05.12.2012 Aufrufe

Sozialisationsinstanzen - marinahennig.de

Sozialisationsinstanzen - marinahennig.de

Sozialisationsinstanzen - marinahennig.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Sozialisationsinstanzen</strong><br />

Wir können die Gruppen o<strong>de</strong>r sozialen Kontexte, innerhalb <strong>de</strong>rer signifikante<br />

Sozialisationsprozesse ablaufen, als <strong>Sozialisationsinstanzen</strong> bezeichnen.<br />

In allen Kulturen ist die Familie die hauptsächliche Sozialisationsinstanz<br />

<strong>de</strong>s kleinen Kin<strong>de</strong>s. Doch in späteren Stadien <strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>s<br />

Individuums kommen viele an<strong>de</strong>re <strong>Sozialisationsinstanzen</strong> ins Spiel.<br />

Die Familie<br />

Da sich Familiensysteme sehr voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n, ist die Band<br />

breite <strong>de</strong>r Kontakte <strong>de</strong>s Kleinkin<strong>de</strong>s keineswegs in allen Kulturen dieselbe.<br />

Im allgemeinen ist zwar die Mutter überall die wichtigste Einzelperson im<br />

frühen Leben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, doch wird, wie wir bereits erwähnt haben, die<br />

Art <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen Müttern und ihren Kin<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r Form<br />

und <strong>de</strong>r Häufigkeit <strong>de</strong>s Kontaktes beeinflußt. Dies wie<strong>de</strong>rum hängt von<br />

<strong>de</strong>r Beschaffenheit <strong>de</strong>r Familie als Institution und von ihrer Beziehung zu<br />

an<strong>de</strong>ren gesellschaftlichen Gruppierungen ab.<br />

In mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften fin<strong>de</strong>t ein Großteil <strong>de</strong>r Frühsozialisation innerhalb<br />

<strong>de</strong>r Kleinfamilie statt. Obwohl die britische Gesellschaft viele verschie<strong>de</strong>ne<br />

subkulturelle Gruppen umfaßt, und die Sozialisationsprozesse<br />

ziemlich variieren, verbringt doch ein Großteil <strong>de</strong>r britischen Kin<strong>de</strong>r seine<br />

frühen Jahre in einem Haushalt, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>m Vater und vielleicht<br />

einem o<strong>de</strong>r zwei an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rn besteht. Im Gegensatz dazu sind<br />

in vielen an<strong>de</strong>ren Kulturen Tanten, Onkel und Enkel häufig Teil eines einzelnen<br />

Haushalts und übernehmen die Aufgabe, sich sogar um sehr kleine<br />

Kin<strong>de</strong>r zu kümmern. Doch gibt es in <strong>de</strong>r britischen Gesellschaft viele Variationen<br />

<strong>de</strong>r Familienkonstellation. Manche Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n in Ein-<br />

Personen-Haushalten erzogen, an<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum wer<strong>de</strong>n von zwei verschie<strong>de</strong>nen<br />

Paaren von Müttern und Vätern (geschie<strong>de</strong>nen Eltern und<br />

Stiefeltern) versorgt. Ein hoher Anteil von Ehefrauen ist heute außerhalb<br />

<strong>de</strong>s Heims beschäftigt und kehrt relativ bald nach <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

zurück in bezahlte Arbeit. Der Kontext <strong>de</strong>r Sozialisation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s kann<br />

gravieren<strong>de</strong> Schattenseiten haben. Zum Beispiel wird ein beträchtlicher<br />

Anteil <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Opfer von Gewalt<br />

o<strong>de</strong>r sexuellem Mißbrauch seitens <strong>de</strong>r Eltern, eines älteren Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r<br />

eines an<strong>de</strong>ren Erwachsenen - Erfahrungen, die Langzeitauswirkungen<br />

auf ihr späteres Leben haben (siehe Kapitel 12 „Verwandtschaft, Ehe und<br />

Familie"). Dennoch bleibt die Familie im Normalfall eine be<strong>de</strong>utsame Sozialisationsinstanz<br />

vom Kleinkindalter bis zur Adoleszenz und darüber<br />

hinaus - in einer Entwicklungssequenz, die die Generationen miteinan<strong>de</strong>r<br />

verknüpft.<br />

Innerhalb <strong>de</strong>r weiteren Institutionen <strong>de</strong>r Gesellschaft sind Familien auf<br />

