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Eine Netzwerkanalyse des Romans „Der Untertan“ - marinahennig.de

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Humboldt-Universität zu Berlin<br />

Philosophische Fakultät III<br />

Institut für Sozialwissenschaften<br />

Projektseminar:<br />

Einführung in die <strong>Netzwerkanalyse</strong> (WS 2002/2003)<br />

Angewandte soziale <strong>Netzwerkanalyse</strong> (SoSe 2003)<br />

Dr. rer. soc. Marina Hennig<br />

Die Eroberung Netzigs -<br />

Vom Aufstieg <strong><strong>de</strong>s</strong> Die<strong>de</strong>rich Heßling<br />

Der Wan<strong>de</strong>l sozialer Beziehungen im Lebensverlauf:<br />

<strong>Eine</strong> <strong>Netzwerkanalyse</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> <strong>„Der</strong> <strong>Untertan“</strong> von<br />

Heinrich Mann<br />

Annette Angermann<br />

Zwinglistraße 34<br />

10555 Berlin<br />

Matrikel-Nr.: 152592<br />

Sozialwissenschaften<br />

Imke Ebertus<br />

Waldstraße 19<br />

16321 Schönow<br />

Matrikel-Nr.: 171730<br />

Sozialwissenschaften<br />

Verfasst von:<br />

Maureen Grimm<br />

Rigaer Straße 103<br />

10247 Berlin<br />

Matrikel-Nr.: 163477<br />

Europäische Ethnologie,<br />

Spanisch, Soziologie<br />

Daniela Höhne<br />

Buckower Ring 15<br />

12683 Berlin<br />

Matrikel-Nr.: 171739<br />

Sozialwissenschaften<br />

Frank Wessels<br />

Zossener Straße 48<br />

10961 Berlin<br />

Matrikel.-Nr.: 164934<br />

Neuere <strong>de</strong>utsche Literatur,<br />

Soziologie, Politikwissenschaft<br />

Anne Wöhrmann<br />

Merseburgerstraße 2<br />

10823 Berlin<br />

Matrikel-Nr.: 180752<br />

Sozialwissenschaften


Abstract<br />

Das Thema <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ist die<br />

<strong>Netzwerkanalyse</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> <strong>„Der</strong> <strong>Untertan“</strong> von Heinrich<br />

Mann, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Lebensweg <strong><strong>de</strong>s</strong> Die<strong>de</strong>rich Heßling<br />

während <strong><strong>de</strong>s</strong> wilhelminischen Zeitalters in Kindheit,<br />

Jugend- und Erwachsenenalter geschil<strong>de</strong>rt wird. Leiten<strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Forschungsinteresse <strong>de</strong>r Untersuchung ist die Erfassung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Wan<strong>de</strong>ls sozialer Beziehungen im Lebensverlauf.<br />

Anhand <strong>de</strong>r zugrun<strong>de</strong>gelegten Thesen, dass 1.<br />

Lebensphasen durch spezifische Beziehungsgeflechte<br />

gekennzeichnet sind, sie 2. phasenübergreifend bestehen<br />

können und 3. Beziehungen auch interessengeleitet<br />

gestaltet wer<strong>de</strong>n können, wird <strong>de</strong>r Aspekt <strong><strong>de</strong>s</strong> Wan<strong>de</strong>ls<br />

sozialer Beziehungen überprüft.<br />

Es lässt sich als Ergebnis festhalten, dass soziale<br />

Netzwerke keine statischen Gebil<strong>de</strong> sind, son<strong>de</strong>rn<br />

Verän<strong>de</strong>rungen unterliegen, dass Sozialstruktur folglich<br />

dynamisch begriffen wer<strong>de</strong>n muss. Auch lässt sich<br />

resümieren, dass die sozialwissenschaftliche<br />

<strong>Netzwerkanalyse</strong> ein Instrument liefert, durch existieren<strong>de</strong><br />

Inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nzen entstan<strong>de</strong>ne Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r<br />

Sozialstruktur zu erfassen und nachzuvollziehen.<br />

2


Inhalt<br />

1 Einleitung..................................................................................................... S. 4<br />

2 Zum Forschungsproblem und -interesse.................................................. S. 5<br />

3 Theoretische Grundlagen............................................................................ S. 8<br />

3.1 Das Konzept <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong>................................................................ S. 8<br />

3.2 Zur Klärung netzwerkanalytischer Begrifflichkeiten ................................... S. 9<br />

4 Zur Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Untersuchung................................................................ S. 10<br />

5 Die Analyse <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> ............................................................................ S. 12<br />

5.1 Inhaltsangabe <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong>............................................................................ S. 12<br />

5.2 These I: Im Lebensverlauf eines Menschen ist je<strong>de</strong> Lebensphase durch ein<br />

spezifisches soziales Beziehungsgeflecht charakterisiert..............................<br />

S. 13<br />

5.3 These II: Es gibt soziale Beziehungen, die über einen längeren Zeitraum<br />

bestehen, also phasenübergreifend existieren................................................ S. 15<br />

5.4 These III: Soziale Beziehungen wer<strong>de</strong>n interessengeleitet gestaltet............. S. 18<br />

6 Fazit................................................................................................…........... S. 24<br />

Literaturverzeichnis.................................................................................... S. 26<br />

Abbildungsverzeichnis................................................................................ S. 28<br />

3


1 Einleitung<br />

Der Reiz in <strong>de</strong>r Analyse eines <strong>Romans</strong> besteht zum einen darin, eine große Anzahl von<br />

Personen in ihren Beziehungsgeflechten untersuchen zu können. Zum an<strong>de</strong>ren ergibt sich<br />

durch die Romanform die Möglichkeit, verschie<strong>de</strong>ne Lebensabschnitte und sogar nahezu<br />

komplette Lebensläufe <strong>de</strong>r Protagonisten mit ihren spezifischen sozialen Beziehungen zu<br />

erforschen.<br />

Vorteilhaft ist, dass die Analyse eines Lebensverlaufes – die bei <strong>de</strong>r Untersuchung „realer“<br />

Daten als mehrere Jahrzehnte umfassen<strong>de</strong> Langzeituntersuchung konzipiert sein müsste –<br />

aufgrund <strong>de</strong>r komprimierten Darstellung im Roman in erheblich kürzerer Zeit durchgeführt<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Gleichzeitig ergeben sich bei <strong>de</strong>r Analyse aber auch Schwierigkeiten, die im<br />

fiktiven Charakter <strong><strong>de</strong>s</strong> literarischen Werkes begrün<strong>de</strong>t liegen: Das Verständnis inhaltlicher<br />

Zusammenhänge sowie die Auslegung abschließen<strong>de</strong>r Ergebnisse, ist stärker an die<br />

Interpretation <strong><strong>de</strong>s</strong> Projektteams gebun<strong>de</strong>n, als dies bei <strong>de</strong>r Untersuchung von Beziehungen<br />

und Intentionen realer Personen <strong>de</strong>r Fall wäre.<br />

Unser spezielles Interesse am Roman <strong>„Der</strong> <strong>Untertan“</strong> liegt in <strong>de</strong>r Analyse <strong><strong>de</strong>s</strong> von Heinrich<br />

Mann ausdifferenzierten sozialen Systems und <strong>de</strong>m darin agieren<strong>de</strong>n Protagonisten Die<strong>de</strong>rich<br />

Heßling, <strong>de</strong>n er als eine typisch <strong>de</strong>utsche Figur vorstellt. Dem Autor gelingt es, die<br />

verschie<strong>de</strong>nsten Beziehungs-Subsysteme voneinan<strong>de</strong>r getrennt aufzuzeigen, in <strong>de</strong>nen die<br />

Personen han<strong>de</strong>ln, reagieren o<strong>de</strong>r auch fremdbestimmt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die <strong>Netzwerkanalyse</strong> anhand eines <strong>Romans</strong> durchzuführen, ist insofern interessant, als sie die<br />

Möglichkeit bietet Verwandtschaftsstrukturen, die soziale Unterstützung, <strong>de</strong>n wirtschaftlichen<br />

Austausch zwischen Personen, die Ausübung politischer Macht sowie die Kommunikation<br />

zwischen <strong>de</strong>n Akteuren zu veranschaulichen und zu analysieren. Diese sind jedoch immer im<br />

Kontext <strong>de</strong>r Wechselwirkungen zu sehen, <strong>de</strong>nen das menschliche Han<strong>de</strong>ln in einer<br />

Gesellschaft unterworfen ist. So ver<strong>de</strong>utlicht Simmel, dass im menschlichen Miteinan<strong>de</strong>r<br />

„Alles mit Allem in irgen<strong>de</strong>iner Wechselwirkung“ steht (nach SIMMEL 1890:12f, in:<br />

KORTE 1998:88).<br />

Die zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e dieser Projektarbeit ist es, <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l sozialer Beziehungen in<br />

<strong>de</strong>n unterschiedlichen Lebensphasen im Lebensverlauf nachzuweisen. Beschränkt ist die<br />

Arbeit durch <strong>de</strong>n vom Roman vorgegebenen Untersuchungszeitraum, also <strong>de</strong>r zeitlichen<br />

Eingrenzung <strong><strong>de</strong>s</strong> Erzählten. Um <strong>de</strong>n Vergleich <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Phasen eines Lebenslaufes<br />

zu ermöglichen, ist <strong>de</strong>r im Roman dargestellten Lebenslauf zeitlich in drei Lebensphasen<br />

4


geglie<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n, außer<strong>de</strong>m sind die erhobenen Netzwerke je nach Art <strong>de</strong>r Beziehung in<br />

verschie<strong>de</strong>ne Teilnetzwerke geglie<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n.<br />

Der Aufbau <strong>de</strong>r Projektarbeit glie<strong>de</strong>rt sich folgen<strong>de</strong>rmaßen: Der einleiten<strong>de</strong> und allgemeine<br />

Teil umfasst das Forschungsinteresse und die damit verbun<strong>de</strong>ne Problematik sowie die<br />

Vorstellung <strong>de</strong>r Thesen. Darauf folgt eine Einführung in das Konzept <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong><br />

und die Klärung netzwerkanalytischer Begrifflichkeiten.<br />

Der Hauptteil beinhaltet sowohl die Darstellung <strong>de</strong>r Untersuchungsmetho<strong>de</strong>, als auch eine<br />

kurze Inhaltsangabe <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong>. Die Hypothesen wer<strong>de</strong>n anschließend theoretisch<br />

hergeleitet und mit Hilfe <strong>de</strong>r Einteilung <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebensverlaufes in Zeitabschnitte anhand <strong>de</strong>r<br />

erhobenen Netzwerke durch Beispiele überprüft. Obwohl ein Gesamtnetzwerk erhoben wird,<br />

richtet sich unser Augenmerk – durch die <strong>Romans</strong>truktur bedingt – auf die Netzwerke <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Protagonisten. Im Anschluss daran wird ein Fazit gezogen und die behan<strong>de</strong>lte Literatur<br />

dargelegt.<br />

2 Forschungsproblem und -interesse<br />

„Für <strong>de</strong>n Soziologen ist die <strong>Netzwerkanalyse</strong> eine Metho<strong>de</strong> zur Untersuchung von sozialen<br />

Strukturen.“ So beschreibt Franz Urban Pappi <strong>de</strong>n Nutzen <strong>de</strong>r sozialwissenschaftlichen<br />

<strong>Netzwerkanalyse</strong> für die Soziologie (PAPPI 1987:11). Und weiter: „<strong>Eine</strong> Sozialstruktur wird<br />

repräsentiert durch die Beziehungen zwischen sozialen Einheiten wie Personen, Positionen,<br />

Gruppen, Organisationen, usw.“ (ebd.). Die <strong>Netzwerkanalyse</strong> stellt <strong>de</strong>m Soziologen also ein<br />

