der „Zeitgeist“ durch. Dies kann man etwa an<br />

den Gr<strong>und</strong>satzpapieren des Deutschen Städtetages in den 1980er Jahren ablesen, bei denen<br />

sich vieles von dem, was oben zu Glaser <strong>und</strong> Hoffmann ausgeführt wurde, wieder findet<br />

(wobei Personalkonstellationen – Glaser war lange Jahre Vorsitzender des Kulturausschusses<br />

im deutschen Städtetag – auch eine Rolle spielen). Einfluss haben neben Einzelpersonen auch<br />

Verbände wie etwa die Kulturpolitische Gesellschaft, die quasi ein Transmissionsriemen der<br />

Konzepte der beiden genannten Autoren in die kommunale Praxis war. Hier ist dann auch mit<br />

großem Nutzen Göschels Vorschlag zur Generationenabfolge von Kunst- <strong>und</strong> Kulturbegriffen<br />

anzuwenden.<br />

Zum „Zeitgeist“ gehört auch, wie theorielastig eine praktische Konzeption sein muss – <strong>und</strong><br />

welche Bereichstheorie eine Rolle spielt. In Frage kommen bei kulturpolitischen<br />

Konzeptionen Theorien der Politik oder der Gesellschaft. Schließlich hängt die Frage des<br />

Kunstverständnisses auch mit den Personen zusammen. Zwar gibt es in der <strong>Kulturpolitik</strong> viele<br />

202


C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Menschen mit einer künstlerischen oder kulturwissenschaftlichen Ausbildung. In<br />

Kultureinrichtungen haben sich in den letzten 20 Jahren zudem die Studiengänge <strong>für</strong><br />

Kulturmanagement – die alle auch einen gr<strong>und</strong>lagentheoretischen Studienanteil haben –<br />

durchgesetzt. Kulturmenschen besetzen oft politische Leitungsfunktionen, sind etwa<br />

Staatssekretäre oder Minister, <strong>und</strong> bringen dort ihre Professionalität ein. Glaser war<br />

Germanist <strong>und</strong> Anglist, hatte also bereits vom Studium her eine systematische Kenntnis über<br />

Literatur, was man an seinen Texten auch feststellen kann. Unter den bisherigen<br />

Kulturstaatsministern auf B<strong>und</strong>esebene war ebenfalls die jeweilige Profession erkennbar:<br />

Michael Naumann <strong>und</strong> Christina Weiss sind Germanisten, Julian Nida-Rümelin ist Philosoph,<br />

der ein Kompendium zur <strong>Kunsttheorie</strong> herausgegeben hat.<br />

In den Kulturverbänden stehen i.d.R. Menschen mit der Profession der vertretenen Mitglieder<br />

an der Spitze, wobei es sich meist um praktizierende KünstlerInnen <strong>und</strong> nicht um<br />

entsprechende Kulturwissenschaftler handelt. Allerdings sind in vielen Verbänden<br />

Hochschullehrer vertreten, die aufgr<strong>und</strong> ihres Lehr- <strong>und</strong> Forschungsauftrages auch<br />

entsprechende elaborierte Reflexionskompetenzen zu ihrer Sparte mitbringen (etwa im<br />

Musik- oder Theaterbereich). Es überrascht natürlich nicht, dass insbesondere der<br />

Theaterbereich auch in seinen Verbänden <strong>und</strong> vor allem in den einzelnen Theater eine<br />

qualifizierte Theoriendebatte führt. Zwar wird eine solche oft genug durch verschärfte<br />

Legitimationsanforderungen (aufgr<strong>und</strong> der Finanzkrise) erzwungen <strong>und</strong> ist daher oft wenig<br />

geliebt. Doch sind hierbei entstandene Texte aufschlussreich. Dies gilt zur Zeit <strong>für</strong> die aus<br />

verschiedenen Gründen notwendig gewordene Debatte über die multi-ethnisch<br />

zusammengesetzte Gesellschaft <strong>und</strong> die Rolle, die das Theater hierbei zu spielen hat. Hier<br />

finden interessante Diskurse sowohl über die Möglichkeiten der Kunstform Theater <strong>und</strong> der<br />

Institution des Stadttheaters statt (vgl. etwa das Themenheft „Das Theater in der<br />

Migrationsgesellschaft“ der Zeitschrift Theater heute 8/9, 2010). Man setzt sich intensiv mit<br />

der Genese des Kulturbegriffs <strong>und</strong> seiner kunstreligiösen Überhöhung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

auseinander (ebd., S. 40), man setzt sich mit der sozialen Rolle des Theaters <strong>und</strong> seiner<br />

bürgerlichen Trägergruppe auseinander, man entdeckt mit neuer Relevanz den<br />

Bildungsauftrag des Theaters wieder <strong>und</strong> diskutiert die aktuelle <strong>und</strong> traditionsreiche Rolle des<br />

Theaters in der Polis, in der öffentliche Angelegenheiten mit den spezifischen Mitteln des<br />

Theaters thematisiert werden. Diese Rückgewinnung der gesellschaftlichen Funktion des<br />

Theaters wird sensibel diskutiert vor dem Problem, dass das Theater als Institution Teil eines<br />

Systems ist, das definiert, was gutes Theater ist. Insbesondere gilt dies <strong>für</strong> das Problem des<br />

Feuilletons, das diese neue/alte Rolle des Theaters weniger goutiert als die immanente<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

Akzentsetzung auf allerneueste Inszenierungsstrategien (all dies in einem aufschlussreichen<br />

Text der Freiburger Intendantin Barbara M<strong>und</strong>el). Natürlich werden auch neu entstehende<br />

Problematiken diskutiert, etwa das Spannungsverhältnis zwischen weitestgehender<br />

Partizipation immer neuer Publikumsschichten <strong>und</strong> dem Kunstanspruch. Offensichtlich<br />

begleitet diese Frage das Theater während seiner gesamten Geschichte. Denn die Frage, ob<br />

sich ein ästhetisch anspruchsvolles Theater ohne Spenden oder öffentliche Zuwendungen<br />

betreiben lässt, war das Anliegen von Lessing bei seiner Hamburger Theater-Episode –<br />

bekanntlich mit negativem Ausgang. Es wird die Qualitätsfrage gestellt <strong>und</strong> klug darüber<br />

nachgedacht, welche Rolle der Zuschauer im Theater hat (Beiträge von Ulrich Khuon <strong>und</strong><br />