verschie<strong>de</strong>ne Weise „verortet". In <strong>de</strong>n meisten traditionellen Gesellschaften<br />

bestimmt die Familie, in die eine Person hineingeboren wird, weitgehend<br />

die soziale Position, die das Individuum während seines restlichen<br />

Lebens einnehmen wird. In mo<strong>de</strong>rnen westlichen Gesellschaften ist die<br />

soziale Stellung nicht auf diese Weise bei <strong>de</strong>r Geburt festgelegt. Dennoch<br />

beeinflussen die Herkunftsregion und die soziale Klasse <strong>de</strong>r Familie, in<br />

84


die ein Individuum hineingeboren wird, die Muster <strong>de</strong>r Sozialisation<br />

nachhaltig. Kin<strong>de</strong>r erwerben Verhaltensweisen, die charakteristisch für<br />

ihre Eltern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re in ihrer Nachbarschaft o<strong>de</strong>r Gemeinschaft sind.<br />

In <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Sektoren von Massengesellschaften fin<strong>de</strong>n sich verschie<strong>de</strong>ne<br />

Muster <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rerziehung und -disziplinierung, gemeinsam<br />

mit unterschiedlichen Werten und Erwartungen. Es ist leicht, <strong>de</strong>n<br />

Einfluß <strong>de</strong>s familiären Hintergrunds nachzuvollziehen, wenn wir daran<br />

<strong>de</strong>nken, wie z. B. das Leben eines Kin<strong>de</strong>s beschaffen ist, das in einer armen,<br />

schwarzen Familie in einem Slumgebiet aufwächst, verglichen mit<br />

<strong>de</strong>m eines Kin<strong>de</strong>s, das in einer ausschließlich von Weißen bewohnten<br />

Vorstadt in eine wohlhaben<strong>de</strong>. weiße Familie hineingeboren wur<strong>de</strong>. Es<br />

wur<strong>de</strong>n viele soziologische Untersuchungen durchgeführt, die es uns<br />

gestatten, diese Unterschie<strong>de</strong> im Detail herauszuarbeiten.<br />

Selbstverständlich übernehmen nur wenige - wenn überhaupt irgendwelche<br />

- Kin<strong>de</strong>r einfach und fraglos die Perspektive ihrer Eltern. Das trifft<br />

beson<strong>de</strong>rs auf die heutige Welt zu, die unentwegt von Wandlungsprozessen<br />

betroffen ist. Darüberhinaus führt gera<strong>de</strong> die Existenz einer Vielfalt<br />

von <strong>Sozialisationsinstanzen</strong> zu vielen Unterschie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Sichtweise<br />

von Kin<strong>de</strong>rn. Heranwachsen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Elterngeneration.<br />

Peer-Beziehungen<br />

Eine an<strong>de</strong>re Sozialisationsinstanz ist die Peer-Gruppe. Peer-Gruppen<br />

sind Gruppen von Kin<strong>de</strong>rn in ungefähr <strong>de</strong>mselben Alter, die auf Freundschaft<br />

beruhen. In manchen Kulturen, beson<strong>de</strong>rs in kleinräumigen und<br />

traditionellen Gesellschaften, wer<strong>de</strong>n Peer-Gruppen als Altersstufen<br />

formalisiert. Je<strong>de</strong> Generation hat bestimmte Rechte und Pflichten, die<br />

sich mit <strong>de</strong>m Alter ihrer Mitglie<strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rn. (Altersstufen-Systeme sind<br />

normalerweise auf Männer beschränkt.) Es gibt häufig spezifische Zeremonien<br />

o<strong>de</strong>r Riten, die <strong>de</strong>n Übergang <strong>de</strong>r Individuen von einer Altersstufe<br />

zur nächsten markieren. Zwischen <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn einer bestimmten<br />

Altersgruppe bestehen im allgemeinen enge und freundschaftliche Bindungen,<br />

die sich ein Leben lang erhalten. Ein typisches System von Altersstufen<br />

besteht aus <strong>de</strong>r Kindheit, <strong>de</strong>n jüngeren Kriegern, <strong>de</strong>n älteren<br />

