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Die-einzige-Weltmacht

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Meinen Studenten – möge das Buch ihnen dabei helfen,die Welt von morgen zu gestalten.4. Auflage: Oktober 2001Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,Frankfurt am Main, Mai 1999Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigungdes Beltz Quadriga Verlages, Weinheim und Berlin<strong>Die</strong> amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter demTitel ‘The Grand Chessboard. American Primary and ItsGeostrategic Imperatives” bei Basic Books, New York© 1997 by Zbigniew BrzezinskiKarten von Kenneth VelasquezFür die deutsche Ausgabe:© 1997 Beltz Quadriga Verlag, Weinheim und BerlinDruck und Bindung: Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 3-596-14358-6


INHALTKarten und Tabellen 8Vorwort von Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher 9Einleitung: Supermachtpolitik 151 Eine Hegemonie neuen Typs 17Der kurze Weg zur globalen Vorherrschaft 17<strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong> 26Das globale Ordnungssystem der USA 442 Das eurasische Schachbrett 53Geopolitik und Geostrategie 61Geostrategische Akteure und geopolitischeDreh- und Angelpunkte 66Ernste Entscheidungen und mögliche Herausforderungen 773 Der demokratische Brückenkopf 89Grandeur und Erlösung 94Amerikas zentrales Ziel 109Europas historischer Zeitplan 1234 Das Schwarze Loch 130Russlands neuer geopolitischer Rahmen 131Geostrategische Wunschvorstellungen 142Das Dilemma der <strong>einzige</strong>n Alternative 173


5 Der eurasische Balkan 181Der ethnische Hexenkessel 184Wettstreit mit vielen Beteiligten 197USA im Wartestand 2156 Der fernöstliche Anker 219China: regionale, aber keine <strong>Weltmacht</strong> 227Japan: nicht regional, aber international 249Amerikas Anpassung an die geopolitische Lage 2657 Schlussfolgerungen 277Eine Geostrategie für Eurasien 281Ein transeurasisches Sicherheitssystem 297Jenseits der letzten Supermacht 298Sach- und Personenregister 308


8Karten und TabellenDer chinesisch-sowjetische Block unddie drei wichtigsten strategischen Fronten 22Das Römische Imperium auf dem Höhepunkt seiner Macht 27Das Mandschu-Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht 31Ungefähre Ausdehnung der Mongolenherrschaft um 1280 34Globale Vormachtstellung Europas um 1900 37Britische Vorherrschaft 1860–1914 39Globale Vormachtstellung der USA 42Der geopolitisch zentrale Erdteil und seine kritischen Randzonen 55Eurasien im Vergleich 56Das eurasische Schachbrett 59Latente Gefahrenherde im Nahen und Mittleren Ostensowie in Zentralasien 84<strong>Die</strong> europäischen Organisationen bis 1995 90Besondere geopolitische InteressensphärenDeutschlands und Frankreichs 107Ist dies wirklich »Europa« 124EU-Mitgliedschaft: Beitrittsantrag 125Jenseits des Jahres 2010:<strong>Die</strong> kritische Zone für die Sicherheit Europas 128Verlust ideologischer Kontrolle undimperialer Einflusssphären 141Russische Militärbasen in ehemaligen Sowjetrepubliken159Der eurasischen Balkan 183<strong>Die</strong> wichtigsten ethnischen Gruppen in Zentralasien 185Der eurasische Balkan als ethnisches Mosaik 185Das Osmanische Reich und derSprach- und Kulturraum der Turkvölker 200<strong>Die</strong> konkurrierenden Interessen Russlands, der Türkei und des Iran 201Öl-Pipelines vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer 205Grenzkonflikte und Gebietsstreitigkeiten in Ostasien 225Asiatische Armeestärken 226Politische Reichweite der chinesischen Einflusssphäre 242Überschneidung der Einflusssphären Chinas und der eineramerikanisch-japanischen Anti-China- Koalition 263


VORWORTvon Hans-<strong>Die</strong>trich GenscherJedem, der sich mit internationaler Politik befasst, istZbigniew Brzezinski als scharfsinniger Analytiker und alsSicherheitsberater Präsident Carters von 1977 bis 1980 bekannt.Wer ihn in enger Zusammenarbeit als Gesprächspartnerschätzen gelernt hat, der weiß, daß er Außenpolitik immer auchals intellektuelle Herausforderung betrachtet. In zahlreichenBüchern und Artikeln hat sich Zbigniew Brzezinski mitanregenden, zuweilen auch provozierenden Thesen zu Wortgemeldet, die regelmäßig ein breites Echo gefunden haben. Dasist auch für sein neues Buch »<strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>, AmerikasStrategie der Vorherrschaft« zu erwarten. Nach dem Ende derBipolarität des kalten Krieges stehen wir vor neuen globalenHerausforderungen. Es geht darum, eine stabile Weltordnungim Zeitalter der Globalisierung zu gestalten. Und es geht um dieFrage, was wir tun müssen, um dieses Ziel zu verwirklichen.Vieles hängt dabei von Amerika, unserem wichtigstenVerbündeten ab. Zbigniew Brzezinski gibt mit seinem Bucheine amerikanische Antwort, die zum Nachdenken anregt, dieZustimmung, aber auch Widerspruch hervorrufen wird.Der Autor geht von der Feststellung aus, daß die USAdie letzte verbliebene <strong>Weltmacht</strong> nach dem Ende des KaltenKrieges sind, und charakterisiert Amerikas Vormachtstellungals »Hegemonie neuen Typs«. In der Tat: Amerikas <strong>Weltmacht</strong>stellunggründet sich nicht – wie dies bei den Weltmächtenfrüherer Epochen der Fall war – auf die imperialeUnterwerfung kleinerer Staaten oder lediglich auf seine gewaltigeMilitärmacht. Von ebensogroßer Bedeutung wie seinemilitärische Macht sind die Dynamik seiner Wirtschaft, sein


10 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>technologisches Innovationspotential und – das wird oft übersehen– die scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft des »americanway of life«. Auf dieser Grundlage ist es den USA nachdem Zweiten Weltkrieg gelungen, ein internationales Systemzu errichten, das wesentlich durch amerikanische Vorstellungengeprägt ist: die Ideale von Demokratie und die Einhaltung vonMenschenrechten, kollektive Sicherheitssysteme wie vor allemdie NATO und regionale Kooperation. Nicht das Strebennach globaler Monopolstellung, sondern die Zusammenarbeitmit anderen Staaten und Staatengruppen im Interesse globalerStabilität entspricht nach Zbigniew Brzezinski demSelbstverständnis Amerikas als einer demokratischen Macht.Der Autor macht aus seiner Überzeugung kein Hehl,daß die weltweite Präsenz der USA nicht nur im amerikanischen,sondern auch im globalen Interesse liegt.<strong>Die</strong>se Einschätzung mag auch die für das außenpolitischeSelbstverständnis Amerikas typische Gemengelage vonIdealismus und Interessen-Politik widerspiegeln. Sie ist deshalbaber nicht weniger richtig. <strong>Die</strong> europäischen Erfahrungendieses Jahrhunderts haben dies bestätigt – im guten wie imschlechten. Angesichts neuer globaler Herausforderungen– Hunger und Not, der Bevölkerungsexplosion, derGefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, derProliferation von Massenvernichtungsmitteln – gilt mehrdenn je Präsident Clintons Diktum über Amerika als die»unentbehrliche« Nation. Umgekehrt gilt auch: Amerika alleinwird diese Herausforderungen nicht meistern können.Von zentraler Bedeutung für die künftige amerikanischeAußenpolitik ist nach Zbigniew Brzezinski – und hier liegtdas Originelle seines Ansatzes – »Eurasien«, der Raum vonLissabon bis Wladiwostok. Will Amerika auch künftig seine<strong>Weltmacht</strong>stellung behalten, so muss es seine ganze Aufmerksamkeitdiesem Gebiet zuwenden. Hier leben 75 Prozent der


Vorwort 11Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichenWeltressourcen einschließlich der Energievorräte, undhier werden etwa 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktserwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostokentscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas. SeinZiel muss es deshalb sein, die politische und wirtschaftlicheEntwicklung Eurasiens in seinem Sinne mitzugestaltenund eine antiamerikanische Allianz eurasischer Staaten zuverhindern. <strong>Die</strong>se Schlussfolgerung Zbigniew Brzezinskis istein entschiedenes Plädoyer gegen einen neuen amerikanischenIsolationismus, gegen den Rückzug aus Europa und anderenGebieten in der Welt. Zugleich macht er jedoch auch klar:Imperiale Machtentfaltung um ihrer selbst willen entsprichtnicht dem Selbstverständnis der amerikanischen Demokratie.Ziel einer globalen amerikanischen Strategie muss eineinstitutionalisierte weltweite Zusammenarbeit sein, die aufechten Partnerschaften Amerikas, vor allem mit einer erweitertenEuropäischen Union, mit einem demokratischen Russland, mitChina und mit Indien als der größten Demokratie der Welt, beruht.Auch wenn Brzezinski viel von der Vorherrschaft Amerikasspricht: Er weiß um die Grenzen amerikanischer Macht undauch darum, daß die Konzentration hegemonialer Macht in denHänden eines Staates im Zeitalter der Globalisierung immerweniger zeitgemäß ist. Nicht umsonst spricht er deshalb vonden USA als der »letzten« Supermacht – was wohl heißen soll,nicht der ewigen. Für die künftige Außenpolitik Amerikas giltdem Autor Europa als natürlicher Verbündeter der USA. Einimmer engeres transatlantisches Bündnis, die fortschreitendeEinigung Europas und die Erweiterung der Europäischen Unionliegen für ihn im vitalen Interesse Amerikas. Das bedeutet auch,daß Amerika Europa als gleichwertigen Partner akzeptiert undbereit sein muss, gemeinsame Verantwortung für gemeinsameEntscheidungen zu tragen. Man kann nur wünschen, daß sich


12 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>die Einsicht von der Gleichwertigkeit Europas im amerikanischenDenken allgemein durchsetzt. Eine funktionierendetransatlantische Partnerschaft erfordert ein politisch undwirtschaftlich geeintes, handlungsfähiges Europa auf derGrundlage der deutsch-französischen Freundschaft. Deshalbplädiert Zbigniew Brzezinski für ein stärkeres EngagementAmerikas bei der Einigung einer größeren, um die StaatenMittel- und Südosteuropas erweiterten Europäischen Union.Stabilität auf der eurasischen Landmasse kann nur mit, nicht ohneund schon gar nicht gegen Russland erreicht werden. Deshalbspricht sich Brzezinski für eine umfassende Partnerschaft desWestens mit einem demokratischen Russland aus. Sie muss demgrößten Land der Erde die Möglichkeit geben, gleichberechtigtam Aufbau einer dauerhaften und gerechten Friedensordnungim Raum von Vancouver bis Wladiwostok mitzuwirken, wobeijedoch die anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunionnicht vergessen werden dürfen. Im Sinne eines »geopolitischenPluralismus« ist der Westen deshalb aufgerufen, diepolitische und wirtschaftliche Entwicklung aller dieser Staatenzu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu fördern.Geopolitischer Pluralismus erfordert für Zbigniew Brzezinskiauch einen umfassenden Dialog Amerikas mit China.Das ist ebenso begründet wie eine klare Absage an jeden–letztlich zum Scheitern verurteilten – Versuch, das bevölkerungsreichsteLand der Erde eindämmen oder gar isolierenzu wollen. Anders als manche Protagonisten einer Politik der»Eindämmung« Chinas in den USA sieht Brzezinski Amerikaund China sogar als natürliche Verbündete. Wie dem auchsei: China ist derzeit zwar noch keine <strong>Weltmacht</strong>; seine Größeund seine gewaltigen Entwicklungsperspektiven machen esjedoch faktisch schon heute zu einem »global player«. Vielspricht deshalb für Zbigniew Brzezinskis Anregung, nach derAufnahme Russlands in die G7 nun auch eine Aufnahme Chi-


Vorwort 13nas in die Gruppe der wichtigsten Industriestaaten in Betrachtzu ziehen. Beachtung verdient auch sein in die Zukunft gerichteterVorschlag zur Schaffung eines TranseurasischenSicherheitssystems, das die NATO, die OSZE, Russland, Indien,China und Japan umfasst.Das Buch von Zbigniew Brzezinski ist – wie könnte diesanders sein – eine in mancher Hinsicht sehr amerikanischeAntwort auf die Frage nach der künftigen Weltordnung. Sicherlichwerden nicht alle seine Thesen Zustimmung finden.Mancher Leser wird sich daran stoßen, daß die Terminologiedes Autors in vielem an das macht- und gleichgewichtspolitischeDenken des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts erinnert.Auch könnte man einwenden, daß die demonstrative Forderungnach einer dauerhaften amerikanischen Vorherrschaft zu einerStärkung anti-amerikanischer Tendenzen im eurasischen Raumführen könnte. <strong>Die</strong> Geschichte bietet genügend Beispiele dafür,daß Vorherrschaftsstreben in der Regel Gegenmachtbildunghervorruft. Damit würde genau das Gegenteil von dem erreicht,was Zbigniew Brzezinski für Amerika anstrebt.Dennoch wäre es eine gefährliche Illusion, zu glauben,Stabilität in Europa könne dauerhaft ohne die USA gewährleistetwerden. Ebensowenig ist dieses Ziel jedoch ohne Europaselbst zu verwirklichen. Gewiss wirft manche amerikanischeEntscheidung der jüngsten Zeit die Frage auf, ob man Europaals gleichwertigen Partner akzeptiert, aber oft ist solches Verhaltenauch die Ausfüllung eines von Europa verursachtenVakuums. <strong>Die</strong> Europäer sollten sich deshalb selbst immerwieder fragen, ob es wirklich »zuviel Amerika« oder nichtvielmehr »zuwenig Europa« gibt. Das Buch von ZbigniewBrzezinski ist auch ein Appell an die Europäer, sich über ihrenBeitrag zur künftigen Weltordnung Klarheit zu verschaffenund entschlossen zu handeln. Sein Plädoyer, den Raumvon Lissabon bis Wladiwostok als Einheit zu betrachten,