Katharina Kreuzhagen in dem genannten Heft). In dieser Hinsicht scheint die derzeitige Krise<br />

in der Tat eine Chance zu sein, nämlich die Chance einer Selbstvergewisserung <strong>und</strong> vielleicht<br />

auch neuen Verortung der Künste angesichts eines dynamischen gesellschaftlichen Wandels,<br />

der alle bekannten Sorgen <strong>und</strong> Nöte über Kollateralschäden der gesellschaftlichen Moderne,<br />

an denen sich schon Schiller abgearbeitet hat, neu aufleben lässt.<br />

Es muss allerdings auch festgestellt werden, dass man nicht überall die reflexive Sorgsamkeit<br />

im Umgang mit den bereichsspezifischen <strong>Kunsttheorie</strong>n walten lässt. Oft bedient man sich im<br />

politischen Geschäft auch problematischer Wirkungszuschreibungen <strong>und</strong> geht – meist implizit<br />

– von Kunstbegriffen aus, deren Entstehung man zwar nachvollziehen kann – etwa die<br />

kunstreligiöse Sicht der Romantik <strong>und</strong> des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts schlechthin –, die aber in ihrer<br />

umstandslosen <strong>und</strong> unreflektierten Anwendung auf die Gegenwart auch zu falschen<br />

Entscheidungen führen können. Dies betrifft insbesondere den immer wieder aufflackernden<br />

Streit zwischen der Autonomie der Künste <strong>und</strong> einer möglichen Instrumentalisierung <strong>für</strong><br />

politische, soziale, ökonomische, therapeutische oder andere Zwecke. Offensichtlich stecken<br />

hinter diesem Streit <strong>und</strong> den dort eingenommenen Positionen spezifische Theorien der<br />

Künste. Diese Debatten gibt es nicht nur in Deutschland, obwohl sie hier besonders virulent<br />

sind. Vielleicht ist an dieser Stelle ein Blick ins Ausland interessant.<br />

Der vermutlich interessanteste Fall, bei dem eine spezifische Auffassung von Kunst politisch<br />

auf breiter Basis wirksam geworden ist, ist die Regierungszeit von New Labour unter Tony<br />

Blair seit Ende der 1990er Jahre. New Labour gab zum einen erheblich viel mehr Geld <strong>für</strong><br />

Kultur <strong>und</strong> Bildung aus als die Vorgängerregierung, knüpfte die Mehrausgaben <strong>für</strong> Kultur<br />

allerdings an die Bedingung einer sozialen Wirksamkeit. „Social Coherence“ war das Ziel, zu<br />

dem auch die Künste <strong>und</strong> Künstler einen Beitrag zu leisten hatten, wenn sie staatliche Gelder<br />

wollten. Umgesetzt wurde diese neue Politik, die zudem streng evaluiert werden sollte, vom<br />

Arts Council England (ACE). Dieser Politik verdankt das Bildungswesen eine deutliche<br />

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Annäherung an den Kulturbereich, insofern ein Teil des Programms darin besteht, Künstler<br />

vermehrt in die Schulen zu bringen. Das entsprechende Großprojekt hieß <strong>und</strong> heißt „creative<br />

partnerships“. Es gab sofort eine Debatte über die „Instrumentalisierung der Künste“. Diese<br />

Debatte verschärfte sich noch, als unter der Leitung von François Matarasso (2000) ein<br />

ambitioniertes Evaluationsprojekt durchgeführt wurde (Abb. 35)<br />

Die Instrumentalisierungsdebatte in England hält bis heute an. Inzwischen gibt es in der<br />

konservativ-liberalen Regierung, die New Labour abgelöst hat, nicht nur empfindliche<br />

Streichungen der öffentlichen Kulturausgaben. Man lockert auch die soziale Zielstellung <strong>und</strong><br />

entspricht so den Wünschen einer starken Opposition gegen den kulturpolitischen Labourkurs.<br />

Zum anderen gab es einige Initiativen gegen den in England betriebenen Trend zu<br />

quantitativen Evaluationen. Insbesondere hat sich Oliver Bennett, Professor <strong>für</strong> <strong>Kulturpolitik</strong><br />

an der Warwick-University, um eine alternative Evaluationsstrategie bemüht. Er tat dies,<br />

indem er in der Geschichte der <strong>Ästhetik</strong> seit der Antike Wirkungsbehauptungen identifiziert<br />

<strong>und</strong> nach Leitbegriffen ordnete: catharsis, personal well-being, education and self-<br />

development, moral improvement and civilisation, political instrument, social stratification<br />

and identity construction, autonomy of the art and rejection of instrumentability. Damit<br />

kommt er zu dem Schluss, dass die heutige Debatte über die Politisierung <strong>und</strong><br />

Instrumentalisierung der Künste durch New Labour nicht von dieser erf<strong>und</strong>en wurde, sondern<br />

eine 2500 Jahre alte Vorgeschichte hat (182). Er versteht seine historische Analyse so, dass<br />

sie einen Ausweg bietet aus der sterilen Dichotomie „intrinsic“ oder „instrumental“ (183) <strong>und</strong><br />

die Basis liefert <strong>für</strong> elaboriertere Evaluationsmethoden der Wirksamkeit von Künsten (vgl.<br />

Mirza 2006).<br />

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Abb. 35<br />

50 Social Impacts of Participation in the Arts<br />

The Study shows that Participation in the Arts can<br />

1. Increase people’s confidence an sense of self-worth<br />

2. Extend involvement in social activity<br />

3. Give people influence over how they are seen by others<br />

4. Stimulate interest and confidence in the arts<br />

5. Provide a forum to explore personal rights and responsibilities<br />

6. Contribute to the educational development of children<br />

7. Encourage adults to take up education and training opportunities<br />

8. Help build new skills and work experience<br />

9. Contribute to people’s employability<br />

10. Help people take up or develop careers in the arts<br />

11. Reduce isolation by helping people to make friends<br />

12. Develop community networks and sociability<br />

13. Promote tolerance and contribute to conflict resolution<br />

14. Provide a forum for intercultural <strong>und</strong>erstanding and friendship<br />

15. Help validate the contribution of a whole community<br />

16. Promote intercultural contact and co-operation<br />

17. Develop contact between the generations<br />

18. Help offenders and victims address issues of crime<br />

19. Provide a route to rehabilitation and integration for offenders<br />

20. Build community organisational capacity<br />

21. Encourage local self-reliance and project management<br />

22. Help people extend control over their own lives<br />

23. Be a means of gaining insight into political and social ideas<br />

24. Facilitate effective public consultation and participation<br />

25. Help involve local people in the regeneration process<br />

26. Facilitate the development of partnership<br />

27. Build support for community projects<br />

28. Strengthen community co-operation and networking<br />

29. Develop price in local traditions and cultures<br />

30. Help people feel a sense of belonging and involvement<br />

31. Create community traditions in new towns or neighbourhoods<br />

32. Involve residents in environmental improvements<br />

33. Provide reasons for people to develop community activities<br />

34. Improve perceptions of marginalised groups<br />

35. Help transform the Image of public bodies<br />

36. Make people feel better about where they live<br />

37. Help people develop their creativity<br />

38. Erode the distinction between consumer and creator<br />

39. Allow people to explore their values, meanings and dreams<br />

40. Enrich the practice of professionals in the public and voluntary sectors<br />

41. Transform the responsiveness of public service organisations<br />

42. Encourage people to accept risk positively<br />

43. Help community groups raise their vision beyond the immediate<br />

44. Challenge conventional service delivery<br />

45. Raise expectations about what is possible and desirable<br />

46. Have a positive impact on how people feel<br />

47. Be an effective means of health education<br />

48. Contribute to a more relaxed atmosphere in health centres<br />

49. Help improve the quality of life of people with poor health<br />

50. Provide a unique and deep source of enjoyment<br />

Quelle: F. Matarasso: Use or Ornament. The Social Impact of Participation in the Arts. London: Comedia<br />