Kriegern und schließlich <strong>de</strong>n Alten, die wie<strong>de</strong>rum in zwei Altersgruppen<br />

geglie<strong>de</strong>rt sind. Die Männer durchwan<strong>de</strong>rn diese Stufen nicht als Individuen,<br />

son<strong>de</strong>rn als ganze Gruppen.<br />

Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Familie bei <strong>de</strong>r Sozialisation ist offenkundig, da die<br />

Erfahrung <strong>de</strong>s Babys und <strong>de</strong>s Kleinkinds mehr o<strong>de</strong>r weniger ausschließlich<br />

in ihr geformt wird. Weniger offensichtlich ist, wie wichtig Peer-<br />

Gruppen sind, vor allem für jene von uns, die in westlichen Gesellschaften<br />

leben. Dennoch verbringen Kin<strong>de</strong>r ab einem Alter von vier o<strong>de</strong>r fünf<br />

Jahren im allgemeinen einen Großteil ihrer Zeit in <strong>de</strong>r Gesellschaft von<br />

gleichaltrigen Freun<strong>de</strong>n, auch dort, wo es keine formalen Altersstufen<br />

gibt. Angesichts <strong>de</strong>s hohen Prozentsatzes von erwerbstätigen Frauen, <strong>de</strong>ren<br />

kleine Kin<strong>de</strong>r gemeinsam Kin<strong>de</strong>rgärten besuchen, sind Peer--<br />

Beziehungen heute sogar noch wichtiger als früher, und Schulen sind<br />

dabei natürlich von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung. Die Theorien von Mead und<br />

Piaget betonen bei<strong>de</strong> zu Recht die Be<strong>de</strong>utung von Peer-Beziehungen. Pia-<br />

85


get legt beson<strong>de</strong>res Gewicht auf die Tatsache, daß Peer-Beziehungen<br />

„<strong>de</strong>mokratischer" sind als jene zwischen einem Kind und seinen Eltern.<br />

Das Wort „Peer" be<strong>de</strong>utet „Gleichrangiger", und die freundschaftlichen<br />

Beziehungen zwischen Kin<strong>de</strong>rn sind im allgemeinen hinreichend egalitär.<br />

Ein Kind mit viel Durchsetzungsvermögen o<strong>de</strong>r großer Körperkraft kann<br />

in gewissem Ausmaß versuchen, an<strong>de</strong>re zu dominieren. Da jedoch Peer-<br />

Beziehungen auf wechselseitiger Zustimmung beruhen statt auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Familiensituation innewohnen<strong>de</strong>n Abhängigkeit, müssen sehr häufig<br />

Kompromisse geschlossen wer<strong>de</strong>n. Piaget verweist darauf, daß Eltern<br />

aufgrund ihrer Macht (in verschie<strong>de</strong>nem Ausmaß) fähig sind, ihren Kin<strong>de</strong>rn<br />

Verhaltensregeln aufzuzwingen. Im Gegensatz dazu ent<strong>de</strong>ckt das<br />

Kind in Peer-Gruppen einen an<strong>de</strong>ren Kontext <strong>de</strong>r Interaktion, innerhalb<br />

<strong>de</strong>ssen Verhaltensregeln getestet und erkun<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können.<br />

Peer-Beziehungen bleiben häufig während <strong>de</strong>s ganzen Lebens einer Person<br />

be<strong>de</strong>utsam. Beson<strong>de</strong>rs in Gebieten mit geringer Mobilität können<br />

Individuen während eines Großteils o<strong>de</strong>r während ihres ganzen Lebens<br />

Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rselben informellen Clique sein o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mselben Freun<strong>de</strong>skreis<br />

angehören. Auch dort, wo das nicht <strong>de</strong>r Fall ist, haben Peer-<br />

Beziehungen im allgemeinen be<strong>de</strong>utsame Auswirkungen über die Kindheit<br />

und Adoleszenz hinaus. Informelle Gruppen von Leuten ähnlichen<br />

Alters o<strong>de</strong>r Gruppen, die sich in <strong>de</strong>r Arbeitswelt und in an<strong>de</strong>ren Kontexten<br />

gebil<strong>de</strong>t haben, sind im allgemeinen von dauerhafter Be<strong>de</strong>utung für<br />

die Formung individueller Einstellungen und Verhaltensweisen.<br />

Schulen<br />

Die schulische Erziehung ist ein formaler Prozeß: Es gibt einen festgelegten<br />