Instrument zur Verfügung, mit <strong>de</strong>m er das Geflecht von Beziehungen, die ein Mensch<br />

unterhält, empirisch genau erfassen kann. Allerdings kann eine solche Erhebung nicht mehr<br />

als eine Momentaufnahme von Sozialstruktur sein, liefert sie doch stets nur ein statisches Bild<br />

<strong>de</strong>r Beziehungen. In Wirklichkeit aber ist die Sozialstruktur etwas Dynamisches. Die sozialen<br />

Beziehungen, die ein Mensch unterhält, sind Verän<strong>de</strong>rungen unterworfen: „sowohl historisch<br />

als auch auf <strong>de</strong>r Individualebene. Es än<strong>de</strong>rt sich sowohl die Zusammensetzung <strong><strong>de</strong>s</strong> „Konvois“<br />

von Personen, die Individuen durch ihr Leben begleiten, als auch die Leistungen dieser<br />

Beziehungen.“ (HOLLSTEIN 2003:153). Will <strong>de</strong>r Forscher also sozialer Wirklichkeit nahe<br />

kommen, wird es für ihn von großem Interesse sein, auch das dynamische Moment von<br />

Sozialstruktur zu erfassen, das heißt <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l sozialer Beziehungen im Lebensverlauf zu<br />

beleuchten.<br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung soll diese Dynamik von Sozialstruktur aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

Blickwinkeln fokussiert wer<strong>de</strong>n. Grundsätzlich lassen sich bei <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r<br />

5


Verän<strong>de</strong>rung sozialer Beziehungen zwei verschie<strong>de</strong>ne Perspektiven unterschei<strong>de</strong>n: eher<br />

struktur- und eher akteursorientierte Perspektiven (vgl. BERTRAM/HOLLSTEIN 2003:149).<br />

Bei<strong>de</strong> Blickrichtungen wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Thesen, auf die sich die Untersuchung stützt,<br />

berücksichtigt. Die ersten bei<strong>de</strong>n Thesen lassen sich <strong>de</strong>r strukturorientierten Perspektive<br />

zuordnen, sie erfassen Aspekte <strong><strong>de</strong>s</strong> Wan<strong>de</strong>ls sozialer Beziehungen im Lebensverlauf in ihrer<br />

Struktur. Hierbei gehen sie von <strong>de</strong>r Feststellung aus, dass sich die „sozialen Umwelten von<br />

Kin<strong>de</strong>rn, Jugendlichen und Erwachsenen [...] substanziell in ihren Funktionen und<br />

Strukturen“ unterschei<strong>de</strong>n (LANG 2003:175ff.). Während die erste These stärker <strong>de</strong>n<br />

Unterschied von Sozialstrukturen in verschie<strong>de</strong>nen Lebensphasen akzentuiert, rückt die<br />

zweite These stärker strukturelle Gemeinsamkeiten -nämlich phasenübergreifen<strong>de</strong><br />

Beziehungen- in <strong>de</strong>n Mittelpunkt:<br />

These 1: Im Lebensverlauf eines Menschen ist je<strong>de</strong> Lebensphase durch ein spezifisches<br />

soziales Beziehungsgeflecht charakterisiert.<br />

These 2: Es gibt soziale Beziehungen, die über einen längeren Zeitraum bestehen, also<br />

phasenübergreifend existieren.<br />

Die dritte These integriert einen eher akteursorientierten Aspekt. Sie setzt das<br />

Hauptaugenmerk auf das, was Simmel als <strong>de</strong>n Inhalt sozialer Beziehungen benannte, nämlich<br />

die „sinnlichen o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alen, momentanen o<strong>de</strong>r dauern<strong>de</strong>n, bewussten o<strong>de</strong>r unbewussten,<br />

kausal treiben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r teleologisch ziehen<strong>de</strong>n Interessen“ (SIMMEL 1992:19), die ein<br />

Individuum dazu bewegen, Interaktionen und somit soziale Beziehungen einzugehen. Es wird<br />

mit dieser These also das „Individuum als Produzent <strong>de</strong>r eigenen Entwicklung“ begriffen<br />

(BERTRAM/HOLLSTEIN 2003:149):<br />

These 3: Soziale Beziehungen wer<strong>de</strong>n interessengeleitet gestaltet.<br />

Wer aber <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l sozialer Beziehungen im Lebensverlauf netzwerkanalytisch<br />

untersuchen will, sieht sich vor ein Problem gestellt: Ein „lebensverlaufstheoretisches Muster<br />

von gelebten Beziehungen [...] müsste eigentlich in einem Längsschnitt empirisch überprüft<br />

wer<strong>de</strong>n, weil nur in einem Längsschnitt diese Dynamik <strong>de</strong>r gelebten Beziehungen zu<br />

rekonstruieren ist“ (BERTRAM 1995:243). Die Erhebung eines solchen Längsschnittes<br />

wür<strong>de</strong> allerdings mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen, weswegen Daten aus solchen<br />

Langzeituntersuchungen äußerst rar sind (vgl. auch SCHWEIZER 1996:146f.). Wie lässt sich<br />

6


also das Dilemma auflösen, dass einerseits die Datenlage sehr schlecht ist, an<strong>de</strong>rerseits aber,<br />

um präzise nachzuvollziehen, „wie sich soziale Netzwerke im Zeitablauf verän<strong>de</strong>rn, [...]<br />

entsprechen<strong>de</strong> Daten über mehrere Zeitpunkte“ benötigt wer<strong>de</strong>n? (ebd.). In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n<br />

Untersuchung wur<strong>de</strong> dieses Problem dadurch gelöst, dass die Daten einem literarischen Text<br />

entnommen wur<strong>de</strong>n: <strong>de</strong>m Roman <strong>„Der</strong> <strong>Untertan“</strong> von Heinrich Mann, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Lebensweg<br />

<strong>de</strong>r Hauptfigur Die<strong>de</strong>rich Heßling vom Kin<strong><strong>de</strong>s</strong>alter zum höheren Erwachsenenalter<br />

geschil<strong>de</strong>rt wird.<br />

Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit literarischen Texten – also mit fiktiven Individuen, Situationen<br />

und Handlungen – ist aber in <strong>de</strong>n Sozialwissenschaften nicht eben üblich. Im Allgemeinen<br />

bleibt ihre Analyse <strong>de</strong>n Literaturwissenschaftlern überlassen, die sich eines ganz an<strong>de</strong>ren<br />

methodischen Instrumentariums bedienen als Sozialwissenschaftler. <strong>Eine</strong> kurze Begründung<br />

dafür, dass in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ein literarischer Text mit Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

sozialwissenschaftlichen <strong>Netzwerkanalyse</strong> untersucht wer<strong>de</strong>n soll, scheint daher angebracht<br />

zu sein.<br />

Der Lebensverlauf <strong><strong>de</strong>s</strong> Die<strong>de</strong>rich Heßling ist ein literarischer und die soziale Struktur, die in<br />

<strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung analysiert wird, ist eine fiktive, doch <strong>de</strong>r Inhalt <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong><br />

ist stark an Reales rückgebun<strong>de</strong>n. Das Geschil<strong>de</strong>rte ist also nicht im eigentlichen Sinne<br />

unrealistisch. Die erzählte Zeit <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> lässt sich zum Beispiel genau fixieren: Mann hat<br />

„eine Menge historischer Details verarbeitet, historische Persönlichkeiten spielen im Roman<br />

an verschie<strong>de</strong>nen Stellen eine Rolle.“ (SCHNEIDER 2001a:496). Auch hat <strong>de</strong>r Autor für<br />

seinen Roman umfassen<strong>de</strong> Recherchen betrieben, reale Erfahrungen von Freun<strong>de</strong>n und<br />

Bekannten mit Militär, Gerichten und politischen Prozessen im wilhelminischen Deutschland<br />

verarbeitet (vgl. hierzu SCHNEIDER 2001b). Es wird also – allen satirischen Übertreibungen<br />

und Brechungen zum Trotz – eine durchaus realistische Sozialstruktur geschil<strong>de</strong>rt, weswegen<br />

es angesichts <strong><strong>de</strong>s</strong> Mangels an realen Daten durchaus vertretbar scheint, eine<br />

lebensverlaufstheoretische Untersuchung auf diesem Roman abzustützen.<br />

Thomas Schweizer und Michael Schnegg weisen sogar darauf hin, dass sich „bestimmte<br />

‚realistische’ Romane [...] hervorragend für <strong>Netzwerkanalyse</strong>n eignen.“<br />

(SCHWEIZER/SCHNEGG 1998:2). Denn diese Romane „schil<strong>de</strong>rn ein reiches soziales<br />

System, und for<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Leser heraus, die Struktur zu erkennen, die die Muster <strong>de</strong>r sozialen<br />

Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Personen in diesem System beschreibt und dadurch das System<br />

besser durchschaubar macht.“ (ebd.). Nicht zuletzt könnte die netzwerkanalytische<br />

Herangehensweise an Romane auch von einem gewissen Interesse für die<br />

Literaturwissenschaften sein, besitzt sie doch die Möglichkeit, „die soziale Struktur, die <strong>de</strong>m<br />

7


Roman zugrun<strong>de</strong> liegt, präziser beschreiben, als dies mit herkömmlichen Mitteln <strong>de</strong>r Fall ist.“<br />

(ebd.).<br />

3 Theoretische Grundlagen<br />

3.1 Das Konzept <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong><br />

Die <strong>Netzwerkanalyse</strong> ist eine neuere Forschungseinrichtung und fin<strong>de</strong>t als Disziplinen<br />

übergreifen<strong><strong>de</strong>s</strong> Forschungsparadigma Anwendung in <strong>de</strong>r Soziologie, Ethnologie, Psychologie<br />

und <strong>de</strong>n Wirtschaftswissenschaften. Sie ist eine zeitgemäßere Form <strong>de</strong>r Strukturanalyse. Es<br />

wird dabei für einen bestimmten Gegenstand eine Beziehungsstruktur gesucht, die<br />

überprüfbaren, formalen Regeln und begründbaren Verfahren folgt. Im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren<br />

wissenschaftlichen Konzeptionen stellt sie die Beziehungen zwischen Individuen in <strong>de</strong>n<br />

Mittelpunkt ihres Interesses. Die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> kann folglich angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n „als eine Umsetzung <strong>de</strong>r Simmelschen Vision nach einer formalen Soziologie [...], da<br />

sie in <strong>de</strong>r Lage ist, Gesellschaft als ein System <strong>de</strong>r Wechselwirkungen zwischen <strong>de</strong>n<br />

Individuen theoretisch und methodisch zu erfassen.“ (DIAZ-BONE 1997:209).<br />

Thomas Schweizer formuliert einen wichtigen <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Satz<br />

so: „Soziale Beziehungen, vor allem wenn sie zwischen Akteuren wie<strong>de</strong>rholt vorkommen<br />

o<strong>de</strong>r dauerhaft angelegt sind, erzeugen unter <strong>de</strong>n Akteuren bestimmte Ordnungsmuster.“<br />

(SCHWEIZER 1996:14). Diese Ordnungsmuster wie<strong>de</strong>rum beeinflussen das Verhalten <strong>de</strong>r<br />

Akteure. Wie dies geschieht, will die <strong>Netzwerkanalyse</strong> klären.<br />

In <strong>de</strong>n vierziger Jahren <strong><strong>de</strong>s</strong> zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts benutzte Radcliffe-Brown <strong>de</strong>n Begriff<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Netzwerkes und <strong>de</strong>r Sozialstruktur noch metaphorisch. Er erklärte, dass „Menschen<br />

verbun<strong>de</strong>n sind durch ein komplexes Netzwerk sozialer Beziehungen. Ich benutze <strong>de</strong>n<br />