14 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>sollten alle jene bei uns beherzigen, die glauben, auch heutenoch Europa in Grenzen denken zu können. Nichts wäre imZeitalter der Globalisierung anachronistischer als eine Politikneuer Abgrenzung. Nur eine immer intensivere Zusammenarbeitzwischen den Staaten von Vancouver bis Wladiwostokkann auf Dauer Sicherheit, Wohlstand und Stabilität garantieren.Das Buch von Zbigniew Brzezinski wird ohne Zweifel einewichtige Rolle spielen bei der Diskussion über die Struktur einerkünftigen dauerhaften und gerechten Weltordnung. <strong>Die</strong>sekann nur das Gebot der Dauerhaftigkeit und Gerechtigkeiterfüllen, wenn sie gegründet ist auf das gleichberechtigteZusammenleben der Völker und auf die gleichberechtigte undglobale Zusammenarbeit der Weltregionen. Beim Bau der neuenWeltordnung dürfen nicht die Fehler wiederholt werden, diein Gestalt nationalen Vormachtstrebens am Ende des 19. und inder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Europa ausgehenddie Welt so stark erschüttert haben. Dabei wird die Beachtungder Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen einewichtige Rolle spielen.<strong>Die</strong> Geschichte macht keine Pause und sie ist auch nicht anihr Ende angelangt. Aus dem Buch von Zbigniew Brzezinskispricht das Bewusstsein um die Größe der Herausforderungen,vor denen wir jetzt stehen, aber auch der Wille, sie geistigund politisch zu bewältigen. Man kann nicht sagen, daß dieseHaltung bei uns sehr verbreitet wäre. Umso mehr sind dem anregendenBuch von Zbigniew Brzezinski in Deutschland vieleaufmerksame Leser zu wünschen.


EINLEITUNGSupermachtpolitikSeit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischenBeziehungen vor etwa fünfhundert Jahren ist Eurasien stetsdas Machtzentrum der Welt gewesen. Zu verschiedenen Zeitendrangen Völker die diesen Erdteil bewohnten – meistens diean seiner westlichen, europäischen Peripherie ansässigen – inandere Weltgegenden vor und unterwarfen sie ihrer Herrschaft.Dabei gelangten einzelne eurasische Staaten in den Rang einer<strong>Weltmacht</strong> und in den Genuss entsprechender Privilegien.Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlagetiefgreifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte tratein außereurasischer Staat nicht nur als der Schiedsrichtereurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende<strong>Weltmacht</strong> schlechthin hervor. Mit dem Scheitern und demZusammenbruch der Sowjetunion stieg ein Land der westlichenHemisphäre, nämlich die Vereinigten Staaten, zur<strong>einzige</strong>n und im Grunde ersten wirklichen <strong>Weltmacht</strong> auf.Eurasien hat jedoch dadurch seine geopolitische Bedeutung keineswegsverloren. In seiner westlichen Randzone –Europa – balltsich noch immer ein Großteil der politischen und wirtschaftlichenMacht der Erde zusammen; der Osten des Kontinents – also Asien– ist seit einiger Zeit zu einem wichtigen Zentrum wirtschaftlichenWachstums geworden und gewinnt zunehmend politischenEinfluss. Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltendmachen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertesAmerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf demeurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommeneiner dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.


16 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Folglich muss die amerikanische Außenpolitik den geopolitischenAspekt der neu entstandenen Lage im Auge behaltenund ihren Einfluss in Eurasien so einsetzen, daß ein stabileskontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten alspolitischem Schiedsrichter entsteht.Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch inZukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielenwird. Erst 1940 hatten sich zwei Aspiranten auf die <strong>Weltmacht</strong>,Adolf Hitler und Joseph Stalin, expressis verbis darauf verständigt(während der Geheimverhandlungen im November jenesJahres), daß Amerika von Eurasien ferngehalten werden sollte.Jedem der beiden war klar, daß seine <strong>Weltmacht</strong>pläne vereiteltwürden, sollte Amerika auf dem eurasischen Kontinent Fußfassen. Beide waren sich einig in der Auffassung, daß Eurasiender Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasienbeherrsche, die Welt beherrsche. Ein halbes Jahrhundert späterstellt sich die Frage neu:Wird Amerikas Dominanz in Eurasien von Dauer sein, undzu welchen Zwecken könnte sie genutzt werden?Amerikanische Politik sollte letzten Endes von der Visioneiner besseren Welt getragen sein: der Vision, im Einklang mitlangfristigen Trends sowie den fundamentalen Interessen derMenschheit eine auf wirksame Zusammenarbeit beruhendeWeltgemeinschaft zu gestalten. Aber bis es soweit ist, lautetdas Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommenzu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaftbringen und damit auch für Amerika eine Bedrohungdarstellen könnte. Ziel dieses Buches ist es deshalb, im Hinblickauf Eurasien eine umfassende und in sich geschlosseneGeostrategie zu entwerfen.Zbigniew Brzezinski Washington, DC. im April 1997


1EINE HEGEMONIE NEUEN TYPSHegemonie ist so alt wie die Menschheit. <strong>Die</strong> gegenwärtigeglobale Vorherrschaft der USA unterscheidet sich jedoch vonallen früheren historischen Beispielen durch ihr plötzlichesZustandekommen, ihr weltweites Ausmaß und die Art undWeise, auf die sie ausgeübt wird. Bedingt durch die Dynamikinternationaler Prozesse hat sich Amerika im Laufe eines<strong>einzige</strong>n Jahrhunderts von einem relativ isolierten Land derwestlichen Hemisphäre in einen Staat von nie dagewesenerAusdehnung und beispielloser Macht verwandelt.Der kurze Weg zur globalen VorherrschaftDer spanisch-amerikanische Krieg 1898 war der ersteEroberungskrieg, den die USA in Übersee führten. Er hatteeinen Vorstoß amerikanischer Macht bis weit über Hawaiiund die Philippinen hinaus in den pazifischen Raum zurFolge. Um die Jahrhundertwende entwickelten amerikanischeMilitärstrategen eifrig Theorien für eine Vorherrschaft aufzwei Weltmeeren, und die amerikanische Kriegsmarine machtesich daran, Britannien seine die Meere beherrschende Rolle


24 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>technologie der Gegenseite effektiv Schritt halten. Der wirtschaftlicheNiedergang wiederum leistete der ideologischenDemoralisierung Vorschub.Tatsächlich verdeckte die sowjetische Militärmacht – und dieFurcht, die sie im Westen auslöste – lange Zeit das eigentlicheUngleichgewicht zwischen den beiden Kontrahenten. Amerikawar einfach viel reicher, technologisch viel höher entwickelt, aufmilitärischem Gebiet flexibler und innovativer und von seinerGesellschaftsform her kreativer und ansprechender. Indessenlähmten ideologische Zwänge das schöpferische Potential derSowjetunion; sie ließen das System zunehmend erstarren, so daßseine Ökonomie immer unwirtschaftlicher und auf technologischemGebiet immer weniger konkurrenzfähig wurde. Solangekein beide Seiten vernichtender Krieg ausbrach, musste der sichhinziehende Wettstreit schließlich zugunsten Amerikas ausgehen.Der Ausgang war denn auch nicht unwesentlich von kulturellenFaktoren bestimmt. Im großen und ganzen machte sichdie von Amerika angeführte Koalition viele Wesensmerkmaleseiner politischen und sozialen Kultur zu eigen. <strong>Die</strong> beidenwichtigsten Verbündeten der USA am westlichen beziehungsweiseöstlichen Rand des eurasischen Kontinents,Deutschland und Japan, erholten sich wirtschaftlich undzollten allem Amerikanischen eine nahezu schrankenlose Bewunderung.Weit und breit sah man in den USA das Symbolund den Garanten für die Zukunft, eine Gesellschaft, die Bewunderungund nachgeahmt zu werden verdient.Im Gegensatz dazu wurde Russland von den meisten seinermitteleuropäischen Vasallen und mehr noch von seinemwichtigsten und immer anmaßender auftretenden östlichenVerbündeten China kulturell verachtet. <strong>Die</strong> Mitteleuropäerfühlten sich unter russischer Vorherrschaft von ihrer philosophischenund kulturellen Heimat, von Westeuropa undseiner christlich-abendländischen Tradition, isoliert. Schlim-


Eine Hegemonie Neuen Typs 25mer noch, sie sahen sich von einem Volk beherrscht, dem sichdie Mitteleuropäer, oft zu Unrecht, kulturell überlegen fühlten.<strong>Die</strong> Chinesen, für die der Name Russland hungriges Landbedeutet, hielten mit ihrer Verachtung nicht hinter dem Berg.Obwohl sie die von Moskau geltend gemachte Allgemeinverbindlichkeitdes sowjetischen Modells anfänglich nur insgeheimbestritten hatten, stellten sie doch binnen eines Jahrzehntsnach der kommunistischen Revolution Moskaus ideologischenFührungsanspruch ganz entschieden in Frage, und scheutensich nicht, ihre traditionelle Geringschätzung für die barbarischenNachbarn im Norden offen zu äußern.Am Ende lehnten in der Sowjetunion die 50 Prozent derBevölkerung, die keine Russen waren, Moskaus Herrschaft ab.Im Zuge des allmählichen politischen Erwachens des nichtrussischenBevölkerungsteils nahmen Ukrainer, Georgier,Armenier und Aserbaidschaner die Sowjetmacht als eine Formimperialistischer Fremdherrschaft durch ein Volk wahr, dem siesich kulturell durchaus nicht unterlegen fühlten. In Zentralasienmögen nationale Bestrebungen weniger ausgeprägt gewesensein, doch nach und nach wuchs bei den dortigen Völkern dasBewusstsein islamischer Identität, das durch das Wissen umdie in anderen Weltteilen fortschreitende Entkolonialisierungverstärkt wurde.Wie so viele Weltreiche vor ihr brach die Sowjetunionschließlich in sich zusammen und zerfiel: weniger das Opfereiner direkten militärischen Niederlage als der durch wirtschaftlicheund gesellschaftliche Spannungen beschleunigtenDesintegration. <strong>Die</strong> zutreffende Beobachtung eines Politologenbestätigt ihr Schicksal:Weltreiche sind von Natur aus politisch instabil, weil untergeordneteEinheiten fast immer nach größerer Autonomiestreben und Gegen-Eliten in solchen Einheiten fast jede sichbietende Gelegenheit nutzen, um größere Autonomie zu er-


Eine Hegemonie Neuen Typs 27sein Gebiet nach Norden, dann nach Westen und Südostenaus und beherrschte die gesamte Küstenregion des Mittelmeers.Seine größte geographische Ausdehnung erreichtedas Imperium um das Jahr 211 n. Chr. (siehe Karte aufdieser Seite). Das Römische Reich war ein zentralistischesStaatswesen mit einer autarken Wirtschaft. Mit einemhochentwickelten System politischer und wirtschaftlicherOrganisation übte es seine imperiale Macht besonnen undgezielt aus. Ein nach strategischen Gesichtspunkten angelegtes,von der Hauptstadt ausgehendes Netz von Straßenund Schiffahrtsrouten gestattete – im Falle einer größerenBedrohung – eine rasche Umverlegung und Konzentrationder in den verschiedenen Vasallenstaaten und tributpflichtigenProvinzen stationierten römischen Legionen.