1997/2000<br />

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Die <strong>Kulturpolitik</strong> verwendet also ständig zur Begründung ihres Anliegens Slogans,<br />

Gedankengänge <strong>und</strong> Begriffe aus der <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong>, macht sich allerdings nicht<br />

immer bewusst, aus welchen Kontexten diese stammen <strong>und</strong> welche<br />

argumentationsstrategische Funktion sie ursprünglich hatten. Bernd Wagners verdienstvolle<br />

Studie (2009) zeigt, in welcher Beziehung kulturpolitische Begründungen, die reale<br />

Entwicklung der verschiedenen Kunstsysteme <strong>und</strong> die jeweiligen gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

politischen Verhältnisse jeweils zueinander standen. Man muss in der Betrachtung der<br />

Geschichte sich verdeutlichen, wie stark sich die Künste <strong>und</strong> Kunstreflexionen auf<br />

gesellschaftliche Veränderungsprozesse einließen, ja geradezu zum „Künder“ dieser Prozesse<br />

waren. Ute Kösser arbeitet diesen Zusammenhang in ihrer „Geschichte der <strong>Ästhetik</strong>“ aus <strong>und</strong><br />

formuliert hierzu vier Thesen:<br />

1. <strong>Ästhetik</strong> ist eine moderne Wissenschaftsdisziplin.<br />

2. Ihr Gegenstand ist die Kunst <strong>und</strong> das gesamte ästhetische Feld.<br />

3. Die Disziplin selbst <strong>und</strong> ihr Gegenstandsbereich unterliegen der Modernisierung<br />

4. Dies zeigt sich an der Ausdifferenzierung des Gegenstandes, der Disziplin selbst, an<br />

der Politisierung der Künste <strong>und</strong> an der Ästhetisierung der Lebenswelt.<br />

Die reale Kunstentwicklung <strong>und</strong> die <strong>Ästhetik</strong> bewegen sich daher stets im<br />

Überschneidungsbereich der Genese der Staaten <strong>und</strong> des politischen Denkens, der<br />

Problematik, <strong>für</strong> die jeweiligen politischen Ordnungen die dazu passenden Subjektformen<br />

schaffen zu helfen <strong>und</strong> der Eigendynamik der Kunstentwicklung: Weder die Künste noch die<br />

<strong>Ästhetik</strong> sind politisch unschuldig. Der „Zuständigkeitsbereich“ der Künste war – neben den<br />

sozialen Funktionen der Gemeinschaftsbildung <strong>und</strong> der Schaffung entsprechender Symbole –<br />

die Beeinflussung der Mentalität, also der Zugriff auf die Köpfe <strong>und</strong> Herzen der Menschen.<br />

Auch hier zeigt sich: Der politische Gebrauch des Mediums der Künste kann nur im<br />

Zusammenhang mit der <strong>Pädagogik</strong> gesehen werden. Denn die Konstitution der jeweils<br />

benötigten Subjektformen hat der moderne Staat immer weniger dem Selbstlauf überlassen<br />

(vgl. Fuchs 2008), <strong>Kulturpolitik</strong> kann daher – zusammen mit der Bildungspolitik – als<br />

Mentalitätspolitik verstanden werden:<br />

„Der Staat wendet sich nicht einfach an schon vorhandene <strong>und</strong> gegebene Subjekte des<br />

Willens, sondern sein erstes Ansinnen geht darauf, sich die rechten Subjekte, an die sein Ruf<br />

ergeht, zu schaffen.“ (So E. Cassierer zu Rousseau; zitiert nach Eagleton 1995, S. 26). Kunst<br />

<strong>und</strong> das Ästhetische werden so zu Feldern der Habitus- <strong>und</strong> Mentalitätsentwicklung, bei der<br />

die Werteerziehung <strong>und</strong> das passende Verhalten im Mittelpunkt steht. Vor diesem<br />

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Hintergr<strong>und</strong> wird dann auch verständlich, dass selbst maßgeschneidert auf die kapitalistische<br />

Wirtschaft angepasste Sozialtheorien wie der Utilitarismus kritisiert werden, weil sie diese<br />

Funktion als Wertelieferant nicht erfüllen können (so etwa J.St. Mill gegen Bentham;<br />

Eagleton 2005, S. 68). Es gehört daher nicht nur spätestens seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zu den<br />

gängigen Legitimationsformeln, mit dieser Rolle der „Wertschöpfung“ durch Kunst<br />

Kulturausgaben zu begründen (<strong>und</strong> damit <strong>Kulturpolitik</strong> zu betreiben; vgl. Wagner 2009),<br />

sondern dies spielt auch in den Begründungen <strong>für</strong> eine ästhetische Bildung im öffentlichen<br />

Schulwesen eine wichtige Rolle (siehe Artikel „ästhetische Bildung/Erziehung“ von U.<br />

Franke in Barck 2000, Bd. 1).<br />

Zum Kunstbegriff in der <strong>Pädagogik</strong><br />

Dass <strong>Pädagogik</strong> eine praktische Kunst <strong>und</strong> Erziehungswissenschaft daher eine Kunstlehre ist,<br />

ist seit Jahrh<strong>und</strong>erten ein legitimer Ansatz. Bis heute lebt ein solches Verständnis, wenn etwa<br />

von einer „Kunst der Schule“ (Liebau in Bilstein/Kneip 2009) die Rede ist <strong>und</strong> es dabei zwar<br />

auch um die Möglichkeit von Kunst in der Schule, aber eben auch um die Kunst des<br />

Schulemachens geht. Diese Redeweise ist durchaus sinnvoll. Denn aufgr<strong>und</strong> des<br />

Technologiedefizites in der <strong>Pädagogik</strong> – also der Unmöglichkeit einer linearen Ableitung von<br />