Ausdruck ‚Sozialstruktur’, um dieses Netzwerk <strong>de</strong>r tatsächlich existieren<strong>de</strong>n Beziehungen zu<br />

bezeichnen.“ (zit. nach PAPPI 1987:13). Der Verdienst <strong>de</strong>r Netzwerkanalytiker ist es, aus<br />

dieser Metapher einen brauchbaren analytischen Begriff gemacht zu haben.<br />

In ihrer heutigen Form basiert die <strong>Netzwerkanalyse</strong> auf verschie<strong>de</strong>nen Entwicklungssträngen,<br />

die in <strong>de</strong>n 70er Jahren <strong><strong>de</strong>s</strong> 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zusammenliefen. Franz Urban Pappi benennt als<br />

wichtige Forschungstraditionen die Soziometrie und die Sozialanthropologie (vgl. PAPPI<br />

1987:11). Dorothea Jansen weist außer<strong>de</strong>m auf die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r sogenannten<br />

Harvard- Strukturalisten um Harrison C. White hin (vgl. JANSEN 1999:41f.). Mit <strong>de</strong>r<br />

Gründung <strong><strong>de</strong>s</strong> „International Network for Social Network Analysis“ En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 70er Jahre<br />

8


etablierte sich die <strong>Netzwerkanalyse</strong> endgültig als „Ansatz mit eigenen Metho<strong>de</strong>n und einigen<br />

zugehörigen Theoremen.“ (DIAZ-BONE o.J.:2). Methodisch nähern sich die<br />

Netzwerkforscher ihrem Untersuchungsgegenstand <strong>de</strong>r (sozialen) Netzwerke <strong>de</strong>rart an, dass<br />

sie ihn multidimensional untersuchen. Typische Dimensionen, die in <strong>de</strong>r Forschung<br />

herausgearbeitet wer<strong>de</strong>n sind zum einen relationale Merkmale, zum Beispiel starke versus<br />

schwache Bindungen, Kontakthäufigkeit, Dauer und Stabilität, multiplexe versus uniplexe<br />

Beziehungen, Reziprozität und Homogenität.<br />

Die <strong>Netzwerkanalyse</strong> ermöglicht es heute, Sozialstrukturen präzise darzustellen und zu<br />

analysieren. Es können in <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> die agieren<strong>de</strong>n Personen in einem sozialen<br />

Umfeld hinsichtlich ihrer verwandtschaftlichen, ökonomischen, politischen und<br />

kommunikativen Verbun<strong>de</strong>nheit zu untersuchen und herauszufin<strong>de</strong>n welche Teilmengen an<br />

Personen (Cliquen, Gruppen etc.) aufgrund enger Interaktion und/o<strong>de</strong>r gleicher Lage in<br />

diesem System unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Die <strong>Netzwerkanalyse</strong> kann daher, wie in unserem Fall, sogar für das Verständnis literarischer<br />

Texte aufschlussreich sein und somit die herkömmliche Textanalyse um neue Einsichten<br />

ergänzen. Neben <strong>de</strong>r hier in dieser Projektarbeit vorgenommenen Betrachtung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

literarischen Werkes <strong>„Der</strong> <strong>Untertan“</strong>, wäre es <strong>de</strong>nkbar zu untersuchen, ob sich bestimmte<br />

Autoren, Genres o<strong>de</strong>r Epochen darin ähnlich sind, welche sozialen Beziehungsmuster in ihnen<br />

auftauchen. Ein Vorteil <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> ist es, dass sie die soziale Struktur, die in <strong>de</strong>m<br />

Roman zugrun<strong>de</strong> liegt, präziser beschreiben kann, als dies mit herkömmlichen Mitteln <strong>de</strong>r<br />

Fall ist.<br />

3.2 Zur Klärung netzwerkanalytischer Begrifflichkeiten<br />

Allgemein lässt sich <strong>de</strong>r Begriff <strong><strong>de</strong>s</strong> Netzwerks <strong>de</strong>finieren als „eine durch Beziehungen eines<br />

bestimmten Typs verbun<strong>de</strong>ne Menge von sozialen Einheiten wie Personen, Positionen,<br />

Organisationen, usw.“ (PAPPI 1987:13). <strong>Eine</strong> weitere Definition – die sich stärker an <strong>de</strong>r<br />

graphischen Veranschaulichung von Netzwerken in Soziogrammen o<strong>de</strong>r Graphen orientiert –<br />

liefert Dorothea Jansen, wenn sie ein Netzwerk als „eine abgegrenzte Menge von Knoten o<strong>de</strong>r<br />

Elementen und <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>r zwischen ihnen verlaufen<strong>de</strong>n sogenannten Kanten“<br />

kennzeichnet (JANSEN 1999:52). „Die Knoten o<strong>de</strong>r Elemente sind Akteure, z. B. Personen<br />

o<strong>de</strong>r korporative Akteure wie Unternehmen, Ministerien o<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r. Die Kanten sind die<br />

zwischen ihnen verlaufen<strong>de</strong>n Beziehungen o<strong>de</strong>r Relationen.“ (ebd.). In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n<br />

Untersuchung stehen soziale Netzwerke im Mittelpunkt <strong><strong>de</strong>s</strong> Interesses.<br />

9


Der Begriff <strong><strong>de</strong>s</strong> sozialen Netzwerkes hat sich als Grundbegriff erwiesen für das Erfassen und<br />

Darstellen von schwach institutionalisierten bis hin zu stärker verfestigten Handlungsmustern.<br />

Das soziale Netzwerk besteht aus einer festgelegten Menge von Akteuren, die über bestimmte<br />

soziale Beziehungen verbun<strong>de</strong>n sind. Es wird unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>m persönlichen<br />

Netzwerk, dass an <strong>de</strong>m Einzelakteur orientiert ist, und <strong>de</strong>m Gesamtnetzwerk aller Akteure.<br />

Neben direkten Beziehungen wer<strong>de</strong>n auch indirekte Beziehungen analysiert, die über an<strong>de</strong>re<br />

Akteure vermittelt o<strong>de</strong>r durch die gemeinsame Teilnahme an Ereignissen erzeugt wer<strong>de</strong>n.<br />

Über die Definition <strong>de</strong>r Beziehungen o<strong>de</strong>r Relationen gibt es unter <strong>de</strong>n Netzwerkforschern<br />

geteilte Meinungen. Während einige Forscher <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r sozialen Beziehung im Sinne<br />

Max Webers 1 verwen<strong>de</strong>n (vgl. z. B. DIEKMANN 1998, SCHENK 1984, VOLST 1993),<br />

lehnen an<strong>de</strong>re Autoren diesen ab. Franz Urban Pappi meint: „Um nicht zu früh eine<br />

<strong>Eine</strong>ngung auf einen speziellen Begriff <strong>de</strong>r sozialen Beziehung vorzunehmen, sprechen wir<br />

allgemein von Beziehungen statt von sozialen Beziehungen.“ (PAPPI 1987:17). Auch Rainer<br />

Diaz-Bone legt sich nicht auf eine spezifisch Webersche Definition sozialer Beziehungen fest,<br />

wenn er schreibt: „Beziehungen von Netzwerken können alle <strong>de</strong>nkbaren Sachverhalte sein,<br />

die als Grundlage für die Konstruktion einer analytischen Verbindung zwischen<br />

Netzwerkeinheiten dienen können.“ (DIAZ-BONE 1997:42).<br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung, bei <strong>de</strong>r die Knoten <strong><strong>de</strong>s</strong> Netzwerks Personen repräsentieren,<br />

wur<strong>de</strong> allgemein von <strong>de</strong>r Weberschen Definition <strong>de</strong>r sozialen Beziehung ausgegangen, um<br />

dann noch verschie<strong>de</strong>ne Beziehungstypen weiter zu spezifizieren und die sich aus ihnen<br />

ergeben<strong>de</strong>n Netzwerke zu erfassen.<br />

4 Zur Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Untersuchung<br />

Die I<strong>de</strong>e, das Gesamtnetzwerk zu erheben, ist aufgrund <strong>de</strong>r Fokussierung <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> auf<br />

Die<strong>de</strong>rich Heßling nur über <strong>de</strong>n Protagonisten und seine Netzwerke zu erreichen; daher ist <strong>de</strong>r<br />

Zugang bei <strong>de</strong>r Erhebung egozentriert.<br />

Um <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r sozialen Beziehungen <strong>de</strong>r Hauptperson <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> erfassen und<br />

darstellen zu können, wur<strong>de</strong>n drei Lebensphasen 2 unterschie<strong>de</strong>n. Dies sind: 1. Kindheit und<br />

1 Weber <strong>de</strong>finierte die soziale Beziehung als „ein seinem Sinngehalt nach aufeinan<strong>de</strong>r gegenseitig eingestelltes<br />

und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer [...]. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz<br />

ausschließlich: in <strong>de</strong>r Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehan<strong>de</strong>lt wird, einerlei zunächst:<br />

worauf diese Chance beruht.“ (WEBER 1960:21).<br />

2 „Lebensphasen stellen die Glie<strong>de</strong>rungseinheiten <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebenslaufes dar,“ so Marlene En<strong>de</strong>pohls in ihrer Studie<br />

zum Jugend- und Erwachsenenalter. „Des Weiteren resultieren sie aus <strong>de</strong>r Annahme, „dass die menschliche<br />

Ontogenese nach qualitativen und quantitativen Verän<strong>de</strong>rungen glie<strong>de</strong>rbar ist. Der Terminus Lebensphase wird<br />

sowohl in <strong>de</strong>r psychologischen wie auch in <strong>de</strong>r soziologischen Literatur häufig in gleicher Weise verwandt wie<br />

10


Adoleszenz <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten in Netzig und Berlin; 2. Die<strong>de</strong>richs Leben in Netzig nach <strong>de</strong>m<br />

Tod <strong><strong>de</strong>s</strong> Vaters (Familienoberhaupt und Direktor <strong>de</strong>r ehemals väterlichen Fabrik) und 3. <strong>de</strong>r<br />

politische Aufstieg Heßlings in Netzig nach <strong>de</strong>r Gerichtsverhandlung, aus <strong>de</strong>r er in gestärkter<br />

gesellschaftlicher Position hervorgeht. Es wur<strong>de</strong>n also solche Lebensphasen ausgewählt, die<br />

durch wichtige Ereignisse im Leben <strong><strong>de</strong>s</strong> Die<strong>de</strong>rich Heßling voneinan<strong>de</strong>r geschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

können. Denn es ist anzunehmen, dass sich durch solch einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Ereignisse die<br />

Stellung Die<strong>de</strong>richs im Dorf Netzig än<strong>de</strong>rn wird, sich also seine Position im sozialen<br />

Netzwerk bzw. die Sozialstruktur <strong><strong>de</strong>s</strong> Dorfes verän<strong>de</strong>rt.<br />

In allen drei Lebensphasen wur<strong>de</strong>n auch verschie<strong>de</strong>ne Teilnetzwerke erfasst. Denn<br />

„Netzwerke sind beziehungsspezifisch. Das Freundschaftsnetzwerk einer Gruppe wird sich<br />

zum Beispiel vom Netzwerk <strong>de</strong>r Ratsuche o<strong>de</strong>r vom Netzwerk <strong>de</strong>r gemeinsamen<br />

Vereinszugehörigkeit unterschei<strong>de</strong>n.“ (JANSEN 1999:52) In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung<br />

wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n drei Lebensphasen jeweils die Familien-, Liebes-, Geschäfts- und<br />

Gesellschaftsnetzwerke erfasst, wobei für die unterschiedlichen Relationstypen folgen<strong>de</strong><br />

Definitionen zugrun<strong>de</strong> gelegt wur<strong>de</strong>n:<br />

Familienbeziehungen sind hierbei durch offizielle Abstammung und Heirat <strong>de</strong>finiert. Sie<br />

beinhalten Eheleute und Kin<strong>de</strong>r (Kernfamilie), Verlobte o<strong>de</strong>r angeheiratete Personen.<br />