Lehrplan <strong>de</strong>r Schulfächer. Doch sind Schulen auch in subtilerer Hinsicht<br />

<strong>Sozialisationsinstanzen</strong>. Neben <strong>de</strong>m formalen Lehrplan gibt es das<br />

verborgene Curriculum, wie es manche Soziologen genannt haben, das<br />

das Lernen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r beeinflußt (siehe Kapitel 13 „Bildung, Kommunikation<br />

und Medien"). Man erwartet von Kin<strong>de</strong>rn, daß sie lernen, in <strong>de</strong>r<br />

Klasse still zu sitzen, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen und die<br />

Regeln <strong>de</strong>r schulischen Disziplin zu befolgen. Sie sind aufgerufen, die<br />

Autorität <strong>de</strong>s Lehrkörpers zu akzeptieren und entsprechend zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Die Reaktionen <strong>de</strong>r Lehrer beeinflussen auch die Erwartungen, die Kin<strong>de</strong>r<br />

gegenüber sich selbst haben. Diese wie<strong>de</strong>rum haben Auswirkungen<br />

auf die Erfahrungen, die sie nach <strong>de</strong>m Schulbesuch in <strong>de</strong>r Arbeitswelt<br />

machen. Peer-<br />

Gruppen bil<strong>de</strong>n sich häufig in <strong>de</strong>r Schule, und das System. Kin<strong>de</strong>r in<br />

Klassen von Gleichaltrigen zusammenzufassen, verstärkt die Be<strong>de</strong>utung<br />

dieser Gruppen. Schulen gestatten es angeblich Kin<strong>de</strong>rn, sich über die<br />

mit ihrem sozialen Hintergrund verknüpften Beschränkungen hinwegzusetzen.<br />

Da Schulbildung nicht nur allgemein zugänglich ist, son<strong>de</strong>rn von<br />

je<strong>de</strong>rmann erwartet wird, haben Kin<strong>de</strong>r aus armen o<strong>de</strong>r unterprivilegierten<br />

Familien die Chance, die soziale und wirtschaftliche Sprossenleiter<br />

hinaufzusteigen, wenn sie in <strong>de</strong>r Schule erfolgreich sind. Die Massenerziehung<br />

ist in mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften mit <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Chancengleichheit<br />

verknüpft - Menschen erreichen Positionen, für die sie auf<br />

86


Grund ihrer Begabungen und Fähigkeiten geeignet sind. In <strong>de</strong>r Praxis<br />

jedoch verstärkt die schulische Erziehung tatsächlich sehr häufig die existieren<strong>de</strong>n<br />

Ungleichheiten, statt diese zu überwin<strong>de</strong>n. Dafür gibt es<br />

mehrere Grün<strong>de</strong>. Kin<strong>de</strong>r aus ärmeren Familien mögen von ihren Eltern<br />

wenig Ermutigung erhalten, sich in <strong>de</strong>r Schule zu bewähren, vor allem,<br />

wenn die Eltern gegenüber <strong>de</strong>n Erziehungszielen indifferent o<strong>de</strong>r feindselig<br />

sind. Die Schulen in wirtschaftlich schwächeren Nachbarschaften<br />

können schlechter ausgestattet sein und weniger Lehrer pro Schüler haben<br />

als die in <strong>de</strong>n wohlhaben<strong>de</strong>ren Gebieten. Die Kin<strong>de</strong>r können die<br />

Schule als eine Art Fein<strong>de</strong>sland wahrnehmen, wo man sich mit Aufgaben<br />

befaßt, die sie für ihr gegenwärtiges ebenso wie ihr zukünftiges Leben als<br />

wenig relevant erachten.<br />

Die Massenmedien<br />

Seit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts erlebten Zeitungen und Zeitschriften<br />

eine Blütezeit, doch waren sie auf einen ziemlich kleinen Leserkreis<br />

beschränkt. Es dauerte noch ein Jahrhun<strong>de</strong>rt, bis <strong>de</strong>rartiges gedrucktes<br />

Material zum Teil <strong>de</strong>r alltäglichen Erfahrung von Millionen von Leuten<br />

wur<strong>de</strong> - und ihre Einstellungen und Meinungen beeinflußte. Die Ausbreitung<br />

