Belarus- - Internationales Bildungs
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K 46699, Nr. 42<br />
IBB<br />
<strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und<br />
Begegnungswerk<br />
LIebe LeserINNeN uNd Leser,<br />
es gibt Momente, da muss keine<br />
Redaktion diskutieren, was das<br />
Titelthema ist. Durch diese Ausgabe<br />
der <strong>Belarus</strong>-Perspektiven<br />
zieht sich wie ein roter Faden die<br />
Frage, wie die Chancen auf einen<br />
Dialog zwischen der EU und <strong>Belarus</strong><br />
stehen. Eine Frage, die durch<br />
geopolitische Ereignisse wie den<br />
Georgien-Konflikt und die neue<br />
Eiszeit zwischen Moskau und<br />
Washington einiges an Komplexität<br />
hinzugewonnen hat. Wir<br />
beginnen deshalb unsere Ausgabe<br />
mit einer Analyse der Situation,<br />
die den Titel „Hebt den Eisernen<br />
Vorhang auf!” trägt.<br />
Die belarussische Führung wird<br />
sich für diesen Dialog entscheiden,<br />
meint der <strong>Belarus</strong>-Experte Leonid<br />
Barsjuk in seinem Kommentar „PR<br />
und Außenpolitik” - doch zu welchem<br />
Preis? Hier vermischt sich<br />
die außenpolitische Richtungsentscheidung<br />
mit innenpolitischen<br />
Gegebenheiten, meint Barsjuk auf<br />
S. 4.<br />
Eine andere Entscheidung trieb<br />
monatelang die belarussischen<br />
Medien um: Wer baut es, das<br />
neue Atomkraftwerk? Drei Firmen<br />
waren im Rennen, nun hat die<br />
Ausschreibung selber das Zeitliche<br />
gesegnet. Warum, erklärt unsere<br />
Autorin Marina Rachlej auf S. 7.<br />
Die belarussischen Parlamentswahlen<br />
waren eigentlich zum<br />
Herbst 2008<br />
<strong>Belarus</strong>-<br />
Perspektiven<br />
„Lackmustest” der Beziehungen<br />
zum Westen erklärt worden. Anfang<br />
Oktober war es soweit. Das<br />
Ergebnis ließ unseren Autoren<br />
Pauljuk Bykowskij relativ kalt.<br />
Spannender fand er die nationalen<br />
und internationalen Reaktionen,<br />
die zeigen, dass sich in und um<br />
<strong>Belarus</strong> etwas tut. Lesen Sie „Die<br />
Tür bleibt offen” auf S. 10.<br />
Die Parlamentswahlen mögen ruhig<br />
verlaufen sein. Als drei Monate<br />
zuvor jedoch eine Bombe in Minsk<br />
explodiert war, rieb sich ganz<br />
<strong>Belarus</strong> ungläubig die Augen.<br />
Waren Ruhe und Stabilität nun<br />
vorbei? Nach den ersten hitzigen<br />
Reaktionen und Verhaftungen<br />
legte sich der Pulverdampf. Eine<br />
Analyse der Ereignisse, Versionen<br />
und Verschwörungstheorien bietet<br />
Walerij Dorochin auf S. 12.<br />
Für diese Ausgabe haben wir<br />
außerdem das wichtigste belarussische<br />
Rockfestival „Basowischtscha”<br />
und das Kulturfestival<br />
„GOOD-BY 2” besucht, das zeigt,<br />
wie lebendig belarussische Kulturprojekte<br />
sein können. Außerdem<br />
berichten wir in der Rubrik NGOs<br />
von mehreren Projekten und<br />
Veranstaltungen, die Austausch<br />
und Versöhnung möglich machen<br />
und stellen das erste Buch über<br />
den Architekten und Träger des<br />
Bundesverdienstkreuzes Leonid<br />
Lewin vor.<br />
Ihre Redaktion<br />
In dieser Ausgabe Seite<br />
Außenpolitik<br />
„Hebt den Eisernen Vorhang auf!” 2<br />
Neues Fernsehen 3<br />
PR und Außenpolitik 4<br />
„Nicht sehr optimistisch” 5<br />
Russischer Raketenschild 6<br />
Rom für Dialog 7<br />
Innenpolitik<br />
Und der Gewinner ist... 7<br />
Waffe im Anschlag 8<br />
Neue Gesichter 9<br />
Die Tür bleibt offen 10<br />
Explosion mit Folgen 12<br />
Wirtschaft<br />
Gasgeruch in der Luft 16<br />
<strong>Belarus</strong> goes Recycling 17<br />
Minsk-City in den Wolken 18<br />
Wird BeST wirklich besser? 19<br />
Benzinpreise in die Höhe 19<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
Journalisten in Deutschland 20<br />
„Brücken” zur Erinnerung 21<br />
3. Minsker Sommerschule 22<br />
Johannes Raus rote Kreuze 22<br />
Partnerschaftsprogramm Ukraine 23<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
Gute Laune trotz Visaknappheit 24<br />
GOOD-BY 2 wirbelt durch Berlin 25<br />
Ernte gut, alles gut? 26<br />
Publikationen<br />
„Akzeptierte Diktatur?“ 26<br />
Denkmäler gegen den Krieg 27<br />
Chronologie 14<br />
Impressum 16<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Nr. 42
Außenpolitik<br />
„Hebt den Eisernen Vorhang auf!”<br />
(Ms) die beziehungen zwischen belarus und dem Westen scheinen so entspannt wie seit zwölf Jahren<br />
nicht mehr. Kommen die Parlamentswahlen oder der Georgien-Konflikt dazwischen?<br />
Ende August setzte Alexander Lukaschenko<br />
seine Unterschrift unter<br />
ein Papier, das einen Durchbruch<br />
in den belarussisch-europäischen<br />
Beziehungen einläuten könnte:<br />
Die Begnadigung des Ex-Präsidentschaftskandidaten<br />
und Lukaschenko-Intimfeinds<br />
Alexander<br />
Kosulin, 52. Nur einige Tage darauf<br />
folgten die letzten politischen<br />
Gefangenen, Sergej Parsjukewitsch<br />
und Andrej Kim. Damit hatte Lukaschenko<br />
eine der wichtigsten<br />
Bedingungen von USA und EU<br />
für eine schrittweise diplomatische<br />
Annäherung erfüllt. In Europa<br />
äußerten daraufhin Diplomaten<br />
verhaltenen Optimismus über<br />
die gemeinsamen Beziehungen.<br />
Der deutsche Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier sprach<br />
von einem „wichtigen Schritt in<br />
Richtung rechtsstaatlicher Verhältnisse”,<br />
EU-Kommissarin Benita<br />
Ferrero-Waldner von einem „Zeichen<br />
der Hoffnung”. Bei ihrem<br />
Treffen Mitte September in Paris<br />
stellten die EU-Minister <strong>Belarus</strong><br />
sogar eine Aufhebung der Sanktionen<br />
in Aussicht, sollte die OSZE<br />
die Parlamentswahlen als gut<br />
bewerten und <strong>Belarus</strong> auf eine Anerkennung<br />
der abtrünnnigen georgischen<br />
Regionen Abchasien und<br />
Süd-Ossetien verzichten. Selbst die<br />
in Demokratiefragen sonst sehr<br />
kategorischen USA schickten ihren<br />
Sonderbeauftragten David Merkel<br />
nach Minsk, der eine Aufhebung<br />
der Wirtschaftssanktionen verkündete<br />
und eine Wiederaufnahme<br />
der diplomatischen Beziehung in<br />
Aussicht stellte. Merkel verband<br />
jedoch, wie seine europäischen<br />
Kollegen, eine weitere Verbesserung<br />
der Beziehungen mit dem<br />
Verlauf der Parlamentswahlen.<br />
Kurz darauf erschien auch zum<br />
ersten Mal seit langer Zeit wieder<br />
ein polnischer Außenminister<br />
in Minsk. Radoslaw Sikorski<br />
versprach eine Aufhebung der<br />
EU-Sanktionen „in den nächsten<br />
Wochen” und freute sich bereits<br />
für die polnische Wirtschaft auf<br />
„neue Perspektiven der Erschließung<br />
des belarussischen Marktes”.<br />
Lob von allen Seiten, Wohlwollen,<br />
diplomatische Annäherung – mit<br />
einem Wort: Mitte September<br />
herrschten optimale Bedingungen<br />
für den lange erwarteten Dialog<br />
zwischen <strong>Belarus</strong> und dem<br />
Westen. Sikorski machte zudem<br />
klar, dass der Slogan des „Lackmustests”<br />
allenfalls symbolische<br />
Bedeutung habe: „Natürlich sind<br />
die Wahlen wichtig”, meinte der<br />
polnische Chefdiplomat, „aber wir<br />
sind Realisten und erwarten nicht,<br />
dass die Wahlen allen Kriterien<br />
entsprechen werden.”<br />
Dann kamen die Parlamentswahlen,<br />
und alles kam tatsächlich<br />
so, wie von Sikorski vorhergesagt.<br />
Einige Beobachter waren zwar<br />
fest davon ausgegangen, dass es<br />
wenigstens eine Handvoll Oppositioneller<br />
ins Parlament schaffen<br />
würde. Das wäre, da war man sich<br />
weitgehend einig, das entscheidende<br />
Zeichen der Staatsmacht<br />
an den Westen gewesen: Seht her,<br />
wir sind guten Willens, jetzt gebt<br />
uns eine faire Chance. Gleichzeitig<br />
hätte die Staatsmacht mit drei, vier<br />
oppositionellen Kandidaten wohl<br />
kaum einen realen Machtverlust<br />
riskiert. Doch es kam anders:<br />
Am Tag nach der Wahl hatte es<br />
kein einziger Oppositioneller ins<br />
neue belarussische Parlament<br />
geschafft.<br />
OSZE und Menschenrechtler lobten<br />
dennoch verhalten, dass die<br />
Wahlen ohne staatliche Repressionen<br />
oder Propaganda abgelaufen<br />
seien. Auch die Leiterin der OSZE-<br />
Kurzzeit-Wahlbeobachter, Anne-<br />
Marie Lizin, erklärte, es habe „einige<br />
Verbesserungen” gegeben, wies<br />
jedoch darauf hin, dass die Wahlen<br />
insgesamt nach OSZE-Standards<br />
nicht demokratisch gewesen seien.<br />
Die Stimmenauszählung sei „in<br />
mehr als 50 Prozent der Fälle<br />
schlecht oder nicht zufriedenstellend”<br />
verlaufen, so Lizin vor<br />
Journalisten. Vorsichtig fügte Lizin<br />
am Tag danach im Gespräch mit<br />
Alexander Lukaschenko jedoch<br />
hinzu, dass Europa „Türen für den<br />
Dialog offen lassen” werde.<br />
Lukaschenko indes erwiderte<br />
der Diplomatin, dass die <strong>Belarus</strong>sen<br />
„eine Aufhebung aller<br />
Sanktionen erwarten”. „Hebt den<br />
Eisernen Vorhang auf”, forderte<br />
Lukaschenko und bezeichnete die<br />
Visabeschränkungen für <strong>Belarus</strong>sen<br />
im Vergleich zu Russen und<br />
Ukrainern als „Erniedrigung”.<br />
Eine realistische Prognose zur<br />
Anerkennung der Wahlen durch<br />
den Westen scheint aufgrund der<br />
vorsichtigen Äußerungen von Diplomaten<br />
wie Lizin oder Ferrero-<br />
Waldner schwierig. Zwischen den<br />
Zeilen kann man jedoch lesen, dass<br />
der Westen den Dialog keinesfalls<br />
aufs Spiel setzen will, auch wenn<br />
man sich mit der Anerkennung der<br />
Wahlen eventuell schwer tun wird.<br />
Jonathan Moore, Chargé d‘Affaires<br />
der USA in <strong>Belarus</strong>, wurde etwas<br />
deutlicher: Man werde, so Moore,<br />
den Dialog fortsetzen, auch wenn<br />
sich die Hoffnungen in Bezug auf<br />
die Wahlen nicht erfüllt hätten.<br />
Auch Javier Solana zeigte Gesprächsbereitschaft<br />
und lud für<br />
den 13. Oktober Außenminister<br />
Martynow nach Luxemburg zum<br />
Treffen seiner europäischen Kollegen<br />
ein. Die Zeichen stehen also<br />
weiter auf Dialog. Zum wirklichen<br />
Lackmustest wird wohl eher die<br />
Anerkennung der georgischen<br />
Teilrepubliken werden – und<br />
damit die Frage, wieviel Moskau<br />
Minsk dafür zahlen will. Alle<br />
blicken deshalb gespannt auf die<br />
nächsten anderthalb Monate.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Neues Fernsehen<br />
Im Juli hatte Agnieszka Romaszewska<br />
es geschafft. Die Belsat-Direktorin<br />
vom polnischen<br />
Staatsfernsehen erreichte endlich<br />
den heißersehnten Durchburch in<br />
den Verhandlungen mit den Sirius-Betreibern<br />
und konnte damit<br />
Kritiker aus <strong>Belarus</strong>, Polen und<br />
Westeuropa in ihre Schranken<br />
weisen. Vorher war Belsat nur<br />
über Astra zu erreichen gewesen,<br />
den lediglich sechs Prozent<br />
der belarussischen Besitzer von<br />
Satellitenantennen nutzen. Nun<br />
können bis zu 1,2 Millionen <strong>Belarus</strong>sen<br />
Belsat sehen oder zwölf<br />
Prozent der Gesamtbevölkerung.<br />
Um das neue Publikum an sich<br />
zu binden, wagt Belsat eine Reihe<br />
von neuen Programmformaten.<br />
Die Parlamentswahlen im Herbst<br />
motivierten die Programmmacher<br />
zusätzlich, neue Wege zu gehen.<br />
Einmal in der Woche ging vor<br />
den Wahlen „Eine Tasse Kaffee<br />
mit dem Kandidaten” auf Sendung,<br />
wo sich Politiker vorstellen<br />
und von ihrer Wahlkampagne<br />
erzählen konnten. Daneben bekam<br />
auch der Nachrichtenblock<br />
„Objektiv” einen neuen Anstrich<br />
und revolutionierte dabei den<br />
belarussischen Fernsehmarkt als<br />
erste Nachrichtensendung, die live<br />
ausgestrahlt wird. Mit 15 Minuten<br />
haben die Macher von „Objektiv”<br />
seit Juli nun auch doppelt soviel<br />
Zeit wie bisher und füllen sie mit<br />
Qualität: Experten kommentieren<br />
im Studio oder live per Telefon,<br />
Korrespondenten werden vor<br />
Ort zugeschaltet. Dabei konnten<br />
die Journalisten von Belsat ihren<br />
Zuschauern das bieten, was seriöse<br />
Wahlberichterstattung leisten<br />
muss: Sie zeigten die Kandidaten,<br />
schauten der Staatsmacht auf die<br />
Finger, verfolgten die Reaktionen<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
des Westens oder befragten Bürger<br />
auf der Straße.<br />
Neu ist auch der Sendeplan. Bis<br />
zum Sommer hatte Belsat im „Euronews”-Format<br />
gesendet, also<br />
sein relativ kurzes Programm in<br />
drei Blöcken am Tag wiederholt.<br />
Nun sendet Belsat durchgängig<br />
sechs Stunden, ohne Wiederholung.<br />
Grundlage für diese Neuerung<br />
ist die Zusammenarbeit<br />
mit der Deutschen Welle, deren<br />
Sendung „Europa Aktuell” Belsat<br />
auf <strong>Belarus</strong>sisch ausstrahlt. Hinzu<br />
gesellen sich weitere internationale<br />
Kooperationen, wie die litauisch<br />
finanzierte Talkshow „Forum”<br />
und die mit dem US-finanzierten<br />
Radio Free Europe / Radio<br />
Liberty produzierte „Woche mit<br />
Außenpolitik<br />
belsat, der erste unabhängige belarussische satellitenkanal, ist seit Juli auch über den satelliten sirius zu<br />
empfangen – und damit für 1,2 Millionen belarussen. um das neue Publikum an sich zu binden, schickt<br />
der sender neue Programmformate ins rennen. die Perspektiven sind vielversprechend, schreibt Wasilij<br />
Lepesch, Journalist bei belsat.<br />
Belsat-Direktorin<br />
Agnieszka Romaszewska<br />
will<br />
mit ihrem Kanal<br />
den staatlichen<br />
Medien „ernsthaft<br />
Konkurrenz<br />
machen”.<br />
naviny.by<br />
Radio Liberty”, so dass der Sender<br />
immer mehr zum internationalen<br />
Gemeinschaftsprojekt wird.<br />
Gleichzeitig bietet Belsat Kurse<br />
für Journalisten an, die die Regierungen<br />
von Großbritannien und<br />
Irland finanzieren, und bewirbt<br />
sich unter anderem für Projektmittel<br />
der Europäischen Union. Auch<br />
technisch will der Sender seine<br />
Vorreiterrolle ausbauen und in Zukunft<br />
sein gesamtes Programm als<br />
Live-Stream im Internet anbieten.<br />
So gelingt es Belsat, seinen Zuschauern<br />
eine inhaltlich hochwertige<br />
und technisch anspruchsvolle<br />
Alternative zu den belarussischen<br />
Staatsmedien zu bieten.<br />
www.belsat.eu
Außenpolitik<br />
PR und Außenpolitik<br />
Als Timothy Bell, seines Zeichens<br />
englischer PR-Agent für hochgestellte<br />
Politiker – er vertrat schon<br />
Größen wie Margaret Thatcher<br />
– vor einem halben Jahr seine<br />
Dienste Alexander Lukaschenko<br />
anbot, mag er kaum zu träumen<br />
gewagt haben, wie schnell die<br />
Beziehungen zwischen seinem<br />
Arbeitgeber und dem Westen<br />
sich verbessern würden. Vielleicht<br />
hat er es aber auch gespürt, denn<br />
Politik hat heutzutage mehr mit<br />
PR zu tun, als viele glauben. Bells<br />
selbstgestecktes Ziel, <strong>Belarus</strong> und<br />
der Welt einen „Lukaschismus mit<br />
menschlichem Antlitz” zu präsentieren,<br />
erfüllt er auf jeden Fall mit<br />
Bravour. Die Taktik ist denkbar<br />
einfach: Ohne das politische und<br />
wirtschaftliche System wirklich zu<br />
verändern, sollen Zugeständnisse<br />
an den Westen gemacht werden,<br />
die politischen Goodwill zeigen.<br />
Lukaschenko scheint der mögliche<br />
Durchbruch in den Beziehungen<br />
tatsächlich so wichtig zu sein, dass<br />
er nicht zu unterschätzende innen-<br />
und außenpolitische Risiken<br />
eingeht.<br />
uNeheLIcher Aber<br />
GeLIebter sOhN<br />
Zunächst einmal jedoch begann<br />
unter Bell eine wohldosierte innenpolitische<br />
Imagekampagne,<br />
zu deren Kern der außereheliche<br />
Sohn des Präsidenten erkoren<br />
wurde. Hatte die Öffentlichkeit<br />
vier Jahre lang schlichtweg nichts<br />
von der Existenz des kleinen Nikolaj<br />
gewusst, so tauchten in den<br />
letzten sechs Monaten mit notorischer<br />
Regelmäßigkeit offizielle<br />
GAstKOMMeNtAr<br />
Innerhalb eines Monats haben die beziehungen zwischen Minsk und dem Westen einen qualitativen<br />
sprung gemacht, der sich sehen lassen kann: brüssel und Washington waren hoch erfreut über die freilassung<br />
Alexander Kosulins und planen nun, sanktionen aufzuheben. doch will Alexander Lukaschenko<br />
wirklich mehr demokratie zulassen oder hat der Westen seine forderungen im Zuge der russland-Krise<br />
zurückgeschraubt? Wir baten den <strong>Belarus</strong>-Experten Leonid Barsjuk aus Berlin um eine Analyse.<br />
Pressebilder und Fernsehreportagen<br />
auf, auf denen Lukaschenko<br />
den kleinen Jungen dabei hatte.<br />
Mal schippte Lukaschenko mit<br />
seinem Sohn Teer am nationalen<br />
Arbeitstag, mal besuchte Nikolaj<br />
den Papa bei dessen Lieblingssport,<br />
dem Eishockey. Auf einmal<br />
war Lukaschenko der fürsorgliche<br />
Vater, ein echter Mann, der sein<br />
uneheliches Kind nicht im Stich<br />
lässt. Eine Win-Win-PR-Aktion<br />
ohne größeres Risiko, denn die<br />
staatlichen Informationsquellen<br />
ließen die Öffentlichkeit weiterhin<br />
über die Familienverhältnisse des<br />
Präsidenten im Dunkeln.<br />
GefährLIcher Aber<br />
beGNAdIGter GeGNer<br />
Um sein ramponiertes Image im<br />
Westen aufzupolieren, musste der<br />
Präsident indes mehr bieten und<br />
entschloss sich zu einem Schritt,<br />
der bereits die Grenzen der PR<br />