Schwager und Schwiegermütter etc. wer<strong>de</strong>n in dieser Matrix nicht berücksichtigt, sie fin<strong>de</strong>n<br />

sich in <strong>de</strong>r Gesellschaftsmatrix wie<strong>de</strong>r. Die Relationsform ist die einer ungerichteten<br />

Verwandtschaftsbeziehung, d. h., die Matrix ist symmetrisch.<br />

Liebesbeziehungen hingegen sind ausschließlich durch sexuelle Kontakte und Verlobung<br />

gekennzeichnet. Ehepaare gehören nicht zu diesem Teilnetzwerk. Diese Beziehungen sind<br />

ungerichtet, also symmetrisch.<br />

Geschäftsbeziehungen <strong>de</strong>finieren sich ausschließlich durch ihre ökonomische Gerichtetheit.<br />

Hier wird <strong>de</strong>utlich gemacht für welche Seite ein Vorteil entsteht, wer Nutzen von einer<br />

Beziehung hat o<strong>de</strong>r ob es sich lediglich um einen Tausch han<strong>de</strong>lt. Es gelten direkte<br />

Geschäftsbeziehungen, wie z. B. Arbeit, Mitgift, Spekulationen (Landkauf) und<br />

Finanzströme. Dieses Teilnetzwerk ist gerichtet und somit asymmetrisch.<br />

Gesellschaftsbeziehungen haben ihre Grundlage in <strong>de</strong>r Kommunikation, bei <strong>de</strong>r die<br />

beteiligten Personen räumlich anwesend sind. Im gesellschaftlichen Teilnetzwerk ist die<br />

Familie ausgeschlossen. Auch diese Matrix ist ungerichtet, d. h. symmetrisch.<br />

<strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Altersstufe. Während dieser Begriff jedoch das Alter als Definitionskriterium impliziert, können<br />

Lebensphasen zusätzlich o<strong>de</strong>r auch ausschließlich durch spezifische Anfangs- und En<strong>de</strong>reignisse bestimmt<br />

wer<strong>de</strong>n.“ (ENDEPOHLS 1995:5).<br />

11


Nicht nur die erhobenen Beziehungen wur<strong>de</strong>n spezifiziert, auch die Netzwerk-Akteure<br />

wur<strong>de</strong>n hinsichtlich verschie<strong>de</strong>ner Kategorien differenziert, und zwar nach Alter, Geschlecht,<br />

Schicht und politischer Gesinnung.<br />

Die Kategorie Alter ist unterteilt in Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und höheres<br />

Erwachsenenalter/Greisenalter.<br />

Das Geschlecht teilt sich in männlich und weiblich.<br />

Die Schichtzugehörigkeit differenziert Arbeiter, Kleinbürgertum- Lehrer, Redakteur,<br />

Großbürgertum- Geld, A<strong>de</strong>l.<br />

Das Merkmal politische Gesinnung glie<strong>de</strong>rt sich in national, d. h. kaisertreu, liberal und<br />

sozial<strong>de</strong>mokratisch.<br />

Das Computerprogramm UCINET dient dazu, die Daten aus <strong>de</strong>n Matrizen zu visualisieren<br />

und so die Thesen zu untermauern.<br />

5 Die Analyse <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong><br />

5.1 Inhaltsangabe <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong><br />

In seinem 1918 erschienenen Roman beschreibt Heinrich Mann <strong>de</strong>n Lebensweg <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

autoritätsgläubigen und kaisertreuen Die<strong>de</strong>rich Heßling in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Lebensphasen<br />

Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter.<br />

Die Zeit <strong>de</strong>r Kindheit und Jugend <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten ist geprägt vom Familienverband <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

bürgerlichen Milieus, <strong>de</strong>n dieser wie einen Schutzwall vor allem Frem<strong>de</strong>n erlebt, <strong>de</strong>nn die<br />

wenigen Kontakte, die er zur Außenwelt hat, machen ihm Angst.<br />

Nach seiner Schulzeit absolviert Die<strong>de</strong>rich ein Chemiestudium. Während <strong><strong>de</strong>s</strong> Studiums in<br />

Berlin vergrößert sich sein soziales Umfeld, durch <strong>de</strong>n Eintritt in die Stu<strong>de</strong>ntenverbindung<br />

Neuteutonia. Dort fühlt er sich unter Gleichgesinnten und die Mitgliedschaft eröffnet ihm<br />

neue gesellschaftliche Perspektiven.<br />

Der plötzliche Tod <strong><strong>de</strong>s</strong> Vaters stellt einen wichtigen Einschnitt im Leben <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten<br />

dar. Mit Beendigung <strong><strong>de</strong>s</strong> Studiums und seines Militärdienstes kehrt er nach Netzig zurück und<br />

übernimmt die Rolle <strong><strong>de</strong>s</strong> Familienoberhauptes sowie die Leitung <strong>de</strong>r väterlichen Papierfabrik.<br />

Bei <strong>de</strong>r Leitung <strong><strong>de</strong>s</strong> väterlichen Unternehmens erweist sich Die<strong>de</strong>rich zu Anfang als nicht sehr<br />

kompetent, die Rolle als Familienoberhaupt hingegen übt er mit viel Autorität aus.<br />

Mit Hilfe <strong>de</strong>r alteingesessenen Persönlichkeit, <strong>de</strong>m alten Buck, beginnt er seine<br />

gesellschaftliche Position aufzubauen und reaktiviert Kontakte seines „alten“ sozialen<br />

Umfel<strong><strong>de</strong>s</strong>, dies beinhaltet auch das Wie<strong>de</strong>rsehen mit seiner spätere Ehefrau Guste Daimchen.<br />

12


Um seinen Plan, die Fabrik zu vergrößern, jedoch verwirklichen zu können sucht Die<strong>de</strong>rich<br />

systematisch auch alle an<strong>de</strong>ren wichtigen Persönlichkeiten seiner Heimatstadt auf, zu <strong>de</strong>nen<br />

<strong>de</strong>r Bürgermeister Scheffelweis sowie <strong>de</strong>r Assessor <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft Jadassohn<br />

gehören. Mit <strong>de</strong>m Sozial<strong>de</strong>mokraten Fischer, einem Maschinenmeister seiner Fabrik, kommt<br />

es immer wie<strong>de</strong>r zu Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten. Jedoch spannt Die<strong>de</strong>rich ihn für seine<br />

Zwecke ein.<br />

<strong>Eine</strong> Majestätsbeleidigung und <strong>de</strong>r daraus resultieren<strong>de</strong> Gerichtsprozess verhelfen Die<strong>de</strong>rich<br />

zu gesellschaftlicher Anerkennung. Seine Heirat geht einher mit einer Zunahme<br />

gesellschaftliche Kontakte sowie finanzieller Mittel. Allerdings muss er auch Rückschläge<br />

einstecken, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r alte Buck, <strong>de</strong>r ihm bis jetzt wohl gesonnen war, agiert nun aufgrund<br />

seiner liberalen Haltung, gegen ihn und hin<strong>de</strong>rt Die<strong>de</strong>richs daran aus Netzig eine durch und<br />

durch nationale Stadt zu machen.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Romans</strong> hat <strong>de</strong>r Protagonist seinen Kontrahenten Buck „besiegt“ und ist auf<br />

<strong>de</strong>m Höhepunkt seiner Macht angelangt.<br />

5.2 These I: Im Lebensverlauf eines Menschen ist je<strong>de</strong> Lebensphase durch ein<br />

spezifisches soziales Beziehungsgeflecht charakterisiert.<br />

„Wenn Merkmale von sozialen Netzwerken in verschie<strong>de</strong>nen Lebensaltern untersucht und<br />

beschrieben wer<strong>de</strong>n, so will man ver<strong>de</strong>utlichen, dass sich auch in diesen Merkmalen<br />

komplexe Entwicklungsprozesse wi<strong>de</strong>rspiegeln.“ Insgesamt sei man aber zu sehr auf<br />

Vermutungen angewiesen, warum sich soziale Netzwerke über die Lebensspanne so und nicht<br />

an<strong>de</strong>rs entwickeln wür<strong>de</strong>n (RÖHRLE 1994:42ff).<br />

Die Kindheit <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten wird vom familiären Netzwerk dominiert, während sich alle<br />

an<strong>de</strong>ren sozialen Beziehungen noch in <strong>de</strong>r Aufbauphase befin<strong>de</strong>n.<br />

Bernd Röhrle spricht davon, dass <strong>de</strong>r Umfang sozialer Netzwerke und die Kontakte zu<br />

verschie<strong>de</strong>nen Erwachsenen, Spielkamera<strong>de</strong>n und Nicht-Verwandten auch außerhalb <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

eigenen Wohnortes mit <strong>de</strong>n Jahren immer häufiger wür<strong>de</strong>n. Allerdings geschieht dies in<br />

Abhängigkeit <strong><strong>de</strong>s</strong> Faktors „Schichtzugehörigkeit“ sowie <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>r Familie (RÖHRLE<br />

1994:43).<br />

In <strong>de</strong>r ersten Phase, die die Kindheit <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten umfasst, geht die Ausweitung seines<br />

sozialen Bezugsrahmens eher schleppend voran, <strong>de</strong>nn: „Ungern verließ er im Winter die<br />

warme Stube, im Sommer <strong>de</strong>n engen Garten, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>n Lumpen <strong>de</strong>r Papierfabrik (<strong><strong>de</strong>s</strong><br />

13


Vaters) roch und über <strong><strong>de</strong>s</strong>sen Goldregen- und Flie<strong>de</strong>rbäumen das hölzerne Fachwerk <strong>de</strong>r alten<br />

Häuser stand.“ (MANN 2001:9).<br />

Erste Kontakte zu erwachsenen Nicht-Verwandten entstehen durch <strong>de</strong>n Kontakt zu <strong>de</strong>n<br />

Fabrikarbeitern <strong><strong>de</strong>s</strong> Vaters.<br />

Während <strong>de</strong>r Schulzeit vergrößert sich sein sozialer Bezugsrahmen nicht erwähnenswert. Man<br />

kann davon ausgehen, das es Die<strong>de</strong>rich an einem belebten Freundschaftsnetzwerk mangelt,<br />

„<strong>de</strong>nn Die<strong>de</strong>rich war so beschaffen, dass die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen,<br />

zu diesem unerbittlichen, menschenverachten<strong>de</strong>n, maschinellen Organismus, <strong>de</strong>r das<br />

Gymnasium war, ihn beglückte, dass die Macht, die kalte Macht, an <strong>de</strong>r er selbst, wenn auch<br />

nur lei<strong>de</strong>nd, teilhatte, sein Stolz war.“ (MANN 2001:13).<br />

Durch <strong>de</strong>n Beginn seines Chemiestudiums in Berlin, mit <strong>de</strong>m Einsetzen <strong>de</strong>r zweiten Phase<br />

einsetzt, vergrößert sich auch <strong>de</strong>r Kreis seiner sozialen Beziehungen. Neue gesellschaftliche<br />

Bindungen erschließt sich Heßling durch <strong>de</strong>n Eintritt in eine Stu<strong>de</strong>ntenverbindung, die<br />

allerdings in einem überschaubaren Maß verbleiben.<br />

Nach <strong>de</strong>m Tod <strong><strong>de</strong>s</strong> Vaters kehrt er nach Netzig zurück und been<strong>de</strong>t alle sozialen Beziehungen,<br />

die ihn mit Berlin verbin<strong>de</strong>n.<br />

In Netzig richtet er sein Augenmerk nicht nur auf die Arbeit als Papierfabrikant o<strong>de</strong>r seiner<br />