<strong>de</strong>r Massenmedien unter <strong>de</strong>n Druckschriften wur<strong>de</strong> sehr bald durch<br />

die elektronische Kommunikation ergänzt. Britische Kin<strong>de</strong>r verbringen<br />

das Äquivalent von fast hun<strong>de</strong>rt Schultagen pro Jahr vor <strong>de</strong>m Fernseher.<br />

Erwachsene sehen fast ebensoviel fern. Untersuchungen haben nahegelegt,<br />

daß mehr als zwei Drittel <strong>de</strong>r Leute die im Fernsehen gezeigte Version<br />

glauben, wenn sich eine Meldung im Fernsehen von einer Zeitungsmeldung<br />

unterschei<strong>de</strong>t.<br />

Es wur<strong>de</strong>n unzählige Untersuchungen durchgeführt, um <strong>de</strong>n Einfluß bestimmter<br />

Fernsehprogramme o<strong>de</strong>r Typen von Programmen auf die Einstellungen<br />

von Kin<strong>de</strong>rn und Erwachsenen zu analysieren. Die meisten<br />

dieser Untersuchungen kommen zu keinem endgültigen Befund. So gibt<br />

es z. B. noch immer keine Einigkeit dahingehend, inwieweit die Darstellung<br />

von Gewalttätigkeit das aggressive Verhalten von Kin<strong>de</strong>rn för<strong>de</strong>rt.<br />

Was jedoch keinesfalls bezweifelt wer<strong>de</strong>n kann. ist, daß die Medien die<br />

Einstellungen und Auffassungen <strong>de</strong>r Leute in grundlegen<strong>de</strong>r Weise beeinflussen.<br />

Sie übermitteln eine große Vielfalt von Information, die Individuen<br />

in an<strong>de</strong>rer Weise nicht erwerben könnten. Zeitungen, Bücher, das<br />

Radio, Fernsehen. Filme. Musikaufnahmen und populäre Magazine bringen<br />

uns in engen Kontakt mit Erfahrungen, die uns ansonsten kaum zugänglich<br />

wären.<br />

In <strong>de</strong>r heutigen Zeit gibt es wenige Gesellschaften, auch unter <strong>de</strong>n traditionelleren<br />

Kulturen. die von <strong>de</strong>n Massenmedien gänzlich unberührt bleiben.<br />

Elektronische<br />

Kommunikationsmedien stehen auch jenen zur Verfügung, die Analphabeten<br />

sind, und in <strong>de</strong>n isoliertesten Gebieten <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Dritten Welt<br />

fin<strong>de</strong>t man häufig Leute. die Radios o<strong>de</strong>r sogar Fernsehgeräte besitzen.<br />

An<strong>de</strong>re <strong>Sozialisationsinstanzen</strong><br />

87


Neben <strong>de</strong>n bereits erwähnten gibt es so viele <strong>Sozialisationsinstanzen</strong>, wie<br />

es Gruppen o<strong>de</strong>r soziale Kontexte gibt, in <strong>de</strong>nen Individuen große Teile<br />

ihres Lebens verbringen. Die Arbeit ist in allen Kulturen ein wichtiger<br />

Kontext, in <strong>de</strong>n Sozialisationsprozesse eingebettet sind, obwohl es nur in<br />

<strong>de</strong>n industriellen Gesellschaften <strong>de</strong>r Fall ist, daß die Menschen in Scharen<br />

.,zur Arbeit" gehen - sich also täglich an Arbeitsplätze begeben, die<br />

von ihrem Heim gänzlich getrennt sind. In traditionellen Gemeinschaften<br />

bestellen viele Leute das Land unweit von dort, wo sie leben, o<strong>de</strong>r sie haben<br />

Werkstätten in ihren Behausungen. In solchen Gemeinschaften ist<br />

die ,.Arbeit" nicht so klar von an<strong>de</strong>ren Aktivitäten geschie<strong>de</strong>n, wie dies<br />

für die meisten Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeitnehmerschaft im mo<strong>de</strong>rnen Westen<br />

<strong>de</strong>r Fall ist. In <strong>de</strong>n industrialisierten Län<strong>de</strong>rn be<strong>de</strong>utet das erste Mal „zur<br />

Arbeit zu gehen" im allgemeinen einen wesentlich wichtigeren Übergang<br />

im Leben <strong>de</strong>s Individuums als die Aufnahme von Arbeitsaktivität in traditionellen<br />

