05.12.2012 Aufrufe

E&W Mai 2005 - GEW

E&W Mai 2005 - GEW

E&W Mai 2005 - GEW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Europa Macht Frieden<br />

Friedenspolitische Konferenz der <strong>GEW</strong><br />

„Wer hat die Macht in Europa? Das<br />

Volk über die demokratisch gewählten<br />

Parlamente oder die Wirtschafts- und<br />

Rüstungslobby über den Weg der<br />

Brüsseler Bürokratie?“, fragte Eva-<br />

Maria Stange, die damalige <strong>GEW</strong>-<br />

Vorsitzende, zur Eröffnung der friedenspolitischen<br />

Konferenz ihrer Gewerkschaft.<br />

Der Vertragstext für die<br />

europäische Verfassung stand bei der<br />

Tagung , die am 18. und 19. März in<br />

Berlin stattgefunden hat, im Mittelpunkt.<br />

Im Herbst <strong>2005</strong> soll die europäische<br />

Verfassung, Grundlage des<br />

künftigen Zusammenlebens in Europa,<br />

in Kraft treten. Veränderungen<br />

am Vertragswerk sind nicht<br />

mehr möglich – es kann von den<br />

Mitgliedsstaaten entweder angenommen<br />

oder abgelehnt werden. Der Ausgang<br />

des Referendums ist in Frankreich<br />

noch ungewiss.<br />

EU-Parlament ausgehebelt?<br />

Der einschlägige Artikel I-41,5 des Verfassungsentwurfs<br />

lasse vermuten, dass<br />

die Macht des gewählten EU-Parlaments<br />

ausgehebelt wird, befürchtet Eva-<br />

Maria Stange. Hier werde die Entscheidung<br />

über militärische Einsätze demnach<br />

allein dem Ministerrat ohne Beteiligung<br />

des EU-Parlaments übertragen.<br />

Wenn Fragen von Krieg und Frieden sowie<br />

der Menschenrechte tangiert sind,<br />

sollten Gewerkschafter und Pädagogen<br />

Stellung beziehen, appellierte die Ex-<br />

<strong>GEW</strong>-Chefin an die rund 120 Gäste.<br />

Doch die Einmischung setzt Kenntnis<br />

der Materie voraus: Und diese wird<br />

allein schon dadurch erschwert, dass das<br />

400-seitige Gesetzeskonvolut von der<br />

EU nur gegen eine Gebühr von 25 Euro<br />

zu beziehen ist.<br />

Macht Europa Frieden, wie der Titel der<br />

Konferenz verspricht? Tobias Pflüger, lin-<br />

ker Europa-Abgeordneter und Rüstungskritiker,<br />

meldet Bedenken an,<br />

wenn die EU laut Artikel I-41 der neuen<br />

Verfassung zu „auf militärische Mittel<br />

gestützte Operationen“ befähigt werden<br />

soll. Solche Operationen schlössen die<br />

Bekämpfung des Terrorismus, und zwar<br />

auch in Drittstaaten, wie es im Abschnitt<br />

III, Artikel 309, heißt, mit ein.<br />

Der Militäreinsatz sei nicht mehr strikt<br />

an die Verteidigung gebunden, wie etwa<br />

im deutschen Grundgesetz, bemängelt<br />

auch der Hamburger Staatsrechtler<br />

Norman Paech, und vor allem nicht mehr<br />

an einen Beschluss des EU-Parlaments.<br />

Außerdem verpflichte die neue Verfassung<br />

die Mitgliedsstaaten, „ihre militärischen<br />

Fähigkeiten regelmäßig zu verbessern“,<br />

d. h. aufzurüsten. Darüber wachen<br />

soll die „europäische Verteidigungsagentur“.<br />

Pflügers Urteil: „Es geht<br />

um eine Militärverfassung.“ Bestärkt<br />

fühlt er sich in seiner Einschätzung<br />

durch den Verfassungsartikel, der ausdrücklich<br />

eine „ständige strukturierte<br />

Zusammenarbeit“ einzelner Mitgliedsstaaten<br />

auf militärischer Ebene vorsieht.<br />

Damit werde ein Sonderbündnis eines<br />

kriegsbereiten Kerneuropas ermöglicht.<br />

Angelika Beer, für die Grünen im Europäischen<br />

Parlament, liest den Entwurf<br />

anders, und sie wird unterstützt von<br />

Prof. Jürgen Meyer, der als Vertreter des<br />

Deutschen Bundestags im Verfassungskonvent<br />

der EU mitgearbeitet hat:<br />

Friedliche Mittel zur Konfliktlösung seien,<br />

so Beer und Meyer, darin gleichberechtigt<br />

zu den militärischen verankert.<br />

Die Charta der Grund- und Menschenrechte<br />

werde ausdrücklich anerkannt.<br />

Nach Beers Lesart: eine Friedensverfassung.<br />

In einer multilateralen Welt, so die<br />

Parlamentsabgeordnete, müsse die EU<br />

auch zu „militär-polizeilichen Aktionen“<br />

wie im Kosovo fähig sein, sonst<br />

könne sie keine glaubwürdige Außenpolitik<br />