Rolle als Familienoberhaupt, son<strong>de</strong>rn widmet sich auch mit größter Sorgfalt seinem neuen<br />

gesellschaftlichen Umfeld.<br />

Obwohl das familiäre Netzwerk noch immer einen wichtigen Teil in Die<strong>de</strong>richs Leben<br />

einnimmt und sich sogar erweitert, konkurriert es doch stark mit <strong>de</strong>m neu gebil<strong>de</strong>ten<br />

gesellschaftlichem Teilnetzwerk, welches vor allem aus nachbarschaftlichen und kollegialen<br />

Beziehungen besteht.<br />

Durch <strong>de</strong>n aufgrund einer Majestätsbeleidigung zustan<strong>de</strong> gekommenen Gerichtprozess kann<br />

Die<strong>de</strong>rich seine gesellschaftliche Stellung in Netzig weiterhin verbessern.<br />

Mit Hilfe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kontakte knüpft er Beziehungen, die ihm schnell zu <strong>de</strong>m<br />

gewünschten geschäftlichem Erfolg verhelfen. Seine politische Gesinnung (National) steht in<br />

seinen gesellschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen im Vor<strong>de</strong>rgrund.<br />

Durch die Heirat Die<strong>de</strong>richs mit Guste Daimchen und die Geburt <strong>de</strong>r drei Kin<strong>de</strong>r stabilisiert<br />

sich das familiäre Netzwerk <strong>de</strong>r Heßlings. Das Ehepaar Heßling lebt mit Die<strong>de</strong>richs Mutter<br />

und seiner jüngsten Schwester Emmi zusammen. Magda, die Ältere <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Schwestern,<br />

grün<strong>de</strong>t mit ihrem Mann einen eigenen Hausstand.<br />

In <strong>de</strong>r dritten Phase, die nach <strong>de</strong>m Gerichtprozess beginnt, ist Die<strong>de</strong>rich auf <strong>de</strong>m Höhepunkt<br />

seiner gesellschaftlichen Macht angelangt.<br />

14


Durch die Schwächung seines Konkurrenten, <strong><strong>de</strong>s</strong> Liberalen Buck, gewinnt Die<strong>de</strong>rich immer<br />

mehr Anhänger für die nationalen I<strong>de</strong>en. Auch geschäftlich ist er erfolgreich, <strong>de</strong>nn er<br />

erweitert seine Papierfabrik. Die sozialen Beziehungen, die er unterhält, sind sowohl in<br />

Anzahl als auch in Stärke erheblich gestiegen.<br />

Stueve und Gerson haben, so Röhrle, in einer Querschnittstudie 1977 erkannt, dass „<strong>de</strong>r<br />

Anteil von Freun<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Kindheit bis ins hohe Alter ständig sank, jedoch <strong>de</strong>r aus<br />

nachbarschaftlichen und kollegialen Beziehungen stetig zunahm.“ (RÖHRLE 1994:45f).<br />

Diese Annahme bestätigt sich bei <strong>de</strong>r Betrachtung <strong><strong>de</strong>s</strong> dargestellten Lebenszeitraumes<br />

Die<strong>de</strong>rich Heßlings, in <strong>de</strong>m sich im Verlauf <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens, aufgrund <strong>de</strong>r <strong>de</strong>finierten<br />

persönlichen Merkmale, das gesellschaftliche und geschäftliche Teilnetzwerk verfestigen.<br />

In je<strong>de</strong>r darauf folgen<strong>de</strong>n Lebensphase steigert sich <strong>de</strong>r Umfang <strong><strong>de</strong>s</strong> Gesamtnetzwerkes, was<br />

sich unter an<strong>de</strong>rem darin äußert, dass sich vor allem das gesellschaftliche und geschäftliche<br />

Teilnetzwerk sich erweitert. Das Familiennetzwerk bil<strong>de</strong>t fortwährend das zentrale Netzwerk,<br />

welches sich zwar wan<strong>de</strong>lt, aber trotz<strong>de</strong>m in allen drei Lebensphasen unterschiedlich<br />

dominant existiert.<br />

5.3 These II: Es gibt soziale Beziehungen, die über einen längeren Zeitraum bestehen,<br />

also phasenübergreifend existieren.<br />

Soziale Beziehungen sind Bestandteil eines je<strong>de</strong>n Lebenslaufs. Je<strong><strong>de</strong>s</strong> Individuum braucht die<br />

verschie<strong>de</strong>nsten sozialen Beziehungen und <strong>de</strong>ren Vernetzung, um sozial han<strong>de</strong>ln zu können.<br />

Über <strong>de</strong>n Beginn, die Fortführung o<strong>de</strong>r Beendigung ihrer Beziehung zu an<strong>de</strong>ren Menschen<br />

entschei<strong>de</strong>t je<strong><strong>de</strong>s</strong> Individuum selbst, entsprechend <strong>de</strong>r persönlichen Lebensgestaltung (vgl.<br />

LANG 2003:175). Diese Entscheidungen begleiten und kennzeichnen die Entwicklung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Menschen insbeson<strong>de</strong>re dann, wenn sie mit „entwicklungsbezogenen Anfor<strong>de</strong>rungen und<br />

Lebensübergängen konfrontiert sind“ (LANG 2003:176).<br />

Mit <strong>de</strong>r Sozialisation in <strong>de</strong>r Familie, in <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Ausbildung, im Beruf, bei <strong>de</strong>r<br />

Partnerwahl und in <strong>de</strong>r Freizeit wird das Individuum immer wie<strong>de</strong>r mit Verän<strong>de</strong>rungen<br />

konfrontiert, die neue Erwartungen und Bewertungen von Sozialbeziehungen mit sich bringen.<br />

Die Qualität, die Leistungen und Verän<strong>de</strong>rungen wer<strong>de</strong>n entsprechend <strong><strong>de</strong>s</strong> individuellen<br />

Entwicklungsstan<strong><strong>de</strong>s</strong> betrachtet und ziehen angepasstes soziales Han<strong>de</strong>ln nach sich (vgl.<br />

LANG 2003:176).<br />

Unter Leistung versteht Lang Handlungen, die das Individuum selbst ausführt o<strong>de</strong>r an seiner<br />

Person erfährt, die unterstützend und ermutigend auf die persönlichen Handlungsweisen<br />

15


wirken. Darin eingeschlossen sind beispielsweise Zuneigungs- und<br />

Verantwortungsbekundungen sowie <strong>de</strong>r Austausch nützlicher Informationen.<br />

<strong>„Der</strong> Verlust sozialer Beziehungen [und <strong>de</strong>r aus ihnen resultieren<strong>de</strong>n Leistungen] kann <strong>de</strong>n<br />

Einzelnen stark belasten und die Meisterung von Entwicklungsaufgaben erschweren, und<br />

umgekehrt. Gelingt es Menschen nicht, wichtige Lebens- und Entwicklungsarbeit zu meistern,<br />

kann dies auch dazu führen, dass soziale Beziehungen <strong><strong>de</strong>s</strong>tabilisiert o<strong>de</strong>r sogar abgebrochen<br />

wer<strong>de</strong>n“ (LANG 2003:180).<br />

Soziale Beziehungen bringen <strong>de</strong>mnach auch immer Risiken und Belastungen mit sich.<br />

Unaufgefor<strong>de</strong>rte o<strong>de</strong>r unerwünschte Hilfeleistungen können entwicklungshemmend wirken<br />

und in aller Regel sind Menschen darum bemüht, ihre Beziehungsumwelt so zu organisieren,<br />

dass sie möglichst entlastend und entwicklungsför<strong>de</strong>rnd wirken. Lang spricht davon, dass<br />

soziale Beziehungen, unabhängig von ihrem Nutzen, immer Kosten verursachen. Diese Kosten<br />

gilt es zu minimieren und <strong>de</strong>m persönlichen Bedarf und <strong>de</strong>n individuellen Ressourcen<br />

anzupassen (vgl. LANG 2003:180).<br />

In allen Lebensphasen sind Individuen motiviert, ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.<br />

„Menschen beeinflussen ihre Beziehungen, um auf diese Weise eine mit ihren Zielen und<br />

Erwartungen in Einklang stehen<strong>de</strong> Umwelt herzustellen, die ihrerseits wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>n Verlauf<br />

und die Richtung <strong>de</strong>r eigenen Entwicklung beeinflusst.“ (LANG 2003:183)<br />

Ausgehend von Langs Überlegung können zwei Strategien im zwischenmenschlichen Umgang<br />

unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Zum einen die selbstbezogene Regulation <strong><strong>de</strong>s</strong> Ego, die sich in <strong>de</strong>n<br />

eigenen Zielen, Wünschen und Erwartungen wie<strong>de</strong>rspiegeln. Zum an<strong>de</strong>ren fremdbezogene<br />

Regulation die das Verhalten <strong>de</strong>r Beziehungspartner betreffen, wie etwa soziale Kontrolle o<strong>de</strong>r<br />

Kooperation (vgl. LANG 2003:183).<br />

Ziel und Erwartungen im Laufe <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens, entsprechend <strong>de</strong>r Lebensphasen, müssen<br />

verän<strong>de</strong>rt und neu <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n, unter Abwägung <strong>de</strong>r Kosten und Nutzen. Das kann<br />

be<strong>de</strong>uten, dass Beziehungen aus vergangenen Lebensphasen weitergepflegt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber,<br />

einmal been<strong>de</strong>t, nie wie<strong>de</strong>r aufgenommen wer<strong>de</strong>n.<br />

„Die soziale Wirksamkeitsorientierung besteht im Wesentlichen darin, dass an<strong>de</strong>re Menschen<br />

und Beziehungen als ein Mittel zum Zweck (z. B. zur Erlangung sozialer Anerkennung o<strong>de</strong>r<br />

Autonomie) angesehen wer<strong>de</strong>n“ (LANG 2003:186).<br />

Zentrales Argument <strong>de</strong>r Langschen These ist, dass Lebenslauf kontinuierlichen Wan<strong>de</strong>l in sich<br />

birgt und Individuen in spezifischen Sozialbeziehungen an Wirksamkeit o<strong>de</strong>r an Bindung<br />

orientiert sind, die sich <strong>de</strong>n physischen, psychischen und sozialen Verän<strong>de</strong>rungen anpassen<br />

bzw. diese immer wie<strong>de</strong>r revidieren (vgl. LANG 2003:187f).<br />

16


Auch Schweizer spricht dies an, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>utlich macht, dass Menschen ihre Ziele <strong>de</strong>n<br />

vorhan<strong>de</strong>nen Mitteln und sozialen Einschränkungen anpassen und verweist in seiner<br />

Argumentation auf die Theorie <strong><strong>de</strong>s</strong> rationalen Han<strong>de</strong>lns von Coleman die besagt, dass alle<br />

individuellen Akteure zielgerichtet und vernünftig han<strong>de</strong>ln (vgl. SCHWEIZER 1996:38).<br />

Mit <strong>de</strong>r zweiten These, dass soziale Beziehungen phasenübergreifend bestehen können,<br />

greifen wir die theoretischen Argumente von Lang und Schweizer auf und wollen sie<br />

dahingehend überprüfen, ob in verschie<strong>de</strong>nen Lebensphasen alte Beziehungen wie<strong>de</strong>r<br />

„aufgefrischt“ wer<strong>de</strong>n um optimalen Nutzen zu erzielen.<br />

Optimaler Nutzen ist dann erreicht, wenn die Kosten gering ausfallen, also nicht in neue<br />

Beziehungen investiert wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn schon vorhan<strong>de</strong>ne und vielleicht ruhen<strong>de</strong><br />

Beziehungen erneut aktiviert, zielgerichtetes und leistungsorientiertes Agieren ermöglichen.<br />

Letzteres ist im Sozialverhalten <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten nachzuweisen.<br />