28 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Auf dem Höhepunkt seiner Macht zählten die im Auslandeingesetzten römischen Legionen nicht weniger als 300 000Mann – eine beachtliche Streitkraft, die dank römischerÜberlegenheit in Taktik und Bewaffnung wie auch dank derFähigkeit des Zentrums, seine Truppen relativ schnell umzugruppieren,noch tödlicher wurde. (Erstaunlich ist, wennman bedenkt, daß die über wesentlich mehr Einwohner verfügendeSupermacht Amerika 1996 die äußeren Bereicheihrer Einflusssphäre durch 296 000 in Europa stationierte Berufssoldatenschützte.)Roms imperiale Macht beruhte indessen auch auf einemwichtigen psychologischen Sachverhalt: Civis Romanus sum– ich bin römischer Bürger – war gewissermaßen ein Ehrentitel,Grund, stolz zu sein, und für viele ein hohes Ziel. Schließlichselbst jenen gewährt, die keine gebürtigen Römer waren,war der Status des römischen Bürgers Ausdruck kulturellerÜberlegenheit, die dem imperialen Sendungsbewusstseinals Rechtfertigung diente. Sie legitimierte nicht nur RomsHerrschaft, sondern nährte auch in den ihr Unterworfenenden Wunsch, in die Reichsstruktur aufgenommen und ihrassimiliert zu werden. Somit stützte die von den Herrschernals selbstverständlich betrachtete und von den Beherrschten anerkanntekulturelle Überlegenheit die imperiale Macht.<strong>Die</strong>ses überragende und im wesentlichen unangefochteneImperium hatte etwa dreihundert Jahre Bestand. Mit Ausnahmeder Herausforderung des nahen Karthagos und, am östlichenRand, des Partherreichs, war die Welt jenseits der römischenGrenzen weitgehend unzivilisiert, schlecht organisiert, zumeistnur zu sporadischen Angriffen fähig und kulturell klar unterlegen.Solange sich das Imperium seine innenpolitische Energieund Geschlossenheit bewahren konnte, erwuchs ihm von außenkein ernst zu nehmender Konkurrent um die Macht.Der letzten Endes vollkommene Zerfall des Römischen


Eine Hegemonie Neuen Typs 29Reiches ist im wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen.Erstens wurde das Reich zu groß, um von einem <strong>einzige</strong>nZentrum aus regiert zu werden, und die Aufteilung in einewestliche und eine östliche Hälfte zerstörte automatisch dieMonopolstellung seiner Macht. Zweitens brachte die längerePhase kaiserlicher Hybris gleichzeitig einen kulturellen Hedonismushervor, der der politischen Elite nach und nach denWillen zu imperialer Größe nahm. Drittens untergrub auchdie anhaltende Inflation die Fähigkeit des Systems, sich ohnesoziale Opfer, zu denen die Bürger nicht mehr bereit waren,am Leben zu erhalten. Das Zusammenwirken von kulturellemNiedergang, politischer Teilung und Inflation machte Romsogar gegenüber den Barbarenvölkern in seiner unmittelbarenNachbarschaft wehrlos. Nach heutigen Maßstäben war Romkeine wirkliche <strong>Weltmacht</strong>, sondern eine regionale Macht.Doch angesichts der Tatsache, daß damals kein Zusammenhangzwischen den verschiedenen Kontinenten der Erde bestand,war seine regionale Macht unabhängig und in sich geschlossen,ohne unmittelbare oder selbst ferne Gegner. Das römischeImperium war somit eine Welt für sich, und seine hochentwikkeltepolitische Organisation und seine kulturelle Überlegenheitmachten es zu einem Vorläufer späterer Herrschaftsgebildevon noch größerer geographischer Ausdehnung. Trotzdemwar das römische Imperium nicht einzigartig in seiner Zeit.Das Römische und das Chinesische Reich entstanden nahezuin derselben Epoche, obwohl keines vom anderen wusste. ImJahre 221 v. Chr. (zur Zeit der Punischen Kriege zwischenRom und Karthago), nachdem Qin die bestehenden siebenStaaten zum ersten Chinesischen Reich vereinigt hatte, warmit dem Bau der Großen Mauer in Nordchina begonnen worden,um das innere Königreich von der Welt der Barbarenjenseits der Grenze abzuriegeln. Das nachfolgende Han-Reich,das um 140 v. Chr. hervorzutreten begann, war in seiner


30 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Ausdehnung und Organisation noch eindrucksvoller. Zu Beginndes christlichen Zeitalters waren nicht weniger als 57 MillionenMenschen seiner Herrschaft unterworfen. <strong>Die</strong>se riesigeBevölkerungszahl zeugte von einer außerordentlich effizientenZentralgewalt, die von einer straff organisierten Strafbürokratieausgeübt wurde. Das Einflussgebiet des Imperiums erstrecktesich bis zum heutigen Korea, in die Mongolei hinein und umfassteeinen Großteil des chinesischen Küstenbereichs. Ähnlichwie im Falle Roms zersetzten innere Missstände auch dasHan-Reich, und schließlich beschleunigte die Aufteilung desTerritoriums in drei unabhängige Königreiche im Jahre 220n.Chr. seinen Untergang.In Chinas weiterer Geschichte wechselten Periodender Wiedervereinigung und Ausdehnung mit solchen desNiedergangs und Zerfalls. Mehr als einmal gelang es China,unabhängige, von der Außenwelt abgeschlossene Reiche zuerrichten, die mit keinem gut organisierten äußeren Gegner konfrontiertwaren. Auf die Dreiteilung des Han-Reiches folgte imJahre 589 neuerlich ein dem früheren Großreich vergleichbarereinheitlicher Staat. <strong>Die</strong> Zeit der größten Machtentfaltung erlebteChina jedoch erst unter den Mandschus, insbesondere währendder frühen Qing-Dynastie. Im 18. Jahrhundert entfaltete sichChina noch einmal zu einem regelrechten Imperium, dessenHerrschaftszentrum von Vasallen und tributpflichtigen Staateneinschließlich dem heutigen Korea, Indochina, Thailand, Birmaund Nepal umgeben war. Chinas Macht erstreckte sich vom heutigenFernen Osten Russlands über das gesamte südliche Sibirienbis zum Baikalsee und weiter bis in das derzeitige Kasachstan,von dort nach Süden bis zum Indischen Ozean und wieder ostwärtsüber Laos und Nordvietnam (siehe nachfolgende Karte).Wie Rom verfügte auch dieses Imperium über einedifferenzierte Ordnung des Finanz-, Wirtschafts- undErziehungswesens sowie über ein System der Herrschaftssi-


Eine Hegemonie Neuen Typs 31herung, mit deren Hilfe das riesige Territorium und die mehrals 300 Millionen Untertanen regiert wurden. <strong>Die</strong> Machtausübunglag in den Händen einer politischen Zentralgewalt, dieüber einen erstaunlich leistungsstarken Kurierdienst verfügte.Das gesamte Imperium war in vier, strahlenförmig von Pekingausgehende Zonen eingeteilt, auf denen die Gebiete abgestecktwaren, die ein Kurier in einer Woche, in zwei, drei und vierWochen erreichen konnte. Eine zentralisierte, professionellgeschulte und durch Auswahlverfahren rekrutierte Bürokratie,bildete die Hauptstütze der Einheit.Gestärkt, legitimiert und erhalten wurde diese Einheitebenfalls wie im Falle Roms – durch ein tiefempfundenes undfest verankertes Bewusstsein kultureller Überlegenheit, dasnicht zuletzt auf dem Konfuzianismus fußte. <strong>Die</strong> besondere


32 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Betonung von Harmonie, Hierarchie und Disziplin empfahlihn geradezu als staatstragende Philosophie. China – dasHimmlische Reich – galt seinen Untertanen als der Mittelpunktdes Universums, an dessen Rändern und jenseits derselbenes nur noch Barbaren gab. Chinese zu sein bedeutete,kultiviert zu sein und verpflichtete die übrige Welt, China diegebührende Verehrung zu zollen. <strong>Die</strong>ses besondere Überlegenheitsgefühlkommt in der Antwort zum Ausdruck, die derKaiser von China – sogar in der Phase des fortschreitendenNiedergangs im späten 18. Jahrhundert – Georg III. vonEngland zukommen ließ, dessen Gesandte mit britischenIndustrieprodukten als Zeichen britischer GunstbezeugungChina für Handelsbeziehungen hatten gewinnen wollen:»Wir, durch die Gnade des Himmels Kaiser, belehren denKönig von England, unsere Anklage zur Kenntnis zu nehmen:Das Himmlische Reich, das alles beherrscht, waszwischen vier Meeren liegt ... schätzt keine seltenen undkostbaren Dinge ... auch haben wir nicht den geringstenBedarf an Manufakturen Eueres Landes ... Daher haben wirEuren Tributgesandten befohlen, sicher nach Hause zurückzukehren.Ihr, o König, sollt einfach in Einklang mit unserenWünschen handeln, indem Ihr Euere Loyalität stärkt undewigen Gehorsam schwört.«Auch der Niedergang und Zusammenbruch der verschiedenenchinesischen Reiche ist in erster Linie auf innerstaatlicheFaktoren zurückzuführen. Ebenso wie die Mongolenkonnten sich später westliche »Barbaren« durchsetzen, weilinnere Ermüdung, Sittenverfall, Hedonismus und der Mangelan wirtschaftlichen wie auch militärischen Ideen die Willenskraftder Chinesen schwächten und sie in Selbstgenügsamkeiterstarren ließen. Äußere Mächte nutzten Chinas Siechtumaus – Großbritannien im Opiumkrieg von 1839 bis 1842, Japanein Jahrhundert später. Aus dieser Erfahrung resultierte


Eine Hegemonie Neuen Typs 33das tiefe Gefühl kultureller Demütigung, das die Chinesen dasganze 20. Jahrhundert hindurch motiviert hat. <strong>Die</strong> Demütigungwar für sie deshalb so schmerzlich, weil ihr fest verankertesBewusstsein kultureller Überlegenheit mit der erniedrigendenpolitischen Wirklichkeit des nachkaiserlichen Chinas zusammenprallte.Ähnlich wie das einstige Römische Reich würdeman heutzutage das kaiserliche China als eine regionale Machteinstufen. Doch in seiner Blütezeit hatte China weltweit nichtseinesgleichen, da keine andere Macht imstande war, ihm seineHerrschaft streitig zu machen oder sich ihrer weiteren Ausdehnunggegen den Willen der Chinesen zu widersetzen. Daschinesische System war unabhängig und autark, gründete aufeiner im wesentlichen ethnisch homogenen Bevölkerung undzählte relativ wenig fremde Volksstämme in geographischerRandlage zu seinen Tributpflichtigen. Aufgrund seines großenund beherrschenden ethnischen Kerns gelang China von Zeitzu Zeit immer wieder eine imperiale Restauration. In dieserHinsicht unterschied es sich von anderen Großreichen, indenen zahlenmäßig kleine, aber vom Willen zur Macht getriebeneVölker viel größeren ethnisch fremden Bevölkerungeneine Zeitlang ihre Herrschaft auf zuzwingen vermochten.War jedoch einmal die Herrschaft solcher Reiche mit kleinerKernbevölkerung untergraben, kam eine imperialeRestauration nicht mehr in Frage. Um eine etwas genauereAnalogie zu unserem heutigen Verständnis zu finden, müssenwir uns dem erstaunlichen Phänomen des Mongolenreicheszuwenden. Es kam unter heftigen Kämpfen mit größerenund gut organisierten Gegnern zustande. Zu den Besiegtengehörten die Königreiche Polen und Ungarn, die Streitkräftedes Heiligen Römischen Reichs, die russischen Fürstentümer,das Kalifat von Bagdad und später sogar die chinesische SungDynastie.Nach dem Sieg über ihre regionalen Kontrahenten errich-


34 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>teten Dschingis Khan und seine Nachfolger eine zentralgesteuerteHerrschaft über das Gebiet, das spätere Geopolitikerals das Herzstück der Welt oder den Dreh- und Angelpunktfür globale Macht bezeichneten. Ihr euroasiatisches Kontinentalreicherstreckte sich von den Küsten des ChinesischenMeeres bis nach Anatolien in Kleinasien sowie bis nach Mitteleuropa(siehe Karte). Erst in der stalinistischen Blütezeitdes chinesisch-sowjetischen Blocks fand das Mongolenreichauf dem eurasischen Kontinent schließlich seine Entsprechung,soweit es die Reichweite der Zentralgewalt über angrenzendesGebiet betrifft.<strong>Die</strong> Großreiche der Römer, Chinesen und Mongolen warendie regionalen Vorläufer späterer Anwärter auf die <strong>Weltmacht</strong>.Wie bereits festgestellt, waren im Falle Roms und Chi-


Eine Hegemonie Neuen Typs 35nas die imperialen Strukturen sowohl in politischer als auch inwirtschaftlicher Hinsicht hoch entwickelt, während die weitverbreiteteAnerkennung der kulturellen Überlegenheit desZentrums eine wichtige Rolle für den inneren Zusammenhaltspielte. Im Unterschied dazu erhielt das Mongolenreich seinepolitische Macht dadurch aufrecht, daß es sich unmittelbarerauf die militärische Eroberung verließ, der die Anpassung (ja,sogar Assimilation) an die örtlichen Gegebenheiten folgte.<strong>Die</strong> imperiale Macht der Mongolen gründete zum größtenTeil auf militärischer Vorherrschaft. Nachdem sie durchden brillanten und rücksichtslosen Einsatz überlegenerMilitärtaktiken, die eine bemerkenswerte Fähigkeit zu schnellerTruppenbewegung und deren rechtzeitiger Konzentrationverbanden, die Herrschaft über die eroberten Gebiete erlangthatten, bildeten die Mongolen kein einheitliches WirtschaftsoderFinanzsystem aus, noch leitete sich ihre Autorität vonirgendeinem Überlegenheitsgefühl kultureller Art ab. <strong>Die</strong>Mongolenherrscher waren zahlenmäßig zu schwach, umeine sich selbst erneuernde Herrscherkaste zu bilden. Da denMongolen ein klar definiertes Selbstbewusstein in kulturelleroder ethnischer Hinsicht fremd war, fehlte es ihrer Führungseliteauch an dem nötigen Selbstvertrauen.Folglich erwiesen sich die mongolischen Herrscher als rechtanfällig für die allmähliche Assimilation an die oft höher zivilisiertenVölker, die sie erobert hatten. So wurde zum Beispieleiner der Enkel Dschingis Khans, der in dem chinesischenTeil des Khan-Reichs Kaiser geworden war, ein glühenderVerfechter des Konfuzianismus; ein anderer bekehrte sich inseiner Eigenschaft als Sultan von Persien zum Islam; und eindritter wurde der von der persischen Kultur geprägte Herrscherüber den zentralasiatischen Raum.<strong>Die</strong> Assimilation der Herrscher an die Beherrschten inErmangelung einer eigenen politischen Kultur sowie die unge-