Handlungsleitungen aus der Theorie – braucht man die reflektierte Praxis. Die Assoziation<br />

mit dem vormodernen Kunstbegriff als regelgeleitetes Handeln liegt daher nahe. Diesen<br />

Ansatz, der an den handwerklichen Aspekt jeglichen professionellen Handelns erinnert, erhält<br />

einen starken Rückhalt durch das letzte Buch von Richard Sennett (2008), der – in wie immer<br />

etwas nostalgischer Gr<strong>und</strong>stimmung – an das notwendige Können erinnert <strong>und</strong> gegen die in<br />

der Antike <strong>und</strong> auch bei seiner Lehrerin Hannah Arendt (1960) zu findenden Geringschätzung<br />

eines praktischen herstellenden Tuns an argumentiert. Sein Begriff von „Handwerk“ ist dabei<br />

so weit angelegt, dass Musizieren darunter fällt. Auch die „Kunst des Schulemachens“ passt<br />

ohne Widersprüche in dieses Konzept.<br />

Eine zweite Bedeutung von Kunst findet sich in der postmodernen Wende in der <strong>Pädagogik</strong>,<br />

wo – analog zu ähnlichen Paradigmenwechseln in anderen Disziplinen – eine Abkehr von<br />

oder zumindest eine starke Relativierung eines scientistischen Wissenschaftsideals stattfand<br />

<strong>und</strong> man dagegen ästhetische (etwa narrative) Methoden vorschlug: Kunst als Paradigma, das<br />

„das Andere der Vernunft“ in den Vordergr<strong>und</strong> stellt. Die letzte Arbeitsperiode von Klaus<br />

Mollenhauer wäre hier als Beispiel zu nennen.<br />

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Ein drittes Feld sind die Kunstbegriffe (Theater, Tanz, Bildende Kunst, Musik, Literatur), so<br />

wie sie den entsprechenden Unterrichtsfächern zugr<strong>und</strong>e liegen. Hier findet man eine<br />

umfangreiche explizite Beschäftigung mit <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsttheorie</strong>, wobei man sogar<br />

gelegentlich den Eindruck hat, dass diese Fragen in den entsprechenden Seminaren <strong>und</strong><br />

Schriften mehr Interesse finden als didaktisch-methodische Fragen. Interessant ist natürlich<br />

auch eine Analyse des Kunstverständnisses in den Lehrplänen der künstlerischen Fächer.<br />

Auch in der außerschulischen Kulturpädagogik finden sich theoretische Arbeiten zur Kunst<br />

<strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> (BKJ 1996).<br />

Ein letztes Feld sind pädagogische Erwägungen von <strong>Ästhetik</strong>ern <strong>und</strong> Kunsttheoretikern. Die<br />

unmittelbare Anschlussfähigkeit ästhetischer Reflexionen an pädagogische Überlegungen<br />

ergibt sich dabei schon alleine daraus, dass die <strong>Ästhetik</strong> im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert mit der Wende<br />

zum Subjekt entstanden ist (Ferry 1992, S. 32ff.).<br />

Insgesamt ergibt sich hier ein noch weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld, insbesondere<br />

in Hinblick auf die impliziten <strong>Kunsttheorie</strong>n in der Praxis. Ohne Anspruch auf Systematik<br />

oder gar Vollständigkeit will ich einige Überlegungen zu Einzelbereichen vorstellen. Um bei<br />

dem letztgenannten Bereich zu beginnen, liegen Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung“<br />

nahe. In der Tat ist Schillers kunsttheoretische Schrift bis heute bedeutsam. Sie gilt als das<br />

meistkommentierte philosophische Buch <strong>und</strong> findet in aktuellen <strong>Ästhetik</strong>-Darstellungen (z.B.<br />

Gethmann-Siefert 1995, Eagleton 1994) große Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit gilt<br />

dem Werk dabei nicht bloß aufgr<strong>und</strong> seiner zweifellos vorhandenen historischen Bedeutung –<br />

etwa als Gr<strong>und</strong>lagenbuch der Romantik (Safranski 2007). Es wird bis heute als aktuelle<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> eine emanzipatorische <strong>Kulturpolitik</strong> (Herrmann Glaser; s. o.) <strong>und</strong> die<br />

<strong>Pädagogik</strong> gehalten. Theater- <strong>und</strong> Spielpädagogik sowie die frühkindliche <strong>Pädagogik</strong> zitieren<br />

immer die Stelle, dass der Mensch nur dort Mensch sei, wo er spielt. Ist Schiller also ein<br />

pädagogisierender Künstler <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong>er? In der Tat kann der Erziehungsbegriff im Titel zu<br />

dieser Annahme führen. Bei näherer Beschäftigung wird man jedoch sehen, dass es keine<br />

Methodik-Didaktik <strong>für</strong> einen Umgang mit Kunst ist. Es ist auch nicht als ästhetik-immanente<br />

Schrift gedacht. Man kann diesen Text vielmehr als Beitrag zur politischen Philosophie lesen,<br />

in dem ein Ausweg aus der damals schon erkennbaren Misere der Moderne gesucht wird: Es<br />

geht um ein anderes Gesellschaftsmodell, in dem der Mensch in seiner Fülle seiner<br />

Möglichkeiten sich entfalten kann <strong>und</strong> in dem die Zerrissenheit der Moderne (v.a.<br />

Sinnlichkeit/Verstand) überw<strong>und</strong>en wird. Es geht um Freiheit <strong>und</strong> Emanzipation auf der Basis<br />

einer Gesellschaftsdiagnose der Entzweiung. Das macht das Buch bis heute interessant <strong>für</strong><br />

<strong>Ästhetik</strong>er <strong>und</strong> Sozialphilosophen. Aber auch die <strong>Pädagogik</strong> nutzt es als aktuelle Schrift.<br />

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Yvonne Ehrenspeck (1998, Kap. 2) analysiert es umfassend als Schlüsselwerk der Moderne,<br />

das geradezu repräsentativ ist <strong>für</strong> die Situation um 1800. Hier geht es um die Überschneidung<br />

zweier Bewegungen: Die „Umstellung der philosophischen Reflexion auf ein<br />

bewusstseinsphilosophisches Paradigma <strong>und</strong> einer sozialgeschichtlichen Differenzierung, die<br />

u. a. zu einer Neubestimmung der Rolle des Künstlers <strong>und</strong> der Kunst führt“ (275). Trotz des<br />

Erziehungsbegriffs im Titel ist Schillers Text letztlich ein antipädagogische Buch. Denn die<br />

Intention, den Menschen zur Freiheit zu führen, leistet die Kunst selbst ohne pädagogische<br />