verlässt und in die raue Welt der<br />
Realpolitik führt: Lukaschenko<br />
entließ nacheinander alle drei politischen<br />
Gefangenen des Landes,<br />
zunächst Ex-Präsidentschaftskandidat<br />
und Intimfeind Alexander<br />
Kosulin, dann den Unternehmer<br />
Sergej Parsjukewitsch und zuletzt<br />
den jugendlichen Oppositionellen<br />
Andrej Kim. Ein mutiger Schritt,<br />
denn vor allem die Entlassung<br />
Kosulins birgt für Lukaschenko<br />
ernstzunehmende Risiken. Da<br />
wäre zunächst die Tatsache, dass<br />
mit Kosulin ein Konkurrent auf<br />
das politische Spielfeld zurückkehrt,<br />
der sich durch seinen Gefängnisaufenthalt<br />
einen Ruf als<br />
ehrlicher und standhafter Politiker<br />
erworben hat. Außerdem riskiert<br />
Lukaschenko, vor dem Westen als<br />
„Umfaller” dazustehen, den man<br />
mit politischem Druck längerfristig<br />
in die Knie zwingen kann. Und,<br />
last not least, standen auch nach<br />
der Freilassung noch die zwölf<br />
Forderungen der EU im Raum,<br />
die im Prinzip eine schrittweise<br />
Demontage all der staatlichen<br />
Exekutivmacht vorsahen, die Lukaschenko<br />
in den vergangenen 14<br />
Jahren mühsam aufgebaut hatte,<br />
ohne dass die EU Finanzmittel à la<br />
Moskau angeboten hätte oder dem<br />
Präsidenten persönliche Unversehrtheit<br />
garantieren würde. Das<br />
wäre der hochexplosive Kontext<br />
von Lukaschenkos Entscheidung<br />
gewesen, wenn nicht der georgische<br />
Präsident Saakaschwili<br />
am 8. August den Befehl gegeben<br />
hätte, die abtrünnige Provinz Süd-<br />
Ossetien anzugreifen.<br />
schWeIGeN GeGeNüber<br />
GeOrGIeN<br />
Auf den georgischen Angriff folgte<br />
ein russischer Gegenangriff, und<br />
auf den russischen Angriff eine diplomatische<br />
Schlacht zwischen Ost<br />
und West, wie man sie seit dem<br />
Kalten Krieg nicht mehr erlebt<br />
hatte. Plötzlich bekam jeder noch<br />
so kleine außenpolitische Schritt<br />
im Zusammenhang des Konflikts<br />
eine Bedeutung, wie sie nur in<br />
Zeiten diplomatischer Vielvölkerschlachten<br />
möglich ist. Alexander<br />
Lukaschenko spürte dies instinktiv<br />
und tat etwas, was der Westen ihm<br />
sehr hoch anrechnete: er schwieg.<br />
Sicher, nachdem Moskau empört<br />
Stellungnahme von seinem Ver-<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
ündeten verlangte, beruhigte<br />
Lukaschenko seinen Kollegen<br />
Medwedjew in Sotschi: „Richtig,<br />
weise und schön” habe Russland<br />
gehandelt, sagte der Staatschef<br />
und traf sich obendrein noch<br />
mit den beiden selbsternannten<br />
Präsidenten von Abchasien und<br />
Süd-Ossetien. Dennoch verzichtete<br />
Lukaschenko wohlweislich darauf,<br />
die Republiken anzuerkennen<br />
– und hatte sich auffällig viel Zeit<br />
mit einem Kommentar gelassen.<br />
Zu viel Zeit für einen Vasallen,<br />
und genug, um dem Westen zu<br />
signalisieren: Eigentlich wäre ich<br />
gerne neutral, aber dafür müsstet<br />
ihr mir entgegenkommen... in<br />
Brüssel und Washington wusste<br />
man diese feinen diplomatischen<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
Zeichen sehr wohl zu deuten:<br />
Der Umgangston wurde sofort<br />
freundlicher, und man schickte<br />
hochgestellte Diplomaten wie den<br />
US-Amerikaner David Merkel zu<br />
Verhandlungen nach Minsk, ja, es<br />
wurden sogar erste Wirtschaftssanktionen<br />
aufgehoben. Auch die<br />
EU hat inzwischen tatsächlich die<br />
Aufhebung der Einreiseverbote<br />
umgesetzt.<br />
sOrGeN GeGeNüber<br />
russLANd<br />
Was des einen Freud, ist des anderen<br />
Leid. Dass Moskau das lange<br />
Schweigen aus Minsk als Affront<br />
werten würde, war Lukaschenko<br />
klar. Welche längerfristige Fol-<br />
„Nicht sehr optimistisch”<br />
Außenpolitik<br />
gen das Lavieren haben wird, ist<br />
weniger eindeutig, aber es wäre<br />
durchaus denkbar, dass Moskau<br />
bei der nächsten Gaspreiserhöhung<br />
nicht mehr wie bisher ein<br />
Auge zudrücken wird. Deshalb ist<br />
Lukaschenkos Verhalten nicht nur<br />
PR, sondern eine außenpolitische<br />
Entscheidung, die Risiken birgt,<br />
aber auch Chancen. Lukaschenko<br />
könnte so Spielraum zwischen<br />
Ost und West gewinnen, den er<br />
seit Jahren anstrebt. Die langfristigen<br />
Folgen des Tauwetters in<br />
der belarussischen Außenpolitik<br />
sind also ungewiss. Eins ist jedoch<br />
sicher: Wer einen schnellen Systemwechsel<br />
in <strong>Belarus</strong> erwartet,<br />
wird enttäuscht werden.<br />
(Ms) die Menschenrechtskommission des deutschen bundestags besuchte Anfang Juli belarus, um sich<br />
mit der politischen situation vor den Parlamentswahlen vertraut zu machen.<br />
Die Parlamentarier der Bundestagsfraktionen<br />
trafen sich sowohl<br />
mit Staats- als auch mit Oppositionsvertretern.<br />
Bereits bei ihrem<br />
ersten Treffen hielten die deutschen<br />
Abgeordneten ihre belarussischen<br />
Kollegen auf Distanz:<br />
Der Besuch im Unterhaus bedeute<br />
„keinesfalls eine Anerkennung des<br />
belarussischen Parlaments”. Auch<br />
das Treffen mit dem stellvertretenden<br />
Außenminister Walerij<br />
Woronetzkij und anderen hochgestellten<br />
Staatsvertretern schien<br />
nichts an der kritischen Meinung<br />
der Besucher zu ändern.<br />
stAAtsvertreter<br />
seLbstbeWusst<br />
Indessen ließen die belarussischen<br />
Parlamentarier ihrerseits durchblicken,<br />
dass sie sich nicht gerne<br />
bevormunden lassen. Jurij Kulakowskij,<br />
Vorsitzender der Parlamentskommission<br />
für Menschenrechte,<br />
betonte, die Wahlgesetze in<br />
<strong>Belarus</strong> entsprächen internationaler<br />
Standards.<br />
deutsche AbGeOrdNete<br />
KrItIsch<br />
Das sahen die deutschen Abgeordneten<br />
anders. Delegationsleiter<br />
Holger Haibach (CDU):<br />
„Wir haben keine positiven Veränderungen<br />
feststellen können<br />
und sehen die Situation vor den<br />
Wahlen nicht sehr optimistisch.”<br />
Haibach betonte, trotz aller Kritik<br />
müsse man im Gespräch bleiben.<br />
Zum Zeitpunkt des Besuchs waren<br />
allerdings noch die politischen Gefangenen<br />
Kosulin, Parsjukewitsch<br />
und Kim im Gefängnis.<br />
OPPOsItIONeLLe<br />
ZurücKhALteNd<br />
Gesprächsversuche sehen die<br />
Vertreter der Oppositionskoalition<br />
„Vereinte Demokratische<br />
Kräfte” (VDK), mit denen sich die<br />
Deutschen ebenfalls trafen, traditionell<br />
kritisch. Anatolij Lebedko<br />
von der VDK machte klar, wo er<br />
und seine Mitstreiter die Grenzen<br />
von Dialogangeboten sehen. „Wir<br />
sagen kategorisch Nein zu einer<br />
Legitimierung des Regimes im<br />
Austausch gegen die Garantie,<br />
dass drei bis fünf Oppositionelle<br />
ins Parlament kommen.” Außerdem<br />
wehre man sich gegen einen<br />
Deal „Wirtschaftsreformen gegen<br />
internationale Anerkennung”.<br />
Von der Staatsmacht, so Lebedko,<br />
forderten die VDK lediglich<br />
fünf minimale Zugeständnisse:<br />
„Oppositionsvertreter in allen<br />
Wahlkommissionen, Registrierung<br />
der VDK-Kandidaten, ein<br />
Moratorium auf die Repressionen<br />
gegen Wahlhelfer und Journalisten,<br />
die Möglichkeit eines fairen<br />
Wahlkampfs sowie die Freilassung<br />
der politischen Gefangenen.” In<br />
einigen Punkten kam die Staatsmacht<br />
ihren Gegnern bei der Wahl<br />
tatsächlich entgegen.
Außenpolitik<br />
Russischer Raketenschild in <strong>Belarus</strong><br />
(Pauljuk Bykowskij, Minsk) Nachdem die USA sich mit Polen und Tschechien auf den Aufbau ihres Raketenabwehrschilds<br />
in Osteuropa geeinigt haben, bereitet russland seine Antwort vor. belarus kommt in<br />
den strategischen Plänen eine schlüsselrolle zu.<br />
Weder Drohungen noch Appelle<br />
des damaligen Präsidenten Wladimir<br />
Putin konnten die USA davon<br />
abhalten, ein Raketenabwehrsystem<br />
in Osteuropa zu installieren,<br />
das Russland als Provokation<br />
empfindet. Der neue Präsident<br />
Medwedjew mag einen gemäßigten<br />
Ton anschlagen, pocht aber<br />
dennoch auf russische Interessen:<br />
„Außerordentlich betrübt” sei<br />
die russische Staatsführung, so<br />
Medwedjew Ende Juli auf dem<br />
G8-Gipfel. Zwar werde man „deshalb<br />
keine Hysterie verbreiten”,<br />
aber Moksau rüste sich zu Gegenmaßnahmen.<br />
Schließlich werde<br />
durch den Raketenschild das<br />
Erstschlagspotenzial Russlands<br />
entscheidend geschwächt, und<br />
Medwedjew machte klar, dass er<br />
das nicht hinnehmen werde. Kurz<br />
darauf stimmte auch Nikolaj Bordjuscha,<br />
Generalsekretär des postsowjetischenVerteidigungsbündnisses<br />
Organisation des Vertrags<br />
für Kollektive Sicherheit (OVKS),<br />
dem russischen Präsidenten zu<br />
und erklärte, die OVKS-Staaten<br />
seien besorgt und würden an den<br />
Westgrenzen des Bündnisses Gegenmaßnahmen<br />
einleiten.<br />
ZuKüNftIGe strAteGIe<br />
Der strategische Leckerbissen in<br />
diesem Poker um das größte Abschreckungspotenzial<br />
ist zweifellos<br />
<strong>Belarus</strong>, da sind sich russische<br />
Militärbeobachter einig. Deshalb<br />
machte Medwedjew auch schnell<br />
Nägel mit Köpfen und einigte sich<br />
mit seinem Kollegen Lukaschenko<br />
am 19. August in Sotschi darauf,<br />
ein gemeinsames Abkommen<br />
für einen Abwehrschild Ende<br />
2008 zu unterzeichnen, auf der<br />
Sitzung des Höchsten Rats des<br />
gemeinsamen Unionsstaates. Der<br />
russische Botschafter in <strong>Belarus</strong>,<br />
Alexander Surikow, fügte hinzu,<br />
dass es nicht um die Stationierung<br />
von Kernwaffen ginge. Dies sei<br />
auch nach internationalem Recht<br />
gar nicht möglich, unterstrich<br />
Surikow, weil <strong>Belarus</strong> 1994 das<br />
Lissaboner Zusatzprotokoll unterschrieben<br />
habe, in dem sich einige<br />
Nachfolgestaaten der Sowjetunion<br />
zum Verzicht auf Kernwaffenstationierung<br />
verpflichten. Hochmoderne<br />
Raketensysteme vom<br />
Typ „Iskander” und strategische<br />
Bomberstaffeln fielen allerdings<br />
nicht unter das Verbot.<br />
verZöGerte uMsetZuNG<br />
Eigentlich sollte es das Abkommen<br />
über den gemeinsamen Raketenschild<br />
schon 2001 geben.<br />
Aus unerfindlichen Gründen<br />
zog sich jedoch die bürokratische<br />
Prozedur jahrelang hin. Der belarussische<br />
Verteidigungsminister<br />
Leonid Malzew findet, dass das<br />
nicht Schuld seines Landes sei,<br />
man habe bereits damals vor sieben<br />
Jahren alle nötigen Papiere<br />
nach Moskau geschickt, aber sage<br />
und schreibe fünf Jahre auf eine<br />
Antwort gewartet. Dennoch ist<br />
Malzew heute guter Hoffnung. Er<br />
sehe „keinerlei Probleme” für die<br />
Unterzeichnung des Abkommens,<br />
bekräftigte der Minister.<br />
GeGeNWärtIGe PrAxIs<br />
Sowohl Botschafter Surikow als<br />
auch Minister Malzew sind sich<br />
einig, dass es das gemeinsame<br />
Luftabwehrsystem eigentlich<br />
schon längst gibt. „Wir kontrollieren<br />
den Luftraum zwischen<br />
Kaliningrad und Smolensk, und<br />
alle Informationen gehen sofort an<br />
unsere Abwehrstationen”, erkärte<br />
Malzew die Zusammenarbeit.<br />
Eine Kooperation mit Perspektive,<br />
findet der Präsident der russischen<br />
Akademie für Geopolitische Probleme,<br />
Leonid Iwaschow. <strong>Belarus</strong>,<br />
so der Generaloberst im Ruhestand,<br />
könnte im Notfall einfach<br />
seine Unterschrift unter dem Lissabon-Protokoll<br />
revidieren und<br />
zur nötigen Abschreckung auch<br />
Kernwaffen auf seinem Territorium<br />
stationieren.<br />
KeINe KerNWAffeN<br />
Das will heute jedoch niemand, beteuern<br />
alle Beteiligten, allen voran<br />
Präsident Lukaschenko. Anfang<br />
September machte Lukaschenko<br />
seinen Standpunkt auf einer Pressekonferenz<br />
für russische Journalisten<br />
klar: „Ich habe hier nicht die<br />
Position eines Falken. Der Westen<br />
braucht keine Angst zu haben, um<br />
Kernwaffen geht es hier nicht.”<br />
Dennoch, betonte der Präsident,<br />
stehe <strong>Belarus</strong> zu seinem Nachbarn<br />
und Verbündeten: „Wenn hier ein<br />
Brand ausbricht und es gegen Russland<br />
geht, dann werden wir für<br />
unsere gemeinsamen Interessen<br />
mit der Waffe kämpfen”, so das<br />
Staatsoberhaupt.<br />
KeINe hOchrüstuNG<br />
Dass auch der belarussischen<br />
Führung ein wenig mulmig bei<br />
dem Säbelrasseln wird, zeigte<br />
Verteidigungsminister Malzew,<br />
der Ende August beim Treffen mit<br />
OVKS-Kollegen etwas völlig Branchenunübliches<br />
zu Protokoll gab:<br />
„Im Hochrüsten, im Aufpumpen<br />
von Kriegsmuskeln — darin liegt<br />
die größte Gefahr”, erklärte der<br />
General mit Blick auf den amerikanischen<br />
Raketenschild. Selten ist<br />
wohl ein Generaloberst mit solch<br />
radikalpazifistischen Äußerungen<br />
zitiert worden.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Rom für Dialog<br />
(Ms) ende Juni besuchte Kardinalstaatssekretär tarcisio bertone Minsk und traf sich mit Präsident Lukaschenko.<br />
bertone, der höchste beamte des vatikansstaats, lobte die gute Atmosphäre der Gespräche und<br />
bedankte sich bei Lukaschenko für dessen einladung an Papst benedikt xvI. Nun wollen beide seiten<br />
ein Konkordat vorbereiten.<br />
Bertone war zum ersten Mal in<br />
Minsk, machte aber gleich klar,<br />
dass er mit den besten Absichten<br />
gekommen war. Er bekräftigte,<br />
dass der Papst „dem Präsidenten<br />
und allen Bürgern von <strong>Belarus</strong><br />
seine Hochachtung zeigt”. Lukaschenko<br />
seinerseits nutzte die<br />
Gelegenheit, um Papst Benedikt<br />
XVI. nach Minsk einzuladen.<br />
GeGeNseItIGe<br />
uNterstütZuNG<br />
Dass es zwischen der belarussischen<br />
römisch-katholischen Kirche<br />
und dem Staat Unstimmigkeiten<br />
gibt, ist kein Geheimnis. Unter<br />
anderem weist <strong>Belarus</strong> mit notorischer<br />
Regelmäßigkeit polnische<br />
Geistliche aus, die sich öffentliche<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
politische Kritik erlauben. Dies<br />
trübte jedoch nicht die Stimmung<br />
bei dem Treffen. „Sehr gute persönliche<br />
Beziehungen” habe er zu<br />
der Leitung der römisch-katholischen<br />
Kirche, meinte Lukaschenko<br />
und betonte deren fruchtbare<br />
Arbeit „im Bereich traditionell<br />
christlicher Werte: Familie, Moral,<br />
Nächstenliebe”. Bertone seinerseits<br />
unterstützte den Präsidenten<br />
bei seinem politischen Kurs. Als<br />
„gutes Gesetz, dass die Rechte<br />
der traditionell belarussischen<br />
Religionen schützt” bezeichnete<br />
der Kardinalssekretär das belarussische<br />
Religionsgesetz, das es<br />
neuen Religionsgemeinschaften<br />
schwer macht, sich in <strong>Belarus</strong> zu<br />
etablieren. Zudem kritisierte Bertone<br />
westliche Sanktionen gegen<br />
Und der Gewinner ist...<br />
Bereits als <strong>Belarus</strong> vor etwa einem<br />
Jahr den Bauauftrag öffentlich<br />
ausgeschrieben hatte, war das<br />
Echo mehr als bescheiden gewesen.<br />
Lediglich drei Firmen hatten<br />
sich gemeldet: Die russische „Rusatom“,<br />
die französisch-deutsche<br />
„Arewa“-Gruppe sowie die chinesische<br />
„Guangdong Nuclear<br />
Power Group“.<br />
„AreWA“...<br />
Minsk beteuerte besonderes Interesse<br />
an dem europäischen<br />
Angebot, ließ jedoch in den Folgemonaten<br />
ständig Kritik an Arewa<br />
laut werden. Die Firma, hieß es<br />
aus Regierungskreisen, hinke bei<br />
ihrem finnischen AKW-Projekt<br />
stolze zwei Jahre hinter den Bauplänen<br />
her. Außerdem murrten<br />
die belarussischen Beamten, dass<br />
Frankreich und Deutschland selber<br />
seit langem keinen Reaktor<br />
mehr in ihrem Land gebaut hätten,<br />
die Franzosen nicht einmal<br />
im Ausland. Last not least hat<br />
ein Arewa-AKW einen durchaus<br />
unangenehmen radioaktiven Beigeschmack.<br />
Denn den Atommüll<br />
würde Arewa zwar aufarbeiten,<br />
dann aber zur Endlagerung zurück<br />
nach <strong>Belarus</strong> bringen. Ganz anders<br />
die Russen.<br />
...Oder „rusAtOM“<br />
Der Energieriese Rusatom ist<br />
nicht nur bereit, den radioaktiven<br />
Außenpolitik<br />
<strong>Belarus</strong>. Sanktionen seien grundsätzlich<br />
„nicht hinnehmbar”, da<br />
unter ihnen das Volk leide.<br />
NEUES KoNKoRdAT?<br />
Bei den Gesprächen ging es in<br />
erster Linie um den Bau von neuen<br />
Kirchen und die Bereitstellung<br />
von Bauland für die neue Residenz<br />
des katholischen Erzbischofs. Außerdem<br />
besprachen beide Seiten<br />
ein mögliches Konkordat, wie es<br />
bisher nur mit der orthodoxen<br />
Kirche existiert. Deren Oberhaupt,<br />
Metropolit Filaret, traf<br />
sich ebenfalls mit Bertone. Auch<br />
über dieses Gespräch zeigte sich<br />
Bertone zufrieden und lobte die<br />
Zusammenarbeit beider Kirchen<br />
in <strong>Belarus</strong>.<br />
(Marina Rachlej, Minsk) Wer soll das belarussische AKW bauen? Anfangs hatte Minsk noch drei Wettbewerber<br />
ausgemacht, doch der staat scheint sich längst entschieden zu haben. Wer die besten bedingungen<br />
bietet, ist längst kein Geheimnis mehr.<br />
Abfall auf russischem Territorium<br />
zu lagern. Rusatom würde auch<br />
belarussische Experten zu Sonderpreisen<br />
ausbilden und einen<br />
Kredit für die Anschaffung von<br />
Technik gewähren. Traumhafte<br />
