Schriftenreihe Verkehrssicherheit 14: „Risiko raus“ – Fachliche - DVR
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1999). Da Regeleinhaltung nicht allein aus Überzeugung und Eigenmotivation erfolgt, ist in einem geregelten System wie dem Straßenverkehr nur dann ein effektiver und sicherer Ablauf zu erreichen, wenn eine Überwachung der Regeleinhaltung stattfindet. Nach Schätzungen im Rahmen des ESCAPE Projekts für den skandinavischen Raum könnte die Anzahl der Verkehrstoten um 48 % (Norwegen) bzw. 76 % (Schweden) reduziert werden, wenn die häufigsten Verstöße gegen Verkehrsregeln verhindert würden (ESCAPE, 2003). Die größere Klasse der Verstöße im Straßenverkehr stellen dabei Routineverstöße dar. Hierbei handelt es sich um durchaus beabsichtigte Regelverstöße, die jedoch nicht in der Absicht begangen werden, dem System bewusst zu schaden. Vielmehr werden diese Verstöße in Verfolgung individuell höher bewerteter Ziele in Kauf genommen („funktionale Übertretungen“). Sie gehören zum Verhaltensrepertoire und erfolgen oft gewohnheitsmäßig (Reason, 1994). Im Straßenverkehr finden sich hierzu zahlreiche Beispiele, z.B. Geschwindigkeitsüberschreitungen, zu dichtes Auffahren, gefährliches Überholen, manche Fehlverhaltensweisen von Radfahrern und Fußgängern. 24 Worin liegen nun wesentliche Bedingungen und Prädiktoren für regelkonformes (respektive regelverletzendes) Verhalten? Regelbefolgung hängt nicht nur von einem Faktor ab. Allgemein sind im Zusammenhang mit Regeleinhaltung drei Faktoren zu berücksichtigen: � die Regel selbst, � die Situation, in der diese Regel Gültigkeit besitzt, und � die Person, die diese Regel in der Situation anwenden soll. An die Regel oder das Gesetz wird die Anforderung gestellt, dass sie in eine Handlung umsetzbar ist, dass sie kontrollierbar ist und mit anderen Gesetzen und Vorschriften übereinstimmt (Opp, 1971; Siegrist & Roskova, 2001). Auf die Wahrscheinlichkeit der Regeleinhaltung kann die Situation Einfluss nehmen. Besonders im Bereich Geschwindigkeitsverhalten wird dieser Einfluss der Situation bzw. Umwelt deutlich. Cohen (1999) verwies z. B. auf die größere Wahrscheinlichkeit von Geschwindigkeitsübertretungen bei breiteren Straßenanlagen. Theeuwes & Diks (1995) weisen darauf hin, dass ein nennenswerter Anteil der Unfälle im Straßenverkehr durch eine psychologisch nicht adäquate Straßengestaltung zumindest teilweise induziert wird (vgl. Schlag & Heger, 2004). Fehler werden letztendlich natürlich von Personen, als drittem der o. a. Faktoren, begangen. Die Ursachen und die Arten der Fehler können dabei weiter differenziert werden (siehe oben: Reason, 1994). Unerlässliche Bedingungen für die Regelbefolgung liegen einerseits in den Kenntnissen von Verkehrsregeln bei den Verkehrsteilnehmern. Die Verkehrsteilnehmer müssen die entsprechenden Gesetze kennen und deren Inhalte und die zugrunde liegende Zielsetzung verstehen. Regelkenntnis stellt nun zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Befolgung von Regeln dar. Siegrist & Roskova (2001) stellten für die Schweiz fest, dass Wissensdefizite im Allgemeinen als weniger bedeutsam anzusehen sind. Vor allem bei der Gruppe unproblematischer Fahrer fanden sich dort unzureichende Regelkenntnisse. Ähnlich wurde durch Stern, Schlag u.a. (2006) ein erwartungskonträrer Zusammenhang zwischen Regelkenntnis und Regelverstößen für Geschwindigkeitsvergehen berichtet. Demnach missachten Personen mit mehr Wissen über Geschwindigkeitsregeln