Gesellschaften. Die Arbeitswelt stellt oft unerwartete Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

und verlangt vielleicht größere Anpassungen <strong>de</strong>r Sichtweise o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Verhaltens <strong>de</strong>r Person.<br />

Obwohl die örtliche Gemeinschaft im allgemeinen in mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften<br />

die Sozialisation in wesentlich geringerem Ausmaß beeinflußt<br />

als in an<strong>de</strong>ren Typen <strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung, ist sie nicht gänzlich irrelevant<br />

gewor<strong>de</strong>n. Sogar in großen Städten gibt es oft ziemlich gut entwickelte<br />

nachbarschaftliche Gruppen und Organisationen - wie z. B. Vereine,<br />

Klubs o<strong>de</strong>r religiöse Gemeinschaften -, die die I<strong>de</strong>en und Aktivitäten<br />

jener, die mit ihnen zu tun haben, stark beeinflussen.<br />

Resozialisation<br />

Unter gewissen Bedingungen können erwachsene Individuen <strong>de</strong>r Resozialisation<br />

ausgesetzt sein: dabei wer<strong>de</strong>n vorher akzeptierte Werte und<br />

Verhaltensmuster zerstört und radikal neue übernommen. Dies kann z.<br />

B. dann geschehen, wenn ein Individuum in eine geschlossene Organisation<br />

eintritt - eine psychiatrische Anstalt, ein Gefängnis, eine Kaserne<br />

o<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re Umgebung, in <strong>de</strong>r es von <strong>de</strong>r Außenwelt abgeson<strong>de</strong>rt ist<br />

und straffen neuen Verhaltensregeln und Anfor<strong>de</strong>rungen unterworfen<br />

wird. In Situationen von außergewöhnlicher Belastung können die Verän<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>r Perspektive und <strong>de</strong>r Persönlichkeit, die dabei auftreten,<br />

ziemlich dramatisch sein. Aus <strong>de</strong>r Untersuchung solcher kritischer Situationen<br />

gewinnen wir tatsächlich beträchtliche Einsichten in gewöhnliche<br />

Sozialisationsprozesse.<br />

88


Verhalten im Konzentrationslager<br />

Der Psychologe Bruno Bettelheim hat eine berühmte Darstellung <strong>de</strong>r Resozialisation<br />

<strong>de</strong>r Leute verfaßt, die in Deutschland in <strong>de</strong>n späten dreißiger<br />

und frühen vierziger Jahren von <strong>de</strong>n Nazis in Konzentrationslager<br />

eingeliefert wor<strong>de</strong>n waren. Seine Beschreibung basiert zum Teil auf seinen<br />

eigenen Erfahrungen als Häftling in zwei <strong>de</strong>r berüchtigtsten Lager, in<br />

Dachau und in Buchenwald. Die Bedingungen <strong>de</strong>s Lagerlebens waren<br />

entsetzlich. Die Gefangenen waren physischer Folter ausgesetzt, sie wur<strong>de</strong>n<br />

ständig beschimpft, und es herrschte ein einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Mangel an<br />

Nahrung und an<strong>de</strong>ren grundlegen<strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung.<br />

Als praktizieren<strong>de</strong>r Psychotherapeut hatte Bettelheim bereits Erfahrung<br />

mit Leuten, die ihre Perspektive und ihr Verhalten in ziemlich grundlegen<strong>de</strong>r<br />

Weise än<strong>de</strong>rten, wenn sie auf die Therapie reagierten. Doch die<br />

Verän<strong>de</strong>rungen, <strong>de</strong>nen die Häftlinge unter <strong>de</strong>r enormen Belastung <strong>de</strong>s<br />

Lagerlebens ausgesetzt waren, gestalteten sich viel tiefgreifen<strong>de</strong>r und rascher.<br />

In <strong>de</strong>n Lagern. schreibt Bettelheim, fiel ihm „.... auch die schnelle<br />

Verän<strong>de</strong>rung bei manchen auf, und zwar nicht nur an ihrem Verhalten,<br />

son<strong>de</strong>rn auch in ihrer Persönlichkeit. Die Wandlungen dieser Art waren<br />

sehr viel schneller und oft sehr viel weitreichen<strong>de</strong>r, als sie durch psychoanalytische<br />