Vermittlung <strong>und</strong> Anleitung. Wilfried Noetzel (1992) schreibt ein Plädoyer <strong>für</strong> die Aktualität<br />

von Schillers „moderner Umgangs- <strong>und</strong> Geschmackspädagogik“ (so der Untertitel). Er tut<br />

dies in Kenntnis der Kritik der idealistischen Autonomieästhetik in den 1970er Jahren (Müller<br />

u.a. 1972; Bürger 1983). Und er wehrt sich gegen eine s. E. ungerechtfertigte<br />

Inanspruchnahme von Schiller durch hedonistische <strong>und</strong> antipolitische Strömungen in der<br />

Freizeit- oder Kulturpädagogik:<br />

„Ihr Ansatz (bezogen auf die Konzeption Schillers; M.F.) nicht nur bei der Sensualität,<br />

sondern gerade bei der Reflexivität des Ästhetischen, die Dialektik von Glück <strong>und</strong> Unglück,<br />

Schönheit <strong>und</strong> Erhabenheit, das Humanitätsideal vom geselligen Menschen mit aufrechtem<br />

Gang, der im Umgang mit anderen Freiheit gewährt <strong>und</strong> Freiheit zeigt, – all dies könnte der<br />

abermaligen Fluchttendenz in die ästhetische Idylle entgegenarbeiten, die Ausrichtung auf den<br />

humanistisch-demokratischen Universalismus der Sehnsucht <strong>und</strong> Sinnstiftung<br />

entgegenkommen“ (206).<br />

Mollenhauer wurde schon mit seiner Erinnerung an die „vergessene Dimension des<br />

Ästhetischen“, hier in Einklang mit von Hentig, Rumpf <strong>und</strong> anderen, erwähnt. In seiner Studie<br />

zu den „Gr<strong>und</strong>fragen ästhetischer Bildung“ (1996) expliziert er sein Kunstverständnis, bei<br />

dem er bewusst <strong>für</strong> ein engeres <strong>Ästhetik</strong>konzept plädiert – also nicht unter <strong>Ästhetik</strong> die<br />

sinnliche Erfahrung schlechthin versteht: Es geht vielmehr um die Erfahrung mit als<br />

„gelungen“ klassifizierten Objekten des modernen Kunstbetriebs (S. 192): Schubert, Saint-<br />

Saéns, Bach; Bacon, Velazquez, Klee u.a.).<br />

Im obigen Kapitel über <strong>Ästhetik</strong> bin ich von dem einfachen Schema Subjekt – Tätigkeit –<br />

Objekt ausgegangen. Im Hinblick auf Kunst kann es bei dem Subjekt um Produktion oder<br />

Rezeption gehen, sodass hier die Produktions- bzw. Rezeptionsästhetik ins Spiel kommt. Die<br />

Auseinandersetzung mit Kunstwerken greift auf eine Werkästhetik zurück. Alle drei Aspekte<br />

spielen auch im Pädagogischen eine Rolle: Die Werk- <strong>und</strong> Rezeptionsästhetik bei der<br />

Auseinandersetzung mit der ästhetischen Kultur, die Produktionsästhetik dort, wo es um<br />

eigenkünstlerische Aktivitäten geht. In der <strong>Pädagogik</strong> steht das Subjekt im Mittelpunkt. Zwar<br />

spielen bei der Erarbeitung von Lehrplänen auch Epochen der jeweiligen Kunstentwicklung<br />

(<strong>und</strong> damit werkästhetische Aspekte) eine Rolle, doch sollte es in der Schule, in jedem Fall<br />

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C:\Winword\Buch\Die Künste <strong>und</strong> ihre Theorien in der Praxis\Kunst als kulturelle Praxis\komplett Stand 09.12.10.doc<br />

aber in der außerschulischen Kulturarbeit um eine eigene künstlerische Praxis gehen. Das<br />

Performative – zur Zeit hochaktuell im Rahmen einer „<strong>Ästhetik</strong> des Performativen“ (Fischer-<br />

Lichte 2006) – spielt dabei nicht nur in den „performing arts“ (Musik, Tanz, Theater) eine<br />

Rolle, sondern kann als übergreifendes Prinzip gesehen werden. Damit hat man die dritte der<br />

oben genannten Kategorien – die Tätigkeit als Vermittlungskategorie zwischen Subjekt <strong>und</strong><br />

Objekt – zu ihrem Recht gebracht. Im Hinblick auf die zentrale Rolle des Subjekts ist es daher<br />

plausibel, dass subjektbezogene Kategorien der <strong>Ästhetik</strong> eine besondere Rolle spielen:<br />

ästhetische Erfahrung, ästhetisches Empfinden, Urteilsbildung, Wahrnehmung. In<br />

pädagogischen Kontexten spielen daher solche <strong>Ästhetik</strong>en eine größere Rolle, die diese<br />

subjektbetonenden Aspekte hervorheben, z. B. phänomenologische Ansätze. Bei einer<br />

Durchsicht entsprechender Bücher fällt auf, dass unter den lebenden <strong>Ästhetik</strong>ern zwei Namen<br />

häufig vorkommen: bis in die 1990er Jahre <strong>und</strong> der seinerzeitigen Postmoderne-Debatte war<br />

Wolfgang Welsch der zentrale Stichwortgeber, heute ist es Martin Seel. Daneben gibt es<br />

natürlich <strong>für</strong> jede Sparte eigene GroßtheoretikerInnen. Es gibt dabei eine lange Tradition im<br />

Bereich der schulischen Kunsterziehung. Alle Didaktiken setzen sich mit der realen<br />

Entwicklung <strong>und</strong> dem theoretischen Verständnis von Bildender Kunst auseinander.<br />

Auch in der schulischen Musikpädagogik hat die Beschäftigung mit musiktheoretischen<br />

Fragen eine lange Tradition. Ein Gr<strong>und</strong> hier<strong>für</strong> besteht darin, dass es zahlreiche<br />

HochschullehrerInnen gibt, die ihre Ausbildungstätigkeit bei angehenden Lehrern ohne<br />

theoretische Reflexion kaum ausüben können. Mir scheint allerdings, dass <strong>Kunsttheorie</strong> in der<br />

Kunsterziehung eine größere Rolle spielt als in der Musik. Eine deutlich wahrnehmbare<br />

dynamische Entwicklung erfährt das Schulfach Theater, das in immer mehr B<strong>und</strong>esländern<br />

eingeführt wird. Hier entstehen neue Ausbildungsstätten, die sich auch intensiv um<br />

Theoriefragen kümmern. Zu nennen ist etwa die Universität Erlangen mit ihrem<br />

Interdiziplinären Zentrum Ästhetische Bildung (mit einer eigenen Schriftenreihe „<strong>Ästhetik</strong><br />