häufiger geltende Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dies verweist darauf, dass die Akzeptanz von Verkehrsregeln für deren Befolgung eine wichtige Voraussetzung ist. So muss ein Verkehrsteilnehmer nicht nur wissen, was von ihm erwartet wird, sondern der Verkehrsteilnehmer muss diese Regeln ausreichend akzeptieren und motiviert sein, sich entsprechend zu verhalten. In ähnlicher Weise ist eine ganz überwiegende Regelbefolgung nur zu erwarten, wenn die Regeln ein Mindestmaß an Akzeptanz in der Öffentlichkeit aufweisen. Cauzard & Quimby (2000) untersuchten in dem europäischen Forschungsprojekt ESCAPE in 13 Ländern die Einstellungen von Autofahrern zur Verkehrsüberwachung (Datenbasis: SARTRE – Social Attitudes to Road Traffic Risk in Europe mit nahezu 13000 Autofahrern). Sie stellten fest, dass "…effective enforcement depends critically on the general attitudes and perceptions of both the public and the police; without general support police efforts will be ineffective. Also, enforcement activity needs to be tied in with general public attitudes, and related to education and mass media publicity programmes” (a.a.O., S. 4). Eine Regel, die nicht die Zustimmung (zumindest eines überwiegenden Teils) der Verkehrsteilnehmer findet, führt gehäuft zu Nichtbeachtung oder gar Widerstand bei den Betroffenen und kann deshalb nur mit sehr hohem Überwachungsaufwand durchgesetzt werden. Den notwendigen Mindestgrad an grundsätzlicher Zustimmung in der Bevölkerung, um eine breite und nachhaltig verhaltenssteuernde Wirkung einer Vorschrift zu erzielen, sehen Siegrist & Roskova (2001) bei 30-50 %, Schlag (1997) bei 50 %. Die Wirksamkeit von externer Kontrolle ist davon abhängig, dass nur ein geringer Anteil der Bevölkerung dezidiert gegen die Regel eingestellt ist, eine Mehrheit hingegen der Regel zustimmt und wünscht, dass Verstöße verfolgt und geahndet werden. Regeln mit niedriger Akzeptanz in der Bevölkerung werden immer einen höheren Überwachungsaufwand zu ihrer Durchsetzung erfordern. Verkehrsteilnehmer können nun einerseits external zur Regelbefolgung motiviert werden, d.h. über die (zu erwartenden) Folgen ihres Handelns, so durch Belohnungserwartungen und Strafandrohungen. Andererseits kann die Motivation zur Regelbefolgung internal erfolgen – der Verkehrsteilnehmer handelt aus Überzeugung und internalisierten Normen heraus. Externale Steuerung ist im Straßenverkehr wie in kaum einem anderen Lebensbereich eingeführt. Die Handlungsfolgen werden meist Erwartungs- x Wert-theoretisch bestimmt. Regelgrößen sind dabei laut Erwartungs- x Wert-Theorie die (subjektive) Entdeckungswahrscheinlichkeit und die (subjektive) Strafhärte. Erwartungs- x Wert-Modelle sehen Verhalten als über die Eintrittswahrscheinlichkeit (Erwartung) bestimmter Handlungsfolgen, multipliziert mit deren Wertigkeit, gesteuert (vgl. Schlag, 2009). Die multiplikative Verknüpfung verweist darauf, dass beides nennenswert vorhanden sein muss: die Erwartung, dass man erwischt wird, und eine Strafhöhe, die persönlich bedeutsam ist. Erwartungs- x Wert-Modelle haben in unterschiedlicher Formulierung Anwendung gefunden, u.a. im Versicherungswesen und in der Ökonomie, in der Verkehrs-, der Sozial- (Fishbein & Ajzen) und der Gesundheitspsychologie (Schwarz). Diese Ansätze haben in der Praxis den Vorteil, gestaltbar zu sein: so können die Entdeckungswahrscheinlichkeit, die Sanktionshärte und auch Sanktionssysteme verändert werden. Um handlungsleitende Wirkung zu entfalten, setzen sie jedoch voraus, dass Menschen sich der Folgen ihres Handelns bewusst sind und deren Eintrittswahr- 25
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häufiger geltende Geschwindigkeitsbegrenzungen.<br />
Dies verweist darauf, dass die<br />