betreiben. Und wie solle die EU<br />

ihren Beistandsverpflichtungen nachkommen,<br />

auch im Rahmen der UNO,<br />

wenn sie keine effizienten militärischen<br />

Fotos: imago<br />

Strukturen habe? Der Bundestag müsse<br />

nach wie vor die Entscheidung über<br />

Krieg und Frieden treffen können, das<br />

Grundgesetz werde in diesem Punkt<br />

nicht durch die EU-Verfassung außer<br />

Kraft gesetzt, hält Angelika Beer den<br />

Kritikern des Vertragswerks entgegen.<br />

Doch auch die Gäste aus anderen europäischen<br />

Bildungsgewerkschaften bleiben<br />

skeptisch gegenüber dem Gesetzentwurf.<br />

Er erhebe die Förderung des<br />

freien Wettbewerbs zum Verfassungsziel,<br />

kritisiert z. B. Raol Alonso von der<br />

französischen Lehrergewerkschaft SNES.<br />

Während die Verfassungen etwa Frankreichs<br />

und Deutschlands Spielraum<br />

ließen für unterschiedliche Wirtschaftsformen,<br />

erhalte die neoliberale Wettbewerbsideologie<br />

in dem Brüsseler<br />

Vertragswerk Verfassungsrang, meint<br />

Alonso. Seine Gewerkschaft gebe zwar<br />

keine Empfehlung für das Referendum<br />

ab, aber die Ablehnung überwiege.<br />

Frederico Mayor, ehemaliger Generalsekretär<br />

der UNESCO, jetzt Vorsitzender<br />

der Stiftung Kultur des Friedens, spart als<br />

Hauptreferent der Tagung ebenfalls<br />

nicht mit Kritik: „Die neoliberale<br />

Marktwirtschaft schafft sich ihre Verfassung“,<br />

stellt er fest. Die Unterwerfung<br />

von Kultur, Bildung und Medien unter<br />

die Bedingungen des Marktes führe dazu,<br />

so Mayors Einwand, dass Menschen<br />

bloß als Konsumenten betrachtet werden<br />

– dies stehe im Widerspruch zu einer<br />

Bildung, die ein sinnerfülltes Leben<br />

zum Ziel hat.<br />

Skepsis auch im Ausland<br />

Viele Fragen bleiben offen. Nicht zuletzt:<br />

Soll man mehr den friedenspolitischen<br />

Grundsätzen des Entwurfs trauen<br />

oder steckt der Pferdefuß im Kleingedruckten,<br />

in dem es heißt, dass die<br />

Entscheidung über Krieg und Frieden<br />

ausschließlich den Regierungen überantwortet<br />

wird? Und: Ist es ein Unglück,<br />

wenn die Verfassung an den Referenden*,<br />

etwa in Frankreich, scheitert<br />

oder kann man auch mit dem bisher geltenden<br />

Vertrag von Nizza weiterleben,<br />

bis ein akzeptablerer Verfassungsentwurf<br />

vorliegt? Die Zeit sei noch nicht<br />

reif für eine abschließende Stellungnahme,<br />

glaubt Stange. Sie will die Debatte<br />

im DGB und im Europäischen Gewerkschaftsbund<br />

weiter führen.<br />

Karl-Heinz Heinemann<br />

*Anm. der Red.: Neben Frankreich findet noch in acht weiteren<br />

Mitgliedsstaaten ein Referendum über den Verfassungsentwurf<br />

statt (darunter: Dänemark, Großbritannien, Spanien<br />

und die Niederlande). In den anderen EU-Staaten entscheidet<br />

das Parlament über den neuen Verfassungsvertrag.<br />

Wenn nur ein Staat den Entwurf ablehnt, ist das neue Vertragswerk<br />

geplatzt.<br />

GESELLSCHAFTSPOLITIK<br />

Umstritten: der<br />

Entwurf für eine<br />

neue europäische<br />

Verfassung.<br />

Gewinnen Wirtschafts-<br />

und<br />

Rüstungslobby<br />

mehr Einfluss in<br />

Brüssel?<br />

EU global fatal?! –<br />

der Reader mit den<br />

Ergebnissen der<br />

Europa-Konferenz<br />

von attac Stuttgart<br />

im März <strong>2005</strong> ist<br />

erschienen. Er<br />

kommt genau zur<br />

rechten Zeit: Die<br />

heiße Phase der<br />

Auseinandersetzung<br />

um die EU-<br />

Verfassung hat begonnen<br />

und die so<br />

genannte Dienstleistungs-Richtlinie<br />

bewegt die Öffentlichkeit.<br />

Der Reader<br />

kostet 7,50 Euro<br />

und kann bestellt<br />

werden bei:<br />

„Verein für gerechte<br />

Weltwirtschaft“ e.V.,<br />

Steinkopfstraße 13,<br />

70184 Stuttgart,<br />

E-<strong>Mai</strong>l:<br />

vfgww@gmx.net<br />

Die Texte der<br />

<strong>GEW</strong>-Konferenz in<br />

Berlin stehen ab<br />

Mitte <strong>Mai</strong> auf der<br />

<strong>GEW</strong>-Homepage:<br />

www.gew.de<br />

E&W 5/<strong>2005</strong> 27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!