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E&W Mai 2005 - GEW

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„60 Jahre nach<br />

der Befreiung<br />

von Auschwitz<br />

rücken die dort<br />

und anderswo<br />

begangenen Verbrechenunwiderruflich<br />

in den<br />

Bereich des Historischen,<br />

des<br />

Gewesenen.“<br />

Wie kann man<br />

bei der jungen<br />

Generation trotzdem<br />

eine Kultur<br />

des Erinnerns<br />

entwickeln?<br />

Der Autor:<br />

Micha Brumlik ist Direktor<br />

des Fritz-Bauer-Instituts<br />

in Frankfurt am <strong>Mai</strong>n<br />

und Professor für Pädagogik<br />

an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität.<br />

22<br />

E&W 5/<strong>2005</strong><br />

Holocaust und Krieg:<br />

Wie gehen wir mit den Opfern um?<br />

Über die Schwierigkeit eines gemeinsamen Erinnerns – ein Essay von Micha Brumlik<br />

Der dem Rechtsradikalismus<br />

zugeneigte Historiker Ernst<br />

Nolte beklagte vor gut<br />

zwanzig Jahren (im so genannten<br />

„Historikerstreit“,<br />

der damals in Deutschland<br />

zu erregten Debatten führte), dass<br />

die nationalsozialistische Vergangenheit<br />

nicht vergehen wolle. Richtig daran war<br />

lediglich, dass Vergangenheit nur soweit<br />

präsent und lebendig ist, als es Menschen<br />

gibt, die sich ihrer erinnern wollen<br />

oder müssen. Dieser Wille zur Erinnerung<br />

– wie auch der Wille zur Verdrängung<br />

– wird in aller Regel umso stärker<br />

sein, je mehr Menschen (noch) leben,<br />

die das, was zu erinnern ist, selbst<br />

miterlebt haben. Zeitzeugen aus der Ära<br />

des Nationalsozialismus, überlebende<br />

Opfer, werden uns noch Jahre begleiten<br />

– auch wenn es immer weniger werden.<br />

Ebenso werden Täter noch länger unter<br />

uns leben – die jüngsten Wehrmachtsoldaten,<br />

die den Nationalsozialismus bis<br />

zum Ende verteidigten, SS-Männer, die<br />

seine Verbrechen exekutierten, gehen in<br />

diesen Jahren auf ihren 80. Geburtstag<br />

zu. Die Schülerinnen und Schüler, die<br />

heute über Auschwitz Kenntnis haben<br />

sollten, sind aber erst um 1990, nach<br />

dem Fall der Berliner Mauer, geboren.<br />

Sie sind mit der Generation der Täter oft<br />

nur noch als Enkel oder Urenkel verwandt<br />

oder – als Kinder aus Einwanderungsfamilien<br />

– überhaupt nicht.<br />

Epochenschwelle markiert<br />

60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz<br />

rücken die dort und anderswo begangenen<br />

Verbrechen unwiderruflich in<br />

den Bereich des Historischen, des Gewesenen.<br />

Mit der Einweihung des Denkmals für<br />

die ermordeten Juden Europas in Berlin<br />

wird dieser Umstand symbolisch und öffentlich<br />

im Herz der Hauptstadt besiegelt.<br />

Fängt damit für die Bürger der Bundesrepublik<br />

eine neue Zeit an, in der sie<br />

in Frieden mit sich und der Vergangenheit<br />

ihrer Gesellschaft leben können?<br />

Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.<br />

Die erneut aufbrechende Debatte über<br />

die deutschen Opfer: des Bombenkrieges,<br />

der Flucht, der Vertreibungen, der<br />

Vergewaltigungen und nicht zuletzt der<br />

von Hitler und seinen Generälen an allen<br />

Fronten des Krieges sinnlos verheizten<br />

Landser – oft genug Täter genauso<br />

wie Opfer – sowie der hinterbliebenen<br />

Familien zeigt eindringlich, dass hier ein<br />

vermeintlich ausführlich debattiertes<br />

Thema in den Gefühlen der Menschen<br />

nach weiterer Auseinandersetzung<br />

drängt. Beispielhaft sei hier eine Äußerung<br />

des bekannten deutschen Publizisten<br />

Joachim Fest zitiert. In einer für diesen<br />

sonst so beherrschten Mann ungewöhnlich<br />

ressentimentgeladenen Weise<br />

gab der Historiker am 9. April der Berliner<br />

Zeitung in einem Interview zu Protokoll:<br />

„Es gibt viele Deutsche, die unablässig jeden<br />

Tag über die Opfer weinen könnten. Meine<br />

Verwandten waren gegen Hitler, schon weil<br />

mein Vater gegen Hitler war. Auch sie waren<br />

Leute, die ihre Heimat verloren haben, die<br />

vergewaltigt worden sind, totgeschlagen wurden<br />

– und zwar mehr als dreißig Personen.<br />

Ich betrauere sie sehr. Als Deutscher darf man<br />

sie eigentlich nicht einmal betrauern. Es gibt<br />

andere Völker, die zwar ein moralisch größeres<br />

Recht haben, ihre von den Nazis umgebrachten<br />

Menschen zu betrauern. Dass aber<br />

unsere unschuldigen Toten dabei vergessen<br />

wurden und aus dem Gedächtnis der Welt<br />

einfach herausgefallen sind, als hätten sie nie<br />

existiert, das ist auch nicht richtig.“<br />

Fotos: dpa

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