Bedingungen, zu denen bisher<br />
weder Chinesen noch Franzosen<br />
und Deutsche bereit waren, obwohl<br />
Minsk darauf pochte. Man<br />
werde, so Michail Mjasnikowitsch,<br />
Vorsitzender des Präsidiums der<br />
Akademie der Wissenschaften,<br />
„genau darauf achten“, ob die<br />
Baufirma einem bei der Finanzierung<br />
entgegenkomme. Außerdem<br />
wünscht sich <strong>Belarus</strong> zwei Reaktoren<br />
à einer Million Megawatt.<br />
Einen Wunsch, den Awera nicht<br />
erfüllen kann, denn die Firma hat
Innenpolitik<br />
sich auf 1,6-Millionen-Megawatt-<br />
Reaktoren spezialisiert.<br />
KeIN POLItIscher drucK<br />
Dabei hatte Präsident Lukaschenko<br />
persönlich dafür gesorgt, dass<br />
die Spekulationen wild ins Kraut<br />
geschossen waren. Lukaschenko<br />
hatte mehrfach erklärt, er werde<br />
sich nicht unter politischen Druck<br />
setzen lassen – weder von den<br />
Russen, die angeblich mit einem<br />
Abbruch der Beziehungen gedroht<br />
hatten, sollten nicht sie den<br />
Zuschlag erhalten, noch von den<br />
Europäern, die angeblich eine<br />
Demokratisierung des Landes zur<br />
Bedingung gemacht hatten.<br />
hIer KeIN INteresse...<br />
Dass die westeuropäischen Geschäftsleute<br />
tatsächlich politi-<br />
Waffe im Anschlag<br />
Gleich mehrere Absätze in dem<br />
neuen Gesetz riefen Journalistenvertreter<br />
auf den Plan. Das Gesetz<br />
sei „tödlich für die Entwicklung<br />
des unabhängigen Journalismus<br />
in <strong>Belarus</strong>”, erklärten die Juristen<br />
Jurij Toporascha und Michail<br />
Postuchow von der unabhängigen<br />
Assoziation <strong>Belarus</strong>sischer Journalisten.<br />
Besonders sauer stießen<br />
ihnen drei Punkte in dem neuen<br />
Gesetz auf: Erstens müssen sich<br />
alle Medien ab Inkrafttreten des<br />
Gesetzes im Februar 2009 neu registrieren<br />
lassen – eine aufwändige<br />
Prozedur, die nicht selten mit der<br />
Schließung unliebsamer Medien<br />
einher geht. Zweitens sind ausländische<br />
Journalisten nun bei Strafe<br />
verpflichtet, sich akkreditieren zu<br />
lassen, und die Staatsmacht hat<br />
sich selbst neue Gründe geliefert,<br />
um deren Einfluss auszuschließen<br />
sche Forderungen gestellt haben,<br />
mag getrost bezweifelt werden.<br />
Vermutlich scheitert die Awera-<br />
Variante schlichtweg an beiderseitigem<br />
Desinteresse, schließlich<br />
haben weder Minsk noch Awera<br />
konkrete Verhandlungen über<br />
ein mögliches Bauprojekt geführt.<br />
Eigentlich sieht eine öffentliche<br />
Ausschreibung anders aus. Für<br />
eine solche, gab der staatliche<br />
Wissenschaftler Mjasnikowitsch<br />
zu, habe <strong>Belarus</strong> „auch überhaupt<br />
keine Zeit gehabt“<br />
...dOrt KeINe<br />
ALterNAtIve<br />
Der russische Botschafter in Minsk,<br />
Alexander Surikow, hatte indes<br />
versucht, die erhitzten Gemüter<br />
in seinem Heimatland zu beruhigen:<br />
Es gäbe, so Surikow, keinen<br />
Grund zur Besorgnis für die rus-<br />
(Marina rachlej, Minsk) Gerade mal eine Woche Zeit brauchten die belarussischen Parlamentarier, um<br />
im Juni das neue Gesetz über die Massenmedien zu verabschieden. Während Journalisten neue repressionen<br />
fürchten – vor allem gegen Internetportale – raten einige experten zur Geduld. Alles werde davon<br />
abhängen, wie sich die beziehungen zum Westen entwickelten.<br />
- zum Beispiel dürfen nicht mehr<br />
als 30 Prozent einer Zeitung einem<br />
Ausländer gehören. Die dritte und<br />
wichtigste Neuerung ist jedoch,<br />
dass sich nun Internetportale als<br />
Massenmedien registrieren lassen<br />
müssen. Das „Bynet”, so die Kritiker,<br />
werde so staatlicher Kontrolle<br />
unterstellt.<br />
LANGsAM uNd schNeLL<br />
Dabei hatten sich die Beamten des<br />
Informationsministeriums redlich<br />
Mühe gegeben. Sieben Jahre, seit<br />
2001, hatten sie an dem Gesetz geschuftet,<br />
leider unter fast völligem<br />
Ausschluss der Öffentlichkeit. Die<br />
erfuhr von dem Inhalt des neuen<br />
Gesetzes eher zufällig kurz vor<br />
dessen Blitzbesprechung im Parlament<br />
aus der Presse. Nachdem<br />
die Parlamentarier das Gesetz<br />
sischen Geschäftsleute, da bisher<br />
alles auf ein russisches Bauprojekt<br />
hindeute.<br />
fATALER fEhLER?<br />
Das nahm Surikow auch Alexander<br />
Wojtowitsch ab, der ehemalige<br />
Chef der Akademie der Wissenschaften,<br />
heute ein überzeugter<br />
Oppositioneller. Wojtowitsch hält<br />
einen Bauauftrag an Russland jedoch<br />
für einen fatalen Fehler, sei<br />
doch die ursprüngliche Motivation<br />
der <strong>Belarus</strong>sen gewesen, ihre Energieversorgung<br />
zu entrussifizieren.<br />
„Offenbar“, so der oppositionelle<br />
Wissenschaftler, „hat unser Staat<br />
keine Wahl, weil es einfach nicht<br />
genug interessierte Firmen gibt.<br />
Dabei ist klar, dass Russland<br />
keine Chance verstreichen lassen<br />
wird, <strong>Belarus</strong> noch enger an sich<br />
zu binden.“<br />
im Schnellverfahren abgesegnet<br />
hatten, setzte der Präsident<br />
schnurstracks seine Unterschrift<br />
darunter. Die Forderungen der<br />
Opposition nach Neuverhandlung<br />
einzelner Absätze verhallten<br />
ungehört.<br />
hArMLOs Oder<br />
GEfähRLich?<br />
Indes beruhigten Staatsvertreter<br />
die aufgebrachte Öffentlichkeit.<br />
So behauptete die stellvertretende<br />
Informationsministerin Lilija<br />
Ananitsch, es müssten sich nur<br />
Internetmedien neu registrieren<br />
lassen, nicht etwa alle Internetressourcen<br />
– obwohl das Gesetz<br />
dies vorschreibt. Auch Wsewolod<br />
Jantschewkij, Präsidentenberater<br />
für Ideologie, erklärte, das belarussische<br />
Internet „war, ist und<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
leibt frei. Es kann überhaupt<br />
gar keine Rede von einem Kampf<br />
mit Andersdenkenden sein”. Der<br />
Politologe Viktor Martinowitsch<br />
ist da anderer Meinung. Ziel des<br />
Gesetzes sei von Anfang an eine<br />
stärkere Kontrolle über das Internet<br />
gewesen. Allerdings, so Martinowitsch,<br />
werde alles von der Umsetzung<br />
des Gesetzes abhängen.<br />
Und die wiederum hänge direkt<br />
davon ab, ob die belarussisch-russischen<br />
Beziehungen durch teures<br />
Neue Gesichter<br />
Neuer Chef des Sicherheitsrats ist<br />
der vormalige KGB-Vorsitzende<br />
Jurij Schadobin, die Präsidialadministration<br />
leitet nun Wladimir<br />
Makej, ehemaliger Berater des<br />
Präsidenten. Lukaschenko indes<br />
machte den Ex-Chef Schejman<br />
direkt für die ergebnislosen Ermittlungen<br />
nach dem Attentat<br />
verantwortlich: „Sie haben nichts<br />
unternommen! Ich denke nicht,<br />
dass Sie nach dem Vorfall weiterhin<br />
diesen Posten innehaben<br />
sollten. In erster Linie sind Sie<br />
schuld! Sie und der Chef der Präsidialadministraion.<br />
Er ist für die<br />
politische Seite verantwortlich, Sie<br />
für die Sicherheit.“<br />
vOrGeschObeNe<br />
beGrüNduNG<br />
Eine präsidiale Logik, der nicht alle<br />
politischen Beoachter folgen konnten.<br />
Insbesondere die Entlassung<br />
von Gennadij Newyglas wegen politischen<br />
Versagens mutet seltsam<br />
an, denn das politische Renommee<br />
der Staatsmacht hat kaum gelitten.<br />
Es mag im blühenden <strong>Belarus</strong> ein<br />
kleines Unkrautpflänzchen aufgetaucht<br />
sein – aber es alleine wird<br />
kaum den Weg in die glückliche<br />
Zukunft zuwuchern. Schejman<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
Gas und eine eventuelle Moskauer<br />
Kreditabsage angespannt würden.<br />
Dann nämlich, so Martinowitsch,<br />
könne die Staatsführung stärker<br />
an einer Annäherung zur EU<br />
interessiert sein und sich mit<br />
Repressionen gegen die Medien<br />
zurückhalten.<br />
„tschechOWs GesetZ“<br />
Sein Kollege Alexander Kalskowskij<br />
bemühte sogar den russischen<br />
hingegen war schließlich auch<br />
für die Sicherheit verantwortlich,<br />
als 1999 bei einer Massenpanik 53<br />
Menschen in Minsk starben und<br />
der damalige Generalstaatsanwalt<br />
Oleg Boschelko erklärte, dass „die<br />
Mitarbeiter des Innenministeriums<br />
bestimmte Fehler gemacht” hatten.<br />
Niemandem wäre damals in den<br />
Sinn gekommen, Viktor Schejman<br />
zu entlassen. Überhaupt, meint der<br />
unabhängige Politologe Walerij<br />
Karbalewitsch, habe Schejmans<br />
Entlassung schon lange angestanden.<br />
„Kein Wunder, das Lukaschenko<br />
den Moment nutzte“, so<br />
Karbalewitsch.<br />
Schejman verliert ganz offensichtlich<br />
an Boden im Machtapparat.<br />
Vielleicht reiste er zu oft nach<br />
Venezuela, zu Verhandlungen<br />
Innenpolitik<br />
Klassiker Anton Tschechow um<br />
eine Metapher: Es handele sich bei<br />
dem Gesetz bildlich gesprochen<br />
um jene Waffe, von der schon der<br />
große Dramatiker sagte: „Wenn<br />
sie im ersten Akt auf der Szene<br />
hängt, dann wird sie im vierten<br />
unbedingt abgefeuert.” Die Staatsmacht<br />
wolle sich also zumindest<br />
die Möglichkeit offen halten, diese<br />
Waffe eines Gesetzes auch abzufeuern,<br />
so Kalskowksij.<br />
(Alexander dautin, Minsk) Alexander Lukaschenko hat nach dem bombenattentat am unabhängigkeitstag<br />
zwei der mächtigsten Männer des Landes ihrer Posten enthoben: viktor schejman, Generalsekrätär des<br />
Nationalen Sicherheitsrats, und Gennadij Newyglas, chef der Präsidialadministration. Es sieht allerdings<br />
so aus, als habe Lukaschenko dabei andere dinge im Kopf gehabt als die öffentliche sicherheit.<br />
Impressum:<br />
redaktionsadresse:<br />
IBB gGmbH, <strong>Belarus</strong>-Perspektiven,<br />
Bornstr. 66, 44145 Dortmund,<br />
� 0231-952096-0, Fax: 0231-521233,<br />
E-Mail: info@ibb-d.de,<br />
Website: www.ibb-d.de<br />
herausgeber:<br />
Peter Junge-Wentrup, <strong>Internationales</strong><br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungswerk gGmbH<br />
Dortmund<br />
mit Lukaschenkos Busenfreund<br />
Chavez, und nahm so an wichtigen<br />
Personalentscheidungen nicht teil.<br />
Zuerst wurden Boris Tarletzkij<br />
und Viktor Prus entlassen, „seine“<br />
stellvertretenden Generalstaatsanwälte.<br />
Dann wurden weitere<br />
Nahestehende des 50-jährigen<br />
Schejman gegangen.<br />
vIKtOr vs. vIKtOr<br />
Beobachter machten eine Tendenz<br />
aus: Schejmans Leute wurden, wie<br />
nun auch er selber, durch Sympathisanten<br />
seines schärfsten Gegners<br />
innerhalb des Machtapparats<br />
ersetzt, der nun triumphiert. Er<br />
heißt ebenfalls Viktor und hat<br />
einen einflussreichen Gönner,<br />
seinen Vater. Der ist Präsident der<br />
Republik <strong>Belarus</strong>.<br />
redaktion:<br />
Martin Schön, Berlin,<br />
Dr. Edith Spielhagen, Berlin,<br />
Nadine Lashuk, IBB Minsk,<br />
Kai-Uwe Dosch, Hamm<br />
druck:<br />
Montania Druck, Dortmund<br />
Gekennzeichnete Artikel entsprechen<br />
nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.<br />
Leserbriefe an <strong>Belarus</strong>Perspektiven@<br />
gmail.com Einzelpreis: 4,00 Euro, Jahresabonnement<br />
incl. Versand: 15,00 Euro.
Innenpolitik<br />
Die Tür bleibt offen<br />
(Pauljuk Bykowskij, Minsk/MS) die EU hatte die belarussischen Parlamentswahlen zum „Lackmustest<br />
der demokratisierung” erklärt, so dass alle beobachter am 28. september gespannt nach Minsk blickten.<br />
die Wahlen verliefen unspektakulär. Interessant waren die reaktionen.<br />
Bereits vor der Wahl war klar,<br />
dass das neugewählte Parlament<br />
wegweisende Entscheidungen<br />
in Bezug auf die belarussische<br />
Außenpolitik fällen wird, denn<br />
Präsident Lukaschenko höchstpersönlich<br />
hatte dem Unterhaus die<br />
delikate Aufgabe übertragen, Ende<br />
November über die Anerkennung<br />
der abtrünnigen georgischen Teilrepubliken<br />
Süd-Ossetien und Abchasien<br />
zu entscheiden. Dadurch<br />
stand weniger die Wahl selbst als<br />
die Folgen ihrer Anerkennung im<br />
politischen Fokus. Lukaschenko<br />
hatte klar gemacht, dass „wir jeden<br />
Kontakt mit dem Westen abbrechen<br />
werden, sollte er die Wahlen<br />
nicht anerkennen”. <strong>Belarus</strong> könnte<br />
sich in diesem Fall dem bewährten<br />
Partner Russland zuwenden, die<br />
Souveränität der georgischen<br />
Teilrepubliken anerkennen und<br />
dafür wahrscheinlich mit billigen<br />
Energieträgern und Krediten belohnt<br />
werden.<br />
russLANd uNGeduLdIG<br />
Doch das undankbare an Politik<br />
ist, dass Prognosen und Planspiele<br />
sich oft als falsch herausstellen. Bevor<br />
einer der beiden Spieler seine<br />
Karten nicht auf den Tisch legt, ist<br />
unklar, wer den Topf bekommt.<br />
Deshalb zögert sowohl Minsk<br />
seine Entscheidung zu Georgien<br />
heraus also auch Europa seine<br />
Entscheidung zu den Wahlen.<br />
Russland wartet indes ungeduldig<br />
auf die Anerkennung seiner<br />
Vasallenstaaten in Georgien und<br />
hat schon mal den Besuch von<br />
Ministerpräsident Putin für den<br />
6. Oktober angekündigt. Beobachter<br />
erwarten heiße Diskussionen<br />
darüber, welchen Preis Russland<br />
bereit ist, für diplomatische Schüt-<br />
zenhilfe im Georgien-Konflikt zu<br />
zahlen.<br />
beLArus ZöGerLIch<br />
Alexander Lukaschenko indes hält<br />
sich unbeirrbar an das belarussische<br />
Sprichwort «Ein schlaues<br />
Kalb trinkt bei zwei Müttern» und<br />
spielt Ost und West gegeneinander<br />
aus, um den Preis für seine<br />
politische Loalität nach oben zu<br />
treiben. Bisher hat der Präsident<br />
deshalb weder Sergej Bagapsch<br />
und Eduard Kokoity abgesagt, den<br />
selbsternannten Präsidenten von<br />
Abchasien und Süd-Ossetien, die<br />
ihn um Anerkennung gebeten haben;<br />
noch erteilte er Javier Solana<br />
eine Absage, der den Staatschef am<br />
25. September aus New York von<br />
der UNO-Generalversammlung<br />
anrief, um sich nach der „Entwicklung<br />
der innenpolitischen Situation<br />
in <strong>Belarus</strong>” zu erkundigen und<br />
zu unterstreichen, wie wichtig es<br />
sei, „eine neue Seite in den Beziehungen<br />
zwischen <strong>Belarus</strong> und<br />
der EU aufzuschlagen”. Wenn<br />
man ignoriert, dass die EU das<br />
belarussische Parlament seit 1996<br />
nicht anerkannt hat, ihre diplomatischen<br />
Beziehungen zu <strong>Belarus</strong><br />
nur unterhalb der Ministerebene<br />
aufrecht erhält und Einreiseverbote<br />
gegen praktisch alle hochgestellten<br />
belarussischen Beamten<br />
ausgesprochen hat, könnte man<br />
Solanas Anruf als reine Routineangelegenheit<br />
bezeichnen.<br />
eu freuNdLIch<br />
Es folgte ein noch bedeutsamerer<br />
Schritt – die diplomatische Eiszeit<br />
wurde praktisch aufgehoben, als<br />
der polnische Außenminister Radoslaw<br />
Sikorski, ganz offensichtlich<br />
von der EU bevöllmächtigt,<br />
am 12. September nach Minsk<br />
kam. Sikorski erklärte freimütig,<br />
die Aufhebung der Sanktionen stehe<br />
kurz bevor, und selbst die zuvor<br />
zum Lackmustest hochstilisierten<br />
Wahlen könnten, sollten sie nicht<br />
den OSZE-Kriterien entsprechen,<br />
den Dialog nicht aufhalten.<br />
Tatsächlich bemühte sich die<br />
belarussische Staatsmacht, bei den<br />
Wahlen auf Europa zuzugehen.<br />
Abgesehen von der Freilassung<br />
der letzten politischen Gefangenen<br />
des Landes hielt sich der Staatsapparat<br />
bei den Wahlen definitiv<br />
zurück: Keine antioppositionelle<br />
Agitation in den Medien, keine<br />
massenweisen Zulassungsverbote<br />
für oppositionelle Kandidaten. Lidija<br />
Jermoschina, Chefin der Zentralen<br />
Wahlkommission, erklärte<br />
den Journalisten, warum: „Diese<br />
Wahlen sind dazu da, um Stereotypen<br />
einzureißen.” Kein Wunder,<br />
dass Präsident Lukaschenko eine<br />
Belohnung aus dem Westen erwartete<br />
und bei Nichtanerkennung<br />
mit einem Abbruch der Gespräche<br />
drohte.<br />
OPPOsItION chANceNLOs<br />
Tatsächlich verliefen die Wahlen<br />
dermaßen unspektakulär, dass der<br />
Kolumnist Viktor Martinowitsch<br />
sie ironisch als «transparent bis<br />
zur Durchsichtigkeit» bezeichnete.<br />
Es gab weder hitzige Debatten<br />
um Sachfragen, noch spannende<br />
Kopf-an-Kopf-Rennen, denn kein<br />
einziger Kandidat musste in die<br />
Stichwahl gehen, was ein historisches<br />
Novum in <strong>Belarus</strong> ist. Das<br />
mag auch am Mangel an Alternativen<br />
gelegen haben, denn in<br />
vielen Wahlkreisen gab es außer<br />
den staatlich favorisierten Politikern<br />
keine Kandidaten für das<br />
10 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Wahlkommissionschefin<br />
Lidija<br />
Jermoschina studiert<br />
ihre Unterlagen.<br />
Den Journalisten<br />
verkündete<br />
sie auf Nachfrage:<br />
„Absolut korrekt,<br />
kein einziger<br />
Vertreter der<br />
Opposition hat<br />
es ins Parlament<br />
geschafft.“<br />
Pauljuk<br />
Bykowskij<br />
Deputatenmandat. Doch selbst<br />
jene 70 Vertreter der oppositionellen<br />
„Vereinten Demokratischen<br />
Kräfte”, die zur Wahl angetreten<br />
waren, blieben chancenlos – zum<br />
ersten Mal in seiner Geschichte<br />
ist das Parlament nun völlig ohne<br />
kritische Stimme, sogar die von<br />
Lukaschenko stets als „konstruktive<br />
Oppositionelle” gelobte Olga<br />