Behandlung erzielt wer<strong>de</strong>n konnten“ (Bettelheim, 1964, S.<br />

20).<br />

Nach Bettelheim folgten die Persönlichkeitsverän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Gefangenen<br />

einer bestimmten Sequenz. Schon <strong>de</strong>r Prozeß <strong>de</strong>r Verhaftung und<br />

<strong>de</strong>r Verschickung in die Lager war schockierend, <strong>de</strong>nn die Leute wur<strong>de</strong>n<br />

rücksichtslos von ihrer Familie und ihren Freun<strong>de</strong>n losgerissen und auf<br />

<strong>de</strong>r Fahrt zu <strong>de</strong>n Lagern nicht selten gefoltert. Die meisten neuen Häftlinge<br />

versuchten sich <strong>de</strong>n Auswirkungen <strong>de</strong>r Lebensbedingungen im Lager<br />

zu wi<strong>de</strong>rsetzen, in<strong>de</strong>m sie sich bemühten, Verhaltensweisen aus ihrem<br />

früheren Leben zu bewahren, doch erwies sich dies als unmöglich.<br />

Furcht. Entbehrungen und Ungewißheit bewirkten, daß die Persönlichkeit<br />

<strong>de</strong>r Häftlinge zerfiel. Manche Häftlinge wur<strong>de</strong>n, wie es die an<strong>de</strong>ren<br />

nannten, zu „leben<strong>de</strong>n Leichnamen", zu Geschöpfen, wie es schien, ohne<br />

Willen, ohne Initiative und ohne Interesse an ihrem eigenen Geschick.<br />

Diese Männer und Frauen starben im allgemeinen sehr bald. An<strong>de</strong>re<br />

wur<strong>de</strong>n kindlich in ihrem Verhalten, verloren das Zeitgefühl und die Fähigkeit<br />

„vorauszu<strong>de</strong>nken" und wiesen große Stimmungsschwankungen in<br />

Reaktion auf anscheinend triviale Ereignisse auf. Die meisten von jenen.<br />

die seit einem Jahr o<strong>de</strong>r mehr im Lager waren - die „alten Häftlinge" -<br />

verhielten sich ganz an<strong>de</strong>rs. Die alten Häftlinge hatten einen Prozeß <strong>de</strong>r<br />

Resozialisation durchgemacht, <strong>de</strong>r es ihnen gestattete, mit <strong>de</strong>n Brutalitäten<br />

<strong>de</strong>s Lagerlebens fertig zu wer<strong>de</strong>n. Oft waren sie unfähig, sich an Namen,<br />

Orte und Ereignisse aus ihrem früheren Leben zu erinnern. Die<br />

Rekonstruktion <strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>r alten Häftlinge erfolgte in Imitation<br />

<strong>de</strong>r Sichtweise und <strong>de</strong>s Verhaltens eben jener Individuen, die sie so<br />

abstoßend gefun<strong>de</strong>n hatten, als sie ins Lager eingeliefert wor<strong>de</strong>n waren -<br />

89


<strong>de</strong>r KZ-Wächter selbst. Sie ahmten das Verhalten <strong>de</strong>r Schergen nach und<br />

verwen<strong>de</strong>ten sogar Stoffetzen, um <strong>de</strong>ren Uniformen zu imitieren.<br />

Bettelheim schreibt:<br />

Für alte Häftlinge war es eine Befriedigung, bei <strong>de</strong>r Zählung, die zweimal<br />

täglich stattfand, stramm gestan<strong>de</strong>n und schneidig gegrüßt zu haben.<br />

Sie waren stolz darauf, so hart zu sein wie die SS o<strong>de</strong>r noch härter. In<br />

ihrer I<strong>de</strong>ntifizierung gingen sie so weit, die Freizeitbeschäftigung <strong>de</strong>r SS<br />

nachzuahmen. Es war eine Unterhaltung <strong>de</strong>r Wachen, festzustellen, wer<br />

am längsten Schläge ertragen konnte, ohne einen Schmerzenslaut von<br />

sich zu geben. Dieses Spiel wur<strong>de</strong> von alten Häftlingen nachgeahmt. als<br />

ob ohne diese Wie<strong>de</strong>rholung ihrer Erlebnisse im Spiel nicht genug geschlagen<br />

wor<strong>de</strong>n wäre. (Bettelheim. 1964. S. 189)<br />

„Gehirnwäsche“<br />

Ähnliche Reaktionen und Verän<strong>de</strong>rungen wur<strong>de</strong>n in an<strong>de</strong>ren kritischen<br />

