Alter - Kuratorium Deutsche Altershilfe

Alter - Kuratorium Deutsche Altershilfe Alter - Kuratorium Deutsche Altershilfe

05.12.2012 Aufrufe

Thema 12 Hannelore Huhn freut sich, dass ihre demenzkranke Mutter bis an ihr Lebensende einen Platz in der Rothenfußer Wohngemeinschaft gefunden hat. Foto: Harald Raabe gungsdrang war so stark, dass sie nirgendwo blieb. Ich konnte irgendwann nur noch mit dem Auto hinter ihr herfahren, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Obwohl ich mich ständig um eine Unterkunft für sie bemühte, fand ich nichts Geeignetes. Erst mit Hilfe der Alzheimergesellschaft bin ich auf Häuser der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gestoßen, in denen gerontopsychiatrische Wohngruppen untergebracht sind. Die fünf Häuser der AWO in München bieten Wohnraum für insgesamt etwa 50 Menschen mit Demenz – ein Witz für eine Großstadt. Erst nach einem dreiviertel Jahr auf dem obersten Platz auf der Warteliste bin ich zu einem ersten Vorstellungsgespräch eingeladen worden.“ „Dazu muss man sagen“, ergänzt Ulrike Reder, „dass dieses offen geführte Stationen in den Heimen sind, die zudem sehr stark therapeutisch ausgerichtet sind. Man geht dort davon aus, dass, wenn sich die Bewohner wohl fühlen, sie an Beschäftigungstherapien teilnehmen und auch dabei bleiben. Wer es nicht tut und beispielsweise eine starke Weglauftendenz aufweist, dem läuft man nicht hinterher, sondern der wird als nicht in das Wohnkonzept passend eingestuft und wieder weggeschickt. Im Zweifelsfall gelangen diese Menschen somit auf die geschlossene Abteilung von Heimen oder des Bezirkskrankenhauses, die einzigen noch bestehenden anderen „Wohnalternativen“ für diese Menschen in München, die hier offensichtlich keiner haben will. Die Situation für verhaltensauffällige, demenzkranke Menschen gleicht in dieser Stadt eher einem ProAlter 2/03 Kuratorium Deutsche Altershilfe Verschiebebahnhof zwischen den oft schrekklichen geschlossenen Abteilungen in den Altenheimen und Krankenhäusern.“ „Richtig ermutigend sei aber auch der erste Telefonkontakt mit Frau Reder nicht gewesen“, berichtet Hannelore Huhn weiter. „Ich hörte zunächst nur, dass allein die monatliche Miete – ohne weitere Kosten – knapp 400 Euro beträgt. Meine Mutter erhält eine Rente von rund 900 Euro. Schon wieder nichts, dachte ich also. Doch Frau Reder hat mir zugeredet, nicht so schnell aufzugeben. Zudem besuchte sie meine Mutter und beschloss danach, sie auch aufzunehmen. Als dann das ganze Wohnprojekt nicht wie geplant starten konnte, verkomplizierte sich die Sache mit meiner Mutter ernorm. Als sie immer aggressiver wurde und die Tagespflege ablehnte, sprang Frau Reder ein und stellte für die Betreuung meiner Mutter zwei Mitarbeiterinnen zur Verfügung, die eigentlich für die Arbeit im zunächst einmal lahm gelegten Wohnprojekt vorgesehen waren.“ „Und das bedeutete, dass sie eigentlich acht Stunden hinter Frau Neck herrennen mussten“, wirft Ulrike Reder ein, „aus dieser Zeit stammt der Standardsatz: ‚Frau Neck ist weg.‘“ Auf Empfehlung von Frau Reder suchte Frau Huhn Professor Lauter auf, der Klinikchef des Klinikums rechts der Isar und zudem Mitglied des Münchener Förderkreises e.V. ist. Dieser Förderkreis war nicht nur Initiator, sondern später auch Vermieter der noch einzurichtenden Rothenfußer Wohngemeinschaft. „Professor Lauter empfahl mir, meine Mutter mit Medikamenten einstellen zu lassen“, so die Tochter weiter. Die Situation habe ihr keine Wahl gelassen, die Mutter musste in die geschlossene Abteilung des Bezirkskrankenhauses München-Haar. Dort riet man Frau Reder dann später, Frau Neck nicht in das geplante Wohnprojekt aufzunehmen, da sie hochgradig weglaufgefährdet und verhaltensauffällig sei sowie keine Therapie mitmache und niemanden in ihre Nähe lasse. „In meiner ganzen Verzweiflung habe ich dann noch mal einen Bittbrief an Frau Reder geschrieben, die sich schließlich hat breitschlagen lassen, meine Mutter mit der Eröffnung der Rothenfußer Wohngemeinschaft auf Probe aufzunehmen.“ „Heute würden wir uns nie wieder von solchen Warnungen abschrecken lassen“, bemerkt Ulrike Reder kopfschüttelnd und erinnert sich an Sätze wie: „Diese Frau braucht Medika-