36 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>löste Nachfolge des großen Khans und Reichsgründers führtenschließlich zum Untergang des Imperiums. Das Mongolenreichwar zu groß geworden, um von einer <strong>einzige</strong>n Zentrale ausregiert zu werden. Der Versuch, das Reich in mehrere unabhängigeGebiete zu teilen, um seinem Auseinanderfallen zu begegnen,hatte eine noch schnellere Assimilation an die örtlichenGegebenheiten zur Folge und beschleunigte die Auflösung.Nachdem sie zwei Jahrhunderte, von 1206 bis 1405, bestandenhatte, verschwand die größte Landmacht der Welt spurlos vonder historischen Bühne. Danach wurde Europa sowohl zum Sitzglobaler Macht als auch zum Brennpunkt der Kämpfe um globaleMacht. Innerhalb von etwa drei Jahrhunderten erlangte daskleine nord-westliche Randgebiet des eurasischen Kontinents –durch den Vorstoß seiner Seemacht – erstmals wirklich globaleVorherrschaft, als europäische Macht sich bis in alle Kontinenteder Erde erstreckte und sich dort behauptete. Beachtenswert ist,daß die Hegemonialstaaten Westeuropas, gemessen an denZahlen der effektiv Unterworfenen, nicht sehr bevölkerungsreichwaren. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts standenaußerhalb der westlichen Hemisphäre, die zwei Jahrhundertezuvor ebenfalls unter westeuropäischer Herrschaft gestandenhatte und vorwiegend von europäischen Emigranten und ihrenNachkommen besiedelt war, nur China, Russland, dasOsmanische Reich und Äthiopien nicht unter westeuropäischerOberhoheit (siehe Karte 5. 37).Westeuropäische Vorherrschaft bedeutete jedoch nichtAufstieg Westeuropas zur <strong>Weltmacht</strong>. <strong>Die</strong> weltweite Verbreitungseiner Zivilisation verhalf Europa zu seiner globalenVormachtstellung, seine Macht auf dem Kontinent selbst warindes bruchstückhaft. Anders als die Eroberung des eurasischenHerzlandes durch die Mongolen oder das spätere Zarenreichwar der europäische Imperialismus in Übersee dasErgebnis unablässiger transozeanischer Erkundung und der


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38 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Expansion des Seehandels. <strong>Die</strong>ser Prozess ging zudem mit einemandauernden Ringen der führenden europäischen Staateneinher, und zwar nicht nur um die überseeischen Gebiete, sondernauch um die Hegemonie in Europa selbst. Geopolitischbetrachtet, war die globale Vormachtstellung Europas nicht ausder von einem einzelnen Staat in Europa ausgeübten Hegemonieabgeleitet.Bis, grob gesagt, Mitte des 17. Jahrhunderts blieb Spaniendie herausragende europäische Macht. Ende des 15. Jahrhundertswar es auch als bedeutende Kolonialmacht mit weltweitenAmbitionen hervorgetreten. <strong>Die</strong> Religion diente als verbindendeLehre und war Movens kaiserlichen Missionseifers. Daher bedurftees eines päpstlichen Schiedsgerichts zwischen Spanienund seinem maritimen Nebenbuhler Portugal, um mit denVerträgen von Tordesilla (1494) und Saragossa (1529) eineoffizielle Aufteilung der Welt in spanische und portugiesischeKolonialsphären festzuschreiben. Konfrontiert mitHerausforderungen von seiten der Engländer, Franzosen undHolländer, konnte Spanien weder in Westeuropa selbst noch inÜbersee jemals eine echte Vormachtstellung behaupten.Nach und nach büßte Spanien seine überragende Bedeutungein, und Frankreich trat an seine Stelle. Bis 1815 war Frankreichdie dominierende europäische Macht, obwohl seine europäischenKontrahenten es auf dem Kontinent wie in Übersee ständig inSchach zu halten versuchten. Unter Napoleon war Frankreichnahe daran, ein echter europäischer Hegemonialstaat zu werden.Wäre es ihm gelungen, so hätte es vielleicht auch den Status einerbeherrschenden <strong>Weltmacht</strong> erlangen können. Indessen stelltedie Niederlage, die ihm eine Koalition europäischer Staaten beibrachte,das kontinentale Machtgleichgewicht wieder her.Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch übte Großbritannienweltweit die Seeherrschaft aus. Bis zum Ersten Weltkriegwar London das international wichtigste Finanz- und Han-


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40 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>delszentrum und »beherrschte« die britische Marine die Meere.Trotz seines Status als unbestrittene Kolonialmacht konnte dasbritische Empire ebenso wenig wie die früheren europäischenAnwärter auf globale Hegemonie Europa im Alleingang beherrschen.Statt dessen vertraute England auf eine komplizierteDiplomatie des Machtgleichgewichts und schließlich auf eineenglisch-französische Entente, um eine Vorherrschaft Russlandsrespektive Deutschlands auf dem Kontinent zu verhindern.Das britische Kolonialreich erwuchs aus einem Zusammenspielvon Entdeckungsdrang, Handelsinteresse undEroberungswillen. Aber wie bei seinen römischen und chinesischenVorläufern oder seinen französischen oder spanischenKontrahenten beruhte ein Gutteil seines Standvermögensauf dem Bewusstein kultureller Überlegenheit. Es entsprangnicht allein der subjektiven Wahrnehmung einer arrogantenFührungselite, sondern einer Einsicht, die viele nicht-britischeUntertanen teilten. Um die Worte des ersten schwarzen PräsidentenSüdafrikas, Nelson Mandela, zu zitieren: »Ich wurdein einer britischen Schule erzogen, und damals war Englanddie Heimat des Besten, was die Welt zu bieten hatte. Ichhabe den Einfluss, den England und die englische Geschichteund Kultur auf uns ausübten, nie verleugnet.« Da diese kulturelleÜberlegenheit erfolgreich zur Geltung gebracht undstillschweigend anerkannt wurde, bedurfte es keiner großenMilitärmacht, um die Autorität der englischen Krone aufrechtzuerhalten.Noch 1914 überwachten nur ein paar tausend britischeSoldaten und Verwaltungsbeamte etwa elf MillionenQuadratmeilen und hielten fast 400 Millionen nichtbritischeUntertanen im Zaum.Kurzum, Rom übte seine Macht in erster Linie dank einerausgezeichneten Militärorganisation und dem Reiz seiner kulturellenErrungenschaften aus. China stützte sich auf eine leistungsfähigeVerwaltung, um ein Reich zu regieren, das auf


Eine Hegemonie Neuen Typs 41einer gemeinsamen ethnischen Identität gründete und dessenHerrschaft durch ein hochentwickeltes Bewusstsein kulturellerÜberlegenheit untermauert wurde. Das Mongolenreichbasierte auf einer ausgefeilten, auf Eroberung abgestimmtenMilitärtaktik und einem Hang zur Assimilation. <strong>Die</strong> Briten(wie auch die Spanier, Niederländer und Franzosen) erlangtenüberragende Geltung, als sie in ihren überseeischenHandelsniederlassungen ihre Flagge hissten und ihre Machtdurch eine überlegene Militärorganisation sowie durch einanmaßendes Auftreten festigten. Aber keines dieser Reichebeherrschte die Welt. Nicht einmal Großbritannien war einewirkliche <strong>Weltmacht</strong>. Es beherrschte Europa nicht, sondernhielt es lediglich im Gleichgewicht. Ein stabiles Europa war fürdie internationale Führungsrolle Großbritanniens von zentralerBedeutung, und die Selbstzerstörung der Alten Welt markiertezwangsläufig das Ende der britischen Vormachtstellung.Im Gegensatz dazu ist der Geltungsbereich der heutigen<strong>Weltmacht</strong> Amerika einzigartig. Nicht nur beherrschendie Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sieverfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel,die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zuhalten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßenund ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können.Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen undöstlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollierenaußerdem den Persischen Golf. Wie die folgendeKarte zeigt, ist der gesamte Kontinent von amerikanischenVasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von deneneinige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären.<strong>Die</strong> Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafftdie notwendige Voraussetzung für die Ausübung globalerVorherrschaft. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg warAmerika allen anderen Staaten ökonomisch weit überlegen,


42 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>


Eine Hegemonie Neuen Typs 43stellte es doch mehr als 50 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts.<strong>Die</strong> wirtschaftliche Erholung Westeuropas undJapans und die in den folgenden Jahrzehnten zutage tretendeökonomische Dynamik Asiens schmälerten schließlich den inden ersten Nachkriegsjahren überproportional hohen Anteilder USA am globalen Bruttosozialprodukt. Trotzdem hattesich dieser und, genauer gesagt, Amerikas Anteil an der Industrieproduktionnach dem Ende des Kalten Kriegs bei etwa 30Prozent stabilisiert, auf einem Niveau, das in diesem Jahrhundertdie meiste Zeit über die Norm gewesen war. Wichtigernoch, die USA konnten ihren Vorsprung bei der Nutzung derneuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu militärischenZwecken behaupten, ja sogar noch vergrößern. Infolgedessenverfügen sie heute über einen in technologischer Hinsicht beispiellosenMilitärapparat, den <strong>einzige</strong>n mit einem weltweitenAktionsradius.<strong>Die</strong> ganze Zeit über wahrte Amerika seinen starkenWettbewerbsvorteil in den auf wirtschaftlichem Gebiet ausschlaggebendenInformationstechnologien. Seine Überlegenheitin diesen zukunftsträchtigen Wirtschaftsbereichen deutet daraufhin, daß es seine beherrschende Position auf technologischemSektor wahrscheinlich nicht so schnell einbüßen wird,zumal es in den ökonomisch entscheidenden Bereichen seinenProduktivitätsvorteil gegenüber den westeuropäischen undjapanischen Konkurrenten halten oder sogar noch ausbauenkann. Natürlich behagt Russland und China diese amerikanischeHegemonie ganz und gar nicht. Daraus machten die Vertreterbeider Staaten Anfang des Jahres 1996 während eines Peking-Besuchs des russischen Präsidenten Boris Jelzin keinen Hehl.Überdies verfügen Russland und China über Atomwaffenarsenale,die vitale Interessen der USA bedrohen könnten. DasDilemma der beiden ist allerdings, daß jeder von ihnen einenselbstmörderischen Atomkrieg auslösen, ihn aber vorerst undin absehbarer Zukunft nicht gewinnen kann. Da sie nicht in


44 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>der Lage sind, Truppenbewegungen über weite Entfernungenhinweg zu organisieren, um anderen ihren politischen Willenaufzuzwingen, und sie den Vereinigten Staaten technologisch weithinterherhinken, fehlen ihnen schlicht und einfach die Mittel, weltweitpolitischen Einfluss auszuüben. Kurz, Amerika steht in denvier entscheidenden Domänen globaler Macht unangefochten da:seine weltweite Militärpräsenz hat nicht ihresgleichen, wirtschaftlichgesehen bleibt es die Lokomotive weltweiten Wachstums,selbst wenn Japan und Deutschland in einigen Bereichen eineHerausforderung darstellen mögen (wobei freilich keines der beidenLänder sich der anderen Merkmale einer <strong>Weltmacht</strong> erfreut);es hält seinen technologischen Vorsprung in den bahnbrechendenInnovationsbereichen, und seine Kultur findet trotz einigerMißgriffe nach wie vor weltweit, vor allem bei der Jugend,unübertroffen Anklang. All das verleiht den Vereinigten Staatenvon Amerika eine politische Schlagkraft, mit der es kein andererStaat auch nur annähernd aufnehmen könnte. Das Zusammenspieldieser vier Kriterien ist es, was Amerika zu der <strong>einzige</strong>n globalenSupermacht im umfassenden Sinne macht.Das globale Ordnungssystem der USAAmerikas internationale Vorrangsstellung beschwörtunweigerlich Erinnerungen an ähnliche Herrschaftssystemefrüherer Zeiten herauf, dennoch sind die Unterschiedegravierend. Sie gehen über die Frage der territorialenAusdehnung hinaus. Der weltweite Einfluß der USA basiertauf einem globalen System unverwechselbar amerikanischenZuschnitts, das ihre innenpolitischen Erfahrungen widerspiegelt.Für diese ist der pluralistische Charakter der amerikanischenGesellschaft und Politik von zentraler Bedeutung.


Eine Hegemonie Neuen Typs 45<strong>Die</strong> früheren Imperien waren das Werk aristokratischerpolitischer Eliten und wurden in den meisten Fällen autoritäroder absolutistisch regiert. Das Gros ihrer Bevölkerungenwar entweder politisch gleichgültig oder ließ sich – wie inder jüngeren Geschichte – von imperialistischen Stimmungenund Symbolen mitreißen. Das Streben nach nationalemRuhm, the white man‘s burden, la mission civilisatrice,ganz zu schweigen von den Möglichkeiten zu persönlicherBereicherung, diente dazu, Unterstützung für imperialistischeAbenteuer zu mobilisieren und hierarchische Machtstrukturenaufrechtzuerhalten. <strong>Die</strong> öffentliche Meinung in den USA bezogzu der Frage, ob diese ihre Macht international geltend machensollten, viel weniger eindeutig Stellung. Den Eintritt Amerikasin den Zweiten Weltkrieg unterstützte die Öffentlichkeithauptsächlich wegen der Schockwirkung, die der japanischeAngriff auf Pearl Harbour ausgelöst hatte. Das Engagementder USA im Kalten Krieg fand anfangs bei der Bevölkerungnur geringe Zustimmung, zu einem Meinungsumschwungkam es erst mit der Berlin-Blockade und dem nachfolgendenKoreakrieg. Auch daß die USA aus dem Kalten Krieg als die<strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong> hervorgingen, löste in der Öffentlichkeitkeine übermäßige Schadenfreude aus; vielmehr wurde derRuf nach einer begrenzteren Definition amerikanischerVerantwortlichkeiten im Ausland laut. Aus Meinungsumfragenin den Jahren 1995 und 1996 ging hervor, daß der großenMehrheit ein <strong>Weltmacht</strong>-sharing mit anderen Staaten lieberwäre als eine Monopolstellung der USA.Aufgrund dieser innenpolitischen Faktoren stellt Amerikasglobales Ordnungssystem stärker auf die Methode derEinbindung ab (wie im Fall der besiegten Gegner Deutschlandund Japan und in jüngster Zeit sogar Russland) als diefrüheren Großmächte. Ebenso stark setzt es auf die indirekteEinflußnahme auf abhängige ausländische Eliten, derweil es


