Schriftenreihe Verkehrssicherheit 14: „Risiko raus“ – Fachliche - DVR

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05.12.2012 Aufrufe

verschwunden. Deshalb haben es manche Redner oft schwer, ihre Botschaft unter die Leute zu bringen, weil ihre Sätze diese Fünfsekundengrenze überschreiten und bei einem „Marathonsatz" dessen Anfang schon wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis verschwunden ist. Für den Verkehrsteilnehmer bedeutet dies, dass der Inhalt einer kurzen Orientierung nach links wieder aus der „Gegenwart" verschwinden kann, wenn man zu lange nach rechts auf einen Fußgänger schaut, d. h., das von links kommende Auto kann schlicht in Vergessenheit geraten, wenn es nicht mit einem Gedächtnisinhalt gekoppelt wird und der Fußgänger von rechts unsere Aufmerksamkeit zu lange in Anspruch nimmt. Ein wiederholter Kontrollblick nach links kann deshalb nützlich sein, um derartige Informationen wieder „aufzufrischen". Visuelle Wahrnehmung Das Prinzip der visuellen Wahrnehmung stützt sich zunächst auf einen durch Aufmerksamkeitsprozesse ausgewählten Ausschnitt der physikalischen Umwelt, der auf der Netzhaut abgebildet wird. Es ist aber nicht diese physikalischphysiologische Konstellation, die wahrgenommen wird, sondern das, was wir auf unserem Erfahrungshintergrund und unserer Motivationslage 152 erkennen (siehe Bewertung in Abbildung 1). Obwohl das Gebilde vor uns nichts anderes ist als ein Objekt, welches Licht mit verschiedenen Wellenlängen reflektiert, erkennen wir z.B. zweifelsohne einen entgegenkommenden Fahrradfahrer. Dass dieser Zusammenhang weniger banal ist als er erscheint, können wir uns vorstellen, wenn wir annehmen, dass die gleiche Konstellation von einem Außerirdischen angeschaut wird, der noch nie in seinem Leben einen Fahrradfahrer gesehen hat. Selbst wenn zwei Menschen das Gleiche sehen, müssen sie nicht zwangsläufig dasselbe wahrnehmen. Würde man zwei Menschen beispielsweise für kurze Zeit (z.B. eine Sekunde) ein Bild einer belebten Verkehrssituation zeigen, würden sie bei Nachfrage unter Umständen höchst unterschiedliche Eindrücke wiedergeben. Der eine würde beispielsweise ein weißes Auto erkannt haben, der andere schwört, ein Taxi gesehen zu haben. Obwohl es sich bei dem weißen Auto tatsächlich nur um ein solches handelt, würde man bei einer weiteren Nachfrage erfahren, dass der zweite Beobachter lange Zeit Taxi gefahren ist. Seine Wahrnehmung wurde folglich durch seine Erfahrungen gesteuert. Selbst die übereinstimmende Farbwahrnehmung beruht lediglich auf der Konvention, dass Licht einer bestimmten Wellenlänge weiß genannt wird. Ob beide Personen tatsächlich die gleiche Farbe wahrgenommen haben, bleibt ihr Geheimnis. Ebenso wird Gesehenes aufgrund einer spezifischen Bedürfnis- oder Motivationslage bewertet. Aus der Reizvielfalt des gezeigten Bildes würde ein hungriger Betrachter mit einer größeren Wahrscheinlichkeit eine nur undeutlich zu erkennende Plakatierung eines Fastfood-Anbieters erkennen als eine gesättigte Person. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Wahrnehmung eines Sinneseindrucks ist immer in ein bestimmtes Umfeld eingebettet, d.h. die Wahrnehmung eines Objektes wird durch den gesamten Kontext beeinflusst, in den das Objekt eingebettet ist. Dabei ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, wie es die Gestaltpsychologen (z.B. Wertheimer, 1922) formulierten. Ein bekanntes Beispiel stellt die Müller- Lyersche Täuschung dar. Abbildung 2: Müller- Lyersche Täuschung