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nicht nur wissen, was von ihm<br />
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und motiviert sein, sich<br />
entsprechend zu verhalten. In<br />
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nur zu erwarten, wenn die<br />
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ESCAPE in 13 Ländern die<br />
Einstellungen von Autofahrern<br />
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in Europe mit nahezu 13000<br />
Autofahrern). Sie stellten fest,<br />
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both the public and the police;<br />
without general support police<br />
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S. 4). Eine Regel, die nicht<br />
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der Verkehrsteilnehmer findet,<br />
führt gehäuft zu Nichtbeachtung<br />
oder gar Widerstand<br />
bei den Betroffenen und kann<br />
deshalb nur mit sehr hohem<br />
Überwachungsaufwand<br />
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grundsätzlicher Zustimmung<br />
in der Bevölkerung, um eine<br />
breite und nachhaltig verhaltenssteuernde<br />
Wirkung einer<br />
Vorschrift zu erzielen, sehen<br />
Siegrist & Roskova (2001) bei<br />
30-50 %, Schlag (1997) bei<br />
50 %. Die Wirksamkeit von<br />
externer Kontrolle ist davon<br />
abhängig, dass nur ein geringer<br />
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dezidiert gegen die Regel<br />
eingestellt ist, eine Mehrheit<br />
hingegen der Regel zustimmt<br />
und wünscht, dass Verstöße<br />
verfolgt und geahndet werden.<br />
Regeln mit niedriger<br />
Akzeptanz in der Bevölkerung<br />
werden immer einen höheren<br />
Überwachungsaufwand zu<br />
ihrer Durchsetzung erfordern.<br />
Verkehrsteilnehmer können nun<br />
einerseits external zur Regelbefolgung<br />
motiviert werden, d.h.<br />
über die (zu erwartenden) Folgen<br />
ihres Handelns, so durch<br />
Belohnungserwartungen und<br />
Strafandrohungen. Andererseits<br />
kann die Motivation zur<br />
Regelbefolgung internal erfolgen<br />
– der Verkehrsteilnehmer<br />
handelt aus Überzeugung und<br />
internalisierten Normen heraus.<br />
Externale Steuerung ist<br />
im Straßenverkehr wie in kaum<br />
einem anderen Lebensbereich<br />
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werden meist Erwartungs-<br />
x Wert-theoretisch bestimmt.<br />
Regelgrößen sind dabei laut<br />
Erwartungs- x Wert-Theorie die<br />
(subjektive) Entdeckungswahrscheinlichkeit<br />
und die (subjektive)<br />
Strafhärte. Erwartungs- x<br />
Wert-Modelle sehen Verhalten<br />
als über die Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
(Erwartung) bestimmter<br />
Handlungsfolgen, multipliziert<br />
mit deren Wertigkeit, gesteuert<br />
(vgl. Schlag, 2009). Die<br />
multiplikative Verknüpfung<br />
verweist darauf, dass beides<br />
nennenswert vorhanden sein<br />
muss: die Erwartung, dass<br />
man erwischt wird, und eine<br />
Strafhöhe, die persönlich<br />
bedeutsam ist. Erwartungs- x<br />
Wert-Modelle haben in unterschiedlicher<br />
Formulierung<br />
Anwendung gefunden, u.a.<br />
im Versicherungswesen und<br />
in der Ökonomie, in der Verkehrs-,<br />
der Sozial- (Fishbein &<br />
Ajzen) und der Gesundheitspsychologie<br />
(Schwarz). Diese<br />
Ansätze haben in der Praxis<br />
den Vorteil, gestaltbar zu sein:<br />
so können die Entdeckungswahrscheinlichkeit,<br />
die Sanktionshärte<br />
und auch Sanktionssysteme<br />
verändert werden. Um<br />
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