46 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>aus der Anziehungskraft seiner demokratischen Prinzipienund Institutionen großen Nutzen zieht. Der massive, abernicht greifbare Einfluss, den die USA durch die Beherrschungder weltweiten Kommunikationssysteme, der Unterhaltungsindustrieund der Massenkultur sowie durch die durchausspürbare Schlagkraft seiner technologischen Überlegenheitund seiner weltweiten Militärpräsenz ausüben, verstärkt diesesVorgehen noch. <strong>Die</strong> kulturelle Komponente der <strong>Weltmacht</strong>USA ist bisweilen unterschätzt worden; doch was immer manvon ihren ästhetischen Qualitäten halten mag, AmerikasMassenkultur besitzt, besonders für die Jugendlichen in allerWelt, eine geradezu magnetische Anziehungskraft. IhreAttraktion mag von dem hedonistischen Lebensstil herrühren,den sie entwirft; ihr weltweit großer Anklang ist jedenfallsunbestritten. Amerikanische Fernsehprogramme und Filmedecken etwa drei Viertel des Weltmarktes ab. <strong>Die</strong> amerikanischePop-Musik ist ein ebenso beherrschendes Phänomen,während Amerikas Marotten, Eßgewohnheiten, ja sogarseine Mode zunehmend imitiert werden. <strong>Die</strong> Sprache desInternets ist Englisch, und ein überwältigender Teil desComputer-Schnickschnacks stammt ebenfalls aus den USAund bestimmt somit die Inhalte der globalen Kommunikationnicht unwesentlich. Und schließlich ist Amerika zu einemMekka für jene jungen Leute geworden, die nach einer anspruchsvollenAusbildung streben. Annähernd eine halbeMillion ausländischer Studenten drängen alljährlich in dieUSA, und viele der Begabtesten kehren nie wieder nachHause zurück. Absolventen amerikanischer Universitätensind in den Regierungskabinetten aller Herren Länder vertreten.Überall auf der Welt imitieren demokratische PolitikerFührungsstil und Auftreten amerikanischer Vorbilder. Nichtnur John E Kennedy fand im Ausland eifrige Nachahmer,auch neuere (und weniger gepriesene) Politiker der USA


Eine Hegemonie Neuen Typs 47wurden zum Gegenstand sorgfältiger Studien und politischerNachahmung. Politiker aus so unterschiedlichen Kulturkreisenwie Japan und England (beispielsweise der japanischePremierminister Mitte der neunziger Jahre, Ryutaro Hashimoto,und der britische Premier Tony Blair – man beachtedabei das einem Jimmy Carter, Bill Clinton oder Bob Dolenachgebildete Tony) halten es für angebracht, Bill Clintonsverbindlich joviale Art, sein volksnahes Auftreten und seinePR-Techniken zu kopieren. <strong>Die</strong> allgemein mit der politischenTradition Amerikas verknüpften demokratischenIdeale intensivieren noch, was manche Leute als AmerikasKulturimperialismus wahrnehmen. In einer Zeit, da die demokratischeRegierungsform so weit verbreitet ist wie niemalszuvor, dient die politische Erfahrung der USA gern als Vorbild.<strong>Die</strong> Bedeutung, die immer mehr Staaten einer geschriebenenVerfassung und dem Vorrang der Legislative gegenüber dempolitischen Zweckdenken beimessen, stützt sich auf die Stärkedes amerikanischen Konstitutionalismus, wie trügerisch auchimmer dies in der Praxis ist. Auch die in jüngster Zeit bei denehemals kommunistischen Staaten zu beobachtende höhereGewichtung des zivilen gegenüber dem militärischen Element(insbesondere als Vorbedingung für eine Mitgliedschaftin der NATO) ist von dem für die USA charakteristischenVerhältnis zwischen Gesellschaft und Militär nachhaltig beeinflusst.Der Reiz und der Einfluss, die von der amerikanischenDemokratie ausgehen, werden noch ergänzt durch diewachsende Zugkraft eines freien Unternehmertums, das aufunbeschränkten Welthandel und ungehinderten Wettbewerbsetzt. Da der westeuropäische Wohlfahrtsstaat, einschließlichseiner deutschen Variante, die auf Mitbestimmung zwischenUnternehmern und Gewerkschaften abstellt, seinen wirtschaftlichenSchwung zu verlieren droht, vertreten immermehr Europäer die Meinung, man müsse sich das stärker


48 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>wettbewerbsorientierte und auch rücksichtslose amerikanischeWirtschaftsmodell zum Vorbild nehmen, wenn Europanicht weiter zurückfallen solle. Selbst in Japan erkennt manallmählich, daß größere Eigenverantwortung im Wirtschaftsgebarenein notwendiger Begleitumstand wirtschaftlichenErfolges ist. Der Nachdruck, den die USA auf Demokratieund wirtschaftliche Entwicklung legen, verbindet sich somitzu einer schlichten ideologischen Botschaft, die bei vielenAnklang findet: Das Streben nach persönlichem Erfolgvergrößert die Freiheit und schafft Wohlstand. Das ist derNährboden einer unwiderstehlichen Mischung aus Idealismusund Egoismus. Individuelle Selbstverwirklichung gilt als eingottgegebenes Recht, das gleichzeitig anderen zugute kommenkann, indem es ein Beispiel setzt und Wohlstand erzeugt.<strong>Die</strong>se Lehre zieht alle jene unweigerlich in ihren Bann, dieEnergie, Ehrgeiz und eine hohe Wettbewerbsbereitschaftmitbringen. Da der american way of life in aller Welt mehrund mehr Nachahmer findet, entsteht ein idealer Rahmenfür die Ausübung der indirekten und scheinbar konsensbestimmtenHegemonie der Vereinigten Staaten. Und wie inder amerikanischen Innenpolitik bringt diese Hegemonie einekomplexe Struktur miteinander verketteter Institutionen undVerfahrensabläufe hervor, die Übereinstimmung herstellenund ein Ungleichgewicht an Macht und Einfluss verdeckensollen. <strong>Die</strong> globale Vorherrschaft Amerikas wird solchermaßendurch ein ausgetüfteltes System von Bündnissen undKoalitionen untermauert, das buchstäblich die ganze Weltumspannt.<strong>Die</strong> Nordatlantische Allianz, die unter dem Kürzel NATOfirmiert, bindet die produktivsten und einflussreichsten StaatenEuropas an Amerika und verleiht den Vereinigten Staatenselbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtigeStimme. <strong>Die</strong> bilateralen politischen und militärischen Bezie-


Eine Hegemonie Neuen Typs 49hungen binden die bedeutendste Wirtschaftsmacht Asiensan die USA, wobei Japan (zumindest vorerst) im Grunde genommenein amerikanisches Protektorat bleibt. Darüber hinausist Amerika an den im Entstehen begriffenen transpazifischenmultilateralen Organisationen, wie dem Forum für asiatischpazifischeWirtschaftskooperation (APEC), beteiligt undnimmt auf diesem Weg großen Einfluss auf die Belange dieserRegion. Da die westliche Hemisphäre generell gegenüberauswärtigen Einflüssen abgeschirmt ist, können die USAin den bestehenden multilateralen Organisationen auf demamerikanischen Kontinent die Hauptrolle spielen. BesondereSicherheitsvorkehrungen im Persischen Golf, vor allem nachder kurzen Strafexpedition gegen den Irak im Jahre 1991, habendiese wirtschaftlich vitale Region in ein amerikanischesMilitärgebiet verwandelt. Sogar der früher sowjetische Raumist mit verschiedenen von Amerika finanziell gefördertenAbkommen zur engeren Zusammenarbeit mit der NATO, wiezum Beispiel der Partnerschaft für den Frieden, verknüpft. AlsTeil des amerikanischen Systems muss außerdem das weltweiteNetz von Sonderorganisationen, allen voran die internationalenFinanzinstitutionen, betrachtet werden. Offiziell vertreten derInternationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank globaleInteressen und tragen weltweit Verantwortung. In Wirklichkeitwerden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit derKonferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 aus der Taufehoben.Anders als frühere Imperien ist dieses gewaltige undkomplexe globale System nicht hierarchisch organisiert.Amerika steht im Mittelpunkt eines ineinandergreifendenUniversums, in dem Macht durch dauerndes Verhandeln, imDialog, durch Diffusion und in dem Streben nach offiziellemKonsens ausgeübt wird, selbst wenn diese Macht letztlichvon einer <strong>einzige</strong>n Quelle, nämlich Washington, D.C., aus


50 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>geht. Das ist auch der Ort, wo sich der Machtpoker abspielt,und zwar nach amerikanischen Regeln. Vielleicht das größteKompliment, mit dem die Welt anerkennt, daß im Mittelpunktamerikanischer globaler Hegemonie der demokratische Prozesssteht, ist das Ausmaß, in dem fremde Länder in die amerikanischeInnenpolitik verwickelt sind. Mit allen ihnen zu Gebotestehenden Mitteln bemühen sich ausländische Regierungen,jene Amerikaner zu mobilisieren, mit denen sie eine besondereethnische oder religiöse Identität verbindet. <strong>Die</strong> meisten ausländischenRegierungen setzen auch amerikanische Lobbyistenein, um ihre Sache, vor allem im Kongress, voranzubringen,gar nicht zu reden von den etwa tausend ausländischenInteressengruppen, die in Amerikas Hauptstadt registriert sind.Auch die ethnischen Gemeinschaften in den USA sind bestrebt,die Außenpolitik ihres Landes zu beeinflussen, hierbei stechendie jüdischen, griechischen und armenischen Lobmies als dieam besten organisierten hervor. <strong>Die</strong> Vormachtstellung Amerikashat somit eine neue internationale Ordnung hervorgebracht, dieviele Merkmale des amerikanischen Systems als solchem imAusland nicht nur kopiert, sondern auch institutionalisiert:-ein kollektives Sicherheitssystem einschließlich integrierterKommando und Streitkräftestrukturen (NATO,der Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan usw.);-regionale Wirtschaftkooperation (APEC, NAFTA) undspezialisierte Institutionen zu weltweiter Zusammenarbeit(die Weltbank, IWF, Welthandelsorganisation, WTO);-Verfahrensweisen, die auf konsensorientierte Entscheidungsfindungabzielen, selbst wenn die USA darin denTon angeben;-die Bevorzugung demokratischer Mitgliedschaft innerhalbder wichtigsten Bündnisse;


Eine Hegemonie Neuen Typs 51-eine rudimentäre weltweite Verfassungs- und Rechtsstruktur(angefangen mit dem Internationalen Gerichtshof IGHbis hin zu einem Sondertribunal zur Ahndung bosnischerKriegsverbrechen).<strong>Die</strong>ses System entstand bereits weitgehend in der Zeit desKalten Krieges als Teil der Bemühungen Amerikas, seinenMitkonkurrenten um die globale Vorherrschaft, die damaligeSowjetunion, in Schach zu halten. Seiner weltweiten Anwendungstand daher nichts mehr im Wege, als der Gegner taumelteund Amerika als erste und <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong> hervortrat.Treffend fasste der Politologe G. John Ikenberry die wesentlichenZüge dieses Systems wie folgt zusammen: »Es warhegemonial, insofern es um die Vereinigten Staaten zentriertwar und politische Mechanismen und Organisationsprinzipienwiderspiegelte, die die Handschrift der USA trugen. Es war liberal,da es legitimiert und durch wechselseitige Beziehungengeprägt war. <strong>Die</strong> Europäer [man könnte auch hinzufügen:die Japaner] konnten ihre gesellschaftlichen Strukturen undVolkswirtschaften wieder aufbauen und so integrieren, daßsie mit der amerikanischen Vorherrschaft im Einklang standen,ihnen aber auch genug Spielraum ließen, um mit ihreneigenen autonomen und halbautonomen politischen Systemenzu experimentieren ... <strong>Die</strong> Entwicklung dieses komplexenSystems diente dazu, die Beziehungen der bedeutenden westlichenStaaten zueinander zu domestizieren. <strong>Die</strong>se Staatenhatten sich immer wieder bekriegt, der entscheidende Punktaber ist, daß Konflikte innerhalb einer fest verankerten, stabilenund immer besser gegliederten politischen Ordnung imZaum gehalten wurden ... <strong>Die</strong> Kriegsgefahr ist vom Tisch.« 22 Aus seiner Studie: „Creating Liberal Order: The Origins and Persistence of the PostwarWestern Settlement“, Universitv of Pennsylvania, Philadelphia, November 1995


52 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Gegenwärtig gibt es niemanden, der diese beispiellose globaleVormachtstellung der USA angreifen könnte. Aber wird sieauch in Zukunft unangefochten bleiben?