Obwohl beide Linien objektiv gleich lang sind, erscheint die untere Linie länger, weil sie in ein anderes Umfeld eingebettet ist. Ein entgegenkommendes Fahrzeug, welches links abbiegen will, wird anders interpretiert, wenn es allein auf der Abbiegespur steht, als wenn es als drittes an der Kreuzung steht und bereits zwei Fahrzeuge vor ihm abgebogen sind. So wird die Abbiegewahrscheinlichkeit im zweiten Fall u.U. höher eingeschätzt (Mitzieheffekt) als im ersten Fall, wo man fälschlicherweise annehmen könnte, der Fahrer hätte uns gesehen. Im Grunde funktioniert Wahrnehmung nach einem Ökonomieprinzip und gestaltet sich in Verbindung mit den Kenntnissen und Erfahrungen über die Umwelt unwillkürlich so, dass sich mit möglichst geringem Energieaufwand ein in sich geschlossenes Bild der Außenwelt ergibt. Einige markante Details genügen, und Personen sind in der Lage ein Objekt zu erkennen, ohne dessen Einzelheiten vollständig identifiziert zu haben. Demgegenüber ist es allerdings durchaus möglich, dass real existierende Objekte überhaupt nicht wahrgenommen werden. Ein Verkehrszeichen geht beispielsweise in einem optisch beherrschenden Umfeld einfach unter, weil es sich vom Hintergrund nicht mehr genügend abhebt. Das so genannte Figur – Grund – Verhältnis lässt sich sehr gut durch die bekannte Kipp – Figur (Rubinscher Becher) in Abbildung 3 verdeutlichen. Abbildung 3: Rubinscher Becher In mehrdeutigen Wahrnehmungssituationen kann sich das Gesamtbild plötzlich ändern, wenn sich die Aufmerksamkeit von der Figur auf den Hintergrund verschiebt und damit den Hintergrund zur Figur werden lässt. Bei ungünstigen Lichtverhältnissen wie z. B. in der Dämmerung, in der Nacht oder beim Befahren von dunklen Tunnels, macht die Verminderung der so genannten Unterschiedsempfindlichkeit erheblich zu schaffen. Gegenstände, die sich tagsüber deutlich vom Hintergrund abheben, sind in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Beträgt die Unterschiedsempfindlichkeit am Tag ca. 1:10, kann man unter ungünstigen Bedingungen (z.B. nachts) mit lediglich 1:1,1 rechnen. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die „Entdeckung" eines dunkel gekleideten Fußgängers auf einer nächtlichen Landstraße oder des Kurvenverlaufs in einem dunklen Tunnel. Entdeckt man im Dunkel des Tunnels einen Lichtreiz und fixiert diesen, gerät er möglicherweise plötzlich außer Sicht. Dies hängt u. a. auch mit der unterschiedlichen Lichtempfindlichkeit der Sinneszellen im Auge zusammen: Im Punkt des schärfsten Sehens (Fovea centralis) befinden sich ausschließlich die weniger lichtempfindlichen, aber dafür für das Farbsehen verantwortlichen Zapfen. Bei sternenklarer Nacht kann man die Verhältnisse selbst testen. Fixiert man einen sehr schwach leuchtenden Stern, den man eben noch gesehen hat, ist er plötzlich verschwunden, weil er gerade auf der lichtschwachen „Fovea centralis" gelandet ist. Schaut man nur wenig an seinem vermeintlichen Standort vorbei, ist er plötzlich wieder zu sehen, weil er von den nur für das Schwarz-Weiß-Sehen konzipierten, aber lichtempfindlicheren Stäbchenzellen „eingefangen“ wird, die sich über die ganze Netzhaut verteilen. 153