mente und gehört weg auf die ‚Geschlossene‘. Seid ihr denn verrückt, gerade diese aufzunehmen, wo es doch so viele liebe nette Demenzkranke gibt!“ „Nachdem wir die völlig zusammengefallene und abgemagerte Frau im Bezirkskrankenhaus besucht hatten und sie dabei eine unserer Betreuerinnen freudig wiedererkannte, hat man sie uns dann doch mitgegeben, sozusagen mit einer Freibriefmarke nach dem Motto: ‚Wenn es nicht klappt, dann schickt ihr sie halt wieder zurück‘.“ Der Einzug in die Chiemgaustraße 28 war schließlich nicht einfach für Frau Neck. Ihrem starken Bewegungsdrang sei man aber beispielsweise entgegengekommen, indem man sie nicht nur morgens zum Semmelkaufen mitnahm, sondern sie noch zwei weitere Male am Tag vor die Tür begleitete. Doch dann, nach dieser starken Unruhephase, folgte plötzlich ein extremer Rückzug, erzählen mir meine Gesprächspartnerinnen. „Mutter baute hier zunächst noch stärker ab, da sie auch das Essen verweigerte“, berichtet Hannelore Huhn. „Diese ‚Mich-will-doch-eh-keiner-mehr-Haltung‘ erleben wir hier aber öfter“, so Ulrike Reder. „Doch plötzlich kam Frau Neck wieder aus ihrem Zimmer heraus. Ihre Demenz war zwar fortgeschritten, aber sie hatte sich entschieden, wieder Nahrung zu sich zu nehmen und am Küchenleben teilzunehmen. Jetzt ist sie in ihrer Welt angekommen und fühlt sich dort auch wohl. Sie ist nur noch emotional erreichbar, nimmt aber zum Beispiel mit einer Mitbewohnerin regelmäßig Kontakt auf. Sie sitzen auf der Couch und schmusen miteinander und sagen sich liebe Sachen“, berichtet Ulrike Reder. Ab und zu beschäftige sie sich – und manchmal sogar die ganze Gruppe – damit, Skatkarten professionell zu mischen, denn Frau Neck sei früher passionierte Skatspielerin gewesen. „Wir achten darauf, dass die individuellen Bedürfnisse jeder Bewohnerin berücksichtigt werden. Frau Neck hat sich bei uns wirklich normalisiert und braucht noch nicht einmal mehr Medikamente, was bei ihrer Vorgeschichte ja sozusa- Biografiearbeit ist ein wichtiger Baustein, um die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu erfassen. Eva Neck war passionierte Skat-Spielerin. Die Pokale und Auszeichnungen aus dieser Zeit hat sie in ihr Zimmer gestellt. Foto: Harald Raabe gen ein Wunder ist“, so Ulrike Reder. Dies sei wohl auch ein Grund dafür, dass die Ärzte, die Frau Neck betreut hätten, heute darüber staunten, wie positiv sie sich seit dem Einzug in die Chiemgaustraße entwickelt habe. „Unser Verhältnis zum Bezirkskrankenhaus Haar hat sich mittlerweile deutlich verbessert, man bezeichnet uns sogar als Lichtblick für die Versorgung von Menschen mit Demenz in München. Heute sagen wir: ‚Ja, Frau Neck gehört zu uns, denn bei uns fühlt sie sich wohl‘.“ Und der Grund dieser Zufriedenheit liegt unter anderem an den speziellen Strukturen des Wohnprojektes. Die zwischen zwölf und 18 qm großen Zimmer in der Chiemgaustraße 28 sind individuell gestaltet. Auch Eva Neck zieht sich gerne in ihr Zimmer zurück, wenn ihr das Gemeinschaftsleben zu viel wird. Foto: Harald Raabe Thema Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 2/03 13

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Hannelore Huhn freut sich, dass ihre demenzkranke<br />

Mutter bis an ihr Lebensende einen Platz in der<br />

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gungsdrang war so stark, dass sie nirgendwo<br />