2DAS EURASISCHE SCHACHBRETTAmerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Ein halbesJahrtausend lang haben europäische und asiatische Mächteund Völker in dem Ringen um die regionale Vorherrschaft unddem Streben nach <strong>Weltmacht</strong> die Weltgeschichte bestimmt.Nun gibt dort eine nichteurasische Macht den Ton an – undder Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikashängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektives sich in Eurasien behaupten kann. Auch diese politischeKonstellation ist natürlich von begrenzter Dauer. Wie langesie bestehen und was auf sie folgen wird, ist nicht nur fürAmerikas Wohlergehen, sondern auch für den internationalenFrieden von entscheidender Bedeutung. Das plötzlicheHervortreten der ersten und <strong>einzige</strong>n <strong>Weltmacht</strong> hat eine Lagegeschaffen, in der ein abruptes Ende ihrer Vorherrschaft – seies, weil sich die USA aus der Weltpolitik zurückziehen, sei es,weil plötzlich ein erfolgreicher Gegner auftaucht – erheblicheinternationale Instabilität auslösen würde. <strong>Die</strong> Folge wäreweltweite Anarchie. Der Politologe Samuel P. Huntingtondürfte dann mit seiner kühnen Behauptung recht behalten:»Ohne die Vorherrschaft der USA wird es auf der Weltmehr Gewalt und Unordnung und weniger Demokratie und


54 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>wirtschaftliches Wachstum geben, als es unter dem überragendenEinfluss der Vereinigten Staaten auf die Gestaltungder internationalen Politik der Fall ist. <strong>Die</strong> Fortdauer der amerikanischenVorherrschaft ist sowohl für das Wohlergehen unddie Sicherheit der Amerikaner als auch für die Zukunft vonFreiheit, Demokratie, freier Marktwirtschaft und internationalerOrdnung in der Welt von zentraler Bedeutung«. 3 In diesemZusammenhang kommt es darauf an, wie Amerika mit Eurasienumgeht. Eurasien ist der größte Kontinent der Erde und geopolitischaxial. Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde überzwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivstenRegionen der Erde gebieten. Ein Blick auf die Landkartegenügt, um zu erkennen, daß die Kontrolle über Eurasien fastautomatisch die über Afrika nach sich zöge und damit diewestliche Hemisphäre und Ozeanien gegenüber dem zentralenKontinent der Erde geopolitisch in eine Randlage brächte (sieheKarte Seite 55). Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung lebenin Eurasien, und in seinem Boden wie auch Unternehmen stecktder größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Eurasienstellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und ungefährdrei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen.(Siehe Tabellen Seite 56).Eurasien beherbergt auch die meisten der politisch maßgeblichenund dynamischen Staaten. <strong>Die</strong> nach den USA sechsgrößten Wirtschaftsnationen mit den höchsten Rüstungsausgabenliegen in Europa und Asien. Mit einer Ausnahme sindsämtliche Atommächte und alle Staaten, die über heimlicheNuklearwaffenpotentiale verfügen, in Eurasien zu Hause.<strong>Die</strong> beiden bevölkerungsreichsten Anwärter auf regionaleVormachtstellung und weltweiten Einfluss sind in Eurasien3 Samuel P. Huntington, “Why International Primary Matters“, InternationalSecurity (Spring 1993): 83


Das Eurasische Schachbrett 55


56 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>


Das Eurasische Schachbrett 57ansässig. Amerikas potentielle Herausforderer auf politischemund/oder wirtschaftlichem Gebiet sind ausnahmsloseurasische Staaten. Als Ganzes genommen stellt das Machtpotentialdieses Kontinents das der USA weit in den Schatten.Zum Glück für Amerika ist Eurasien zu groß, um eine politischeEinheit zu bilden. Eurasien ist mithin das Schachbrett,auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunftausgetragen wird. Obzwar man Geostrategie – den strategischenUmgang mit geopolitischen Interessen – mit Schachvergleichen kann, tummeln sich auf diesem Schachbrett nichtnur zwei, sondern mehrere, unterschiedlich starke Spieler.<strong>Die</strong> wichtigsten Spieler operieren im Westen, im Osten, imZentrum und im Süden des Schachbretts. Sowohl die westlichenals auch die östlichen Randgebiete sind dichtbesiedelteRegionen, in denen sich auf relativ engem Raum mehreremächtige Staaten drängen. Unmittelbar präsent ist die Machtder USA in der schmalen Zone an der westlichen PeripherieEurasiens. Das fernöstliche Festland hat ein immer mächtigerund unabhängig werdender Spieler inne, der eine riesigeBevölkerung beherrscht, wohingegen das – auf eine Inselkettebegrenzte – Territorium seines energiegeladenen Rivalen sowiedie Hälfte einer kleinen fernöstlichen Halbinsel der US-Macht als Stützpunkte dienen.Zwischen den westlichen und östlichen Randgebietendehnt sich ein gewaltiger, dünnbesiedelter, derzeit politischinstabiler und in organisatorischer Auflösung begriffenermittlerer Raum, der früher von einem mächtigen Konkurrentender USA okkupiert wurde – einem Gegner, der sich einstdem Ziel verschrieben hatte, Amerika aus Eurasien herauszudrängen.Südlich von diesem großen zentraleurasischen Plateauliegt eine politisch anarchische, aber an Energievorrätenreiche Region, die sowohl für die europäischen als auch dieostasiatischen Staaten sehr wichtig werden könnte und die im


58 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>äußersten Süden einen bevölkerungsreichen Staat aufweist,der regionale Hegemonie anstrebt. <strong>Die</strong>ses riesige, merkwürdiggeformte eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bisWladiwostok erstreckt – ist der Schauplatz des global play.Wenn der mittlere Bereich immer stärker in den expandierendenEinflussbereich des Westens (wo Amerika das Übergewicht hat)gezogen werden kann, wenn die südliche Region nicht unterdie Herrschaft eines <strong>einzige</strong>n Akteurs gerät und eine eventuelleVereinigung der Länder in Fernost nicht die VertreibungAmerikas von seinen Seebasen vor der ostasiatischen Küste nachsich zieht, dürften sich die USA behaupten können. Erteilen dieStaaten im mittleren Raum dem Westen eine Abfuhr, schließensich zu einer politischen Einheit zusammen und erlangen dieKontrolle über den Süden oder gehen mit dem großen östlichenMitspieler ein Bündnis ein, schwindet Amerikas Vorrangstellungin Eurasien dramatisch. Das gleiche wäre der Fall, wenn sich diebeiden großen östlichen Mitspieler irgendwie vereinigen sollten.Würden schließlich die europäischen Partner Amerika von seinenStützpunkten an der westlichen Peripherie vertreiben, wäredas gleichzeitig das Ende seiner Beteiligung am Spiel auf demeurasischen Schachbrett, auch wenn das wahrscheinlich hieße,daß der westliche Rand des Kontinents schließlich unter dieKnute eines wieder zum Leben erwachten Mitspielers geriete,der den mittleren Raum beherrscht.<strong>Die</strong> globale Hegemonie Amerikas reicht zugegebenermaßenweit, ist aber aufgrund von innen- wie außenpolitischenZwängen nicht sehr tief verankert. Amerikanische Hegemoniebesteht in der Ausübung von maßgeblichem Einfluss und,anders als bei den Weltreichen der Vergangenheit, in keinerdirekten Herrschaft. <strong>Die</strong> schiere Größe und Vielfalt Eurasienswie auch die Macht einiger seiner Staaten setzen demamerikanischen Einfluß und dem Umfang der Kontrolle über


Das Eurasische Schachbrett 59den Gang der Dinge Grenzen. <strong>Die</strong>ser Megakontinent ist einfachzu groß, zu bevölkerungsreich, kulturell zu vielfältig und bestehtaus zu vielen von jeher ehrgeizigen und politisch aktivenStaaten, um einer globalen Macht, und sei es der wirtschaftlicherfolgreichsten und politisch gewichtigsten, zu willfahren.Eine solche Sachlage verlangt geostrategisches Geschick, denvorsichtigen, sorgfältig ausgewählten und sehr besonnenenEinsatz amerikanischer Ressourcen auf dem riesigen eurasischenSchachbrett.Da Amerika im eigenen Land strikt auf Demokratie hält,kann es sich im Ausland nicht autokratisch gebärden. <strong>Die</strong>ssetzt der Anwendung von Gewalt von vornherein Grenzen,besonders seiner Fähigkeit zu militärischer Einschüchterung.Nie zuvor hat eine volksnahe Demokratie internationaleVormachtsstellung erlangt. Aber das Streben nach Machtwird kein Volk zu Begeisterungsstürmen hinreißen, außerin Situationen, in denen nach allgemeinem Empfinden


60 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>das nationale Wohlergehen bedroht oder gefährdet ist. <strong>Die</strong>für eine solche Anstrengung erforderliche ökonomischeSelbstbeschränkung (das heißt die Verteidigungsausgaben) undAufopferungsbereitschaft (auch Verluste unter Berufssoldaten)passen nicht ins demokratische Empfinden. <strong>Die</strong> StaatsformDemokratie ist einer imperialen Mobilmachung abträglich.Zudem schöpfen die meisten Amerikaner im großen undganzen keine besondere Genugtuung aus dem neuen Statusihres Landes als <strong>einzige</strong>r globaler Supermacht. PolitischesTriumphgeschrei über den Sieg Amerikas im Kalten Krieg erzeugteeher kühle Resonanz, liberale Kommentatoren machtenes sogar zur Zielscheibe eines gewissen Spottes. Mehr Anklangfanden zwei eher unterschiedliche Einschätzungen der sich fürAmerika aus seinem historischen Erfolg im Wettstreit mit derfrüheren Sowjetunion abzuleitenden Folgerungen: einerseitsdie Auffassung, das Ende des Kalten Krieges rechtfertige einebedeutende Verringerung des weltweiten Engagements derUSA, ohne Rücksicht auf die Folgen für Amerikas Positionund Ansehen in der Welt; andererseits die Meinung, nun sei dieZeit für echte multilaterale Zusammenarbeit gekommen undAmerika müsse sogar etwas von seiner Souveränität abgeben.Beide Denkrichtungen konnten sich auf treue Anhänger stützen.<strong>Die</strong> Probleme, vor die sich die amerikanische Regierunggestellt sieht, werden zudem durch die veränderte Weltlageerschwert: Vor dem direkten Einsatz von Macht schreckt manheute mehr zurück als in der Vergangenheit. Angesichts derAtomwaffen hat der Krieg als Mittel der Politik oder auchnur als Drohung dramatisch an Sinn eingebüßt. <strong>Die</strong> wachsendewirtschaftliche Verflechtung der einzelnen Staaten untereinandernimmt wirtschaftlichen Sanktionen ihre politischeWirksamkeit. Somit sind politisches Taktieren, Diplomatie,Koalitionsbildung, Mitbestimmung und der wohlerwogene


Das Eurasische Schachbrett 61Einsatz eigener politischer Aktivposten zu wesentlichen Kriterieneiner erfolgreichen Geostrategie auf dem eurasischenSchachbrett geworden.Geopolitik und GeostrategieAmerika kann seine globale Vormachtstellung nur eingedenkdes zentralen Stellenwerts der politischen Geographiein der internationalen Politik zum Tragen bringen. Napoleonsoll einmal gesagt haben, daß man über die Außenpolitik einesLandes Bescheid wisse, wenn man dessen geographischeLage kenne. Wir müssen unser Verständnis von der Bedeutungpolitischer Geographie jedoch den neuen Machtverhältnissenanpassen. In der Geschichte der internationalen Beziehungenstand zumeist die Frage der Gebietshoheit im Mittelpunktpolitischer Konflikte. Ursache der meisten Kriege, die seitdem Aufstieg des Nationalismus ausgefochten wurden, warentweder übersteigerter Nationalismus über den Erwerb einesgrößeren Territoriums oder verletzter Nationalstolz über denVerlust von geheiligtem Land. Ohne Übertreibung lässt sichsagen, daß das Streben nach Gebietserweiterung der wichtigsteImpuls für das aggressive Verhalten von Nationalstaatenwar. Manche Reiche entstanden auch dadurch, daß man sichganz behutsam entscheidender geographischer Vorteile versicherte,wie zum Beispiel Gibraltars, des Suez-Kanals oderSingapurs, die als verkehrswirtschaftliche Brückenköpfedienten.Am augenfälligsten wurde die Verknüpfung von Nationalismusund Territorialbesitz im nationalsozialistischenDeutschland und im kaiserlichen Japan. Der Versuch, dastausendjährige Reich zu errichten, ging weit über das Ziel


62 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>hinaus, alle deutschsprachigen Völker unter einem politischenDach wiederzuvereinen, und verfolgte auch den Zweck, sichdie Kornkammer Ukraine sowie andere slawische Ländereinzuverleiben, deren Bevölkerungen dem Deutschen Reichals billige Lohnsklaven dienen sollten. Ebenso waren dieJapaner von der Vorstellung besessen, ihrem Reich um nationalerMachtentfaltung und internationalen Prestigeswillen die Mandschurei und später das als Erdölproduzentwichtige Indonesien einzugliedern. Desgleichen verstandman in Russland jahrhundertelang unter nationaler Größe dieFähigkeit zu Landerwerb, und selbst Ende des 20. Jahrhundertsrechtfertigt die russische Führung ihr Beharren auf derOberhoheit über nichtrussische Völker wie die Tschetschenen,die im Umfeld einer lebenswichtigen Öl-Pipeline leben, mitder Behauptung, dies sei für Russlands Status als Großmachtunverzichtbar. Nationalstaaten werden auch weiterhin dieBausteine der Weltordnung sein. Obwohl sich die internationalePolitik nach dem Niedergang des Großmachtnationalismusund dem Verblassen der Ideologien versachlicht hat – und mitden Atomwaffen eine erhebliche Zurückhaltung im Einsatzvon Gewalt einherging –‚ wird das Weltgeschehen weiterhinvon Gebietsstreitigkeiten beherrscht, auch wenn diesegegenwärtig eher in zivilisierteren Bahnen verlaufen. Für dieaußenpolitischen Prioritäten eines Nationalstaates ist nach wievor die geographische Lage bestimmend, und auch die Größedes jeweiligen Territoriums bleibt eines der Hauptkriterien vonStatus und Macht.In jüngster Zeit allerdings hat die Frage des Territorialbesitzesfür die meisten Nationalstaaten an Bedeutung verloren.Wo Gebietsstreitigkeiten noch immer die Außenpolitik einigerStaaten prägen, haben sie ihre Ursache weniger im Strebennach nationaler Größe durch territorialen Zugewinn als imGroll darüber, daß den ethnischen Brüdern das Recht auf