verschwunden. Deshalb<br />

haben es manche Redner oft<br />

schwer, ihre Botschaft unter<br />

die Leute zu bringen, weil<br />

ihre Sätze diese Fünfsekundengrenze<br />

überschreiten und<br />

bei einem „Marathonsatz"<br />

dessen Anfang schon wieder<br />

aus dem Kurzzeitgedächtnis<br />

verschwunden ist. Für den<br />

Verkehrsteilnehmer bedeutet<br />

dies, dass der Inhalt einer kurzen<br />

Orientierung nach links<br />

wieder aus der „Gegenwart"<br />

verschwinden kann, wenn man<br />

zu lange nach rechts auf einen<br />

Fußgänger schaut, d. h., das<br />

von links kommende Auto kann<br />

schlicht in Vergessenheit geraten,<br />

wenn es nicht mit einem<br />

Gedächtnisinhalt gekoppelt<br />

wird und der Fußgänger von<br />

rechts unsere Aufmerksamkeit<br />

zu lange in Anspruch nimmt.<br />

Ein wiederholter Kontrollblick<br />

nach links kann deshalb nützlich<br />

sein, um derartige Informationen<br />

wieder „aufzufrischen".<br />

Visuelle Wahrnehmung<br />

Das Prinzip der visuellen Wahrnehmung<br />

stützt sich zunächst<br />

auf einen durch Aufmerksamkeitsprozesse<br />

ausgewählten<br />

Ausschnitt der physikalischen<br />

Umwelt, der auf der Netzhaut<br />

abgebildet wird. Es ist<br />

aber nicht diese physikalischphysiologische<br />

Konstellation,<br />

die wahrgenommen wird,<br />

sondern das, was wir auf<br />

unserem Erfahrungshintergrund<br />

und unserer Motivationslage<br />

152<br />

erkennen (siehe Bewertung<br />

in Abbildung 1). Obwohl<br />

das Gebilde vor uns nichts<br />

anderes ist als ein Objekt,<br />

welches Licht mit verschiedenen<br />

Wellenlängen reflektiert,<br />

erkennen wir z.B. zweifelsohne<br />

einen entgegenkommenden<br />

Fahrradfahrer. Dass dieser<br />

Zusammenhang weniger banal<br />

ist als er erscheint, können<br />

wir uns vorstellen, wenn wir<br />

annehmen, dass die gleiche<br />

Konstellation von einem Außerirdischen<br />

angeschaut wird, der<br />

noch nie in seinem Leben einen<br />

Fahrradfahrer gesehen hat.<br />

Selbst wenn zwei Menschen<br />

das Gleiche sehen, müssen sie<br />

nicht zwangsläufig dasselbe<br />

wahrnehmen. Würde man<br />

zwei Menschen beispielsweise<br />

für kurze Zeit (z.B.<br />

eine Sekunde) ein Bild einer<br />

belebten Verkehrssituation<br />

zeigen, würden sie bei Nachfrage<br />

unter Umständen höchst<br />

unterschiedliche Eindrücke<br />

wiedergeben. Der eine würde<br />

beispielsweise ein weißes Auto<br />

erkannt haben, der andere<br />

schwört, ein Taxi gesehen zu<br />

haben. Obwohl es sich bei<br />

dem weißen Auto tatsächlich<br />

nur um ein solches handelt,<br />

würde man bei einer weiteren<br />

Nachfrage erfahren, dass der<br />

zweite Beobachter lange Zeit<br />

Taxi gefahren ist. Seine Wahrnehmung<br />

wurde folglich durch<br />

seine Erfahrungen gesteuert.<br />

Selbst die übereinstimmende<br />

Farbwahrnehmung beruht<br />

lediglich auf der Konvention,<br />

dass Licht einer bestimmten<br />

Wellenlänge weiß genannt<br />

wird. Ob beide Personen<br />

tatsächlich die gleiche Farbe<br />

wahrgenommen haben, bleibt<br />

ihr Geheimnis. Ebenso wird<br />

Gesehenes aufgrund einer<br />

spezifischen Bedürfnis- oder<br />

Motivationslage bewertet.<br />

Aus der Reizvielfalt des<br />

gezeigten Bildes würde ein<br />

hungriger Betrachter mit einer<br />

größeren Wahrscheinlichkeit<br />

eine nur undeutlich zu erkennende<br />

Plakatierung eines<br />

Fastfood-Anbieters erkennen<br />

als eine gesättigte Person.<br />

Das Ganze ist mehr als die<br />

Summe seiner Teile.<br />

Die Wahrnehmung eines Sinneseindrucks<br />

ist immer in ein<br />

bestimmtes Umfeld eingebettet,<br />

d.h. die Wahrnehmung eines<br />

Objektes wird durch den<br />

gesamten Kontext beeinflusst,<br />

in den das Objekt eingebettet<br />

ist. Dabei ist das Ganze mehr<br />

als die Summe seiner Teile,<br />

wie es die Gestaltpsychologen<br />

(z.B. Wertheimer, 1922)<br />

formulierten. Ein bekanntes<br />

Beispiel stellt die Müller-<br />

Lyersche Täuschung dar.<br />

Abbildung 2: Müller-<br />

Lyersche Täuschung

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