Abramowa kam nur auf 24 Prozent<br />
der Stimmen in ihrem Wahlkreis.<br />
OsZe GeMässIGt<br />
Die Stimmenauszählung, bemängelte<br />
indes die OSZE, sei keineswegs<br />
transparent gewesen, denn<br />
allein in 35 Prozent der Fälle sei<br />
es den Beobachtern untersagt gewesen,<br />
die Stimmenauszählung<br />
zu beobachten, ja in knapp 50 Prozent<br />
der Fälle sei die Auszählung<br />
„schlecht” oder „sehr schlecht”<br />
durchgeführt worden. Kein Wunder,<br />
dass die OSZE-Beobachtermission<br />
erklärte, die Wahlen<br />
hätten nicht den Standards der<br />
Organisation entsprochen. Aller-<br />
dings hob Anne-Marie Lizin, Ko-<br />
Leiterin der Mission, in ihrem Abschlussbericht<br />
die Verbesserungen<br />
zu den Vorjahren hervor und lud<br />
zu weiteren Gesprächen ein: „Wir<br />
lassen weiterhin eine Tür für den<br />
Dialog offen”, erklärte Lizin.<br />
eNde OffeN<br />
Auf offene Ohren stieß dieser<br />
ungewohnt sanfte Ton bei der<br />
staatlichen Wahlleiterin Lidija<br />
Jermoschina, die sogleich betonte,<br />
dass der Dialog zwischen<br />
beiden Seiten weiterhin Perspektiven<br />
habe. Ihr pflichtete Andrej<br />
Papow bei, Pressesekretär des<br />
belarussischen Außenministeriums.<br />
Papow wies darauf hin, dass<br />
Brüssel die Anstrengungen der<br />
Staatsmacht sehr wohl erkannt<br />
habe. Sie seien lediglich nicht hoch<br />
genug bewertet worden, setzte der<br />
Sprecher nach.<br />
Versöhnliche Töne stimmte auch<br />
der deutsche Botschafter in Minsk,<br />
Gebhardt Weiss, an. Seiner Mei-<br />
Innenpolitik<br />
nung nach waren die Wahlen<br />
deshalb nicht wie vom Westen<br />
gewünscht verlaufen, weil „das,<br />
was von oben gewollt wurde,<br />
nicht vollständig und konsequent<br />
umgesetzt wurde”. Mit anderen<br />
Worten: Weiss ging davon aus,<br />
dass die Staatsführung sehr wohl<br />
demokratische Wahlen angestrebt<br />
hätte, der Machtapparat vor Ort<br />
jedoch anders vorgegangen sei.<br />
Zum Ärger einiger Oppositioneller<br />
und Regimekritiker, die<br />
finden, der Westen verschließe die<br />
Augen vor Wahlfälschungen, stehen<br />
die Zeichen also nach wie vor<br />
auf Dialog. Spannend bleibt die<br />
Frage, welcher Spieler sich zuerst<br />
in die Karten schauen lässt. Wird<br />
die EU zuerst ihr Verdikt über<br />
die belarussischen Wahlen fällen<br />
oder <strong>Belarus</strong> seines über die Souveränität<br />
von Süd-Ossetien und<br />
Abchasien? Russen und Europäer<br />
werden beide Geld und Einfluss in<br />
die Waagschale werfen, um <strong>Belarus</strong><br />
auf ihre Seite zu ziehen.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 11
Innenpolitik<br />
Explosion mit Folgen<br />
(Walerij dorochin, Minsk) Mit etwa einem Kilo schrauben und Metallbolzen war die bombe gefüllt, die in<br />
der Nacht zum 4. Juli bei den feierlichkeiten zum unabhängigkeitstag im Zentrum von Minsk explodierte.<br />
sie riss belarus aus dem traum, nur Nachbarländer würden von terroranschlägen heimgesucht, während<br />
im eigenen Land ruhe und Ordnung herrsche. schon bald machten erste theorien die runde, wer hinter<br />
dem Anschlag stecken könnte, und in der staatlichen chefetage rollten Köpfe. Was war geschehen?<br />
Obwohl die Bombe direkt in der<br />
feierfreudigen Menschenmenge<br />
hochgegangen war, wurde nach<br />
offiziellen Angaben von den 55<br />
Betroffenen niemand schwer verletzt.<br />
Trotz der großen Anzahl an<br />
Verletzten beließ es die Polizei<br />
bei einer Absperrung des Explosionsorts,<br />
und die Feierlichkeiten<br />
gingen weiter. Innenminister<br />
Naumow räumte später ein, dass<br />
seine Mitarbeiter bereits anderthalb<br />
Stunden vor der Explosion<br />
eine erste Bombe gefunden und<br />
entschärft hätten.<br />
Bereits eine halbe Stunde nach der<br />
Explosion war Präsident Lukaschenko<br />
persönlich vor Ort und<br />
gab Ärzten und Polizisten Anweisungen,<br />
ohne dabei den Eindruck<br />
zu machen, er fürchte um sein Leben.<br />
Dabei hatte sich Lukaschenko<br />
nach eigenen Angaben direkt auf<br />
der gegenüberliegenden Straßenseite<br />
befunden.<br />
POLItIsch MOtIvIertes<br />
ATTENTAT?<br />
Trotz des Schadens und des medialen<br />
Aufsehens erklärte die<br />
Polizei bald darauf, man ermittle<br />
nicht wegen eines terroristischen<br />
Anschlags sondern wegen Rowdytums.<br />
Anatolij Kuleschow, Chef<br />
der Minsker Polizei, vermutete,<br />
die Bombe hätten „jene gelegt,<br />
die unzufrieden mit dem schönen<br />
Unabhängigkeitstag waren”.<br />
Offenbar eine Anspielung, denn<br />
traditionell kritisiert die Opposition<br />
den Unabhängigkeitstag als zu<br />
sowjetisch und historisch falsch.<br />
Auch Alexander Lukaschenko<br />
nannte die Explosion später „politisch”.<br />
Wohl deshalb nahm die<br />
Polizei bereits am nächsten Tag<br />
die ersten Oppositionellen fest und<br />
befragte sie zu dem Attentat.<br />
uNGeWöhNLIche<br />
befrAGuNGeN...<br />
Während den Befragten nahe<br />
gelegt wurde, Speichelproben zu<br />
hinterlassen, beobachteten die<br />
Minsker verdutzt, dass auf den<br />
Straßen ihrer Stadt Polizisten,<br />
vom Streifenbeamten bis zum<br />
Unteroffizier, wahllos Fußgänger<br />
danach befragten, ob sie etwas<br />
mit der Explosion zu tun gehabt<br />
hätten. Die Situation wurde immer<br />
skuriler, als Kadetten der<br />
Akademie des Innenministeriums<br />
von Haus zu Haus gingen und<br />
Bewohner befragten, ob sie bereits<br />
an Kampfeinsätzen teilgenommen<br />
oder sich in Zonen lokaler Konflikte<br />
aufgehalten hätten. Eine<br />
seltsame Ermittlungsmethode, die<br />
die Ordnungskräfte relativ bald<br />
einstellten.<br />
...uNd KLAssIsche<br />
erMIttLuNGeN<br />
Auf einmal erklärte die Polizei,<br />
sie habe auch gar nicht, wie zuerst<br />
angekündigt, alle zwei Millionen<br />
Minsker befragen wollen, setzte<br />
die bemitleidenswerten Oppositionellen<br />
wieder auf freien Fuß und<br />
begann, auf klassische Art und<br />
Weise zu ermitteln: Sie befragte<br />
Augenzeugen und untersuchte die<br />
Materialien, aus denen die Bombe<br />
gebaut worden war. Man arbeite<br />
auf Hochtouren, versicherte die<br />
Minsker Polizeiverwaltung.<br />
Nennenswerte Ergebnisse förderte<br />
die hochtourige Untersuchung<br />
allerdings nicht zu Tage. Deshalb<br />
machten erste Gerüchte die Runde,<br />
die Staatsmacht habe selber die<br />
Explosion inszeniert. Tatsächlich<br />
warfen einige Fakten Fragen auf,<br />
darunter die Tatsache, dass der<br />
Präsident erstaunlich schnell vor<br />
Ort war und erstaunlich ruhig<br />
blieb – der Anschlag hätte ja auch<br />
ihm gegolten haben können.<br />
Außerdem mutete seltsam an,<br />
dass die Polizei die Feierlichkeiten<br />
weder nach dem Fund der ersten<br />
Bombe, noch nach der Explosion<br />
der zweiten Bombe abbrach. Besonders<br />
schwer wog in den Augen<br />
der Verschwörungstheoretiker<br />
jedoch ein Zitat von Alexander<br />
Lukaschenko, der nur eine Woche<br />
vor dem Unglück in einem Zeitungsinterview<br />
gewarnt hatte, die<br />
Opposition könne „Pogrome und<br />
Explosionen” organisieren.<br />
verschWöruNG vON<br />
ObeN...<br />
Die Verschwörungstheorien<br />
trieben wilde Blüten. Dennoch<br />
scheint die Version eines staatlich<br />
inszenierten Attentats wenig<br />
glaubwürdig. Welche Vorteile<br />
hätte Lukaschenko davon? Um<br />
die schwächelnde belarussische<br />
Opposition in ihre Schranken zu<br />
weisen, braucht das Staatsoberhaupt<br />
keine Bombe hochgehen zu<br />
lassen. Außerdem machten sich<br />
die staatlichen Medien nicht, wie<br />
so oft, über die Opposition her<br />
– das Fernsehen sendete weder<br />
die berüchtigten Reportagen über<br />
ausländische Spione, noch über bewaffnete<br />
Kämpfer, die in Litauen<br />
und Polen ausgebildet würden.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
...Oder bedrOhuNG vON<br />
OsteN<br />
Deshalb bevorzugten viele Beobachter<br />
bald einer zweite Version<br />
des Geschehens. Demnach kam<br />
die Bedrohung nicht von oben,<br />
sondern von Osten, genauer gesagt<br />
aus Russland. Dass die Beziehungen<br />
zwischen Lukaschenko<br />
und der russischen Staatsführung<br />
keinesfalls harmonisch verlaufen,<br />
ist kein Geheimnis. Der Kreml stellt<br />
seit Jahren immer höhere Forderungen<br />
und bietet seinem kleinen<br />
Bruder immer weniger dafür an.<br />
Deshalb flirtet Lukaschenko inzwischen<br />
offen mit dem Westen, ja er<br />
heuerte sogar den politischen PR-<br />
Berater Lord Timothy Bell an, der<br />
schon Margaret Thatcher beriet.<br />
Den wohlwollenden Worten von<br />
der Dialogbereitschaft ließ Lukaschenko<br />
bald Taten folgen. Zuerst<br />
ließ er die letzten drei politischen<br />
Gefangenen frei, dann verweigerte<br />
er Moskau eine Anerkennung der<br />
abtrünnigen georgischen Regionen<br />
Süd-Ossetien und Abchasien.<br />
Gut möglich, dass die aggressiven<br />
russischen Eliten diesen Schritt<br />
als Hochverrat werteten und sich<br />
dazu entschlossen, Lukaschenko<br />
eine Lektion zu erteilen nach<br />
dem Motto: Schau her, wenn wir<br />
wollen, können wir dein Land ins<br />
Chaos stürzen. Die Gelegenheit<br />
dafür war nahezu perfekt: Zunächst<br />
ein repräsentativer Anlass,<br />
der Unabhängigkeitstag, bei dem<br />
aller Augen auf die Staatsführung<br />
und ihre Ordnungskräfte gerichtet<br />
sind; dann die kompromitierenden<br />
Aussagen von Lukaschenko im<br />
Interview, aus denen man ihm<br />
im Nachhinein ein Fettnäpfchen<br />
machen konnte.<br />
Innenpolitik<br />
überrAscheNde<br />
AusWIrKuNGeN<br />
Wer auch immer hinter dem Attentat<br />
steht, er hat zumindest Staub<br />
in den staatlichen Chefetagen<br />
aufgewirbelt. Denn Lukaschenko<br />
entließ aufgrund des Attentats<br />
sowohl den Chef seiner Präsidialverwaltung,<br />
Genadij Newyglas,<br />
als auch den Kopf des Nationalen<br />
Sicherheitsrats, seinen alten Weggefährten<br />
Viktor Schejman (siehe<br />
Artikel auf Seite 9). Die neuen<br />
starken Männer heißen nun Jurij<br />
Schadobin, Ex-KGB-Chef, und<br />
Wladimir Makej, vormals Berater<br />
des Präsidenten. Beide gelten als<br />
pro-westlich, so dass das Bombendrama,<br />
so sarkastisch das klingen<br />
mag, vermutlich positive Folgen<br />
für die Beziehungen zur EU haben<br />
wird.<br />
Sanitäter verarzten einen Verletzten nach der Bombenexplosion. photo.bymedia.net<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 1
Chronologie<br />
Chronologie von 14. Juli bis 5. Oktober 2008<br />
14.-20. Juli<br />
Alexander Lukaschenko ernennt<br />
Wladimir Makej zum neuen Chef<br />
der Präsidialverwaltung, Ex-KGB-<br />
Chef Jurij Schadobin wird neuer<br />
Vorsitzender des Sicherheitsrats.<br />
Nach Informationen der zentralen<br />
Wahlkommission sind 38 Vertreter<br />
oppositioneller Parteien in<br />
regionalen Wahlkommissionen<br />
vertreten. Das ist etwa ein Drittel<br />
aller Parteienvertreter.<br />
Die Oppositionsbewegung für<br />
die Freiheit von Alexander Milinkewitsch<br />
klagt erfolglos vor dem<br />
Verfassungsgericht gegen die Ablehnung<br />
ihrer Registrierung.<br />
Das belarussische Statistikministerium<br />
erklärt, dass die Preise seit<br />
Jahresbeginnn um etwa sieben<br />
Prozent angestiegen seien.<br />
Die Polizei lässt die letzten Oppositionellen<br />
frei, die im Zusammenhang<br />
mit der Bombenexplosion am<br />
Tag der Unabhängigkeit vorläufig<br />
festgenommen worden waren.<br />
21.-27. Juli<br />
Die Zeitung Sudan Tribune behauptet,<br />
<strong>Belarus</strong> habe zwölf MiG-<br />
29-Jäger an den Sudan verkauft.<br />
Das belarussische Außenministerium<br />
schweigt dazu.<br />
Die oppositionelle Jugendorganisation<br />
Junge Front wird die bevorstehenden<br />
Parlamentswahlen boykottieren,<br />
erklärt ihr Vorsitzender<br />
Dmitrij Daschkewitsch.<br />
In Minsk treffen sich der venezuelanische<br />
Präsident Hugo Chavez<br />
und Alexander Lukaschenko; sie<br />
unterzeichnen zwei Verträge zur<br />
Ölförderung.<br />
Die litauische Botschaft in Minsk<br />
wird von Unbekannten mit Slogans<br />
der rechtsradikalen Russischen<br />
Nationalen Einheit beschmiert.<br />
„Gazprom” bestätigt, die belarussische<br />
„Beltransgas” habe keine<br />
Schulden mehr für Lieferungen.<br />
METRO, IKEA und andere ausländische<br />
Konzerne führen Verhandlungen<br />
mit dem belarussischen<br />
Handelsministerium über die Eröffnung<br />
von Filialen in <strong>Belarus</strong>.<br />
28. Juli - 3. August<br />
In Minsk treffen die ersten internationalen<br />
Beobachter der Parlamentswahlen<br />
ein. Sie gehören der<br />
GUS-Mission an.<br />
In Teheran findet das Treffen der<br />
Blockfreien statt. <strong>Belarus</strong> setzte<br />
sich für den Kampf gegen Menschenhandel<br />
und den Zugang zu<br />
alternativer Energietechnik ein.<br />
US-Präsidentschaftskandidat Mc-<br />
Cain spricht sich für Wirtschaftssanktionen<br />
gegen <strong>Belarus</strong> aus.<br />
Die <strong>Belarus</strong>sische Sozialdemokratische<br />
Partei wählt überraschend<br />
Anatolij Lewkowitsch statt Ex-<br />
Präsidentschaftskandidat Kosulin<br />
zum Vorsitzenden.<br />
4.-10. August<br />
Alexander Lukaschenko unterschreibt<br />
das neue Gesetz über die<br />
Massenmedien, das unter anderem<br />
Internetressourcen registrierungspflichtig<br />
macht.<br />
Ivars Godmanis, Premier von Lettland,<br />
erklärt, er habe sich Anfang<br />
Juli - gegen die Praxis der EU - mit<br />
seinem belarussischen Kollegen<br />
Sergej Sidorskij getroffen.<br />
Die USA werden in nächster Zeit<br />
die abberufene Botschafterin Karen<br />
Stuart nicht ersetzen, erlärt ihr<br />
Chargé d‘Affaires Jonathan Moore<br />
in Minsk.<br />
Alexander Lukaschenko fliegt<br />
nach Peking zur Eröffnung der<br />
Olympischen Spiele und trifft dort<br />
auch Staatspräsident Hu Jintao.<br />
Das belarussische Außenministerium<br />
erklärt seine „tiefe Besorgnis”<br />
aufgrund des georgischen Angriffs<br />
auf Süd-Ossetien.<br />
11.-17. August<br />
Hans-Jochen Schmidt, Chef des<br />
OSZE-Büros in <strong>Belarus</strong>, besucht<br />
Alexander Kosulin in der Haft.<br />
Der indische Botschafter in <strong>Belarus</strong>,<br />
Rajendra Kumar Tyagi, erklärt, das<br />
Handelsvolumen zwischen beiden<br />
Ländern wachse schnell auf bald<br />
400 Millionen US-Dollar.<br />
Laut belarussischem Statistikministerium<br />
ist das BIP im ersten<br />
Halbjahr um 10,3 Prozent im Vergleich<br />
zum Vorjahr gestiegen.<br />
Der deutsche Botschafter Gebhardt<br />
Weiss besucht unangekündigt die<br />
Präsidialverwaltung.<br />
In Moskau trifft sich Premier Sergej<br />
Sidorskij mit seinem russischen<br />
Kollegen Wladimir Putin.<br />
Präsident Lukaschenko begnadigt<br />
Ex-Präsidentschaftskandidat Alexander<br />
Kosulin, der vom Westen<br />
als politischer Gefangener Nr. 1<br />
gehandelt wurde.<br />
18.-24. August<br />
Alexander Lukaschenko und<br />
Dmitrij Medwedjew treffen sich in<br />
Sotschi und einigen sich auf eine<br />
gemeinsame Raketenabwehr.<br />
Die beiden letzten inoffiziellen politischen<br />
Gefangenen Andrej Kim<br />
und Sergej Parsjukewitsch werden<br />
vorzeitig entlassen.<br />
Alexander Lukaschenko trifft sich<br />
in Sotschi mit den Präsidenten von<br />
Süd-Ossetieten und Abchasien. Er<br />
erklärt, Russland habe sich in dem<br />
Konflikt richtig verhalten.<br />
Der Europarat, die EU-Kommissarin<br />
Ferrero-Waldner sowie der<br />
deutsche Außenminister Steinmeier<br />
begrüßen die Entlassung<br />
politischer Gefangener.<br />
Die Oppositionskoalition Vereinte<br />
Demokratische Kräfte erklärt, sie<br />
werde die Wahlergebnisse wegen<br />
unzureichender Wahlbeobachtung<br />
nicht anerkennen.<br />
25.-31. August<br />
Laut Wirtschaftsministerium hat<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
sich das Handelsvolumen mit<br />
GUS-Ländern im ersten Halbjahr<br />
2008 um über 62 Prozent auf etwa<br />
21 Milliarden US-Dollar erhöht.<br />
Alexander Michalewitsch von der<br />
Akademie der Wissenschaften<br />
fordert eine bessere Information<br />
der Bevölkerung über den bevorstehenden<br />
Bau des belarussischen<br />
Atomkraftwerks.<br />
Robert Wood vom US-Außenministerium<br />
erklärt, die USA würden<br />
ihre Sanktionen gegen <strong>Belarus</strong><br />
aufheben, wenn Minsk politische<br />
Reformen einleiten würde.<br />
Alexander Lukaschenko besetzt<br />
mehrere hochgestellte Posten im<br />
Nationalen Sicherheitsrat, Grenzkontrollkomitee<br />
und Außenministerium<br />
neu.<br />
Die oppositionelle <strong>Belarus</strong>sische<br />
Volksfront will ihre Kandidaten<br />
kurz vor den Parlamentswahlen<br />
zurückziehen, da diese nicht frei<br />
und fair stattfänden.<br />
1.-7. september<br />
Alexander Lukaschenko genehmigt<br />
Verhandlungen für ein Investitionsabkommen<br />
mit Aserbaidschan,<br />
als Basis für Verhandlungen eines<br />
Regierungsabkommens.<br />
Gediminas Kirkilas, Premier von<br />
Litauen, bespricht mit seinem<br />
belarussischen Kollegen Sergej<br />
Sidorski die Visakosten und die<br />
Zusammenarbeit beim Bau von<br />
Atomkraftwerken.<br />
Laut GUS-Statistikministerium ist<br />