Das Eurasische Schachbrett 63Selbstbestimmung verweigert wird und sie sich nicht demMutterland anschließen dürfen. Hinzu kommt die Klageüber angebliche Misshandlungen ethnischer Minderheitenim benachbarten Ausland.<strong>Die</strong> nationalen Führungseliten gelangen zunehmendzu der Erkenntnis, daß für den internationalen Rang oderEinfluss eines Staates andere als territoriale Faktorenausschlaggebender sind. Wirtschaftliches Können und seineUmsetzung in technologische Innovation kann ebenfallsein Schlüsselkriterium von Macht sein, wie das BeispielJapans überzeugend belegt. Nichtsdestoweniger gibt in derRegel immer noch die geographische Lage eines Staatesdessen unmittelbare Prioritäten vor – und je größer seinemilitärische, wirtschaftliche und politische Macht ist, destoweiter reichen auch (über die direkten Nachbarn hinaus)seine vitalen geopolitischen Interessen, sein Einfluss undsein Engagement.Bis vor kurzem noch debattierten die führenden Geopolitikerüber die Frage, ob Landmacht bedeutsamer sei alsSeemacht und welche Region Eurasiens die Herrschaftüber den gesamten Kontinent gewährleistet. Einer der prominentestengeopolitischen Theoretiker Harold Mackinderleistete Anfang dieses Jahrhunderts Pionierarbeit, als ernacheinander die Begriffe eurasische Zentralregion (dieganz Sibirien und einen Großteil Zentralasiens umfasste)und ostmitteleuropäisches Herzland prägte und jede dieserRegionen als Sprungbrett zur Erlangung der Herrschaftüber den Kontinent bezeichnete. Zum Durchbruch verhalfer seiner Theorie mit dem berühmten Ausspruch: Wer überOsteuropa herrscht, beherrscht das Herzland: Wer über dasHerzland herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über dieWeltinsel herrscht, beherrscht die Welt.Auch einige führende deutsche Vertreter der politischen


64 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Geographie beriefen sich auf die Geopolitik, um den Drangihres Landes nach Osten zu rechtfertigen, vor allem KarlHaushofer, der Mackinders Theorie den strategischen BedürfnissenDeutschlands anpasste. Ein stark vergröbertes Echoseiner Lehre konnte man aus Reden und VerlautbarungenHitlers heraushören, in denen er den für das deutsche Volknotwendigen Lebensraum hervorhob. Andere europäischeGelehrte sagten bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhundertsvoraus, daß sich das geopolitische Gravitationszentrum nachOsten verlagern und die Pazifikregion – insbesondere Amerikaund Japan – wahrscheinlich die schwindende VormachtstellungEuropas übernehmen würde. Um dem vorzubeugen, sprach sichunter anderem der französische Geopolitiker Paul Demangeonschon vor dem Ersten Weltkrieg für eine größere Einheit unterden Europäern aus.<strong>Die</strong> geopolitische Frage lautet heute nicht mehr, vonwelchem Teil Eurasiens aus der ganze Kontinent beherrschtwerden kann, und auch nicht, ob Landmacht wichtiger als Seemachtist. In der Geopolitik geht es nicht mehr um regionale,sondern um globale Dimensionen, wobei eine Dominanz aufdem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzungfür globale Vormachtstellung ist. <strong>Die</strong> VereinigtenStaaten, also eine außereurasische Macht, genießen nun internationalenVorrang; ihre Truppen sind an drei Randgebietendes eurasischen Kontinents präsent, von wo aus sie einenmassiven Einfluß auf die im eurasischen Hinterland ansässigenStaaten ausüben. Aber das weltweit wichtigste Spielfeld– Eurasien – ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann einpotentieller Nebenbuhler um die <strong>Weltmacht</strong> erwachsen könnte.Eine amerikanische Geostrategie, die die geopolitischen Interessender USA in Eurasien langfristig sichern soll, wird sichsomit als erstes auf die Hauptakteure konzentrieren und eineentsprechende Einschätzung des Terrains vornehmen müssen.


Das Eurasische Schachbrett 65Zwei grundlegende Schritte sind deshalb erforderlich:– erstens, die geostrategisch dynamischen Staaten Eurasiensauszumachen, die die internationale Kräfteverteilung möglicherweiseentscheidend zu verändern imstande sind, sowie diezentralen außenpolitischen Ziele ihrer jeweiligen politischenEliten zu entschlüsseln und die sich daraus wahrscheinlichergebenden politischen Konsequenzen zu antizipieren; des weiterensind die geopolitisch kritischen eurasischen Staaten insAuge zu fassen, die aufgrund ihrer geographischen Lage und/oder ihrer bloßen Existenz entweder auf die aktiveren geostrategischenAkteure oder auf die regionalen Gegebenheiten wieKatalysatoren wirken;– zweitens, eine spezifische US-Politik zu formulieren, diein der Lage ist, die unter Punkt eins skizzierten Verhältnisseauszubalancieren, mitzubestimmen und /oder unter Kontrollezu bekommen, um unverzichtbare US-Interessen zu wahrenund zu stärken und eine umfassendere Geostrategie zu entwerfen,die auf globaler Ebene den Zusammenhang zwischen deneinzelnen Feldern der amerikanischen Politik herstellt.Kurz, eurasische Geostrategie bedeutet für die VereinigtenStaaten den taktisch klugen und entschlossenen Umgang mitgeostrategisch dynamischen Staaten und den behutsamenUmgang mit geopolitisch katalytischen Staaten entsprechenddem Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrungseiner einzigartigen globalen Machtposition und anderen langfristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierteweltweite Zusammenarbeit. Bedient man sicheiner Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der altenWeltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialerGeostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zuverhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu


66 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zuschützen und dafür zu sorgen, daß die »Barbaren«völker sichnicht zusammenschließen.Geostrategische Akteure und geopolitischeDreh- und AngelpunkteGeostrategische Akteure sind jene Staaten, die die Kapazitätund den nationalen Willen besitzen, über ihre Grenzen hinausMacht oder Einfluss auszuüben, um den geopolitischen Statusquo in einem Amerikas Interessen berührenden Ausmaß zuverändern. Sie sind in geopolitischer Hinsicht potentiell und/oder tendenziell unberechenbar. Aus welchem Grund immer– ob im Streben nach nationaler Größe, zur Verwirklichungeiner Ideologie, aus religiösem Sendungsbewusstsein oder umwirtschaftlicher Erweiterung willen – trachten einige Staatentatsächlich nach regionaler Vorherrschaft oder nach Weltrang.Sie sind von tiefverwurzelten und vielschichtigen Motiven getrieben,die sich, um mit Robert Browning zu sprechen, am bestenso erklären lassen: ... der Mensch soll nach mehr streben,als er erreichen kann, denn wozu gibt es einen Himmel? Sieschätzen Amerikas Macht sorgfältig ab, ermitteln, inwieweitsich ihre Interessen mit denen Amerikas decken oder kollidieren,und entwerfen ihre eigenen, begrenzteren eurasischenZielsetzungen manchmal in Absprache mit der Politik derVereinigten Staaten, manchmal aber auch im Widerspruch zuihr. <strong>Die</strong>sen solcherart motivierten eurasischen Staaten muss dasbesondere Augenmerk der USA gelten.Geopolitische Dreh- und Angelpunkte hinwiederum sindStaaten, deren Bedeutung nicht aus ihrer Macht und Motivationresultiert, sondern sich vielmehr aus ihrer prekären geo-


Das Eurasische Schachbrett 67graphischen Lage und aus den Folgen ergeben, die ihrVerhalten aufgrund ihrer potentiellen Verwundbarkeit bestimmen.Geopolitische Angelpunkte sind meistens durchihre Geographie geprägt, der sie in einigen Fällen insoweiteine Sonderrolle verdanken, als sie entweder den Zugangzu geopolitisch wichtigen Gebieten festlegen oder einemgeostrategisch bedeutsamen Akteur bestimmte Ressourcenverweigern können. In einigen Fällen mag ein geopolitischerDreh- und Angelpunkt für einen dynamischen Staatoder sogar eine Region als Verteidigungsschild fungieren.Manchmal hat die schiere Existenz eines geopolitischenAngelpunkts für einen benachbarten geostrategischen Akteurerhebliche politische und kulturelle Folgen. <strong>Die</strong> wichtigstengeopolitischen Dreh- und Angelpunkte Eurasiens nach demEnde des Kalten Kriegs zu bestimmen und sie zu schützenist mithin ein weiterer entscheidender Gesichtspunkt in derglobalen Geostrategie der USA. Zu bedenken ist auch, daßzwar alle geostrategischen Akteure danach streben, in denRang einflussreicher und mächtiger Länder aufzurücken,nicht aber alle wichtigen und mächtigen Länder automatischgeostrategische Akteure sind. Während man diese relativleicht bestimmen kann, bedarf deshalb der Umstand, daßin der folgenden Liste einige zweifelsohne wichtige Ländernicht aufgenommen wurden, eingehender Begründung.Unter den gegenwärtigen globalen Gegebenheiten lassensich mindestens fünf geostrategische Hauptakteure und fünfgeopolitische Dreh- und Angelpunkte (von denen zwei vielleichtzum Teil auch als Akteure in Frage kommen) auf derneuen politischen Landkarte Eurasiens ermitteln. Frankreich,Deutschland, Russland, China und Indien sind Hauptakteure,während Großbritannien, Japan, Indonesien, obzwar zugegebenermaßenebenfalls sehr wichtige Länder, die Bedingungendafür nicht erfüllen. <strong>Die</strong> Ukraine, Aserbaidschan, Südkorea,


68 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>die Türkei und der Iran stellen geopolitische Dreh- und Angelpunktevon entscheidender Bedeutung dar, wenngleich sowohldie Türkei als auch der Iran in einem gewissen Umfang– innerhalb ihrer begrenzteren Möglichkeiten – geostrategischaktiv sind. Darauf wird in den folgenden Kapiteln näher einzugehensein. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß diewichtigsten und dynamischsten geostrategischen Akteure anEurasiens westlicher Peripherie Frankreich und Deutschlandheißen. Beide sind von der Vision eines geeinten Europas beseelt,obschon sie in der Frage, wie stark und in welcher Formein solches Europa an Amerika gebunden sein sollte, unterschiedlicheAuffassungen vertreten. Beide jedoch haben denEhrgeiz, etwas Neues in Europa zu gestalten und somit denStatus quo zu verändern. Vor allem Frankreich hat ein eigenesgeostrategisches Konzept für Europa, das sich in einigenwesentlichen Punkten von den Vorstellungen der VereinigtenStaaten unterscheidet. Es neigt zu taktischen Schachzügen, mitdenen es Russland gegen Amerika und Großbritannien gegenDeutschland auszuspielen versucht, obwohl es auf die deutschfranzösischePartnerschaft angewiesen ist, um die eigene vergleichsweiseschwache Position auszugleichen.Überdies sind sowohl Frankreich als auch Deutschlandmächtig und selbstbewusst genug, um innerhalb eines größerenregionalen Wirkungsbereichs ihren Einfluss geltend zumachen. Frankreich strebt nicht nur eine zentrale politischeRolle in einem geeinten Europa an, sondern sieht sichauch als Nukleus einer Gruppe von Mittelmeeranrainernund nordafrikanischen Staaten, die gleiche Probleme haben.Deutschland ist sich in zunehmendem Maße seines besonderenStatus als wichtigster Staat Europas bewusst – als wirtschaftlicherMotor der Region und künftige Führungsmachtder Europäischen Union (EU). Gegenüber dem jüngst ausder sowjetischen Bevormundung entlassenen Mitteleuropa


Das Eurasische Schachbrett 69empfindet es eine besondere Verantwortung, die vage an frühereVorstellungen von einem von Deutschland geführtenMitteleuropa erinnert. Zudem fühlen sich sowohl Frankreichals auch Deutschland dazu berufen, die europäischen Interessenin ihren Beziehungen mit Russland zu vertreten, undDeutschland hält wegen seiner geographischen Lage an derOption einer besonderen bilateralen Vereinbarung mit Russlandfest. Im Unterschied dazu ist Großbritannien kein geostrategischerAkteur. Es hat weniger Optionen, hegt keine ehrgeizigeVision von der Zukunft Europas und ist aufgrund seines relativenNiedergangs heute auch nicht mehr in der Lage, wie früherdie Rolle eines Schiedsrichters in Europa zu spielen. Seineambivalente Haltung gegenüber einer europäischen Einigungund sein Festhalten an einer verblassenden Sonderbeziehung zuAmerika haben Großbritannien bei den großen Entscheidungenüber Europas Zukunft zusehends bedeutungslos werden lassen.London hat sich weitgehend aus dem europäischen Spiel verabschiedet.Sir Roy Denman, früher ein hochrangiger britischerBeamter in der Europäischen Kommission, erinnert sich inseinen Memoiren, daß bereits bei der Konferenz von Messina1955, die der Schaffung einer Europäischen Union vorausging,der offizielle Sprecher für Großbritannien gegenüberden versammelten Möchtegern-Architekten Europas rundwegbehauptete:»Der zukünftige Vertrag, den Sie hier gerade erörtern, hatkeine Chance, angenommen zu werden; sollte er Zustimmungfinden, hätte er keine Chance, angewandt zu werden. Und wenner angewandt werden würde, wäre er für England völlig unannehmbar... au revoir et bonne chance.«4 Roy Denman. Missed Chances (London: Cassell, 1996).