Trotz seines ängstlichen Wesens und seiner Weichheit vermittelt Heßling in <strong>de</strong>r zweiten<br />

Lebensphase jugendliche Energie und Vorstellungskraft.<br />

Seinem individuellen Entwicklungsstand entsprechend agiert <strong>de</strong>r Protagonist noch unbeholfen<br />

und wie es oft scheint orientierungssuchend. Er ist auf frem<strong>de</strong> Hilfe und frem<strong><strong>de</strong>s</strong> Wissen<br />

angewiesen.<br />

Sei es <strong>de</strong>r alte Buck o<strong>de</strong>r Napoleon Fischer, die, wenn auch nicht seiner eigenen politischen<br />

Gesinnung entsprechen, ihm immer wie<strong>de</strong>r nützliche Informationen liefern.<br />

Der alte Buck, <strong>de</strong>n er seit seinen „Kin<strong>de</strong>rtagen“ kennt, spielt bei <strong>de</strong>r sozialen<br />

Orientierungssuche Heßlings eine wesentliche Rolle. Er fungiert als Verbindungsmann für<br />

neue Kontakte. Heßling heuchelt ihm gegenüber liberale Gesinnung vor (vgl. MANN<br />

2001:115), um an wichtige Informationen zu gelangen.<br />

Um <strong>de</strong>n Sprung ins Stadtparlament zu schaffen, geht Heßling sogar einen Pakt mit <strong>de</strong>m<br />

Sozial<strong>de</strong>mokraten Fischer ein (vgl. MANN 2001:322f).<br />

Er investiert, um mit Lang zu sprechen, zunächst viele Kosten in <strong>de</strong>n Aufbau seines sozialen<br />

Netzes. Zu<strong>de</strong>m muss Heßling seine, ihm über allem stehen<strong>de</strong> Kaisertreue, verleugnen.<br />

Die von ihm erwarteten Leistungen fließen nur zögerlich und für ihn noch nicht in vollem<br />

Umfang einsehbar.<br />

Die Autorität, die er vorgibt zu besitzen, lassen ihn als typischen Bürger <strong>de</strong>r wilhelminischen<br />

Zeit erscheinen. Seine stetig wachsen<strong>de</strong>n Kenntnisse um die bürgerlichen Strukturen Netzigs<br />

nutzt er, wenn auch oft etwas tollpatschig, um seine gesellschaftliche Position zu verbessern<br />

und auszubauen.<br />

17


In <strong>de</strong>r dritten Lebensphase hat er die angestrebte soziale Stellung erreicht. Heßling befin<strong>de</strong>t<br />

sich auf <strong>de</strong>m Höhepunkt seiner Macht.<br />

Dabei hat er schon bestehen<strong>de</strong> Beziehungen benutzt um seine Interessen weiterzuverfolgen<br />

und auch durchzusetzen. Er ist, wie erhofft, Stadtverordneter von Netzig gewor<strong>de</strong>n.<br />

Seine aufgebauten sozialen Beziehungen reichen aus, um im gesellschaftlichen Leben<br />

Netzigs mitbestimmen zu können.<br />

Dies bezieht sich nun nicht mehr nur auf <strong>de</strong>n gesellschaftlichen und geschäftlichen Bereich.<br />

Seine Verheiratung mit Guste Daimchen entspringt ausschließlich wirtschaftlichen<br />

Erwägungen, mit Folgen bis hin in das Familienleben <strong>de</strong>r Heßlings.<br />

Die bis hierhin gepflegten und genutzten Beziehung erlauben es ihm sogar eine anerkannte<br />

Persönlichkeit wie <strong>de</strong>n alten Buck, aus seiner gesellschaftlichen Position zu heben.<br />

Wenn wir in <strong>de</strong>r zweiten Lebensphase noch von überwiegend fremdbezogener Regulation<br />

ausgegangen sind, kann man für die dritte Phase eher von einer egobezogenen Regulation<br />

sprechen. Die<strong>de</strong>rich hält seine „Beziehungsfä<strong>de</strong>n“ selbst in <strong>de</strong>r Hand.<br />

Unsere These sehen wir dahingehend bestätigt, dass <strong>de</strong>r Protagonist seine – aus<br />

„Kin<strong>de</strong>rtagen“ gewachsenen – Kontakte geschickt einzusetzen versteht und diese, trotz<br />

Unterbrechungen, zu einem späteren Zeitpunkt wie<strong>de</strong>r aufnimmt, um sie seiner<br />

Lebenskarriere zu nutze zumachen.<br />

5.4 These III: Soziale Beziehungen wer<strong>de</strong>n interessengeleitet gestaltet.<br />

Soll <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l sozialer Beziehungen im Lebensverlauf tiefergehend ergrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, ist es<br />

nötig, die Verän<strong>de</strong>rungen sozialer Netzwerke auch aus einer an<strong>de</strong>ren Perspektive als <strong>de</strong>r<br />

bisher eingenommenen, eher strukturorientierten, zu betrachten. Denn insgesamt „scheint<br />

relativ unstrittig zu sein, dass für die Frage <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen informeller Netzwerke sowohl<br />

situative Aspekte (Gelegenheitsstrukturen), als auch akteursbezogene Aspekte<br />

(Wahrnehmungen, Interessen, Handlungsorientierungen <strong>de</strong>r Akteure) eine Rolle spielen.“<br />

(HOLLSTEIN 2003:154). Um eine akteursorientierte Perspektive zu integrieren, ist es nötig<br />

sich vorab noch einmal Simmels Unterscheidung von Inhalt und Form sozialer Beziehungen<br />

und Wechselwirkungen zu vergegenwärtigen.<br />

Georg Simmel unterschied konzeptionell zwischen inhaltlichen und formalen Elementen im<br />

Prozess <strong>de</strong>r Vergesellschaftung: Aus <strong>de</strong>m Inhalt, <strong>de</strong>r all das umfasst, „was in <strong>de</strong>n Individuen,<br />

<strong>de</strong>n unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit als Trieb, Interesse, Zweck,<br />

Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung <strong>de</strong>rart vorhan<strong>de</strong>n ist, dass daraus o<strong>de</strong>r<br />

18


daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht“ (SIMMEL<br />

1992:18), entspringen die verschie<strong>de</strong>nen Formen von Beziehungen und Wechselwirkungen<br />

zwischen <strong>de</strong>n Individuen, also die eigentliche Vergesellschaftung. Hierunter versteht Simmel<br />

„die, in unzähligen verschie<strong>de</strong>nen Arten sich verwirklichen<strong>de</strong> Form, in <strong>de</strong>r die Individuen auf<br />

Grund jener -sinnlichen o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alen, momentanen o<strong>de</strong>r dauern<strong>de</strong>n, bewussten o<strong>de</strong>r<br />

unbewussten, kausal treiben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r teleologisch ziehen<strong>de</strong>n- Interessen zu einer Einheit<br />

zusammenwachsen und innerhalb <strong>de</strong>ren diese Interessen sich verwirklichen.“ (SIMMEL<br />

1992:19). Die mannigfaltigen Motivationen <strong>de</strong>r Individuen stellen also die Grün<strong>de</strong> dafür dar,<br />

dass Interaktionen beziehungsweise soziale Beziehungen mit an<strong>de</strong>ren Individuen eingegangen<br />

wer<strong>de</strong>n. Ohne sie gäbe es keine Formen <strong>de</strong>r Vergesellschaftung.<br />

Simmel führte <strong>de</strong>n Gedanken ein, dass Individuen einerseits aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

Interessenlagen heraus soziale Beziehungen initiieren, diese an<strong>de</strong>rerseits aber auch eine<br />

gewisse Eigendynamik entwickeln und „auf das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r beteiligten Individuen<br />

zurückwirken und ihren Intentionen zuwi<strong>de</strong>rlaufen können.“ (HOLLSTEIN 2003:156). Ob<br />

die eingegangenen Beziehungen auch wirklich zur Verwirklichung <strong><strong>de</strong>s</strong> treiben<strong>de</strong>n Interesses<br />

führen, ist abhängig von strukturellen Merkmalen <strong>de</strong>r Beziehungen. 3 Diese strukturelle<br />

Bestimmtheit <strong>de</strong>r Beziehungen und ihre Rückwirkung auf das Individuum soll im Folgen<strong>de</strong>n<br />

aber vernachlässigt wer<strong>de</strong>n; es soll vielmehr darum gehen zu veranschaulichen, wie<br />

Individuen soziale Beziehungen und Netzwerke interessengeleitet gestalten; wie sie also „als<br />

Produzent <strong>de</strong>r eigenen Entwicklung“ (BERTRAM/HOLLSTEIN 2003:149) fungieren.<br />

Die Entwicklung <strong><strong>de</strong>s</strong> Individuums, die eine Wandlung seiner Interessen, Gefühle und Motive<br />

beinhaltet, schlägt sich in seinen sozialen Beziehungen und <strong>de</strong>ren Verän<strong>de</strong>rungen im<br />

Lebenslauf nie<strong>de</strong>r. Durch „ihr Verhalten können die Individuen [ihre sozialen Beziehungen]<br />

strukturieren und entsprechend ihren geän<strong>de</strong>rten Motiven und Gefühlen verwan<strong>de</strong>ln.“<br />

(HOLLSTEIN 2001:63). Soziale Beziehungen und persönliche Netzwerke sind also stets auch<br />

„Gegenstand <strong><strong>de</strong>s</strong> individuellen Han<strong>de</strong>lns und persönlicher Lebensgestaltung. Individuen<br />

entschei<strong>de</strong>n über Beginn, Fortführung o<strong>de</strong>r Beendigung ihrer Beziehungen zu an<strong>de</strong>ren<br />

Menschen“ (LANG 2003:175). Es ist sogar möglich, Beziehungen zu unterbrechen, um sie<br />

dann im Bedarfsfall wie<strong>de</strong>r zu aktivieren: „Viele Beziehungen wer<strong>de</strong>n im Laufe <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens<br />

für eine begrenzte Zeit abgebrochen, um anschließend doch wie<strong>de</strong>r aufgenommen zu<br />

wer<strong>de</strong>n.“ (LANG 2003:181). Dies geschieht, weil nicht alle Interessen eines Akteurs<br />

gleichzeitig umgesetzt wer<strong>de</strong>n können, da sie z. B. in Konkurrenz zueinan<strong>de</strong>r stehen. Sie<br />

3 <strong>Eine</strong> umfassen<strong>de</strong> Darstellung <strong>de</strong>r von Georg Simmel abgeleiteten basalen Strukturmerkmale, die das mögliche<br />

Leistungsspektrum von sozialen Beziehungen bestimmen, liefert Bettina Hollstein. (vgl. HOLLSTEIN 2003:157;<br />

sowie HOLLSTEIN 2001:69-112)<br />

19


wer<strong>de</strong>n aber trotz<strong>de</strong>m, zwar zeitlich versetzt, weiterverfolgt, da sie individuellen Interessen<br />

dienen (HOLLSTEIN 2003:159).<br />

Nach Simmel wählen die Menschen die sozialen Beziehungen, in die sie sich begeben, je<br />

nach Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychischer Zuständlichkeit und Bewegung aus –<br />

kurz gesagt: sie wählen die soziale Form, mit <strong>de</strong>r sie ihre bewussten o<strong>de</strong>r unbewussten<br />

Handlungsinteressen und Motive verwirklichen können. <strong>Eine</strong>rseits „fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Einzelne für<br />

je<strong>de</strong> seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Befriedung<br />

<strong>de</strong>rselben erleichtert, seinen Tätigkeiten je eine als zweckmäßig erprobte Form und alle<br />

Vorteile <strong>de</strong>r Gruppenangehörigkeit darbietet; andrerseits wird das Spezifische <strong>de</strong>r<br />