Situationen beobachtet - z. B. im Verhalten von Individuen, die strengen<br />

Verhören o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „Gehirnwäsche" unterzogen wur<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n Anfangsphasen<br />

solcher Verhöre versucht das Individuum, <strong>de</strong>m Druck, <strong>de</strong>m es<br />

ausgesetzt ist, zu wi<strong>de</strong>rstehen. Danach scheint es in ein kindliches Stadium<br />

zu regredieren. Die Resozialisation tritt ein, wenn neue Verhaltenszüge<br />

entwickelt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Autoritätsperson in <strong>de</strong>r Situation nachgebil<strong>de</strong>t<br />

sind - <strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>s Verhörs. William Sargant, <strong>de</strong>r zahlreiche<br />

Typen kritischer Situationen untersucht hat, merkt dazu an: „Eine <strong>de</strong>r<br />

schrecklichsten Folgen dieser rücksichtslosen Verhöre ist, nach <strong>de</strong>r Darstellung<br />

<strong>de</strong>r Opfer, ein plötzlich einsetzen<strong>de</strong>s Zuneigungsgefühl zu <strong>de</strong>m<br />

Verhören<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie so barsch behan<strong>de</strong>lt hat ..." (Sargant, 1958, S.<br />

244).<br />

Was in kritischen Situationen zu passieren scheint, ist, daß <strong>de</strong>r Sozialisationsprozeß<br />

„<strong>de</strong>n Retourgang einlegt". In <strong>de</strong>r Sozialisation erworbene<br />

Reaktionen wer<strong>de</strong>n abgelegt, und das Individuum empfin<strong>de</strong>t Ängste, die<br />

<strong>de</strong>nen eines kleinen Kin<strong>de</strong>s ähnlich sind, das <strong>de</strong>s elterlichen Schutzes<br />

beraubt wur<strong>de</strong>. Die Persönlichkeit <strong>de</strong>s Individuums wird dann tatsächlich<br />

neu strukturiert. Die in kritischen Situationen festgestellten radikalen<br />

Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Persönlichkeit und <strong>de</strong>s Verhaltens stellen einen<br />

Extremfall <strong>de</strong>r normalen Merkmale <strong>de</strong>r Sozialisation in an<strong>de</strong>ren Kontexten<br />

dar. Die Persönlichkeit, die Werte und die Sichtweise von Leuten sind<br />

niemals einfach starr, son<strong>de</strong>rn sie verän<strong>de</strong>rn sich mit <strong>de</strong>n jeweiligen Erfahrungen,<br />

die die Person während <strong>de</strong>s ganzen Lebenszyklus macht.<br />

Eine Illustration aus jüngerer Zeit ist die Erfahrung junger amerikanischer<br />

Männer, die in <strong>de</strong>n sechziger und frühen siebziger Jahren als Soldaten<br />

nach Vietnam geschickt wur<strong>de</strong>n. Unter <strong>de</strong>r außergewöhnlichen<br />

Belastung, auf einem ungewohnten Dschungelterritorium gegen einen<br />

entschlossenen und kampferprobten Feind Krieg führen zu müssen,<br />

machten viele Soldaten Persönlichkeitsverän<strong>de</strong>rungen mit, die <strong>de</strong>n von<br />

Bettellheim und Sargant i<strong>de</strong>ntifizierten ähnelten. Sie wur<strong>de</strong>n in die harsche<br />

und brutale Situation resozialisiert, in <strong>de</strong>r sie sich vorfan<strong>de</strong>n. Als<br />

sie nach <strong>de</strong>m Krieg in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, mußten<br />

90


die Vietnamveteranen ent<strong>de</strong>cken. daß sie sich einem neuen Prozeß <strong>de</strong>r<br />

Resozialisation gegenübersahen - zurück in die friedliche Welt, für die sie<br />

nunmehr nicht sehr gut ausgerüstet waren.<br />

Aus: Gid<strong>de</strong>ns, Anthony : Soziologie / Anthony Gid<strong>de</strong>ns. Hrsg. von Christian Fleck - 1.<br />

Aufl. . - Graz [u. a.] : Nausner & Nausner, 1995 , 84-89<br />

91

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!