das belarussische Industrie-BIP<br />
im ersten Halbjahr 2008 um 13,1<br />
Prozent gestiegen – auf den dritten<br />
Rang in der Gemeinschaft.<br />
Anatolij Lebedko, Vorsitzender der<br />
Vereinten Bürgerpartei, erklärt im<br />
Staatsradio, es werde keine „ehrliche<br />
Stimmenauszählung” bei den<br />
Parlamentswahlen geben.<br />
Die USA heben Sanktionen gegen<br />
zwei belarussische Firmen auf.<br />
In Moskau einigen sich die Mitglieder<br />
der Organisation des Vertrags<br />
über Kollektive Sicherheit<br />
nicht auf eine Anerkennung von<br />
Südossetien und Abchasien.<br />
Die Staats- und Regierungschefs<br />
der EU beschließen in Avignon,<br />
<strong>Belarus</strong> diplomatisch entgegenzukommen<br />
aufgrund der Entlassung<br />
politischer Gefangener.<br />
8.-14. september<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
dass erst das neue belarussische<br />
Parlament über die Anerkennung<br />
von Abchasien und Süd-Ossetien<br />
entscheiden werde.<br />
Der Warenaustausch zwischen<br />
<strong>Belarus</strong> und Russland wird in<br />
diesem Jahr bei über 30 Milliarden<br />
Dollar liegen, verkündet Präsident<br />
Lukaschenko.<br />
Innenminister Wladimir Naumow<br />
trifft sich mit dem Leiter der<br />
OSZE-Wahlbeobachter, Geert Ahrens,<br />
der das Treffen als „freundschaftlich”<br />
beschreibt.<br />
Die südafrikanische Außenministerin<br />
Dlamini-Zuma trifft sich<br />
in Minsk mit ihrem Kollegen<br />
Martynow, der Südafrika und<br />
<strong>Belarus</strong> als strategische Partner<br />
bezeichnet.<br />
Der Oberste Gerichtshof gibt 2<br />
von 17 Beschwerden von nicht<br />
zugelassenen Kandidaten zu den<br />
Parlamentswahlen statt.<br />
Der polnische Außenminister Radoslav<br />
Sikorski spricht in Minsk<br />
mit seinem Kollegen Sergej Martynow<br />
unter anderem über den<br />
Dialog zwischen EU und <strong>Belarus</strong>.<br />
Die Oppositionskoalition Vereinte<br />
Demokratische Kräfte legt sich<br />
darauf fest, an den Parlamentswahlen<br />
teilzunehmen.<br />
15.-21. september<br />
Der Pressessprecher des Außenministeriums<br />
erklärt, <strong>Belarus</strong> erwarte<br />
von der EU „keine Erklärungen,<br />
sondern konkrete Handlungen”<br />
für eine Annäherung.<br />
Die Weltbank stellt in ihrem „Doing-Business”-Report<br />
eine Verbesserung<br />
der Bedingungen für<br />
die Wirtschaft in <strong>Belarus</strong> fest. Das<br />
Chronologie<br />
Land nimmt nun den 80. Platz<br />
unter 181 Ländern ein.<br />
Ex-Präsidentschaftskandidat Milinkewitsch<br />
erklärt in Berlin den<br />
Dialog von Europa und <strong>Belarus</strong> für<br />
„lebensnotwendig” und trifft auch<br />
Kanzlerin Angela Merkel.<br />
Alexander Lukaschenko erklärt,<br />
<strong>Belarus</strong> werde jede Gespräche<br />
mit dem Westen abbrechen, wenn<br />
dieser die Parlamentswahlen nicht<br />
anerkennt.<br />
22.-28. september<br />
Das Europaparlament hat den Oppositionellen<br />
Alexander Kosulin<br />
zu einem von drei Kandidaten für<br />
den Sacharow-Preis für Menschenrechte<br />
nominiert.<br />
EU-Generalsekretär Javier Solana<br />
telefoniert mit Alexander<br />
Lukaschenko über eine mögliche<br />
Annäherung zwischen EU und<br />
<strong>Belarus</strong>.<br />
Der Warenaustausch zwischen der<br />
EU und <strong>Belarus</strong> sei in den letzten<br />
acht Jahren um das 15-fache gestiegen,<br />
erklärt Außenministeriums-<br />
Sprecher Popow.<br />
Die Präsidenten der abtrünnigen<br />
georgischen Republiken Abchasien<br />
und Süd-Ossetien bitten<br />
Alexander Lukaschenko um Anerkennung<br />
ihrer Souveränität.<br />
Bertrand de Crombrugghe, belgischer<br />
Botschafter für Russland<br />
und <strong>Belarus</strong>, erklärt, er sei für<br />
die Abschaffung der Sanktionen<br />
gegen Minsk.<br />
In <strong>Belarus</strong> finden Parlamentswahlen<br />
statt.<br />
29. september – 5. Oktober<br />
In Minsk fordern 300 Oppositionelle<br />
eine Wiederholung der<br />
Parlamentswahlen.<br />
OSZE und USA erklären, die<br />
Wahlen hätten nicht internationalen<br />
Standards entsprochen.<br />
Russland kritisiert dies.<br />
Das belarussische Budget weist<br />
in den ersten acht Monaten des<br />
Jahres einen Überschuss von 1,1<br />
Milliarden Euro auf.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 1
Wirtschaft<br />
Gasgeruch in der Luft<br />
(sergej Glagolew, Minsk) In den nächsten Jahren wird das Gasproblem wohl weiterhin ein dauerbrenner<br />
bleiben in der russisch-belarussischen Großküche, die von Moskau und Minsk gemeinsam bewirtschaftet<br />
wird. dabei hatte man sich eigentlich auf einen Gaspreis geeinigt – doch nun kehren beide seiten wieder<br />
zu den traditionellen tarifstreitigkeiten zurück. der Grund dafür ist klar: die belarussische seite möchte<br />
weniger für Gas bezahlen, Gazprom will das verhindern. Wer wird Sieger im duell der Preiskämpfer?<br />
Die jetzigen Komplikationen in<br />
der Gasfrage kamen bereits im<br />
Sommer auf. Es stellte sich heraus,<br />
dass Minsk weiterhin den Preis<br />
des Vorquartals von 119 Dollar<br />
für 1000 Kubikmeter zahlte und<br />
nicht die vorher vereinbarten 128<br />
Dollar. Begründung: Man wolle<br />
erst den Preis für Gastransit über<br />
eigenes Territorium aushandeln,<br />
so der stellvertretende belarussische<br />
Energieminister Eduard<br />
Towpenez. Damit begann Minsk<br />
offiziell die durch Gazprom früher<br />
angekündigte Kennmarke von 128<br />
Dollar zu ignorieren. Ohne Erfolg:<br />
Der Gaspreis wurde dennoch auf<br />
128 Dollar festgesetzt.<br />
Nun kam jedoch ein neues Problem<br />
auf. Die russische Seite warf<br />
<strong>Belarus</strong> vor, Vermögen von „Beltransgas“<br />
an den belarussischen<br />
Staatsfond abgeführt zu haben<br />
– obwohl das Aktienkontrollpaket<br />
bald Gazprom gehören soll. Die<br />
Russen fürchteten, ihre Verhandlungspartner<br />
räumten vor dem<br />
Verkauf noch schnell den Firmentresor<br />
leer. Nervosität breitete sich<br />
aus. Am 6. August erklärte der<br />
russischer Botschafter in <strong>Belarus</strong>,<br />
Alexander Surikow, dass Beltransgas<br />
2006 nur 0,25 Prozent an das<br />
Budget gezahlt habe, 2007 seien<br />
es schon 8,1 Prozent und 2008<br />
gar 19 Prozent gewesen. Surikow<br />
erklärte jedoch der Öffentlichkeit,<br />
beide Seiten hätten sich geeinigt,<br />
und in der zweiten Hälfte 2008<br />
würden die Zuführungen wieder<br />
auf 8,1% gesenkt. Allerdings hat<br />
die russische Seite bereits weiteren<br />
Gesprächsbedarf angemeldet.<br />
Später teilte Surikov mit, dass man<br />
im September-Oktober zur Frage<br />
des belarussischen Gaspreises zu-<br />
rückkehren wolle. Nach Auskunft<br />
des Botschafters ist es unabdingbar,<br />
den <strong>Belarus</strong>sen „eine größere<br />
Zusatzzahlung für neun Monate<br />
zu berechnen, da die Preise für<br />
Erdölprodukte gestiegen sind.“<br />
Ob es zu einer „Ermäßigung der<br />
Gaspreise“ kommen wird, konnte<br />
Surikow nicht sagen. Er stellte<br />
jedoch fest, dass eine Änderung<br />
des vereinbarten Satzes vom<br />
31.12.2006 nicht nötig sei. Minsk<br />
gibt die Hoffnung jedoch nicht auf<br />
und strebt ein Zusatzabkommen<br />
zum bestehenden Vertrag an, das<br />
niedrige Preise enthält.<br />
Währenddessen wies der stellvertretende<br />
Direktor von „Beltransgas“,<br />
Dmitrij Annjuk, Anfang<br />
September Spekulationen weit von<br />
sich, dass sein Unternehmen seine<br />
Schulden bei Gazprom nicht zahle.<br />
Annjuk zufolge wird sich der Gaspreis<br />
bis Ende dieses Jahres nicht<br />
mehr ändern, und das Problem mit<br />
den Abführungen von „Belatransgas“<br />
in den Haushalt des Energieministeriums<br />
sei für 2008 geklärt.<br />
Also alles eitel Sonnenschein?<br />
Wohl kaum. Nach Aussage des<br />
russischen Botschafters in <strong>Belarus</strong><br />
Surikow könnten die Gaspreise<br />
für belarussische Verbraucher<br />
im nächsten Jahr durchaus die<br />
200-Dollarmarke überschreiten.<br />
<strong>Belarus</strong> rechnet da anders. Man<br />
werde, so der stellvertretende Finanzminister<br />
Wladimir Amarin,<br />
das belarussische Budget 2009 in<br />
der Annahme berechnen, dass russisches<br />
Gas in Zukunft 140 Dollar<br />
für 1000 Kubikmeter kosten wird.<br />
In diesem Fall würde der Gaspreis<br />
für <strong>Belarus</strong> um nur 12 Dollar steigen,<br />
ein sehr optimistisches Szenario.<br />
Amarin räumte denn auch ein,<br />
die belarussische Regierung werde<br />
notfalls Mittel und Wege finden,<br />
um eine Verteuerung über den im<br />
Budget veranschlagten Grenzwert<br />
zu kompensieren. „Das Budget<br />
müsste überarbeitet werden. Dafür<br />
gibt es bestimmte Haushaltsverfahren.<br />
So oder so sind wir auf ein<br />
Anstieg der Preise vorbereitet“,<br />
meinte Amarin.<br />
Aber bis wohin steigt der Preis<br />
nun? Exakte Prognosen sind praktisch<br />
unmöglich, denn das Geschacher<br />
um den Gaspreis wird<br />
wohl ewig weitergehen, weil er<br />
letztlich nicht vom Markt, sondern<br />
von den Politikern in Moskau und<br />
Minsk gemacht wird. Ein Beispiel:<br />
Experten vermuten, dass, sollte<br />
<strong>Belarus</strong> die Unabhängigkeit von<br />
Südossetien und Abchasien anerkennen,<br />
der Gaspreis sich fast auf<br />
dem diesjährigen Niveau halten<br />
wird. Das bedeutet aber auch, dass<br />
<strong>Belarus</strong> weiter am Tropf günstiger<br />
russischer Energielieferungen<br />
hängen wird. Der Moskauer Gashahn<br />
bliebe weiterhin ein starkes<br />
Druckmittel. Viele Wirtschaftswissenschaftler<br />
sprechen bereits<br />
jetzt von sehr hohen Gebühren<br />
für Energieressourcen in <strong>Belarus</strong>.<br />
Ihr Anstieg um das Doppelte<br />
könnte die Wirtschaft schmerzlich<br />
treffen.<br />
Bisher stehen die Zeichen allerdings<br />
nicht auf Sturm, meint der<br />
freie Wirtschaftswissenschaftler<br />
Iwan Antaschkewitsch. Moskau,<br />
meint er, sei derzeit nicht daran<br />
interessiert, seine Partner mit ökonomischen<br />
Methoden an sich zu<br />
knebeln. Eine weitere Gaspreiserhöhung<br />
stehe Minsk also vorerst<br />
wohl nicht ins Haus.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
<strong>Belarus</strong> goes Recycling<br />
In der Sowjetunion war bekanntlich<br />
alles besser, auch das Umweltbewusstsein.<br />
In den 70er und 80er<br />
Jahren konnte man auf Minsker<br />
Straßen regelmäßig kommunistische<br />
Pioniere sehen, die von Haus<br />
zu Haus gingen, um Altpapier<br />
und Altmetall einzusammeln. Die<br />
kostbaren Wertstoffe wanderten<br />
danach in sowjetische Recyclinganlagen.<br />
Doch, oweh, die goldenen<br />
Zeiten sind vorbei. Heute<br />
ist Wiederverarbeitung teuer, der<br />
Glaspfand verschwindend gering.<br />
Also wirft jeder <strong>Belarus</strong>se seinen<br />
Müll, egal ob Plastik, Papier, Bio<br />
oder Glas, in eine der verrosteten<br />
eisernen Mülltonnen, die vor jedem<br />
Hochhaus stehen.<br />
Dass sich jedoch aus Dreck Gold<br />
machen lässt, wussten nicht nur<br />
die alten Römer. Seit der Einführung<br />
der Mülltrennung in Westeuropa<br />
weiß es die halbe Welt.<br />
Deshalb wagten sich belarussische<br />
Beamte zum ersten Mal vor sieben<br />
Jahren an das Thema Recycling<br />
und werden seither nicht müde, es<br />
regelmäßig auf die wirtschaftspolitische<br />
Tagesordnung zu setzen.<br />
Man sucht nach ausländischen<br />
Investitionen und tauscht sich mit<br />
anderen Ländern aus – in erster Linie<br />
natürlich mit Trennweltmeister<br />
Deutschland – und für NGOs und<br />
Ministerien finden reihenweise<br />
Seminare und Konferenzen statt.<br />
Den Worten folgten Taten: 2006<br />
tauchten in belarussischen Städten<br />
die ersten Trenncontainer auf, für<br />
Papier, Glas, Plastik und Dosen. In<br />
den Haushöfen blieb es bisher bei<br />
Plastiktonnen, doch 2008 begannen<br />
die Minsker Abfallbetriebe damit,<br />
auch in den Höfen der Vorstädte<br />
Mülltrennung anzubieten, bisher<br />
allerdings nur in der Hauptstadt.<br />
Umgerechnet knapp neun Millionen<br />
Euro pumpt <strong>Belarus</strong> 2008 in<br />
die Sammlung und Verarbeitung<br />
von Abfällen. Das Geld liegt in<br />
einem speziellen Haushaltsfonds<br />
und wird vor allem für Pilotprojekte<br />
im Recyclingbereich verwendet.<br />
Mit anderen Worten: Es wird<br />
analysiert, geplant und Geld investiert,<br />
wie es sich gehört – nur in zu<br />
geringen Mengen. Mülltrennung<br />
ist teuer. Es fehlt an Müllautos,<br />
Sortierförderbändern und Recyclingfabriken.<br />
In den Regionen hapert<br />
es vor allem an der Sortierung.<br />
Weil es ihnen an Technik und Geld<br />
fehlt, können die Abfallbetriebe<br />
selbst die bisherigen staatlichen<br />
Vorgaben nicht erfüllen.<br />
Dennoch hat der belarussische<br />
Staat erkannt, dass Abfall das<br />
Business der Zukunft ist, und setzt<br />
sich ehrgeizige Ziele: Der Prozentsatz<br />
an wiederverwertetem Abfall<br />
soll bis 2010 von unter 18 auf 25<br />
Prozent steigen, bis 2015 fordert<br />
der Staat sogar 40 Prozent. In den<br />
größeren belarussischen Städten<br />
ist der Bau von insgesamt 15 neuen<br />
Wiederaufarbeitungsanlagen geplant,<br />
fast alles multinationale Projekte<br />
mit deutscher, tschechischer,<br />
schwedischer, südkoreanischer<br />
und japanischer Beteiligung. In<br />
Brest sollen so Geräte der deutschen<br />
Firma Linden zum Einsatz<br />
kommen.<br />
Mit privaten Investitionen<br />
und<br />
Krediten will<br />
der Staat außerdem<br />
große Abgabestellen<br />
für<br />
Plastikflaschen<br />
a n S t a d t z u -<br />
fahrten schaffen<br />
sowie Sammel-<br />
und Sortierstationenaufbauen.<br />
Es gäbe<br />
s c h l i c h t w e g<br />
Wirtschaft<br />
(Marina rachlej, Minsk) Müll trennen, Müll sammeln – bisher sind das für den belarussischen bürger<br />
fremdworte. der Staat steuert dennoch zielstrebig ein westeuropäisches Recyclingsystem an. Kommt der<br />
belarussische „Grüne Punkt”?<br />
keine Alternative zur getrennten<br />
Müllsammlung, meint der stellvertretende<br />
Direktor der staatlichen<br />
Recyclingagentur „Belresursy”,<br />
Walerij Chodyko. Allerdings gibt<br />
Chodyko zu, dass „sich <strong>Belarus</strong><br />
erst am Anfang der Übergangsperiode<br />
zur Mülltrennung befindet”<br />
und mahnt an, dass Baupläne für<br />
Recyclingfabriken alleine kein Problemlösung<br />
seien. „Wir brauchen<br />
wirtschaftliche Anreize für Investoren,<br />
auch für ausländische. Und<br />
für unsere Firmen, damit sie ihre<br />
Produkte aus wiederverwertbaren<br />
Materialien herstellen”. Beispielsweise,<br />
so der Experte, könne man<br />
für solche Betriebe die Steuern<br />
senken oder günstige Kredite vergeben.<br />
Aber auch die Bevölkerung,<br />
findet Chodyko, brauche Anreize,<br />
damit sie zur Mülltrennung erzogen<br />
werde. Eine Belohnung<br />
von etwa 50 Eurocent sollten die<br />
Bürger pro Abfallladung für ihre<br />
Trennbemühungen bekommen.<br />
„Die Müllfrage”, unterstreicht<br />
Chodyko „ist für uns und unsere<br />
Kinder nicht nur eine Frage<br />
der Lebensqualität. Wir wollen<br />
schließlich auch in einem sauberen<br />
Land leben.” Mit solchen Slogans<br />
versucht das Umweltministerium<br />
die <strong>Belarus</strong>sen seit einiger Zeit<br />
auch in Fernseh- und Radiospots<br />
vom Recycling zu überzeugen.<br />
Polnische Touristin nutzt Mülltrennung an den Braslawer Seen.<br />
Martin Schön<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 1
Wirtschaft<br />
Minsk-City in den Wolken<br />
(sergej Glagolew, Minsk) Noch kreisen vor den toren von Minsk abends Airliner über den rollbahnen<br />
und setzen zur Landung an. die Anwohner haben sich schon längst an das dröhnen der turbinen gewöhnt<br />
und keiner glaubt hier so recht daran, dass schon bald ruhe einkehren soll. denn der flughafen Minsk-1<br />
soll dem Stadtbezirk Minsk-city weichen, einem investitions-Großprojekt, dass selbst in Russland seinesgleichen<br />
sucht.<br />
Auf dem Territorium des heutigen<br />
Flughafens und des Flugzeugwerks<br />
sollen auf einer Fläche von<br />
über 300 Hektar Wohnviertel für<br />
knapp 40.000 Einwohner und ein<br />
Hochhauskomplex mit Büro-,<br />
Handels- und Gastronomieflächen<br />
entstehen. Glanzstück des Bezirks<br />
wird ein Hochhaus mit bis zu 80<br />
Stockwerken. Weiterhin sollen<br />
ausländische Botschaften und<br />
Konsulate, ein Gemeindezentrum,<br />
Restaurants, Einkaufs- und Unterhaltungszentren<br />
in Minsk-City ihren<br />
Platz haben. Das Minsker Flugzeugwerk<br />
wird indes zusammen<br />
mit seinem großen Bruder, dem<br />
Flughafen, hinter den Minsker Autobahnring<br />
umziehen müssen. Die<br />
dadurch frei werdenden 300 Hektar<br />
Land bilden die Grundlage für<br />
das Großprojekt „Minsk-City“.<br />
Zu teuer uNd Zu<br />
LANGSAM?<br />
Stolze 30 Milliarden Dollar an Investitionen<br />
hatte der Hauptinvestor,<br />
die russische ITERA-Holding,<br />
zunächst veranschlagt. Allein die<br />
Ausarbeitung des Projekts sollte<br />
200 Millionen Dollar kosten.<br />
ITERA ist oberster Bauherr des<br />
Gesamtprojekts, für die Planung<br />
wurden aber auch einige kleinere<br />
Investoren heran gezogen. Selbst<br />
