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auch ein physikalisches Vibrieren durch den Zug und ganz langsam nahm er<br />

Fahrt auf.<br />

Kaum hatten sie den Bahnhof hinter sich gelassen, hörten sie laute Rufe und<br />

Schüsse. Ein Blick aus dem Fenster zeigte viele Menschen, die versuchten, sich<br />

an den Zug zu hängen. Bewaffnete Männer waren damit beschäftigt, sie davon<br />

abzuhalten. Soweit Ronja es sehen konnte, schossen sie vorwiegend in die Luft,<br />

aber nach ihrer Erfahrung in der Innenstadt schloss sie Tote nicht aus.<br />

Allein die Fahrt durch die Stadt dauerte eine gute Stunde. Seit sie richtig in<br />

Fahrt waren, gab es zwar kaum noch Leute, die versuchten, sich an den Zug zu<br />

hängen, denn dazu war er inzwischen zu schnell, aber die alte Diesellok schien<br />

Mühe zu haben, den langen Zug zu beschleunigen. Als sie die Stadt endlich<br />

hinter sich gelassen hatten, konnte man deutlich sehen, dass Josh Recht gehabt<br />

hatte, mit seiner Äußerung, dass viele Leute nach Berlin hinein flohen anstatt es<br />

fluchtartig zu verlassen. Die parallel verlaufenden Straßen waren voll mit<br />

Flüchtlingen, die schwer bepackt oder mit Handkarren unterwegs in Richtung<br />

Stadt waren. Ronja stellte sich die Situationen sehr merkwürdig vor, wenn sie<br />

im Bereich der Vorstädte auf die Flüchtenden in der anderen Richtung stoßen<br />

würden.<br />

Als die vorbeieilende Landschaft allmählich eintönig wurde, wandte sich<br />

Anna vom Fenster ab und kam mit der älteren Dame an ihrer Seite ins Gespräch.<br />

Mit ernsthafter Miene erzählte sie der Frau von ihrem Opi, der gestorben sei<br />

und dass sie deswegen sehr traurig sei. Sogar das typische "oder" baute sie an<br />

passenden Stellen am Ende ihrer Sätze ein und das "ch" krächzte sie hervor, als<br />

hätte sie es nie anders getan. Mit großen unschuldigen Augen erzählte sie dann,<br />

dass sie auf dem Weg zur Uroma in Zürich seien, dass sie die Uroma aber noch<br />

nie gesehen hätte.<br />

Die ältere Frau erzählte, dass sie die Frau eines Staatsekretärs gewesen sei.<br />

Dieser sei beim Sturm auf das Regierungsviertel getötet worden und jetzt sei<br />

sie ganz allein. Sie hoffte, dass sie es bis Bonn schaffen würde, denn dort hätte<br />

sie jahrelang gelebt und in Bonn wäre es angeblich friedlicher als in Berlin. Bei<br />

der Erzählung von ihrem getöteten Mann liefen ihr Tränen über die Wangen,<br />

aber Anna munterte sie mit einem "Es wird alles gut." erfolgreich wieder auf.<br />

Wahrscheinlich war es der Frau etwas peinlich vor einem Kind zu weinen, das<br />

selbst so tapfer war.<br />

Ronja staunte nicht schlecht darüber, wie ungerührt ihre Tochter lügen<br />

konnte. Freundlicherweise könnte man es natürlich auch "schauspielern" nennen,<br />

aber dennoch war es fast ein wenig unheimlich. Die ältere Dame war ganz<br />

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