Lebenslust Gottingen - Ausgabe Herbst 2015
Das Magazin für Kunst & Kultur, Shopping, Genuss und mehr
Das Magazin für Kunst & Kultur, Shopping, Genuss und mehr
- TAGS
- lebenslust
- anna-vita
- albtrauf-donautal
- herbstzauber-kassel
- porzellanmanufaktur
- fuerstenberg
- ausflugstipps-region
- ausflugstipps-goettingen
- streuobstwiesen-goettingen
- saft-aus-der-region
- burg-katlenburg
- fleischerei-wulff
- goettinger-tafel
- herrenhausen
- hardegsen
- boxnacht
- mcclean-boxnacht
- guenter-grass
- grass-archiv
- goettingen-und-umgebung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
56 KULTUR lebenslust:gö<br />
Der LogenPlatz<br />
Der Autor ist weder Germanist, noch gelernter Schauspieler<br />
oder gar Theaterkritiker, sondern einfach Jurist.<br />
Seine Überlegungen zu den Göttinger Theateraufführungen,<br />
die wir an dieser Stelle regelmäßig veröffentlichen, verstehen<br />
sich daher nicht als Expertise. Es handelt sich vielmehr um die<br />
persönlichen Eindrücke eines „ganz normalen Zuschauers“.<br />
❜❜<br />
Die Freiheit des Falken❛❛<br />
Dieses Kammerspiel geht unter die Haut: Mark Zurmühle bringt<br />
Lea Lohers „Fremdes Haus“ auf die Bühne des Deutschen Theaters<br />
Auf der anderen Seite des Flusses, dort leben die Schönen und<br />
die Reichen. Überhaupt ist dort ist alles besser als in dem heruntergekommenen<br />
Viertel, in dem der patriarchische Risto<br />
und seine Entourage ihr aus Schuld, Illusion und Lebenslüge mühsam<br />
zusammengezimmertes Dasein fristen. Da ist z. B. Agnes (Rahel<br />
Weiss), die Tochter von Risto und seiner Frau Terese, die trotz des<br />
schweren Unfalls, der sie zum Krüppel machte, recht tapfer durchs<br />
Leben humpelt. Ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft jedoch<br />
Fotos: Georges Pauly<br />
Bardo Böhlefeld, Melina Borcherding HMTM Hannover<br />
finden in der Zweckehe mit dem Unfallverursacher ihre stete Ernüchterung<br />
– die Liebe verkommt zum Geschäft, in dem Schadensersatz<br />
gegen eheliche Versorgungsansprüche getauscht wird. Es<br />
sind diese würdelosen Situationen, in denen die Menschen trotz<br />
allem versuchen, noch einen letzten Rest an Würde zu bewahren,<br />
die den anrührenden Tiefgang des Stückes ausmachen. Doch selbst<br />
ein noch so kunstvoll zelebrierter Selbstbetrug ist kein taugliches<br />
Mittel zum Zweck. Risto, von Florian Eppinger großartig in Szene<br />
gesetzt, kann die Fassade des Tito-Partisanen nur mit selbstzerstörerischer<br />
Mühe aufrechterhalten. Die Unmengen an Zigaretten, die er<br />
dabei – teilweise mehrere auf einmal – verdampft, bringen ihm<br />
schließlich eine unheilbare Krankheit ein. Seine Frau Terese (Elisabeth<br />
Hoppe) kann so ebenfalls nicht leben. Sie, die Gelegenheitsprostituierte<br />
aus Geldmangel, liebt ihren Mann trotz allem, doch wie<br />
soll man das aushalten? Menetekelgleich hängt ihr Kleid an der<br />
Bühne, noch lange, nachdem sie ins Wasser gegangen ist.<br />
Am Ende geht fast die gesamte Alt-Gesellschaft an ihrer Unvollkommenheit<br />
zugrunde. Angeschoben wird dieser Prozess von Jane,<br />
einem entfernten Verwandten aus Mazedonien, der als Deserteur<br />
Rahel Weiss, Benjamin Krüger, Florian Eppinger, Bardo Böhlefeld, Elisabeth Hoppe<br />
auf der Flucht ist und bei Ristos Clan Unterschlupf sucht. Er, der<br />
Fremde, dem alle mit großer Skepsis gegenüber stehen, glaubt anfangs<br />
noch mit viel Enthusiasmus an sein Recht auf etwas Glück im<br />
Leben. Doch auch ihm bleibt die Desillusionierung nicht erspart.<br />
Und so durchlebt Jane an diesem Abend eine rasante Entwicklung,<br />
die die übrigen Charaktere mit sich zu reißen scheint. Bardo Böhlefeld<br />
spielt seinen Jane mit viel Trotz und Emotion und gibt dieser<br />
Figur so facettenreiches Abbild. Der Traum vom Falken, den Böhlefeld<br />
zu Abschluss des Abends als nahezu einzigen pathetischen<br />
Moment des Stückes vorträgt, ist gleichzeitig der Traum vom Glück<br />
jedes Einzelnen.<br />
Zurmühles Inszenierung dieses 1993 von Dea Loher unter dem Eindruck<br />
des Jugoslawienkrieges geschriebenen Stückes stellt auch<br />
heute noch, nach über 20 Jahren, die stets aktuelle Frage nach den<br />
Erneuerungsmöglichkeiten einer maroden Gesellschaft dar. Muss<br />
das Alte zugrunde gehen, damit sich das Neue entfalten kann?<br />
Und kann aus den Trümmern des Zusammenbruchs neue Hoffnung<br />
keimen? Der Falke in Janes Traum jedenfalls kann aus der Tristesse<br />
zur Freiheit fliegen. Ob es den Menschen gleichermaßen gelingt, die<br />
steile Rampe in Eleonore Birchers Bühnenbild zu erklimmen und<br />
möglicherweise sogar einige Fenster in das ansonsten kerkergleich,<br />
darauf thronende „fremde Haus“ zu schlagen, bleibt offen.<br />
Mit dieser dichten und anrührenden Inszenierung liefert Mark<br />
Zurmühle, der Intendant der letzten Jahre, in dieser Spielzeit einen<br />
bemerkenswerten Theaterabend, der vom Publikum enthusiastisch<br />
gefeiert wird. ■