für ein derartiges Megaprojekt<br />
sind 30 Milliarden Dollar immer<br />
noch eine gigantische Summe – in<br />
Moskau wurden für ein ähnliches<br />
Bauvorhaben gerade einmal 10<br />
Milliarden Dollar eingeplant.<br />
Allerdings kursierten nach einer<br />
Besprechung bei Präsident Lukaschenko<br />
im Herbst bereits andere<br />
Summen. In einer Meldung<br />
des präsidialen Pressedienstes<br />
schrumpften die geplanten 30<br />
Milliarden Dollar auf 7 Milliarden<br />
zusammen, ohne dass das Projekt<br />
abgespeckt worden wäre. Der Arbeitsumfang<br />
blieb also der gleiche,<br />
der Bau ging dem Präsidenten aber<br />
wie gewöhnlich zu langsam. „Man<br />
muss viel schneller bauen, zwölf<br />
Jahre sind unstatthafter Luxus“,<br />
hob der Staatschef hervor. Ihm zur<br />
Folge hat sich im vergangenen Jahr<br />
„außer Gesprächen nichts getan“.<br />
„Worüber soll man da noch reden,<br />
wenn wir auf 300 Hektar bis 2020<br />
bauen, vielleicht sogar länger?<br />
Wenn das so weiter geht, werde<br />
ich ausländische Experten einladen,<br />
den Bau zu übernehmen“,<br />
stellte Lukaschenko klar.<br />
eIGeNer GeWINN<br />
Dem Minsker Bürgermeister<br />
Michail Pawlow zufolge sind<br />
die nun veranschlagten sieben<br />
Milliarden Dollar „ein realistisch<br />
berechnetes Projekt“. Gleichzeitig<br />
lässt es sich die Stadtverwaltung<br />
nicht nehmen, selber vom Investitionskuchen<br />
zu profitieren: Das<br />
Handelszentrum in Minsk-City<br />
soll durch ein Gemeinschaftsunternehmen<br />
der Minsker Stadtregierung<br />
und ITERA errichtet<br />
werden.<br />
Bemerkenswert ist, dass die Projektkosten<br />
in diesem Jahr noch<br />
weiter sanken. Der erste stellvertretende<br />
Bürgermeister Moskaus<br />
und Vorsitzende des Aufsichtsrats<br />
des Projekts, Wladimir Pesin, erklärte,<br />
die Bausumme solle „ungefähr<br />
fünf Milliarden US-Dollar<br />
betragen.“ Das heißt, dass von<br />
dem provisorisch bekanntgegebenen<br />
Investitionsvolumen nur<br />
ein Sechstel übrig geblieben ist.<br />
So stellen sich die Bauherren Minsk-City<br />
vor. www.naviny.by<br />
Wie es zu einem solchen Schwund<br />
kommen konnte, ist unklar.<br />
PLAN uNd reALItät<br />
Gleichzeitig bleibt keineswegs<br />
ausgeschlossen, dass im Laufe der<br />
Bauarbeiten zusätzliche Finanzspritzen<br />
nötig werden. Der Hauptteil<br />
der Bauarbeiten ist erst für 2010<br />
geplant. Bis zu Beginn des Jahres<br />
soll das Minsker Flugzeugwerk<br />
hinter den Minsker Autobahnring,<br />
also außerhalb der Stadt, umziehen,<br />
zusammen mit dem Flughafen.<br />
Der Umzug fällt mit 170 Millionen<br />
Dollar relativ bescheiden aus<br />
und soll bereits in diesem Herbst<br />
beginnen. Ob der Plan eingehalten<br />
werden kann, mag jedoch getrost<br />
bezweifelt werden, denn bisher ist<br />
noch keine Schraube des Werkes<br />
entfernt worden, und über Minsk-<br />
City ziehen noch immer Flugzeuge<br />
ihre Kreise und warten auf die<br />
Landeerlaubnis.<br />
1 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Wird BeST wirklich besser?<br />
Bis vor kurzem war BeST noch<br />
ein Unikum auf dem osteuropäischen<br />
Mobilfunktmarkt gewesen,<br />
der einzige Anbieter, der zu 100<br />
Prozent in Staatshand war. Seit<br />
neuestem legt nun nicht mehr der<br />
Staat die Klingeltöne der etwa<br />
180.000 Abonnenten fest, sondern<br />
Turkcell. Dafür musste der<br />
türkische Mobilfunkriese einiges<br />
auf den Tisch legen. Neben dem<br />
Kaufpreis von etwa 600 Millionen<br />
Dollar muss Turkcell 500 Millionen<br />
investieren, um, wie es im<br />
Vertrag heißt, BeST „zu einem<br />
konkurrenzfähigen Anbieter auf<br />
dem belarussischen Markt zu<br />
machen.“ Mehmet Dschiliw, Generaldirektor<br />
von Turkcell, war<br />
denn auch frohen Mutes nach<br />
dem Großeinkauf: „Wir sind nach<br />
<strong>Belarus</strong> gekommen, um zu investieren<br />
und glauben, dass das Land<br />
ein hohes Entwicklungspotenzial<br />
hat, sowohl wirtschaftlich als auch<br />
technisch. Deshalb wollen wir aus<br />
BeST einen der weltweit besten<br />
Mobilfunkanbieter machen.“ Be-<br />
eindruckende Pläne. Doch wird<br />
Dschiliw sie auch umsetzen können?<br />
Die Experten waren sich nach<br />
dem Deal zumindest einig, dass<br />
er für die belarussische Seite ein<br />
großartiges Geschäft ist. Denn<br />
im Prinzip handelt es sich um<br />
den Verkauf einer Sendelizenz,<br />
die die Staatsfirma BeST vor vier<br />
Jahren für lächerlich geringe 100<br />
Euro beim eigenen Ministerium<br />
erstand. Bisher konnte sich BeST<br />
auch nicht wirklich auf dem hart<br />
umkämpften belarussischen Mobilfunkmarkt<br />
durchsetzen und<br />
nimmt mit seinen mageren 2,5<br />
Prozent Marktanteil den dritten<br />
Platz unter vier Anbietern ein,<br />
weit abgeschlagen hinter den Millionen<br />
Kunden der Marktführer<br />
MTS und Velcom. Dennoch hat<br />
sich BeST in der Nische der unteren<br />
Einkommensschichten mit<br />
Billigangeboten eingenistet. Ob<br />
die Wachstumsperspektive hier<br />
allerdings groß ist, darf bezweifelt<br />
Benzinpreise schnellen in die Höhe<br />
Wirtschaft<br />
(sergej Glagoljew, Minsk) der staatliche Mobilfunkanbieter best wechselt den besitzer. für stolze 1,1<br />
Milliarden dollar an Kaufpreis und Invesititionsgarantien erstand die türkische turkcell die angeschlagene<br />
firma. Sicher ein guter deal für den Staat – aber auch für den investor?<br />
(Andrej Alexandrowitsch, Minsk) Gleich dreimal hob der staat zwischen Juni und Juli die Preise für benzin<br />
und diesel an. offizielle Begründung: die gestiegenen Weltmarktpreise für Öl und die Profitabilität des<br />
binnengeschäfts des staatskonzerns belneftechim. experten sehen noch einen weiteren Grund.<br />
Innerhalb von anderthalb Monaten<br />
schnellte der Dieselpreis an belarussischen<br />
Tankstellen von umgerechnet<br />
50 auf 68 Eurocent nach<br />
oben, der Liter Benzin von 64 auf<br />
75 Eurocent. Folge für die Verbraucher<br />
war eine allgemeine Preissteigerung.<br />
Die Mitschuldigen ließ das<br />
kalt. Aus der Konzernzentrale von<br />
Belneftechim hieß es, alleine der<br />
Dieselverkauf sei im letzten Jahr<br />
wegen zu niedriger Preise um 45<br />
Prozent angestiegen. Es habe sich<br />
für belarussische Händler eben gerechnet,<br />
belarussische Kraftstoffe<br />
im großen Stil auf- und im europäischen<br />
Ausland weiterzuverkaufen.<br />
Selbstverständlich wollte man<br />
bei Belneftechim nicht dabei zusehen,<br />
wie Zwischenhändler satte<br />
Gewinne einstreichen und machte<br />
sich deshalb für eine Erhöhung der<br />
Binnenmarktpreise stark.<br />
Beobachter meinen unterdessen,<br />
dass der offiziell vorgeschobene<br />
Weltmarktpreis kaum schuld an<br />
der Preisexplosion sei. Denn in<br />
<strong>Belarus</strong> legt nach wie vor der Staat<br />
die Preise fest, nicht der Markt, so<br />
werden, zumal BeST im ersten<br />
Halbjahr 2008 lediglich 5000 Neukunden<br />
hinzugewinnen konnte.<br />
Dabei hat das Staatskind durchaus<br />
die technischen Voraussetzungen<br />
für Dschiliws Wachstumsträume:<br />
Der Anbieter deckt 30 Prozent<br />
des Territoriums ab, in dem fast<br />
70 Prozent der Bevölkerung leben.<br />
Dennoch lief das Geschäft<br />
in den letzten Jahren offenbar so<br />
schlecht, dass einige Sendemasten<br />
vom Stromnetz genommen<br />
werden mussten, weil BeST seine<br />
Rechnungen nicht gezahlt hatte.<br />
Außerdem berichtete die Presse<br />
über viele unzufriedene Kunden,<br />
die BeST wieder verlassen hätten.<br />
Beobachter hatten bisher vor allem<br />
die unflexible und schwerfällige<br />
Unternehmensführung und<br />
ihren staatlichen Großaktionär<br />
für die Misserfolge verantwortlich<br />
gemacht. Der neue Eigentümer<br />
und ein neues Management<br />
könnten BeST also durchaus neuen<br />
Schwung verleihen und den Markt<br />
beleben.<br />
dass vermutlich banales staatliches<br />
Profitstreben hinter der Preiserhöhung<br />
stehe. Dabei hätten die Preise<br />
noch viel stärker ansteigen können,<br />
meinen Wirtschaftsexperten,<br />
und vermuten, dass die staatliche<br />
„Zurückhaltung“ mit der Ernte zusammenhängt.<br />
Eine Verteuerung<br />
von Kraftstoffen hätte die ohnehin<br />
mageren landwirtschaftlichen Gewinne<br />
wohl weiter geschmälert.<br />
Die Verbraucher dürfen sich also<br />
im Herbst auf eine erneute Verteuerung<br />
von Diesel und Benzin<br />
einstellen.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 1
NGOs & Gesellschaft<br />
<strong>Belarus</strong>sische Journalisten in Deutschland<br />
(ES / NL) Ende Juni kam eine Gruppe junger belarussischer Journalisten für eine Woche nach Berlin, um<br />
im rahmen einer Ibb-bildungsreise mit eigenen Augen zu sehen, wie Zuwanderung und Integration in<br />
deutschland funktionieren.<br />
Organisator der einwöchigen <strong>Bildungs</strong>reise<br />
war die IBB Johannes<br />
Rau in Minsk, das Auswärtige<br />
Amt finanzierte den Besuch der<br />
Journalisten. Die Europäische Union<br />
hatte 2008 zum Europäischen<br />
Jahr des interkulturellen Dialogs<br />
erklärt, in dem Toleranz und<br />
Akzeptanz anderer Kulturen in<br />
besonderer Weise im Mittelpunkt<br />
der Aufmerksamkeit stehen sollen.<br />
Vor diesem Hintergrund war es<br />
das Ziel des IBB - Projektes, belarussische<br />
Journalisten ausfürlich<br />
darüber zu informieren und anzuregen,<br />
am Beispiel Deutschlands<br />
Zuwanderung und Integration<br />
auch in den eigenen Medien zu<br />
thematisieren.<br />
Nach einem Vorbereitungstreffen<br />
im Mai in der IBB Johannes Rau<br />
in Minsk bestiegen die aus allen<br />
Regionen von <strong>Belarus</strong> kommenden<br />
Print-, Online- und Radiojournalisten<br />
am 21. Juni den Zug<br />
in Richtung Berlin.<br />
In den belarussischen Medien spielen<br />
Zuwanderung und Integration als<br />
Themen kaum eine Rolle. Um so<br />
neugieriger blickten die Journalisten<br />
ihrem ersten Treffen mit<br />
Günter Piening entgegen, dem<br />
Beauftragten des Berliner Senats<br />
für Integration und Migration.<br />
Piening führte den Journalisten<br />
sehr anschaulich die Herausforderungen<br />
Berlins als multikulturelle<br />
Stadt vor Augen, in der mehr als<br />
25 Prozent der Bevölkerung einen<br />
Migrationshintergrund hat. Die<br />
Journalisten interessierten sich zudem<br />
besonders für Programme der<br />
Stadt Berlin für deutschstämmige<br />
Aussiedler und jüdische Bürger<br />
aus der ehemaligen Sowjetunion.<br />
Weitere Gespräche im Auswärtigen<br />
Amt zum Thema “Migrationspolitik<br />
in der EU” und im Innenmi-<br />
nisterium zum Thema “Ausländer-<br />
und Asylpolitik in Deutschland”<br />
ergänzten die Einführung zur<br />
Situation in Berlin. Danach konnten<br />
die belarussischen Journalisten<br />
den Integrationsbeauftragten von<br />
Brandenburg sowie Vertreter<br />
der Staatskanzlei Potsdam über<br />
Migrationsprobleme befragen.<br />
Brandenburg, das mit <strong>Belarus</strong> seit<br />
vielen Jahren partnerschaftlich<br />
verbunden ist, hat besondere Erfahrungen<br />
mit der Zuwanderung<br />
aus Osteuropa.<br />
Zuwanderung und Integration<br />
– das sind Themen, die vor allem<br />
Menschen betreffen, die nach<br />
Deutschland kommen. Deshalb<br />
war es den Organisatoren besonders<br />
wichtig, ihren belarussischen<br />
Gästen Migranten, deren Institutionen<br />
und Lebenssituationen<br />
vorzustellen. Dazu gehörte die<br />
Erfahrung des multikulturellen<br />
Berlins in Kreuzberg mit seinen alternativen<br />
Lebensformen und vielfältigen<br />
Projekten. Beeindruckend<br />
war für die Journalisten auch der<br />
Besuch der KITA “Schneckenhaus”<br />
in Reinickendorf, die von<br />
mehr als 50 Prozent Kindern mit<br />
Migrationshintergrund besucht<br />
wird. Der engagierten Vorstellung<br />
des Hauses durch die Leitung<br />
konnte sich keiner entziehen: Was<br />
hier für den interkulturellen Dialog<br />
und die gegenseitige Toleranz<br />
getan wird, fand die Bewunderung<br />
aller Reiseteilnehmer.<br />
Oft fragten sich die Journalisten,<br />
wie Ausländer in Deutschland<br />
aufgenommen werden, wie ihr<br />
weiterer Lebensweg aussieht.<br />
Mögliche Antworten zeigte die<br />
Zentrale Aufnahmestelle des<br />
Landes Berlin für Aussiedler in<br />
Marienfelde, die ein eindrucksvolles<br />
Bild von der Geschichte der<br />
Aussiedler und ihrer Aufnahme in<br />
Deutschland sowie ihres Alltags<br />
nach dem Eintreffen in der neuen<br />
Heimat zeigte. Besonders interessant<br />
war für die belarussischen<br />
Journalisten das Schicksal der<br />
Russlanddeutschen.<br />
Die Begegnungen im Stadtbezirk<br />
Marzahn galten dem Alltag der<br />
Russlanddeutschen bzw. der russischsprachigen<br />
Auswanderer.<br />
Hier besuchte die Gruppe verschiedene<br />
Projekte und konnte<br />
zahlreiche Gespräche mit Aussiedlern<br />
führen. Ein geradezu<br />
sinnliches Beispiel gelebter Integration<br />
war der Besuch des interkulturellen<br />
Gartens Marzahn, wo<br />
Menschen verschiedener Nationen<br />
lernen, gemeinschaftlich miteinander<br />
umzugehen.<br />
Bei Treffen mit deutschen und<br />
ausländischen Kollegen, der Visite<br />
in der Berliner Journalistenschule<br />
sowie auf einer Bundespressekonferenz<br />
konnten die Teilnehmer<br />
ihre Fachkenntnisse erweitern.<br />
Nach dem intensiven Tagesprogramm<br />
konnten die Gäste Abends<br />
bei einem Besuch des Friedrichstadtpalastes<br />
die Vorzüge der<br />
pulsierenden Kulturhauptstadt<br />
Deutschlands genießen.<br />
Nach ihrer Rückkehr veröffentlichten<br />
die Journalisten Beiträge<br />
und Artikelserien, die von ergreifenden<br />
Reportagen über die<br />
Schicksale von Einwanderern in<br />
Deutschland bis zu Informationen<br />
über das deutsche Pressesystem<br />
reichten. Themen aus dem eigenen<br />
Land, wie z.B. der Umgang<br />
mit Migranten, verknüpften die<br />
kreativen Köpfe ihrer Redaktionen<br />
auf interessante Weise mit den in<br />
Deutschland vorgefundenen Erfahrungen<br />
und Beispielen.<br />
0 <strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Gäste bauen „Brücken” zur Erinnerung<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
(Mechthild vom büchel, dortmund) „es kommt darauf an, aus unseren herzen einen Ort der erinnerung<br />
zu machen“, sagte Michael Mertes, staatssekretär für europa und Medien in der NrW-staatskanzlei<br />
auf dem Ibb-studientag ende August. rund 150 teilnehmer aus beiden Ländern waren im dortmunder<br />
reinoldinum zusammengekommen, um getreu dem tagungsmotto „brücken einer gemeinsamen erinnerungskultur“<br />
zwischen deutschland und belarus zu bauen.<br />
Solide Pfeiler für Völker versöhnende<br />
Brücken hat das gastgebende<br />
IBB schon aufgestellt, wie<br />
IBB-Geschäftsführer Peter Junge-<br />
Wentrup in seiner Eröffnungsansprache<br />
betonte: Mit der Arbeit<br />
der Geschichtswerkstatt Minsk,<br />
dem dortigen Projekt „Altern<br />
in Würde“ und vielen Kontakten<br />
zu Zeitzeugen in <strong>Belarus</strong>. 24<br />
von ihnen, der älteste 93 Jahre<br />
alt, waren aus <strong>Belarus</strong> und den<br />
USA zum Studientag angereist.<br />
Die Tagungsteilnehmer blickten<br />
eher nach vorn als zurück. „Wie<br />
werden wir in Zukunft die Erinnerung<br />
an die Gräuel des Zweiten<br />
Weltkrieges wach halten können,<br />
um zu verhindern, dass sich so<br />
etwas wiederholt“, formulierte<br />
Junge-Wentrup die zentrale Frage,<br />
die Zeitzeugen aus <strong>Belarus</strong>,<br />
Politiker aus beiden Ländern und<br />
geschichtsinteressierte Vertreter<br />
von Nichtregierungsorganisationen<br />
diskutierten.<br />
„Jeder Quadratmeter in <strong>Belarus</strong> ist<br />
mit Blut getränkt“, verdeutlichte<br />
Mahnmal-Architekt Leonid Lewin<br />
die schrecklichen Kriegserlebnisse<br />
seines Landes. Rund 2,2 Millionen<br />
Menschen waren in Folge des<br />
deutschen Überfalls 1941 getötet<br />
worden, ein Viertel der Bevölkerung<br />
des neuen EU-Nachbarlandes.<br />
Lewins Verdienste würdigt<br />
das IBB aktuell mit dem Buch<br />
„Architektur als Gratwanderung“<br />
von Dr. Astrid Sahm, Leiterin der<br />
IBB Minsk. Ihr Vortrag und eine<br />
Foto-Ausstellung rückten Lewins<br />
Werk auch auf dem Studientag in<br />
den Mittelpunkt. „Meine Werke<br />
sind zum ersten Mal auf deutschem<br />
Boden“, sagte der 72jährige<br />
sichtlich bewegt. Nie wieder Krieg,<br />
lautet Lewins klare Botschaft. „Der<br />
Krieg hat mir die Mutter genommen<br />
als ich vier Jahre alt war, die<br />
Wärme, die Kindheit. Warum soll<br />
ich schweigen?“<br />
„Das Geheimnis der Versöhnung<br />
heißt Erinnerung“, zitierte IBB-<br />
Vorstand Professor Manfred Zabel<br />
ein Leitmotiv des IBB. Dem Krieg<br />
im Kaukasus sei ein „Krieg der<br />
Erinnerungen“ vorausgegangen,<br />
sagte Zabel in seinem Schlusswort.<br />
Der Umgang mit der Geschichte<br />
sei folglich politisch brisant für<br />
die Friedenssicherung. Zabel appellierte<br />
deshalb an alle Verantwortlichen<br />
in Ost und West, weiter<br />
nach Wegen der Verständigung<br />
zu suchen.<br />
Zum Umgang des Staates und<br />
des Einzelnen mit der Geschichte<br />