Individualität durch die Kombination <strong>de</strong>r Kreise gewahrt, die in je<strong>de</strong>m Fall eine andre sein<br />

kann." (SIMMEL 1992:485).<br />

Welche Beziehungen geht also Die<strong>de</strong>rich Heßling interessengeleitet ein und welches sind<br />

seine Handlungsmotive hierbei? Diesen bei<strong>de</strong>n Fragen soll nun nachgegangen wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m<br />

zuerst ein allgemein gehaltener Überblick über die interessengeleiteten Beziehungen Heßlings<br />

im Lebensverlauf gegeben wird, um dann die Mechanismen und Motive bei <strong>de</strong>r Aufnahme<br />

solch interessegeleiteter Beziehungen beispielhaft näher zu beleuchten. 4<br />

Es lässt sich resümieren, dass sich in <strong>de</strong>n einzelnen Phasen von Die<strong>de</strong>richs Lebensverlauf<br />

einige Beziehungen fin<strong>de</strong>n, die er interessengeleitet und bewusst profitmaximierend gestaltet:<br />

In <strong>de</strong>r zweiten Zeitphase liegt bezüglich <strong>de</strong>r Verlobung von Die<strong>de</strong>richs Schwester Magda mit<br />

Kienast eine ein<strong>de</strong>utige interessengeleitete Beziehung vor. Diese Beziehung ist sowohl für<br />

Kienast als auch für Die<strong>de</strong>rich von Nutzen. Kienast bekommt Magda zur Frau, die ihm durch<br />

ihre Mitgift einen wirtschaftlichen Nutzen erbringt. Außer<strong>de</strong>m wird Kienast durch die Heirat<br />

Teil <strong><strong>de</strong>s</strong> Familienetzwerkes <strong>de</strong>r Familie Heßling und gewinnt so an neuen Kontakten.<br />

Die<strong>de</strong>rich wird durch diese Verbindung aus <strong>de</strong>r Verantwortung für seine Schwester entbun<strong>de</strong>n<br />

und versucht einer noch ausstehen<strong>de</strong>n Geldsumme zu entgehen, die er Kienast für eine<br />

gelieferte Maschine schul<strong>de</strong>t. Kienast wird durch möglichen materiellen Nutzen und<br />

Ausweitung <strong><strong>de</strong>s</strong> eigenen Netzwerkes sowie <strong>de</strong>r Aussicht auf neue soziale Kontakte durch die<br />

Heirat mit Magda motiviert. Die<strong>de</strong>rich hat ebenfalls wirtschaftlichen Nutzen durch diese<br />

Verbindung, da er auf das Erlassen seiner Schul<strong>de</strong>n hofft.<br />

4 Die Untersuchung dieser Fragen stellt <strong>de</strong>n Forschen<strong>de</strong>n allerdings vor ein methodisches Problem: Wie soll das<br />

handlungsbestimmen<strong>de</strong> Interesse <strong>de</strong>r Romanfiguren operationalisiert wer<strong>de</strong>n? Die Integration eines solchen<br />

akteursbezogenen Aspektes wür<strong>de</strong> im Fall <strong>de</strong>r Erhebung realer Beziehungen erfor<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n Akteur danach zu<br />

befragen, welche Ziele und Vorstellungen er mit bestimmten von ihm durchgeführten Interaktionen verbin<strong>de</strong>t.<br />

Im Fall <strong>de</strong>r Interessen <strong><strong>de</strong>s</strong> Die<strong>de</strong>rich Heßling ist <strong>de</strong>r Forschen<strong>de</strong> darauf angewiesen, <strong>de</strong>n literarischen Text darauf<br />

hin zu erschließen, ob <strong>de</strong>r Autor etwas über die Interessen <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten aussagt o<strong>de</strong>r ob sich aus <strong>de</strong>n<br />

Handlungen <strong><strong>de</strong>s</strong> Protagonisten <strong><strong>de</strong>s</strong>sen Handlungsmotivationen herauslesen lassen. Die Grenzen zwischen<br />

sozialwissenschaftlichen Metho<strong>de</strong>n und literaturwissenschaftlicher Textanalyse verfließen.<br />

20


In <strong>de</strong>r zweiten Zeitphase ist die Heirat Die<strong>de</strong>richs mit Guste Daimchen als eine<br />

interessengeleitete Beziehung zu interpretieren. Die<strong>de</strong>rich han<strong>de</strong>lt im Hinblick auf hohen<br />

materiellen, also finanziellen Nutzen für sich, da seine zukünftige Frau sehr viel Geld mit in<br />

die Ehe bringt. Diese Aussicht auf Wohlstand ist die einzige Motivation für ihn.<br />

Ein weiteres Beispiel für interessengeleitete Beziehungen stellt die Relation von Die<strong>de</strong>rich zu<br />

Gottlieb Hornung dar. Diese soll nun genauer beleuchtet wer<strong>de</strong>n. In seiner Studienzeit in<br />

Berlin (Phase 1) trifft Die<strong>de</strong>rich Heßling seinen alten Schulkamerad Gottlieb Hornung wie<strong>de</strong>r;<br />

sie erneuern ihre freundschaftliche Verbindung und mieten zusammen eine Wohnung (vgl.<br />

MANN 2001:39f). Durch seine Freundschaft zu Hornung, <strong>de</strong>r Mitglied <strong>de</strong>r stu<strong>de</strong>ntischen<br />

Verbindung „Neuteutonia“ ist, wird es auch Die<strong>de</strong>rich ermöglicht ein Neuteutone zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Die<strong>de</strong>rich profitiert also durchaus von seinen Kontakten zu Hornung. Allerdings pflegt er<br />

diese Beziehung nicht bewusst interessengeleitet o<strong>de</strong>r auf das Ziel monetärer o<strong>de</strong>r sonstiger<br />

Gewinne hin orientiert. Handlungsinteressen und -motive, die ihn leiten mögen, sind<br />

unbewusst und in erster Linie freundschaftlicher Natur. In Abb. 1 ist das gesellschaftliche<br />

Abb. 1: Gesellschaftliches Netzwerk Die<strong>de</strong>rich Heßlings in <strong>de</strong>r<br />

Studienzeit (Phase 1)<br />

Netzwerk Die<strong>de</strong>rich<br />

Heßlings während seines<br />

Studiums in Berlin<br />

dargestellt. Die freund-<br />

schaftliche Verbindung<br />

zu Hornung wird<br />

allerdings noch in dieser<br />

Lebensphase von Die<strong>de</strong>-<br />

rich abgebrochen: Als<br />

<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten<br />

am Semester-En<strong>de</strong> das<br />

Geld zur Heimreise nach<br />

Netzig fehlt, beginnen<br />

sie gemeinsam „über die<br />

Zurückfor<strong>de</strong>rung <strong><strong>de</strong>s</strong>sen [zu] beraten, was sie selbst im Lauf <strong>de</strong>r Zeiten an Kommilitonen<br />

verliehen hatten.“ (MANN 2001:43). Als die gemeinsamen Versuche, an Geld für die Fahrt<br />

nach Netzig zu kommen, fehlschlagen, Die<strong>de</strong>rich aber von seiner Mutter Geld für die<br />

Heimreise erhält, ist er nicht bereit, etwas von diesem Geld an seinen Freund Hornung<br />

abzutreten. In ihrer Wohnung kündigt Die<strong>de</strong>rich seine Freundschaft zu Hornung in <strong>de</strong>m<br />

folgen<strong>de</strong>n Dialog auf:<br />

21


„Nun können wir fortmachen’, sagte Hornung. ‚Wieso wir? Ich brauch mein Geld selbst.’ ‚Du machst wohl<br />

Spaß. Ich kann hier doch nicht allein sitzen bleiben.’ ‚Dann such dir Gesellschaft!’ Die<strong>de</strong>rich schlug ein solches<br />

Gelächter auf, dass Hornung ihn für verrückt hielt. Darauf reiste er wirklich.“ (MANN 2001:45).<br />

Es zeigt sich, dass „Freun<strong>de</strong> [...] ihre Freundschaften je<strong>de</strong>rzeit und wenn nötig auch einseitig<br />

been<strong>de</strong>n [können]. Genauso können im Prinzip alle an<strong>de</strong>ren Beziehungen je<strong>de</strong>rzeit und<br />

willkürlich von einem <strong>de</strong>r Beteiligten aufgekündigt wer<strong>de</strong>n.“ (LANG 2003:181). Das<br />

plötzliche En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Freundschaft, das von Die<strong>de</strong>rich herbeigeführt wird, lässt sich dadurch<br />

erklären, dass dieser die Art und Weise, wie er seine sozialen Beziehungen strukturiert,<br />

än<strong>de</strong>rt. In einer Situation, in <strong>de</strong>r er eine Freundschaftsleistung erbringen soll, dominieren die<br />

ganz konkreten monetären Interessen Die<strong>de</strong>richs über die eher vagen freundschaftlichen Ge-<br />

fühle zu Hornung. Es lässt sich erkennen, dass <strong>de</strong>r Protagonist ab diesem Zeitpunkt seines<br />

Lebens – Die<strong>de</strong>rich kehrt in seine Heimatstadt zurück und übernimmt die Fabrik seines Vaters<br />

– seine Beziehungen stärker interessengeleitet und bewusst nutzenoptimierend gestaltet. Er<br />

betreibt seinen Aufstieg in <strong>de</strong>r Netziger Gesellschaft und entwickelt politische Ambitionen.<br />

So knüpft er zu Beginn seiner Netziger Zeit (Phase 2) etliche Beziehungen, die für ihn von<br />

Nutzen sein könnten.<br />

Zu seinem alten Freund<br />

Gottlieb Hornung<br />

allerdings unterhält er<br />

keine Kontakte mehr,<br />

wie sich in Abb. 2<br />

zeigt. Als Die<strong>de</strong>rich<br />

etliche Zeit später<br />

Hornung, <strong>de</strong>r als<br />

Verkäufer in einer<br />

Apotheke arbeitet,<br />

wie<strong>de</strong>rtrifft (MANN<br />

2001:372), kann er von<br />

<strong>de</strong>r Tatsache profi-<br />

Abb. 2: Gesellschaftliches Netzwerk Die<strong>de</strong>rich Heßlings in Phase 2<br />

(Ausschnitt)<br />

tieren, dass soziale Beziehungen „für eine begrenzte Zeit abgebrochen [wer<strong>de</strong>n können], um<br />

anschließend doch wie<strong>de</strong>r aufgenommen zu wer<strong>de</strong>n.“ (LANG 2003:181). Die<strong>de</strong>rich erkennt<br />

nämlich, dass sein alter Freund ihm bei seinem Ziel, „in Netzig <strong>de</strong>n nationalen Kandidaten<br />

durchzubringen“ (MANN 2001:374), behilflich sein könnte, und nimmt seine Beziehung zu<br />

22


diesem wie<strong>de</strong>r auf. Dass die Entscheidung zur Wie<strong>de</strong>raufnahme <strong><strong>de</strong>s</strong> Kontaktes zu Hornung<br />

von Die<strong>de</strong>rich ganz bewusst und an konkreten Handlungszielen orientiert getroffen wird,<br />

zeigt sich <strong>de</strong>utlich in <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Textpassage:<br />

„Die<strong>de</strong>rich konnte <strong>de</strong>n Freund nur noch dringend einla<strong>de</strong>n, ihn gleich heute abend zu besuchen, er habe dringend<br />

mit ihm zu re<strong>de</strong>n. [...] Die<strong>de</strong>rich bedachte, dass Gottlieb Hornung eben vermöge seiner aristokratischen<br />

Richtung, die ihm beim Verkauf von Schwämmen und Zahnbürsten so hin<strong>de</strong>rlich war, im Kampf gegen die<br />

Demokratie ein wertvoller Bun<strong><strong>de</strong>s</strong>genosse wer<strong>de</strong>n könne.“ (MANN 2001:374).<br />