<strong>und</strong> Bildung“). Zahlreiche Schriften r<strong>und</strong> um Eckart Liebau, darunter auch akademische<br />

Qualifikationsarbeiten, befassen sich nicht nur mit der Praxis, sondern auch mit der Theorie<br />

des Schultheaters.<br />

Im außerschulischen Bereich gab es lange Zeit sehr wenig an kunsttheoretischer Reflexion.<br />

Berühmt ist der Streit mit Adorno, der die Laienmusikbewegung wegen ihrer mangelnden<br />

Qualität in den 1960er Jahren heftig kritisierte: Das „Musische“ war die Hintergr<strong>und</strong>theorie<br />

der damaligen Praxis. Und dieses Musische hatte wenig mit der aktuellen Entwicklung in der<br />

Musik <strong>und</strong> in der Musikphilosophie zu tun. In den letzten Jahren gibt es auch im<br />

außerschulischen Bereich eine deutliche Professionalisierung in der Ausbildung. Es gibt<br />

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zahlreiche Hochschullehrerstellen – meist an Fachhochschulen – im Bereich der Jugend- <strong>und</strong><br />

Sozialarbeit, die sich um die künstlerischen Praxen in den verschiedenen Sparten kümmern.<br />

Es gibt übergreifende Auseinandersetzungen mit der <strong>Ästhetik</strong> (wie etwa in<br />

Kuckherrman/Jäger 1985). Auch hier scheint mir die Theaterpädagogik am ambitioniertesten<br />

in ihrer Theoriearbeit zu sein, zumal es mit den „Korrespondenzen“ auch eine da<strong>für</strong> offene<br />

Zeitschrift gibt. Es gibt zudem Lexika <strong>und</strong> Handbücher, die theatertheoretische Fragen mit<br />

behandeln. Wichtig sind zudem akademische Qualifizierungsarbeiten, die von ihrer Funktion<br />

her zur Berücksichtigung von ästhetischen <strong>und</strong> theatertheoretischen Gr<strong>und</strong>lagen verpflichtet<br />

sind. Es finden Theoriesymposien statt (Lenakakis/Nickel 2002), bei denen ein breites<br />

Spektrum traditioneller, postmoderner <strong>und</strong> avantgardistischer Kunst- <strong>und</strong> Theatertheorien<br />

vorgestellt werden. Und natürlich nimmt man aktuellste Entwicklungen in der <strong>Ästhetik</strong> zur<br />

Kenntnis, zu denen es sogar aufwändige Schwerpunkte in Sonderforschungsbereichen (SFB)<br />

gibt (etwa zur <strong>Ästhetik</strong> des Performativen“, Ltg. E. Fischer-Lichte, als Teil des SFB<br />

„Kulturen des Performativen“).<br />

Man kann also feststellen, dass zumindest im akademischen Feld der Kulturpädagogik ein<br />

aktueller <strong>Ästhetik</strong>-Diskurs gepflegt wird. Allerdings gehört hierzu das Faktum der Pluralität<br />

von Ansätzen <strong>und</strong> Theorien. Auch auf der Ebene der Verbände in der Kulturpädagogik gibt es<br />

einen nennenswerten Bezug zur „<strong>Ästhetik</strong>“. So hat der Dachverband B<strong>und</strong>esvereinigung<br />

Kulturelle Kinder- <strong>und</strong> Jugendbildung (BKJ) im Jahr 1996 einen großen Kongress „<strong>Ästhetik</strong><br />

in der kulturellen Bildungsarbeit“ (BKJ 1996) durchgeführt, bei dem aus der Sicht der Kunst-,<br />

Theater-, Tanz- <strong>und</strong> Musikpädagogik Reflexionen zur <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> jeweiligen <strong>Kunsttheorie</strong><br />

vorgestellt wurden. Eine Folge war u.a. ein mehrjähriges Projekt zur Lebenskunst, ebenfalls<br />

deutlich ästhetisch unterfüttert in großer Nähe zu Konzeptionen einer Individualethik, in der<br />

Fragen des guten, glücklichen <strong>und</strong> gelingenden Lebens thematisiert werden. Auch hierbei war<br />

Martin Seel (1995, 1996) ein wichtiger Stichwortgeber.<br />

Eine Konsequenz aus diesen Projekten war die Entwicklung des Kompetenznachweises<br />

Kultur (KNK), der wiederum eine starke kunsttheoretische Verankerung hat (Timmerberg/<br />

Schorn 2009).<br />

Eine umfassende Definition von ästhetischer Bildung versucht, all diese Aspekte<br />

aufzugreifen:<br />

„Ästhetische Bildung umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der<br />

Bildung durch kulturelle Aktivitäten <strong>und</strong> Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst <strong>und</strong><br />

Kultur, Ausdifferenzierung von Wahrnehmungsformen <strong>und</strong> Geschmacksbildungen, die<br />

Befähigung zu Bewegung, Spiel <strong>und</strong> Geselligkeit, zu ästhetischer Urteilskraft, zu Imagination<br />

<strong>und</strong> Kritik, die Erschließung von (neuen) Ausdrucksformen <strong>und</strong> Handlungsperspektiven <strong>und</strong><br />

die Reflexion künstlerischer <strong>und</strong> kultureller Prozesse. Ästhetische Bildung ist zugleich ein<br />

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aisthetischer, kognitiver, imaginativer, körperlich-leiblicher <strong>und</strong> performativer Prozess.<br />

Ästhetische Bildung ist Gr<strong>und</strong>bildung.“ (Liebau/Zierfass 2007, S. 10).<br />

Es hat sich dabei in den letzten Jahren eine rege Forschungstätigkeit entwickelt, die den<br />

einzelnen in dieser Definition genannten Bestimmungen nachgeht. Dabei wird es in Zukunft<br />

darauf ankommen, nicht mehr unspezifisch von ästhetischer bzw. kultureller Bildung zu<br />

sprechen, sondern vielmehr sehr genau zu unterscheiden, wer was unter welcher<br />

institutionellen Bedingung mit welcher Kunstform wie lange mit wem in Verbindung bringt.<br />

Insbesondere wird es um die Klärung dessen gehen, was ästhetisches Lernen in den<br />

verschiedenen Kunstsparten <strong>und</strong> institutionellen Zusammenhängen jeweils heißt (Fuchs<br />

2011).<br />

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Schlussbemerkung<br />

Zur Rolle der Künste <strong>und</strong> der <strong>Ästhetik</strong> in der Kultur der Moderne<br />

Überlegungen <strong>und</strong> Analysen zur Kultur der Moderne werden rasch zur Kulturkritik der<br />