stellte Staatssekretär Michael<br />
Mertes in seiner Rede zehn Thesen<br />
vor. Der Staat müsse einen<br />
Frei- und Schutzraum für die<br />
Erinnerungsarbeit verschiedener<br />
gesellschaftlicher Gruppen schaffen.<br />
Und er müsse tolerieren, dass<br />
es widersprüchliche Bewertungen<br />
geschichtlicher Ereignisse gebe.<br />
Der Weg zu einer gemeinsamen<br />
europäischen Erinnerungskultur<br />
sei deshalb weit. Der Gefahr des<br />
kollektiven Gedächtnisverlustes<br />
müsse eine wehrhafte Demokratie<br />
jedoch entschieden entgegentreten.<br />
Eine Aufrechnung von Verbrechen<br />
sei nicht zulässig, unterstrich auch<br />
Werner Jostmeier, Vorsitzender<br />
des Hauptausschusses im Landtag<br />
von Nordrhein-Westfalen: Veranstaltungen<br />
wie der IBB-Studientag<br />
zeigten, dass mit geringem<br />
finanziellen Aufwand ein großer<br />
Beitrag zur Völkerverständigung<br />
geleistet werden kann mit der<br />
klaren Botschaft „Wehret den<br />
Anfängen“.<br />
Petra Rentrop vom Zentrum für<br />
Antisemitismusforschung an der<br />
TU Berlin berichtete über den<br />
aktuellen Stand der Forschung,<br />
während ihr belarussischer Kollege<br />
Dr. Kusma Kosak die Arbeit<br />
der Geschichtswerkstatt in Minsk<br />
vorstellte. Marina Batschilo präsentierte<br />
das Projekt „Altern in<br />
Würde“ in Minsk und Hinrich<br />
H. Rüßmeyer berichtete über die<br />
Spurensuche in den Regionen.<br />
Einige Zeitzeugen hatten in den<br />
Tagen vor dem Studientag Schulen<br />
in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen<br />
besucht und nicht nur<br />
gute Erfahrungen gemacht: „Die<br />
Schüler wussten sehr wenig über<br />
das Ghetto in Minsk“, beklagte<br />
Leonid Rubinstein, 81. Trotz ihres<br />
hohen Alters wollen die Zeitzeugen<br />
gern ihre Erfahrungen weitergeben.<br />
„Wir leben noch, fragt uns“,<br />
gab Professor Zabel die Botschaft<br />
der betagten Gäste aus <strong>Belarus</strong><br />
weiter.<br />
„Wir werden eine gemeinsame<br />
Erinnerungskultur erreichen“,<br />
zeigte sich Viktor Marachnin,<br />
Abgeordneter des belarussischen<br />
Nationalparlaments, am Ende der<br />
Tagung zuversichtlich. Schließlich<br />
gebe es nicht nur die Erinnerung<br />
an die Verbrechen während des<br />
Krieges. Die Hilfe des deutschen<br />
Volkes nach der Tschernobyl-<br />
Katastrophe für die Menschen<br />
in <strong>Belarus</strong> sei unvergessen. „Wir<br />
haben uns die Hand gereicht und<br />
wir ziehen gemeinsam an einem<br />
Strang.“<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42 1
NGOs & Gesellschaft<br />
3. Minsker Sommerschule<br />
„eurOPA der reGIONeN“ 12.-16.8.2008 IN MINsK uNd brest<br />
(tobias Knubben, Minsk) Zum dritten Mal in folge trafen sich Jugendliche aus belarus und anderen<br />
Ländern europas in Minsk und brest zur sommerschule und entwickelten gemeinsam Konzepte für ein<br />
europa der regionen.<br />
Veranstalter der einwöchigen<br />
Sommerschule war das Institut<br />
für Deutschlandstudien am Center<br />
for International Studies, das<br />
Internetportal Club Newline, die<br />
Internationale <strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />
„Johannes Rau“<br />
Minsk und – erstmalig in diesem<br />
Jahr – das Europa-Institut Klaus<br />
Mehnert in Kaliningrad. In der<br />
vorlesungsfreien Sommerzeit wollen<br />
die Veranstalter alljährlich ein<br />
Europa bezogenes Thema aufgreifen,<br />
mit dem sich die jungen Teilnehmer<br />
offen und kritisch anhand<br />
verschiedener (theoretischer) Ansätze<br />
auseinandersetzen sollen.<br />
Ziel ist es, den Jugendlichen Europa<br />
und die europäischen Integrationsprozesse<br />
verständlicher<br />
zu machen und näher zu bringen.<br />
Zu diesem Zweck wurden im Jahre<br />
2006 der „Dialog europäischer<br />
Kulturen“ und im letzten Jahr die<br />
„Migration und Integration in Europa“<br />
als Themen behandelt.<br />
In diesem Jahr hatte die Sommerschule<br />
„Europa der Regionen“ im<br />
Vergleich zu ihren beiden Vorgängerinnen<br />
ein größeres Format. Die<br />
finanzielle Förderung übernahm<br />
zu einem wesentlichen Teil das<br />
Kontaktprogramm <strong>Belarus</strong> der Robert<br />
Bosch Stiftung. Zum anderen<br />
nahmen diesmal auch Studenten<br />
aus Deutschland, Österreich,<br />
Polen, Russland und <strong>Belarus</strong> teil,<br />
unter ihnen einige Studenten des<br />
Europa-Instituts Klaus Mehnert<br />
an der Technischen Universität in<br />
Kaliningrad. Somit gelang es in<br />
diesem Jahr zum ersten Mal, eine<br />
Sommerschule mit internationaler<br />
Beteiligung auszurichten. Die<br />
Arbeitssprachen waren Deutsch<br />
und Russisch, so dass mit Konsekutiv-<br />
und Simultanübersetzung<br />
gearbeitet werden musste.<br />
Johannes Raus rote Kreuze<br />
Zum fachlichen Input der Sommerschule<br />
trugen zahlreiche Vorträge<br />
und Seminare von Experten aus<br />
dem In- und Ausland bei, unter ihnen<br />
der Leiter des Minsker OSZE-<br />
Büros Hans-Jochen Schmidt, Janis<br />
Aizsalnieks von der Vertretung<br />
der Europäischen Kommission in<br />
<strong>Belarus</strong> oder Dr. Emil Popov von<br />
der Universität Aachen.<br />
Ein weiterer Höhepunkt der Sommerschule<br />
war ein zweitägiger<br />
Ausflug nach Brest, der den 35<br />
Teilnehmern das Thema dieser<br />
Sommerschule an einem realen<br />
Modell veranschaulichte: An der<br />
Stadt Brest, das als eine historische<br />
Kreuzung Europas bezeichnet und<br />
mit seiner grenzüberschreitenden<br />
Kooperation mit Polen als Vorbild<br />
oder Vorläufer für eine europäische<br />
Region gelten kann.<br />
(Mechthild vom büchel, dortmund) Was bedeuteten Johannes raus rote Kreuze auf vielen briefen und<br />
inwiefern waren diese kleinen Zeichen charakteristisch für seinen Politikstil? Rüdiger frohn, ein enger<br />
Mitarbeiter raus, berichtete ende september in der Ibb Minsk vom Politikverständnis des realpolitikers<br />
und visionärs Johannes rau.<br />
Nach einer Einführung durch<br />
IBB-Vorstand Professor Manfred<br />
Zabel lauschten rund 150 meist<br />
junge Menschen – darunter viele<br />
Studenten – den lebhaften Schilderungen<br />
in der Reihe der Johannes-<br />
Rau-Gespräche.<br />
Frohn erzählte im Plauderton, wie<br />
er Rau aus nächster Nähe erlebt<br />
hatte: Gewundert habe er sich<br />
zum Beispiel anfangs über viele<br />
„Rotkreuze“ auf Briefen an den<br />
damaligen Ministerpräsidenten<br />
des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />
Sie bedeuteten, dass Rau persönlich<br />
antworten wollte. In vielen<br />
Fällen habe er auch Randnotizen<br />
gemacht: „Ob der Kultusminister<br />
das weiß?“ oder „Da hülfe<br />
ich gern!“ „Ich hatte bis dahin<br />
gedacht, die wesentliche Beschäftigung<br />
sei Strategie und Taktik<br />
von Machterhalt und das Planen<br />
von Programmen und Profilen“,<br />
gestand der heute 58-jährige Jurist<br />
freimütig in Minsk. „Jetzt lernte<br />
ich, dass Johannes Rau Hilferufe<br />
und Protestbriefe wichtiger nahm<br />
als manche theoretische Debatte.“<br />
Beim notwendigen Ringen um<br />
Mehrheiten habe Rau Verständnis<br />
und Geduld aufgebracht und auch<br />
Skeptiker mitgenommen „auf dem<br />
steinigen Weg zu gesellschaftlichen<br />
Veränderungen“. Akzente<br />
seines politischen Wirkens habe<br />
Rau auf den Umgang mit der eigenen<br />
deutschen Geschichte und auf<br />
die Beziehungen zu Israel gelegt.<br />
Unermüdlich habe er für Toleranz<br />
geworben - die er aber nicht mit<br />
Beliebigkeit verwechselt wissen<br />
wollte. „Den eigenen Glauben<br />
bezeugen, andere Überzeugungen<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
espektieren, für friedvollen Umgang<br />
der Religionen und Kulturen<br />
werben, das war ihm ein wichtiges<br />
Anliegen in einer Zeit, in der viel<br />
von heiligem Krieg und Kampf<br />
der Kulturen die Rede war“,<br />
berichtete der ehemalige Verwaltungsrichter<br />
Frohn, von 1985 bis<br />
Partnerschaftsprogramm Ukraine<br />
(PJW/Olga Rensch, Dortmund)<br />
In beeindruckender Weise hatten<br />
vor der Sommerpause Initiativen<br />
und Politiker aus der Ukraine<br />
und Deutschland die Idee eines<br />
Partnerschaftsprogramms Ukraine<br />
unterstützt. Auch die Vorsitzenden<br />
der ukrainisch-deutschen<br />
Parlamentariergruppe, Herr Konovaljuk<br />
und Herr Serbin, stellten<br />
sich hinter das Programm: „Mit<br />
den Projekten ist ein Know-how-<br />
Transfer verbunden, den wir brauchen<br />
und befürworten.“<br />
ZusPruch vON vIeLeN<br />
seIteN<br />
Auch Abgeordnete aus vier Parteien<br />
des Deutschen Bundestags<br />
befürworten das Partnerschaftsprogramm<br />
Ukraine. Harald<br />
Leibrecht, MdB, schreibt z. B.: „Ich<br />
begrüße das Engagement nachdrücklich;<br />
es unterstützt nicht nur<br />
den Aufbau zivilgesellschaftlicher<br />
Strukturen in der Ukraine, sondern<br />
es leistet jeweils konkrete Beiträge<br />
zur Völkerverständigung und<br />
zu einem Abbau noch bestehendender<br />
Trennlinien in Europa.“<br />
Wir hatten jedoch nur eine Chance<br />
einer finanziellen Förderung<br />
aus Mitteln des BMZ, wenn die<br />
ukrainische Seite das Programm<br />
in den bilateralen Verhandlungen<br />
auf Regierungsebene fordern und<br />
mit Priorität versehen würde.<br />
Das Programm wurde in den<br />
Regierungsgesprächen erwähnt,<br />
jedoch nicht als prioritär eingestuft.<br />
Für das Partnerschaftspro-<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
2004 zunächst Mitarbeiter der Düsseldorfer<br />
Staatskanzlei, später des<br />
Bundespräsidialamtes in Berlin.<br />
Die Besucher hatten sich zuvor in<br />
Arbeitsgruppen intensiv mit Raus<br />
Wirken für Völkerverständigung<br />
und Versöhnung und die Erhal-<br />
gramm Ukraine werden deshalb<br />
2009 keine Mittel zur Verfügung<br />
stehen. Rückblickend müssen wir<br />
uns eingestehen, dass unser Netzwerk<br />
der deutsch–ukrainischen<br />
Initiativen noch nicht stark genug<br />
ist, um Regierungsvereinbarungen<br />
beeinflussen zu können.<br />
Wie geht es nun weiter?<br />
eINLAduNG Zur<br />
KONfereNZ<br />
• Partnerschaftskonferenz „Projekte<br />
gemeinsam entwickeln“<br />
vom 23. bis 26. April 2009 in<br />
Geseke. Zu dieser Partnerschaftskonferenz<br />
laden wir sowohl die<br />
deutsch-belarussischen wie auch<br />
die deutsch-ukrainischen Initiativen<br />
ein. Die Ziele sind dabei,<br />
unsere Netzwerke zu stärken,<br />
Projekte in einem „Open Space“ zu<br />
entwickeln, sich über heute schon<br />
bestehende Fördermöglichkeiten<br />
auszutauschen und Vorstellungen<br />
davon zu entwickeln, wie sich die<br />
Erwachsenenbildung, die soziale<br />
Arbeit, erneuerbare Energien<br />
und Energieeinsparkonzepte in<br />
unseren Ländern zukünftig entwickeln<br />
können. Wir möchten auch<br />
mit Politikern darüber reden, was<br />
sie zur Unterstützung unserer<br />
Arbeit tun können.<br />
• Vernetzung und Dialoge mit<br />
Behörden in Regionen. Bei unserer<br />
Reise durch fünf Regionen<br />
– Odessa, Donezk, Charkow, Kiew<br />
und Lemberg – haben wir festgestellt,<br />
mit welchem Engagement<br />
NGOs & Gesellschaft<br />
tung der Umwelt beschäftigt, so<br />
dass sie im Anschluss engagiert<br />
über die Konzepte diskutieren<br />
konnten.<br />
Das IBB Dortmund und die IBB „Johannes<br />
Rau“ in Minsk veranstalten seit 2007 zweimal<br />
jährlich Johannes-Rau-Gespräche.<br />
zivilgesellschaftliche Initiativen<br />
vor Ort tätig sind. Mit geringen finanziellen<br />
Mitteln wird eine engagierte<br />
und oftmals professionelle<br />
Projektarbeit voran gebracht. Wir<br />
möchten 2009 die Vernetzung von<br />
NGOs in einigen Regionen fördern<br />
und gemeinsam versuchen,<br />
finanzielle Förderungen von den<br />
jeweiligen Kommunen oder auch<br />
Betrieben zu erhalten.<br />
• Dialogforum Ost-West-Initiativen<br />
Viele ukrainische Initiativen<br />
haben uns angesprochen, dass sie<br />
gerne eine Partnerschaft mit einer<br />
deutschen Initiative eingehen würden.<br />
Ab 2009 werden wir ein Internetportal<br />
Ost-West-Initiativen.de<br />
aufbauen, das über die Vorstellung<br />
der jeweils eigenen Arbeit hinaus<br />
Dialogforen anbieten wird.<br />
Heute ist offen, ob wir 2009 erneut<br />
Politiker in der Ukraine und<br />
Deutschland ansprechen können,<br />
sich für ein Partnerschaftsprogramm<br />
Ukraine einzusetzen. Wir<br />
wissen nicht, ob eine erneute Initiative<br />
Erfolg haben wird. Während<br />
unserer Partnerschaftskonferenz<br />
wird Zeit bleiben, diese Frage zu<br />
beraten und zu gemeinsamen Absprachen<br />
zu kommen.<br />
Das Programm und die Einladungen<br />
zur Partnerschaftskonferenz werden im<br />
Dezember 2008 versendet. Die Gäste aus<br />
<strong>Belarus</strong> und der Ukraine werden am 19.<br />
April anreisen und vom 20. bis 23. April<br />
ein Programm vor Ort mit ihrem deutschen<br />
Partner durchführen.<br />
Kontakt: IBB Dortmund (siehe Impressum)
Kultur & Wissenschaft<br />
Gute Laune trotz Visaknappheit<br />
(Alinka Wadzitschka, Grodek) basowischtscha ist das alternative Musikfestival für junge belarussen – gewesen?<br />
Beim diesjährigen fest herrschte wie immer ausgelassene Stimmung, obwohl die organisatoren<br />
und die schengenzone einiges dagegen getan hatten.<br />
Seit nunmehr 19 Jahren strömen<br />
jeden Sommer tausende junger<br />
<strong>Belarus</strong>sen in das kleine polnische<br />
Dorf Grodek direkt hinter der<br />
belarussischen Grenze, um bei<br />
ihrem Rock-Open-Air-Festival<br />
dabei zu sein: Basowischtscha.<br />
Dort treten nicht nur die Granden<br />
des belarussischen Musikbusiness<br />
auf, sondern es gibt auch<br />
einen Bandwettbewerb, dessen<br />
Hauptgewinn in der Aufnahme<br />
eines Albums und der Produktion<br />
eines Videoclips besteht. Für<br />
junge belarussische Combos also<br />
eine echte Chance, ins Showbiz<br />
einzusteigen. Das besondere am<br />
legendären Rockfestival ist die<br />
Stimmung, der Geruch von Freiheit<br />
und Abenteuer: Einige Tage<br />
leben die jungen Musikfans in<br />
Zelten, tanzen, trinken Bier, treffen<br />
alte und neue Freunde, verbrüdern<br />
sich miteinander und essen abends<br />
vor ihren Zelten das polnische<br />
Nationalgericht Bigos.<br />
Dieses Jahr war die Party jedoch<br />
merklich zusammengeschrumpft.<br />
Nur einige hundert feierfreudige<br />
Jugendliche hatten den Weg hinter<br />
die Grenze gefunden. Einiges<br />
mag an der schwachen Organisationsleistung<br />
der <strong>Belarus</strong>sischen<br />
Studentenvereinigung in Polen<br />
gelegen haben, aber das größte<br />
Auch von äußeren Zwängen ließen sich die jungen Musikfans<br />
ihre Stimmung nicht vermiesen. Alinka Wadzitschka<br />
Problem waren die Visa. Denn<br />
seitdem Polen der Schengenzone<br />
beigetreten ist, kosten Visa für<br />
<strong>Belarus</strong>sen nicht nur überirdische<br />
60 Euro, sondern werden auch oft<br />
genug einfach abgelehnt. Weshalb<br />
allein aus Minsk von 700 Festivalbesuchern<br />
nur 150 in Grodek<br />
ankamen. Traurig war, dass an<br />
den strengen Visaauflagen auch<br />
mehrere Bands scheiterten, darunter<br />
die viegerühmten Headliner<br />
des Festivals, „Znich” und „Zet”.<br />
Von neun angekündigten kamen<br />
deshalb nur sechs Gruppen zum<br />
Bandwettbewerb. Bei sechs Preisen<br />
blieb dies überschaubar.<br />
Es begannen die Grandseigneurs<br />
des belarussischen Rock, „Krama”,<br />
die das Pech hatten, tagsüber vor<br />
noch recht spärlichem und obendrein<br />
ermüdetem Publikum zu<br />
spielen. Es folgte die sympathische<br />
Rockband „Rachis”, die allerdings<br />
musikalisch unter Festivalniveau<br />
blieb. Der Bann brach erst, als die<br />
Band „Zatoschka” auf der Bühne<br />
erschien, deren Hit „Hockey”<br />
über den Lieblingssport des Präsidenten<br />
selbst die trübesten Tassen<br />
zum Tanzen brachte. Sieger wurde<br />
die Band „Tlusta Lusta” aus Grodno,<br />
den zweiten Platz eroberten<br />
sich die Publikumslieblinge von<br />
„Spital”. Zum ersten Mal seit<br />
vielen Jahren<br />
waren N.R.M.,<br />
die Chartbreaker<br />
der belar<br />
u s s i s c h e n<br />
Rockszene, gar<br />
nicht erst eingeladen<br />
worden.<br />
O b w o h l d i e<br />
j u n g e n F a n s<br />
sich ihren Spaß<br />
nicht verderben<br />
ließen und im<br />
Laufe des Fes-<br />
tivals die Stimmung merklich<br />
anstieg, gab es bald die ersten<br />
Skandale. Aus unerfindlichen<br />
Gründen hatten die Organisatoren<br />
ihre Vorjahressieger „Fljaus<br />
i Kljain” nicht eingeladen, obwohl<br />
diese mit ihrem Psycho-Rock und<br />
ihrer genialen Showeinlage das<br />
Publikum begeistert hatten. Ohne<br />
Kommentar der Festivalleitung<br />
blieb auch die Tatsache, dass<br />
„Fljaus i Kljain” ihr versprochenes<br />
Album nicht aufnehmen durften.<br />
Unzufriedenheit machte sich zudem<br />
unter einigen jugendlichen<br />
Zuschauern breit, als klar wurde,<br />
dass das Hissen der weiß-rot-weißen<br />
Oppositionsflagge auf dem<br />
Festival verboten war. Die polnische<br />
Security riss den Musikfans<br />
ihre politisch prekären Flaggen<br />
einfach aus den Händen, ohne ihr<br />
Verhalten zu begründen.<br />
Zumindest medial war Basowischtscha<br />