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dem Auto hinter ihr herfahren, um sie nicht<br />

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fand ich nichts Geeignetes. Erst mit Hilfe der<br />

Alzheimergesellschaft bin ich auf Häuser der<br />

Arbeiterwohlfahrt (AWO) gestoßen, in denen<br />

gerontopsychiatrische Wohngruppen untergebracht<br />

sind. Die fünf Häuser der AWO in<br />

München bieten Wohnraum für insgesamt etwa<br />

50 Menschen mit Demenz – ein Witz für eine<br />

Großstadt. Erst nach einem dreiviertel Jahr<br />

auf dem obersten Platz auf der Warteliste bin<br />

ich zu einem ersten Vorstellungsgespräch eingeladen<br />

worden.“ „Dazu muss man sagen“, ergänzt<br />

Ulrike Reder, „dass dieses offen geführte<br />

Stationen in den Heimen sind, die zudem sehr<br />

stark therapeutisch ausgerichtet sind. Man geht<br />

dort davon aus, dass, wenn sich die Bewohner<br />

wohl fühlen, sie an Beschäftigungstherapien<br />

teilnehmen und auch dabei bleiben. Wer es<br />

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aufweist, dem läuft man nicht<br />

hinterher, sondern der wird als nicht in das<br />

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Menschen somit auf die geschlossene Abteilung<br />

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die einzigen noch bestehenden anderen „Wohnalternativen“<br />

für diese Menschen in München,<br />

die hier offensichtlich keiner haben will. Die Situation<br />

für verhaltensauffällige, demenzkranke<br />

Menschen gleicht in dieser Stadt eher einem<br />

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Verschiebebahnhof zwischen den oft schrekklichen<br />

geschlossenen Abteilungen in den Altenheimen<br />

und Krankenhäusern.“<br />

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Telefonkontakt mit Frau Reder nicht gewesen“,<br />

berichtet Hannelore Huhn weiter. „Ich<br />

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Miete – ohne weitere Kosten – knapp 400 Euro<br />

beträgt. Meine Mutter erhält eine Rente von<br />

rund 900 Euro. Schon wieder nichts, dachte<br />

ich also. Doch Frau Reder hat mir zugeredet,<br />

nicht so schnell aufzugeben. Zudem besuchte<br />

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nicht wie geplant starten konnte, verkomplizierte<br />

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zwei Mitarbeiterinnen zur Verfügung, die<br />

eigentlich für die Arbeit im zunächst einmal<br />

lahm gelegten Wohnprojekt vorgesehen<br />

waren.“ „Und das bedeutete, dass sie eigentlich<br />

acht Stunden hinter Frau Neck herrennen<br />

mussten“, wirft Ulrike Reder ein, „aus dieser<br />

Zeit stammt der Standardsatz: ‚Frau Neck ist<br />

weg.‘“ Auf Empfehlung von Frau Reder suchte<br />

Frau Huhn Professor Lauter auf, der Klinikchef<br />

des Klinikums rechts der Isar und zudem<br />

Mitglied des Münchener Förderkreises e.V. ist.<br />

Dieser Förderkreis war nicht nur Initiator,<br />

sondern später auch Vermieter der noch einzurichtenden<br />

Rothenfußer Wohngemeinschaft.<br />

„Professor Lauter empfahl mir, meine Mutter<br />

mit Medikamenten einstellen zu lassen“, so die<br />

Tochter weiter. Die Situation habe ihr keine<br />

Wahl gelassen, die Mutter musste in die<br />

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München-Haar. Dort riet man Frau Reder<br />

dann später, Frau Neck nicht in das geplante<br />

Wohnprojekt aufzunehmen, da sie hochgradig<br />

weglaufgefährdet und verhaltensauffällig sei<br />

sowie keine Therapie mitmache und niemanden<br />

in ihre Nähe lasse. „In meiner ganzen<br />

Verzweiflung habe ich dann noch mal einen<br />

Bittbrief an Frau Reder geschrieben, die sich<br />

schließlich hat breitschlagen lassen, meine<br />

Mutter mit der Eröffnung der Rothenfußer<br />

Wohngemeinschaft auf Probe aufzunehmen.“<br />

„Heute würden wir uns nie wieder von solchen<br />

Warnungen abschrecken lassen“, bemerkt<br />

Ulrike Reder kopfschüttelnd und erinnert sich<br />

an Sätze wie: „Diese Frau braucht Medika-

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