Moderne (Bollenbeck 2007). In der Tat fällt eine Bewertung der Moderne ambivalent aus.<br />

Einerseits hat es die proklamierte Befreiung des menschlichen Geistes von weltanschaulichen<br />

<strong>und</strong> v.a. religiösen Fesseln tatsächlich gegeben. Seit dem Ausgang des Mittelalters hat das<br />

Wissen über den Menschen <strong>und</strong> die Welt in unvorstellbarer Weise zugenommen. Natürlich<br />

basierte diese Wissensexplosion auf geistigen Gr<strong>und</strong>lagen, wie sie bereits im Mittelalter –<br />

etwa mit alternativen Auffassungen von Raum, Zeit <strong>und</strong> Bewegung – vorgedacht waren.<br />

Selbst <strong>für</strong> eine zentrale Denkfigur der Moderne, die Idee einer autonomen individuellen<br />

Persönlichkeit, gibt es Vorläufer, etwa in den Bekenntnissen von Augustinus. Auch die<br />

Tatsache, dass Wissenschaft (<strong>und</strong> Philosophie) eine Gruppe theoriefähiger <strong>und</strong> von der<br />

Alltagsarbeit freigestellter Menschen braucht, wurde im Mittelalter angebahnt. Und nicht<br />

zuletzt geschah die Genese der neuen Naturwissenschaft bei fast allen Beteiligten gerade nicht<br />

in dem Glauben, etwas A-Religiöses zu tun. Im Gegenteil: Es waren z. T. tiefgläubige<br />

Menschen, die ihre Erkenntnisarbeit als Dienst an Gott, als Gottesdienst betrachteten. So<br />

gesehen war die wissenschaftliche Revolution zunächst einmal nur ein konsequentes<br />

Weiterdenken vorliegender Ansätze. Und trotzdem führte die Entwicklung dazu, dass der alte<br />

Glaube des Mittelalters <strong>und</strong> seine tragenden Institutionen in Bedrängnis gerieten. Es setzte<br />

sich die Idee einer autonomen Persönlichkeit, die ein Recht auf Freiheit, auf Wissen ohne<br />

Bevorm<strong>und</strong>ung, auf eigene, selbstverantwortete Entscheidungen hat, <strong>für</strong> immer größere Teile<br />

der Bevölkerung durch. Vernunft wurde das Leitprinzip ebenso wie Fortschritt oder<br />

Aufklärung. Es war, wie Kant später sagte, der „Ausgang des Menschen aus seiner<br />

selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die Mechanisierung des Weltbildes veränderte die<br />

Auffassung von Religion. Der Deismus, der Gott zwar noch als Schöpfer einer gut<br />

funktionierenden Welt-Konstruktion betrachtete, die jedoch – <strong>und</strong> das ist das Entscheidende –<br />

so gut gelungen war, dass keine weiteren Eingriffe mehr möglich <strong>und</strong> nötig waren, war ein<br />

entscheidender Schritt zur Säkularisierung. Auch die Reformation muss als ein solcher Schritt<br />

gesehen werden, da nunmehr das christliche Monopol auf Weltdeutung im eigenen Bereich in<br />

eine Konkurrenzsituation geriet. Gibt es aber zwei Alternativen, aus denen man wählen kann,<br />

kann man nicht mehr so gut Argumente gegen weitere Deutungsmöglichkeiten vorbringen.<br />

Zur Moderne gehört auch die Idee, später: der Wahn der Machbarkeit, gehört zweckrationales<br />

Denken, wie es die großen Soziologen – Max Weber an der Spitze – analysiert haben. Es<br />

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gehörten Entfremdung <strong>und</strong> Entzweiung dazu, wie es schon Thema der Philosophie in der<br />

zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts war. Urheber dieser Idee der Entzweiung war natürlich<br />

Descartes mit seiner Aufteilung in eine res cognitans <strong>und</strong> eine res extensa. Bei ihm durchaus<br />

als „Trick“ verwendet, um die Gestaltungsfreiheit Gottes in einem Bereich zu erhalten, wobei<br />

der zweite Bereich durch vom Menschen erforschbare Gesetzmäßigkeiten geregelt wird. Doch<br />

war damit die Zerrissenheit in eine Welt des Sinnlichen <strong>und</strong> eine Welt des Geistigen gegeben,<br />

was später zu einer Sehnsucht nach einer neuen Ganzheitlichkeit führte. Rousseau hat<br />

massenwirksam die Zivilisation nicht als mehr Fortschritt gedeutet, sondern als Quelle allen<br />

Übels gegeißelt.<br />

Die Kultur der Moderne in ihrer Entwicklungsrichtung als Aufklärung kann – ganz so, wie es<br />

Horkheimer/Adorno formuliert haben – nur in ihrer Dialektik erfasst werden. Und trotzdem<br />

wird kaum jemand heute freiwillig auf Selbstbestimmung, auf das Recht auf Erkenntnis <strong>und</strong><br />

Entwicklung verzichten, wird Glauben an die Stelle von Wissen gesetzt sehen wollen.<br />

Die Romantik war die erste große Gegenbewegung. Später dominierten durchaus<br />

antizivilisatorische <strong>und</strong> reaktionäre Tendenzen. Doch anfangs waren viele ihrer Vertreter auf<br />

der Seite der politischen Reform <strong>und</strong> sogar in die Vorbereitungen der frühen bürgerlichen<br />

Revolutionen in Deutschland involviert. Die frühen Romantiker wandten sich sogar gegen<br />

Goethe <strong>und</strong> Schiller, weil diese den Fortschritt in ihren Augen mit ihren reformorientierten<br />

Vorschlägen eher bremsen wollten. Goethe galt vielen als „Fürstenknecht“, der letztlich die<br />

politischen Ideale der Aufbruchbewegung verraten hat. Die Romantik legte zudem den Finger<br />

in die W<strong>und</strong>e der Verkürzung der Sicht auf menschliches Leben, wie es die nur noch<br />

instrumentelle Vernunft mit sich bringt. Die sich durchsetzende bürgerliche kapitalistische<br />

Gesellschaft, die auf zweckrationalem Denken beruht <strong>und</strong> dieses in immer weiteren Feldern<br />

der Gesellschaft durchgesetzt hat, brachte zwar ungeahnte Produktionsfortschritte, brachte<br />

allerdings auch neues Elend. Immerhin, so Marx, lernten die ehemaligen Bauern in den<br />

Fabriken nicht nur eine neue Arbeitsdisziplin, die den Kapitalisten nutzte: Sie lernten auch,<br />

diese Disziplin in der Organisation ihrer eigenen Interessen umzuwandeln.<br />

Eine radikale Aufklärungs- <strong>und</strong> Vernunftkritik gibt es bis heute. Und stets sind Denkfiguren,<br />

wie sie in der Romantik formuliert werden, anzutreffen: Die Suche nach Ganzheitlichkeit,<br />

nach Alternativen zur Vernunft, nach Expressivität <strong>und</strong> Gefühl. Jeder, der heute über erfülltes<br />