dieses Jahr gut versorgt,<br />
denn der regimekritische<br />
Satellitenkanal Belsat übertrug<br />
das Konzert live. Gerne nahmen<br />
die Konzertbesucher auch die<br />
praktischen Werbegeschenke des<br />
Kanals entgegen und konnten sich<br />
am Tag danach in den Belsat-Regencapes<br />
zumindest einigermaßen<br />
vor den Wassermassen schützen,<br />
die auf sie niederprasselten.<br />
Nächstes Jahr feiert Basowischtscha<br />
sein 20-Jähriges. Bleibt zu<br />
hoffen, dass das Festival musikalisch<br />
wieder zulegt und nicht zu<br />
einer Insiderveranstaltung wird,<br />
auf der, wie in diesem Jahr, einige<br />
Bands ihr Ticket offenbar vor allem<br />
guten Beziehungen zu den Organisatoren<br />
zu verdanken hatten,<br />
während andere an den harten<br />
Visabedingungen der Schengenzone<br />
scheiterten. Auf dass Basowischtscha<br />
wieder zu dem Ort der<br />
Kreativität und Freiheit wird, der<br />
er immer war.<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
GOOD-BY 2 wirbelt durch Berlin<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
Kultur & Wissenschaft<br />
(Alinka Wadzitschka, berlin) ende Juli kam das belarussisch-deutsche Kulturfestival „GOOd-bY” zum<br />
zweiten Mal nach berlin. die Organisatoren vom verein „future in common” brachten alle zusammen, die<br />
sich für belarussische Kunst interessieren und hatten sich dabei ein anspruchsvolles thema ausgesucht:<br />
„Künstler, freiheit, Ideologie” ist eine frage, mit der sich Kunstschaffende und -liebhaber in belarus tagtäglich<br />
auseinander setzen müsen.<br />
Gleichzeitig unterstrich Maryja<br />
Nestserawa von Future in Common,<br />
dass GOOD-BY 2 als Plattform<br />
gedacht sei, auf der nicht<br />
nur <strong>Belarus</strong>sen und Deutsche<br />
zusammenkämen, sondern auch<br />
„ein Dialog zwischen Künstlern<br />
und Staat” möglich würde.<br />
Ob am Eröffnungstag wirklich<br />
Staatsvertreter im Saal waren,<br />
bleibt ungewiss. Sicher dagegen<br />
ist, dass das Festival einen fulminanten<br />
Einstand mit der belarussischen<br />
Band „Serebrjanaja<br />
Swadba” und der Berliner Combo<br />
„Skazka Orchestra” im Kulturzentrum<br />
„Haus der Sinne” feierte.<br />
Skazka Orchestra rissen mit ihren<br />
spaßig-metaphysischen Texten<br />
das Publikum mit, während die<br />
Frontfrau von Serebrjanaja Swadba<br />
auf der Bühne eine Performance<br />
hinlegte, die selbst die kulturverwöhnte<br />
Berliner Jugend begeisterte:<br />
Zu einer Mischung aus Chanson<br />
und Funk wirbelte Swetlana<br />
Ben kleine und große Reisekoffer<br />
durch die Gegend und stellte mit<br />
Handpuppen Szenen aus ihren<br />
ironisch-avangardistischen Texten<br />
nach. Serebrjanaja Swadba<br />
machten ihrer Selbstbeschreibung<br />
„Freak Cabaret” alle Ehre.<br />
An den zwei folgenden Tagen<br />
konnten die Besucher des Festivals<br />
zwei Ausstellungen bewundern:<br />
Die Fotoausstellung „Generation<br />
To Go”, sowie eine Ausstellung<br />
von über 30 modernen belarussischen<br />
Künstlern mit dem anspruchsvollen<br />
Titel „GOOD-BY<br />
2 Für Fortgeschrittene”, die tatsächlich<br />
mit originellen Werken<br />
überraschen konnte.<br />
Doch damit nicht genug. Die Organisatoren<br />
hatten neben Musik<br />
und bildender Kunst auch eine<br />
Theatergruppe aus Minsk eingeladen.<br />
Die Laienschauspieltruppe<br />
des Jugendtheaters „Klasse A” ließ<br />
vor den faszinierten Zuschauern<br />
all das wiederauferleben, was eine<br />
glückliche sowjetische Kindheit<br />
ausmachte – unter anderem sowjetische<br />
Paraden, Kriegsspiele und<br />
Schulträume... „Klasse A” wirkte<br />
so offen und authentisch, dass einige<br />
Zuschauer gerne die Augen<br />
vor der mittelmäßigen schauspielerischen<br />
Leistung verschlossen.<br />
Zum Grande Finale, der Abschlussdiskussion<br />
mit dem Thema<br />
„Künstler, Freiheit, Ideologie”<br />
hatte Future in Common in das<br />
Haus der Demokratie und Menschenrechte<br />
geladen. Hier gelang<br />
es den Organisatoren bei ihrem<br />
letzten Event endlich, Menschen<br />
außerhalb des Kreises von Festivalteilnehmern,<br />
freiwilligen<br />
Helfern und einigen versprengten<br />
Berliner <strong>Belarus</strong>sen zu erreichen.<br />
Zusätzlich zu ihrem lebendigen<br />
Titel bekam die Diskussion Feuer<br />
durch einen kleinen Skandal bei<br />
der Eröffnung, als ein junger Mann<br />
anarchistischen Aussehens sich<br />
über die russischsprachige Ausrichtung<br />
des Festivals ausließ, Organisatoren<br />
und Teilnehmern den<br />
Mittelfinger zeigte und demonstrativ<br />
den Veranstaltungsort verließ.<br />
Dadurch nahm die Diskussion<br />
einen unerwarteten Gang entlang<br />
verhärteter belarussischer Sprachfronten<br />
und uferte immer mehr<br />
aus, nicht zuletzt aufgrund der<br />
Redefreudigkeit der Teilnehmer,<br />
zum Beispiel des belarussischen<br />
Bildhauers Igor Kaschkurewitsch.<br />
Auf dem monologaffinen Podium<br />
fiel der deutsche Kulturhistoriker<br />
Felix Ackermann positiv auf, der<br />
Parallelen zwischen der DDR und<br />
<strong>Belarus</strong> aufzeigte und so frische,<br />
kreative Thesen in alte Diskussionsfelder<br />
streute.<br />
Nicht umsonst hatte In Common<br />
eine kleine belarussische Straßenbahn<br />
als graphisches Symbol des<br />
Festivals gewählt, denn GOOD-BY<br />
2 führte seinen Weg erst nach Freiburg<br />
und dann nach <strong>Belarus</strong> fort,<br />
wo das Festival mehrere Tage in<br />
Witebsk und Minsk stattfand. Eine<br />
beeindruckende organisatorische<br />
Leistung und ein wertvoller Beitrag<br />
für den Austausch zwischen<br />
belarussischen und deutschen<br />
Kulturschaffenden, Kreativen und<br />
ihrem Publikum, ein Aspekt in der<br />
deutsch-belarussischen Arbeit, der<br />
leider viel zu oft zu kurz kommt.<br />
Schade war, dass ein so vielfältiges<br />
und buntes Festivalprogramm<br />
letztlich nur im kleinen Kreis der<br />
Teilnehmer und einiger weniger<br />
Interessierter stattfand. Es zeigte<br />
sich dabei wieder einmal, dass<br />
es in Deutschland schwer ist, für<br />
<strong>Belarus</strong>-Veranstaltungen, die<br />
nicht politisch aufgeladen sind,<br />
ein größeres Publikum zu begeistern.<br />
Ein wenig verwirrt haben<br />
mag auch den einen oder anderen<br />
Gast, dass das Thema „Künstler.<br />
Freiheit. Ideologie” im Festivalprogramm<br />
eigentlich kaum eine<br />
Rolle spielte und lediglich in der<br />
Abschlussdiskussion kurz angeschnitten<br />
wurde. Dafür zeigten<br />
die Organisatoren, dass moderne<br />
belarussische Kultur Tiefgang hat,<br />
begeistern kann und manchmal<br />
einfach nur Spaß macht. Das ist bei<br />
dem politisch gefärbten Image des<br />
Landes schon sehr viel.<br />
http://goodby2.futureincommon.com/
Kultur & Wissenschaft<br />
Ernte gut, alles gut?<br />
(Alexander dautin, Minsk) die belarussische Landwirtschaft hat eine historische rekordernte eingefahren.<br />
doch reicht das aus, um den Agrarsektor von seinen immensen Schulden zu befreien?<br />
Wirtschaftsexperten hatten im<br />
Vorhinein hohe Erträge prognostiziert,<br />
rechneten aber kaum mit<br />
den unglaublichen 9,3 Millionen<br />
Tonnen Getreide, die am Ende eingefahren<br />
wurden. Wie der stellvertretende<br />
Landwirtschaftsminister<br />
Wasilij Pawlowskij erklärte, sei<br />
das die „größte Ernte in <strong>Belarus</strong><br />
seit Beginn der Aufzeichnungen<br />
1940.“ Offenbar hatte die monatelange<br />
Agitation in staatlichen<br />
Massenmedien Wirkung gezeigt,<br />
bei der täglich Berichte von der<br />
„Erntefront“ über die Schirme<br />
flimmerten.<br />
Keine Zauberei sei der Erfolg,<br />
behauptete auch Minister Pawlowskij.<br />
Man habe nur die Früchte<br />
jahrelanger Investitionen in<br />
moderne Technologie geerntet.<br />
Diesem Umstand – und dem guten<br />
Wetter – sei es zu verdanken, dass<br />
man nunmehr von einer verlustfrei<br />
arbeitenden belarussischen<br />
Landwirtschaft sprechen könne.<br />
Allerdings, gab Pawlowskij zu,<br />
seien die sensationellen 9 Millionen<br />
Tonnen fast schon zu viel des<br />
Guten, da die Anlagen zur Weiterverarbeitung<br />
für solche Mengen<br />
nicht ausgelegt seien. Jetzt müssten<br />
zusätzlich Lager und Garagen<br />
als Getreidespeicher her halten.<br />
Dennoch werde „nicht ein Gramm<br />
Getreide verloren gehen“.<br />
„Verlustfrei” ist ein starkes Wort,<br />
finden unabhängige Sachverständige<br />
wie der Ökonom Alexander<br />
Zalesskij. Er beschied zwar der<br />
„Akzeptierte Diktatur?“<br />
Diktatur oder autoritäres System,<br />
das ist eine Frage, die sich in Bezug<br />
auf <strong>Belarus</strong> immer wieder stellt.<br />
Zur Klärung dieser Fragestellung<br />
untersucht der Autor historisch<br />
und politologisch den Ablauf des<br />
Transformationsprozesses für<br />
die Etablierung eines autoritären<br />
Systems, den Aufstieg und die<br />
Konsolidierung der Herrschaft<br />
Lukaschenkos sowie die Elemente<br />
seiner autoritären Herrschaft. Einen<br />
besonderen Schwerpunkt bildet<br />
die Präsidentschaftswahl von<br />
2006 im Kontext der ukrainischen<br />
Revolution.<br />
<strong>Belarus</strong> ist gekennzeichnet durch<br />
ein autoritäres Herrschaftssystem<br />
mit zunehmend totalitärem<br />
Charakter. Zu diesem Ergebnis<br />
kommt Manuel Leppert in seiner<br />
163 Seiten umfassenden Publikation.<br />
Dafür liefert er vielfältige<br />
Erklärungen, unter anderem die<br />
historisch bedingte schwache<br />
Zivilgesellschaft, die Demokratieunerfahrenheit<br />
der Eliten sowie<br />
die wenig ausgeprägte nationale<br />
Identität. Mit den Ergebnissen<br />
von Meinungsumfragen aus verschiedenen<br />
Zeiträumen belegt er<br />
nicht nur die stabile Akzeptanz der<br />
Politik Lukaschenkos bei einem<br />
großen Teil der Wählerschaft, sondern<br />
analysiert auch die politische<br />
Kultur der Bevölkerung.<br />
Abgesehen von dem besprochenen<br />
Verhältnis zu Russland spielen<br />
äußere Faktoren bei der Analyse<br />
jedoch kaum eine Rolle. Schade<br />
– es wäre auch interessant gewesen<br />
zu erfahren, wie sich z. B.<br />
die Reisefreiheit der <strong>Belarus</strong>sen,<br />
der Empfang ausländischer TV-<br />
Programme via Satellit sowie die<br />
zügige Entwicklung des Online-<br />
Agrarwirtschaft einen Technologiesprung<br />
nach vorn, allerdings,<br />
fand Zalesskij, stünden dem die<br />
tief defizitären „Agrarstädte“ gegenüber,<br />
die der Liberale als Milliardengrab<br />
betrachtet. Im Rahmen<br />
eines Staatsprogramms flossen<br />
bereits mehrere Milliarden Dollar<br />
in die «Agrarstädte», um das Land<br />
strukturell aufzuwerten. Zalesskij<br />
sieht auch einige andere Probleme,<br />
vor allem „...die Schulden der<br />
Kolchosen! Man bräuchte drei solcher<br />
Ernten, um die Schulden zu<br />
begleichen. Und selbst dann bliebe<br />
kein Cent für Investitionen übrig.“<br />
Von einer einzigen guten Ernte,<br />
so Zalesskij, werde die belarussische<br />
Landwirtschaft also weder<br />
konkurrenzfähig noch finanziell<br />
unabhängig.<br />
(es) Manuel Leppert untersucht in seinem buch, inwieweit die herrschaft Lukaschenkos in belarus auf<br />
Akzeptanz in der bevölkerung trifft und wie sich die Gesellschaft seit seinem Machtantritt verändert hat.<br />
Journalismus auf die politische<br />
Kultur des Landes auswirken.<br />
Der Verdienst der Publikation<br />
besteht darin, deutlich herauszuarbeiten,<br />
dass es sich bei <strong>Belarus</strong><br />
um keine Diktatur handelt, und<br />
wie der Rückhalt des autoritären<br />
Herrschers in der Gesellschaft zu<br />
erklären ist. Ob der Titel „Akzeptierte<br />
Diktatur?“ dafür hilfreich<br />
ist? Der potenzielle Leser wird<br />
möglicherweise zunächst in die<br />
Irre geführt; Diktatur ja, aber nur<br />
mit der Frage, ob akzeptiert oder<br />
nicht. Dieses Buch sei besonders<br />
jenen Journalisten ans Herz gelegt,<br />
die in ihren Beiträgen über <strong>Belarus</strong><br />
schnell den Begriff der Diktatur<br />
zur Hand haben.<br />
Manuel Leppert, Akzeptierte Diktatur?<br />
Lukasenkos Herrschaft über Weißrussland.<br />
Tectum Verlag Marburg, 2008, 163<br />
S., 24,90 €, ISBN 978-3-8288-9571-3<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42
Denkmäler gegen den Krieg<br />
<strong>Belarus</strong>-Perspektiven Herbst 2008 Nr. 42<br />
abzählen“, resümiert Lewin im<br />
Interview mit Autorin Dr. Astrid<br />
Sahm, Leiterin der IBB „Johannes<br />
Rau“ in Minsk. „Ich möchte, dass<br />
der Besucher die Tragödie durchlebt,<br />
an deren Ort er gekommen<br />
ist. Wenn er die Gedenkstätte<br />
verlässt und vergisst, was er dort<br />
gesehen hat, dann habe ich mein<br />
Ziel verfehlt.“<br />
Mit dem Blick eines in <strong>Belarus</strong><br />
lebenden Künstlers hält Lewin die<br />
Erinnerung an die Opfer wach:<br />
Es seien hier nur einige seiner 20<br />
Orte der mahnenden Erinnerung<br />
genannt: Das Denkmal für die<br />
ermordeten Juden an der Minsker<br />
Jama (Grube) zeigt die Opfer als<br />
Bronzefiguren, die als gesichtslose<br />
Schatten eine Treppe hinabsteigen.<br />
Die Gedenkstätte in Gorodeja zur<br />
Erinnerung an die ermordeten<br />
jüdischen Einwohner des Dorfes<br />
bezieht Landschaft und Menschen<br />
stark ein: Zur stilisierten Häuserruine<br />
auf dem Hügel führt eine<br />
Felsbrocken-Kaskade, die von<br />
überlebenden Dorfbewohnern<br />
zur Erinnerung an jedes einzelne<br />
Opfer dorthin geschafft wurde.<br />
Aktuell arbeitet er an Gedenkstätten<br />
für die Opfer des Holocaust in<br />
Mosyr und Witebsk.<br />
Ein Krieg – so lautet Lewins Bot-<br />
Publikationen<br />
(Mechthild vom büchel, dortmund) das Internationale bildungs- und begegnungswerk (Ibb) dortmund<br />
präsentierte ende August das erste deutschsprachige buch über Leonid Lewin, den jüdischen bildhauer<br />
und Pionier der Aussöhnung mit deutschland.<br />
Als Architekt hat er preisgekrönte<br />
Gedenkstätten in <strong>Belarus</strong> geschaffen,<br />
als Mensch hat er „Brücken<br />
der Versöhnung“ nach Dortmund<br />
und Deutschland gebaut: Das Leben<br />
und Werk von Leonid Lewin,<br />
72, Träger des Leninpreises der<br />
Sowjetunion und des Bundesverdienstkreuzes<br />
der Bundesrepublik<br />
Deutschland, öffnet sich nun erstmals<br />
für deutschsprachige Leser.<br />
„Architektur als Gratwanderung<br />
– Leonid Lewin – ein Werk als<br />
Brücke von Gedächtnis und Gegenwart“<br />
heißt das Buch über<br />
Lewin, das passend zum internationalen<br />
Studientag „Brücken einer<br />
gemeinsamen Erinnerungskultur“<br />
am Samstag, 30. August 2008, in<br />
Dortmund vorgestellt wurde und<br />
ab sofort beim IBB bestellt werden<br />
kann.<br />
Im kritischen Kontrast zum sowjetischen<br />
Realismus und zur viele<br />
Jahre verordneten Glorifizierung<br />
des Zweiten Weltkriegs in <strong>Belarus</strong><br />
als dem „Großen Vaterländischen<br />
Krieg“ hat Lewin seit den 60er<br />
Jahren Orte der Erinnerung geschaffen,<br />
die mit einfachen Mitteln<br />
die Tragödie des Krieges und des<br />
Holocaust erfahrbar machen. Für<br />
die 1969 eröffnete Gedenkstätte<br />
Chatyn erhielt er 1970 den Leninpreis.<br />
„Ein gutes, modernes Denkmal<br />
sollte Information, Ausdruck und<br />
Sinn vermitteln“, beschreibt Lewin<br />
den eigenen hohen Anspruch.<br />
In den Ländern der ehemaligen<br />
Sowjetunion seien viele Kriegsdenkmäler<br />
aufgestellt worden, die<br />
mit gigantischen Ausmaßen Besucher<br />
beeindrucken wollen und dabei<br />
bedrohlich wirken. „Aber diejenigen,<br />
die als Kunstwerke gelten<br />
können, die einen berühren und<br />
zum Nachdenken bringen, lassen<br />
sich buchstäblich an einer Hand<br />
Vor Schautafeln<br />
seiner Werke<br />
präsentiert der<br />
belarussische Humanist,<br />
Künstler<br />
und Architekt<br />
Leonid Lewin das<br />
neue Buch.<br />
Mechthild vom<br />
Büchel<br />
schaft – kann nicht unter dem<br />
Blickwinkel von Sieg oder Niederlage<br />
betrachtet werden. Krieg ist<br />
eine menschliche Tragödie. „Das<br />
Wesentliche einer gemeinsamen<br />
Erinnerungskultur liegt aus meiner<br />
Sicht darin, dass es ein übereinstimmendes<br />
Verständnis für<br />
den Krieg als Tragödie gibt“, sagt<br />
Lewin. „Ich stehe für eine Kunst,<br />
die gegen den Krieg agitiert.“<br />
Lewin ist in <strong>Belarus</strong> Vorsitzender<br />
des Verbandes der jüdischen Gemeinden.<br />
Seit 1995 ist er Mitglied<br />
des Kuratoriums der Internationalen<br />
<strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte<br />
„Johannes Rau“ in Minsk. Für<br />
sein herausragendes Engagement<br />
in der Versöhnungsarbeit zwischen<br />
Deutschland und <strong>Belarus</strong><br />
erhielt er im April 2008 das Bundesverdienstkreuz<br />
der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Botschafter<br />
Dr. Gebhardt Weiss würdigte Lewin<br />
als Vertreter einer Generation,<br />
die die eindringliche Erinnerung<br />
an die deutschen Verbrechen im<br />
Zweiten Weltkrieg mit dem Willen<br />
zur verantwortungsvollen Gestaltung<br />
einer gemeinsamen Zukunft<br />
in Europa verbindet.<br />
Das 66 Seiten umfassende Buch kann ab<br />
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