Durch die wie<strong>de</strong>r aufgenommene Beziehung zu Hornung wird es Die<strong>de</strong>rich ermöglicht,<br />

politische Intrigen zu spinnen und auf Veranstaltungen im Vorfeld <strong>de</strong>r anstehen<strong>de</strong>n<br />

Reichtagswahlen Stimmung gegen die Partei <strong>de</strong>r Freisinnigen zu machen, ohne selbst das<br />

Wort erheben zu müssen. Diese Aufgabe übernimmt Hornung: „Die<strong>de</strong>rich für seine Person<br />

blieb lieber im Hintergrund, hinter <strong>de</strong>r Rauchwolke <strong><strong>de</strong>s</strong> Präsidiums. Er hatte Hornung zehn<br />

Mark versprochen, und Hornung war nicht in <strong>de</strong>r Lage, sie auszuschlagen.“ (MANN<br />

2001:382). In <strong>de</strong>r dritten Phase seines Lebens unterhält Die<strong>de</strong>rich also sowohl wie<strong>de</strong>r<br />

gesellschaftliche als auch geschäftliche Kontakte zu Hornung (vgl. Abb. 3). Anhand <strong>de</strong>r<br />

Abb. 3: Geschäftsnetzwerk Die<strong>de</strong>rich Heßlings (Phase 3)<br />

Beziehung, die Die<strong>de</strong>-<br />

rich zu Gottlieb Hor-<br />

nung unterhält, lässt<br />

sich also exempla-<br />

risch aufzeigen, dass<br />

es möglich ist soziale<br />

Relationen interesse-<br />

geleitet zu gestalten<br />

und bei Bedarf sogar<br />

für einen gewissen<br />

Zeitraum zu unter-<br />

brechen, um sie später<br />

wie<strong>de</strong>r aufzunehmen.<br />

Das Interesse, das<br />

Die<strong>de</strong>richs Han<strong>de</strong>ln leitet, ist klar utilitaristisch und bewusst profitmaximierend bestimmt. Er<br />

nutzt seine Beziehung zu Hornung, um seine Macht in Netzig zu vergrößern. „Netzwerke<br />

verteilen, vermittels <strong>de</strong>r positionalen Verortung ihrer Mitglie<strong>de</strong>r, Chancen zur Realisierung<br />

von Macht und Allokation von Ressourcen. Die wesentliche Frage ist, ob eine Partnerwahl bei<br />

<strong>de</strong>r Durchsetzung von Profitinteressen möglich ist.“ (VOLST 1993:29f.). Wie gezeigt wur<strong>de</strong>,<br />

23


ist es für Die<strong>de</strong>rich möglich, seine Beziehung zu Hornung nach Belieben zu aktivieren o<strong>de</strong>r<br />

auch abzubrechen, wenn sie in Konflikt zu seinen individuellen Interessen gerät; es ist ihm<br />

möglich seine Beziehung zu Hornung strategisch zu nutzen. Zwei Faktoren, die für Die<strong>de</strong>rich<br />

hierbei beson<strong>de</strong>rs vorteilhaft sind und die Stabilität <strong>de</strong>r strategischen Beziehung stützen,<br />

sollen noch erwähnt wer<strong>de</strong>n: Hornung, <strong>de</strong>r „schon aus fünf Apotheken entlassen wor<strong>de</strong>n“ ist<br />

(MANN 2001:372), befin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r strategischen Beziehung gegenüber Die<strong>de</strong>rich in <strong>de</strong>r<br />

Position <strong><strong>de</strong>s</strong> machtunterlegenen Akteurs. 5 Er ist aufgrund seiner schlechten wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse nicht „in <strong>de</strong>r Lage“, Die<strong>de</strong>richs Angebot auszuschlagen (vgl. MANN 2001:382).<br />

Neben <strong>de</strong>r finanziellen Abhängigkeit Hornungs von Die<strong>de</strong>rich wird die Stabilität <strong>de</strong>r<br />

Beziehung noch durch einen weiteren Punkt verstärkt: Nach Weyer kommen institutionellen<br />

Mechanismen – wie z. B. rechtlichen Normen – eine wichtige Rolle bei <strong>de</strong>r Gewährleistung<br />

<strong>de</strong>r Stabilität strategischer Beziehungen zu. Sie besitzen „absichern<strong>de</strong> und<br />

vertrauensför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Funktion“ (WEYER 2000:74). Dass sowohl Die<strong>de</strong>rich als auch Hornung<br />

<strong>de</strong>r Verbindung „Neuteutonia“ angehören, sich also auf einen gemeinsamen<br />

Lebenshintergrund im Rahmen von institutionalisierten Normen, Werten und Ritualen<br />

berufen können, muss sicherlich als solch institutioneller und die Stabilität <strong>de</strong>r Beziehung<br />

för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Mechanismus gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

6 Fazit<br />

Die erste These, die für je<strong>de</strong> Lebensphase ein spezifisches soziales Beziehungsgeflecht<br />

beansprucht, zeigt, dass sich komplexe Entwicklungsprozesse in verschie<strong>de</strong>nen Lebensaltern<br />

wi<strong>de</strong>rspiegeln.<br />

Zunächst spielt nur das engste familiäre Netzwerk für <strong>de</strong>n Protagonisten eine Rolle und bleibt<br />

in allen Lebensphasen, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt, vor<strong>de</strong>rgründig. Mit <strong>de</strong>m<br />

Älterwer<strong>de</strong>n wächst <strong>de</strong>r Bezugsrahmen in <strong>de</strong>n Lebensphasen stetig an. Vor allem die<br />

nachbarschaftlichen und kollegialen Beziehungen unterliegen sichtbaren Verän<strong>de</strong>rungen.<br />

Die zweite These bezieht sich darauf, dass soziale Beziehungen phasenübergreifend bestehen.<br />

Der Protagonist entschei<strong>de</strong>t, seiner persönlichen Lebensgestaltung gemäß, selbst über<br />

Fortführung o<strong>de</strong>r Beendigung einer sozialen Beziehung. Allerdings bewertet er diese stetig<br />

neu und aktiviert sie sogar bei bestehen<strong>de</strong>m Bedarf aus einer ruhen<strong>de</strong>n Phase, um einen<br />

5 Der Begriff <strong><strong>de</strong>s</strong> machtunterlegenen Akteurs wird in Theorien sozialer Netzwerke vor allem bei <strong>de</strong>r Analyse<br />

strategischer Netzwerke, also einem eher organisationssoziologisch ausgerichteten Forschungsfeld, verwandt.<br />

(vgl. hierzu z. B. WEYER 2000:74f.).<br />

24


optimalen Nutzen in <strong>de</strong>r eigenen Lebensführung zu erreichen. Auch die Art <strong>de</strong>r Beziehung<br />

vollzieht sich mitunter einer Verän<strong>de</strong>rung, wie etwa in Hinsicht auf Guste Daimchen, <strong>de</strong>n<br />

alten Buck o<strong>de</strong>r seinen Sohn Wolfgang. So passt sich <strong>de</strong>r Protagonist also <strong>de</strong>n sozialen<br />

Verän<strong>de</strong>rungen an und revidiert diese stetig neu.<br />

Die dritte These, die behauptet, dass soziale Beziehungen interessengeleitet gestalten wer<strong>de</strong>n,<br />

integriert einen akteursorientierten Aspekt, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Inhalt einer sozialen Beziehung<br />

benannt wird, nämlich das Interesse und <strong>de</strong>r Nutzen an dieser Beziehung. Das Interesse <strong>de</strong>r<br />

Individuen sorgt dafür, dass soziale Beziehungen mit an<strong>de</strong>ren Individuen eingegangen<br />

wer<strong>de</strong>n. Es zeigt sich zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utlich, dass Beziehungen unterbrochen und im Bedarfsfall<br />

erneut aktiviert wer<strong>de</strong>n, um individuelle Interessen zu befriedigen.<br />

So ist auch Die<strong>de</strong>rich Heßlings Interesse an <strong>de</strong>r Fortführung <strong>de</strong>r Beziehung zu Gottlieb<br />

Hornung klar utilitaristisch und profitmaximierend, da sein Ziel die eigene Machvergrößerung<br />

in Netzig ist.<br />

Zusammenfassend kann gesagt wer<strong>de</strong>n, dass alle drei Thesen insofern bestätigt wer<strong>de</strong>n<br />

können, als die erste Phase Unterschie<strong>de</strong> von Sozialstrukturen dadurch ver<strong>de</strong>utlicht, dass die<br />

einzelnen Phasen von verschie<strong>de</strong>nen Teilnetzwerken dominiert wer<strong>de</strong>n. Der Phasensteigerung<br />

entsprechend sind dies das Familien-, das Liebes- sowie das Geschäfts- und<br />

Gesellschaftsnetzwerk, welche parallel in <strong>de</strong>r dritte Phase stark vertreten sind. Die zweite<br />

These fin<strong>de</strong>t ihre Bestätigung darin, dass Die<strong>de</strong>richs Gesellschaftsbeziehungen<br />

phasenübergreifend bestehen, da die Gesellschaftsnetzwerke in <strong>de</strong>r zweiten und dritten<br />

Lebensphase strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen.<br />

Der Verifikation <strong>de</strong>r dritten These konnte sich nur durch Aufzeigen von Beispielen<br />

angenähert wer<strong>de</strong>n. Die Tatsache, dass Beziehungen einzelner Personen durch persönlichen<br />

Nutzen motiviert sind, <strong>de</strong>m zeitweise eine solch große Be<strong>de</strong>utung beigemessen wird, dass<br />

Beziehungen dafür reaktiviert wer<strong>de</strong>n, konnte beobachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Kritik <strong>de</strong>r Projektarbeit<br />

Lei<strong>de</strong>r muss resümiert wer<strong>de</strong>n, dass diese Projektarbeit eher <strong>de</strong>n Vorarbeiten zu einer<br />

Netzwerkuntersuchung als einer wirklichen <strong>Netzwerkanalyse</strong> entspricht. Es gab inhaltliche<br />

Unstimmigkeiten insofern, als alle Thesen aufgrund mangeln<strong>de</strong>n Theoriebezugs zu allgemein<br />

gehalten sind. Dadurch wird die tiefergehen<strong>de</strong> Betrachtung und Herausarbeitung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

25


Wandlungsaspektes sozialer Beziehungen unmöglich. Die methodischen Probleme tauchen<br />

dort auf, wo die Möglichkeiten <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> unzureichend genutzt wur<strong>de</strong>n. Dies ist<br />

bei <strong>de</strong>r nicht vorhan<strong>de</strong>nen Größen- und Dichteberechnung, die zur Darstellung <strong>de</strong>r Intensität<br />

<strong>de</strong>r Beziehungen dienen, <strong>de</strong>r Fall. Das zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Computerprogramm UCINET,<br />

welches die Daten visualisiert, fand nur in <strong>de</strong>r dritten These Anwendung. Generell gab es<br />

Schwierigkeiten bezüglich <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r <strong>Netzwerkanalyse</strong> und <strong>de</strong>r Organisation einer<br />

Projektarbeit durch mangeln<strong>de</strong> Erfahrung mit Teamarbeit. Dies trug zu inhaltlichen und<br />

methodischen Schwächen bei.<br />

26


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28


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1: Gesellschaftliches Netzwerk Die<strong>de</strong>rich<br />

Heßlings in <strong>de</strong>r Studienzeit (Phase 1).............................................................S. 21<br />

Abbildung 2: Gesellschaftliches Netzwerk Die<strong>de</strong>rich Heßlings in Phase 2 (Ausschnitt)....S. 22<br />

Abbildung 3: Geschäftsnetzwerk Die<strong>de</strong>rich Heßlings (Phase 3).........................................S. 23<br />

29

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