Leben nachdenkt, tut dies in Kategorien der Romantik (so auch Taylor 1996, 872). Taylor<br />

weist in seinen beiden fulminanten Studien (1996 <strong>und</strong> 2009) nach, dass weder die radikalen<br />

Vernunftbe<strong>für</strong>worter noch die radikalen Vernunftgegner ihre Position widerspruchsfrei<br />

durchhalten können. Bei den Anhängern der Vernunft werden früher oder später geistige<br />

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Ressourcen – etwa die Idee des Guten – genutzt, auf die man eigentlich verzichten wollte,<br />

weil sie nicht „vernünftig“ zu begründen sind. Ebenso ist die Vernunftkritik nicht<br />

widerspruchsfrei zu denken, da auch Gegenpositionen zur Vernunft deren Mittel <strong>und</strong><br />

Denkformen verwenden – von den politischen Folgen, die im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert zu erleben<br />

waren, ganz zu schweigen.<br />

Natürlich spielen die Künste in diesem Prozess eine entscheidende Rolle:<br />

� Sie bilden einen sich ausdifferenzierenden Gesellschaftsbereich, der sich zunehmend<br />

autonomisiert <strong>und</strong> somit Teil des globalen Entwicklungsprozesses der Moderne wird.<br />

� Sie sind Teil einer entstehenden Öffentlichkeit, die es in dieser Form im Mittelalter nicht<br />

gab, <strong>und</strong> übernehmen so eine zentrale politische Funktion.<br />

� Sie artikulieren auf ihre Weise die Positionen r<strong>und</strong> um die Vernunft – pro <strong>und</strong> kontra –<br />

<strong>und</strong> tragen so zu einem breiten Diskurs bei.<br />

� Sie verwenden (<strong>und</strong> verbreiten) die neuen Denkformen in ihren eigenen ästhetischen<br />

„Konstruktionsprinzipien“.<br />

� Sie werden zu Hoffnungsträgern utopischer Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen<br />

<strong>und</strong> von immer mehr Menschen als Ersatz <strong>für</strong> Religion gesehen bzw. von Theoretikern<br />

der Romantik zu einer Religionsalternative hochstilisiert („Kunstreligion“, so etwa bei<br />

Schelling).<br />

� Sie repräsentieren in den von immer mehr Menschen übernommenen ästhetischen<br />

Theorien – an erster Stelle ist hier Schiller zu nennen, der weit über Deutschland hinaus<br />

rezipiert wurde – die Vision, die Entzweiung <strong>und</strong> Zerrissenheit der Moderne aufzuheben<br />

<strong>und</strong> so zu einer neuen Synthese zu kommen. Damit sollen nicht nur <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> Ethik<br />

miteinander versöhnt werden: Gedacht war sogar an eine höhere Entwicklungsstufe.<br />

Der Einfluss von Kunst <strong>und</strong> <strong>Ästhetik</strong> im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert auf das geistige Leben kann<br />

kaum überschätzt werden, selbst wenn er sich nur auf Eliten bezog. Aber in vereinfachter<br />

Form wurden die Ideen von Schiller, Schopenhauer <strong>und</strong> später von Nietzsche auch in den<br />

populären Medien verbreitet. Dass die Großen der verschiedenen Disziplinen (M. Weber,<br />

Freud etc.) sich gründlich mit diesen Theorien auseinandergesetzt haben, ist ohnehin Faktum.<br />

Auch im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ist der Einfluss des Ästhetischen ungebrochen. Allerdings<br />

dominieren hier die negativen Wirkungen. So spricht man vom Ersten Weltkrieg als von<br />

einen „Kulturkrieg“, weil sich Franzosen <strong>und</strong> Deutsche auch mit ihren unterschiedlichen<br />

Vorstellungen von civilisation vs. KULTUR einander gegenüberstanden. Die unheilvolle<br />

Rolle von Künstlern während dieser Zeit, aber auch bei der erstmals von Benjamin im<br />

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Zusammenhang mit Nazi-Deutschland gebrauchten „Ästhetisierung von Politik“ ist bekannt.<br />

Die Annahme also, dass die Künste bzw. die Künstler per se zur Humanität führen, ist<br />

zumindest naiv.<br />

Der Anspruch auf ein sinnerfülltes gelingendes Leben ist heute unhintergehbar. Es scheint<br />

auch die Einsicht viele Anhänger zu haben, dass alleine die instrumentelle Vernunft <strong>und</strong> ihre<br />

Folgen in einem ungezügelten Marktliberalismus die gewünschte Erfüllung auf Dauer nicht<br />

bringt. Das „Projekt des guten Lebens“ wird zu dem zentralen individuellen (<strong>und</strong> dann auch<br />

gesellschaftlichen) Projekt <strong>für</strong> jeden von uns. Es ist dabei klar, dass die Künste mit ihren<br />

spezifischen Möglichkeiten hierbei eine Rolle spielen (können). Ein Leben ohne Künste ist<br />

unvollständig. Ob aber die Künste all die Hoffnungen einlösen, die ein stark ideologischer<br />

kunstreligiöser Diskurs in sie setzt, darf bezweifelt werden. Die Künste in unserem<br />

Verständnis sind vielmehr selbst Kinder der Moderne: Sie zeigen neue Möglichkeiten, sie<br />

zeigen Alternativen zu einem zweckrationalen Leben, sie sind Medien der Kontingenz. Es<br />

gibt allerdings auch <strong>für</strong> sie die Ambivalenz, die die Moderne insgesamt charakterisiert. Damit<br />

wecken sie nicht nur Hoffnungen auf ein anderes Leben, sie zeigen darüber hinaus auch<br />

Möglichkeiten ihrer Realisierung auf. Damit sind Erwartungen bei uns geweckt, die – einmal<br />

vorhanden – unhintergehbar sind. Wie alle „Kinder der Moderne“ lassen uns die Künste<br />

jedoch in einem entscheidenden Augenblick alleine, reichen dann nicht mehr aus, die von<br />

ihnen geweckten Hoffnungen alleine mit ihren Möglichkeiten einzulösen: Das Leben ist<br />

unvollständig ohne Künste, zweifellos. Das Leben reicht letztlich aber weit über das hinaus,<br />

was Künste uns bieten: Die Kunst des Lebens ist mehr als Kunst, sie ist – mit den Worten von<br />

Brecht – die höchste aller Künste, der letztlich alles andere zu dienen hat.<br />

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