70 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Mehr als vierzig Jahre, nachdem diese Äußerungen gefallensind, beschreiben sie im wesentlichen noch immer die britischeGrundeinstellung gegenüber einem wirklich geeinten Europa.Großbritanniens Widerwille, an der für Januar 1999 angepeiltenWirtschafts- und Währungsunion teilzunehmen, spiegelt seinemangelnde Bereitschaft wider, das britische Schicksal mit demEuropas gleichzusetzen. <strong>Die</strong> Kernaussage dieser Haltung wurdeAnfang der neunziger Jahre in folgenden Punkten zusammengefasst:– Großbritannien lehnt das Ziel einer politischen Vereinigungab.– Großbritannien tritt für ein auf Freihandel basierendesModell wirtschaftlicher Integration ein.– Großbritannien bevorzugt eine Außen- und Sicherheitspolitikund eine Verteidigungskoordination außerhalbdes institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft.– Großbritannien hat seinen Einfluss in der EG optimal verstärkt.5Natürlich bleibt Großbritannien für Amerika dennoch einwichtiger Partner. Über das Commonwealth übt es weiterhineinen gewissen globalen Einfluss aus, aber es ist weder eineumtriebige Großmacht noch wird es von einer ehrgeizigenVision beflügelt. Es ist die wichtigste Stütze der USA, einsehr loyaler Verbündeter, eine unerlässliche Militärbasis undein enger Partner bei heiklen Geheimdienstaktivitäten. SeineFreundschaft muss gepflegt werden, doch seine Politik fordertkeine dauernde Aufmerksamkeit. Es ist ein aus dem aktiven<strong>Die</strong>nst ausgeschiedener geostrategischer Akteur, der sich5 In Robert Skidelskys Beitrag über “Great Britain and the New Europe” in: From theAtlantic to the Urals, ed. David P. CaIleo and Philip H. Gordon (Arlington, Va.:1992), S. 145.


Das Eurasische Schachbrett 71auf seinem prächtigen Lorbeer ausruht und sich aus dem großeneuropäischen Abenteuer weitgehend heraushält, bei demFrankreich und Deutschland die Fäden ziehen.<strong>Die</strong> anderen europäischen Staaten mittlerer Größe, die in ihrerMehrzahl Mitglieder der NATO und/oder der EuropäischenUnion sind, folgen entweder Amerikas Beispiel oder stellensich still und heimlich hinter Deutschland oder Frankreich. IhrePolitik hat keinen weitreichenden Einfluss auf die Region, undsie befinden sich auch in keiner Position, in der sie ihre politischeOrientierung grundlegend ändern könnten. Derzeit sindsie weder geostrategische Akteure noch geopolitische DrehundAngelpunkte. Dasselbe gilt für das wichtigste potentielleNato- und EU-Mitglied Mitteleuropas, nämlich für Polen. Esist politisch und wirtschaftlich zu schwach, um als geostrategischerAkteur auftreten zu können, und es hat nur eine Wahl: inden Westen integriert zu werden. Zudem gewinnt Polen nachdem Untergang des alten Russischen Reichs und durch seinesich vertiefenden Bindungen zur Nordatlantischen Allianz undEuropäischen Union eine historisch einmalige Sicherheit, währendsich seine strategischen Möglichkeiten dadurch verringern.Russland, dies braucht nicht eigens betont zu werden, bleibtein geostrategischer Hauptakteur – trotz seiner derzeitigenSchwäche und seiner wahrscheinlich langwierigen Malaise.Seine bloße Gegenwart beeinträchtigt die seit kurzem unabhängigenStaaten innerhalb des riesigen eurasischen Raumes derfrüheren Sowjetunion ganz massiv. Es nährt ehrgeizige geopolitischeZiele, die es immer offener verkündet.Wenn es erst einmal seine alte Stärke wiedergewonnen hat,wird es auch auf seine westlichen und östlichen Nachbarn erheblichenDruck ausüben. Zudem steht Rußland immer nochvor der geostrategischen Entscheidung, wie es sich künftiggegenüber den USA verhalten wird: als Freund oder alsFeind? Es mag durchaus der Auffassung zuneigen, daß seine


72 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Chancen auf dem eurasischen Kontinent größer seien. Vielhängt von seiner innenpolitischen Entwicklung ab, und vorallem davon, ob Russland eine europäische Demokratie oderwieder ein eurasisches Imperium wird. In jedem Fall bleibt eseindeutig ein geostrategischer Akteur, auch wenn es einige seinerTeile sowie einige Schlüsselpositionen auf dem eurasischenSchachbrett inzwischen eingebüßt hat. Ebenfalls unstrittig istChinas Stellung als Hauptakteur. China ist bereits eine bedeutenderegionale Macht und strebt aufgrund seiner Geschichteals Großmacht und seiner Überzeugung, daß der chinesischeStaat der Mittelpunkt der Welt sei, wahrscheinlich nach höherenZielen. <strong>Die</strong> von seiner Führung getroffenen Entscheidungen beginnensich bereits jetzt auf die geopolitische Machtverteilungin Asien auszuwirken, während sein wirtschaftlicherAufschwung bestimmt mit noch größerer Macht und wachsendenAmbitionen einhergehen wird. Der Aufstieg eines größerenChinas wird die Taiwan-Frage wieder aufwerfen und für dieamerikanische Position im Fernen Osten nicht folgenlos bleiben.<strong>Die</strong> Demontage der Sowjetunion hat an Chinas westlichemRand eine Reihe von Staaten entstehen lassen, denen gegenüberdie chinesischen Führer nicht gleichgültig sein können. WennChina sich auf der internationalen Bühne stärker geltend macht,wird davon auch Russland betroffen sein.An der östlichen Peripherie Eurasiens besteht eine paradoxeSituation. Japan ist fraglos eine internationale Großmacht,und das amerikanischjapanische Bündnis hat man häufig– zu Recht – die wichtigste bilaterale Beziehung der USA genannt.Als eine der führenden Wirtschaftsnationen der Weltkönnte Japan zweifellos enorme politische Macht ausüben.Dennoch handelt es nicht danach, da es keine regionale Vorherrschaftanstrebt, sondern statt dessen lieber unter amerikanischemSchutz agiert. Wie Großbritannien im Hinblickauf Europa, zieht es Japan vor, sich aus dem politischen Ge-


Das Eurasische Schachbrett 73schehen auf dem asiatischen Festland herauszuhalten, nichtzuletzt deshalb, weil viele Asiaten jedem japanischen Strebennach einer regional beherrschenden politischen Rolle nach wievor mit Feindseligkeit begegnen. <strong>Die</strong>se von Zurückhaltung undSelbstdisziplin geprägte Politik der Japaner verschafft wiederumden USA die Möglichkeit, in Fernost eine zentrale Rolle inFragen der Sicherheit zu spielen. Japan ist somit kein geostrategischerAkteur, obwohl sein unverkennbares Potential, schnelleiner zu werden – insbesondere dann, wenn entweder Chinaoder Amerika ihre gegenwärtige Politik plötzlich ändern sollten– den Vereinigten Staaten einen pfleglichen Umgang mit ihremjapanischen Verbündeten zur besonderen Pflicht macht. Nichtdie japanische Außenpolitik muss Amerika im Auge behalten,sondern es muss vielmehr Japans Selbstbeherrschung sehr subtilkultivieren. Jeder merkliche Abbau in den amerikanisch-japanischenBeziehungen würde unmittelbar die Stabilität in derRegion beeinträchtigen.Leichter lässt sich begründen, weshalb Indonesien nichtzur Gruppe der dynamischen geostrategischen Akteure zählt.Indonesien ist zwar das wichtigste Land in Südostasien, vermagaber aufgrund seiner relativ unterentwickelten Wirtschaft,der innenpolitischen Unsicherheiten, des weit verstreutenArchipels und dessen Anfälligkeit für ethnische Konflikte,die durch die zentrale Rolle der chinesischen Minderheit imnationalen Finanzleben noch verschärft werden, in der Regionnur beschränkt Einfluss auszuüben. Irgendwann könnte Indonesienzu einem wichtigen Hindernis für Chinas südwärtsgerichtete Expansionsbestrebungen werden. <strong>Die</strong>sen Aspekthatte bereits Australien erkannt, das einst einen indonesischenExpansionismus fürchtete, in letzter Zeit jedoch für eine engereaustralisch-indonesische Zusammenarbeit in Fragen der regionalenSicherheit eintritt. Bevor Indonesien aber als ein in derRegion dominierender Akteur betrachtet werden kann,


74 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>muss es erst eine Phase der politischen Konsolidierung unddes fortdauernden wirtschaftlichen Erfolges durchlaufen. ImGegensatz dazu befindet sich Indien gerade in einem Prozess,sich als regionale Macht zu etablieren, und begreift sich potentiellals einen wichtigen Akteur auf der internationalen Bühne.Außerdem versteht es sich als Rivale Chinas. Indien mag darinseine langfristigen Möglichkeiten überschätzen, aber es istunstreitig der mächtigste südasiatische Staat, gewissermaßeneine regionale Hegemonialmacht. Es ist zudem eine halboffizielleAtommacht. Mit diesem Rüstungspotential will es nichtnur Pakistan einschüchtern, sondern vor allem den nuklearenArsenalen Chinas etwas Gleichwertiges entgegensetzen. Indienhat eine geostrategische Vision von seiner Rolle in der Region,sowohl gegenüber seinen Nachbarn als auch in Bezug auf denIndischen Ozean. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt tangieren seineAmbitionen die amerikanischen Interessen in Eurasien nuram Rande, und so bietet Indien, als geostrategischer Akteur,keinen Anlass zu geopolitischen Bedenken – zumindest nichtim selben Maße wie Russland oder China.<strong>Die</strong> Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf demeurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- undAngelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staatzur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine istRussland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nacheinem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegendasiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeitnach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiatenhineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangtenEigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderenislamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden.Auch China würde sich angesichts seines zunehmendenInteresses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staatenvoraussichtlich jeder Neuauflage einer russischen Vorherr-


Das Eurasische Schachbrett 75schaft über Zentralasien widersetzen. Wenn Moskau allerdingsdie Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 MillionenMenschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zumSchwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russlandautomatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendesReich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit,so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropaund würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an derOstgrenze eines vereinten Europas werden lassen.Auch das relativ kleine, dünnbesiedelte Aserbaidschanist mit seinen riesigen Energiequellen unter geopolitischemAspekt nicht zu unterschätzen. Es ist gewissermaßen der Korkenin der Flasche, die die Schätze des Kaspischen Beckensund Zentralasiens enthält. Wenn Aserbaidschan gänzlich derHerrschaft Moskaus unterworfen wird, kann die Unabhängigkeitder zentralasiatischen Staaten bedeutungslos werden.Ist Aserbaidschans Unabhängigkeit erst einmal aufgehoben,können auch seine enormen Ölvorkommen der Kontrolle Moskausunterworfen werden. Ein unabhängiges Aserbaidschan, das mit denMärkten des Westen durch Pipelines, die nicht durch russisch kontrolliertesGebiet verlaufen, verbunden ist, wird außerdem für diehochentwickelten, auf Energie angewiesenen Volks- wirtschaften einEinfallstor zu den energiereichen zentralasiatischen Republiken sein.Fast wie im Fall der Ukraine ist auch die Zukunft Aserbaidschansund Zentralasiens für das Wohl und Wehe Russlands bestimmend.<strong>Die</strong> Türkei und der Iran sind gerade dabei, sich denRückzug russischer Macht zunutze zu machen und einen gewissenEinfluss in der Region um das Kaspische Meer undZentralasien aufzubauen. Aus diesem Grund könnte man sieals geostrategische Akteure betrachten. Beide Staaten habenjedoch mit ernsten innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen,und ihre Möglichkeiten, in der Machtverteilung größereregionale Verschiebungen zu bewirken, sind begrenzt. Sie


76 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>verstehen sich außerdem als Gegner und neigen daher dazu,sich gegenseitig Einfluss streitig zu machen. So war zum Beispielin Aserbaidschan, wo die Türkei großen Einfluss gewonnenhat, die iranische Haltung (resultierend aus Sorge übereinen möglichen nationalen Aufruhr der Aseris im Iran) fürdie Russen hilfreicher. Sowohl die Türkei als auch der Iransind freilich in erster Linie wichtige geopolitische Dreh- undAngelpunkte. <strong>Die</strong> Türkei stabilisiert das Gebiet ums SchwarzeMeer, kontrolliert den Zugang von diesem zum Mittelmeer,bietet Russland im Kaukasus Paroli, bildet immer noch einGegengewicht zum islamischen Fundamentalismus und dientals der südliche Anker der NATO. Eine destabilisierte Türkeiwürde wahrscheinlich mehr Gewalt im südlichen Balkan entfesselnund es zugleich den Russen erleichtern, den seit kurzemunabhängigen Staaten im Kaukasus erneut ihre Herrschaft aufzuzwingen. Trotz seiner zweideutigen Haltung gegenüber Aserbaidschanunterstützt der Iran die neue politische Vielfalt desmittelasiatischen Raumes auf ähnlich stabilisierende Weise.Er beherrscht die östliche Küstenlinie des Persischen Golfes,während seine Unabhängigkeit, ungeachtet aller gegenwärtigenFeindseligkeiten gegenüber den Vereinigten Staaten, jederlangfristigen russischen Bedrohung der amerikanischen Interessenin der Golfregion einen Riegel vorschiebt.Südkorea schließlich ist ein geopolitischer Angelpunkt inFernost. Seine enge Bindung an die Vereinigten Staaten versetztdie Amerikaner in die Lage, ohne anmaßende Präsenzim Land selbst Japan abzuwehren und daran zu hindern, sichzu einer unabhängigen und größeren Militärmacht aufzuschwingen.Jede wichtige Veränderung im Status von Südkorea,sei es durch Vereinigung und/oder durch eine Verlagerungin eine sich ausdehnende chinesische Einflusssphäre, würdeunweigerlich Amerikas Rolle im Fernen Osten und somitauch die Japans dramatisch verändern. Zudem wird


Das Eurasische Schachbrett 77Südkorea aufgrund seiner wachsenden Wirtschaftsmacht zueinem wichtigeren Raum sui generis, den unter Kontrolle zubekommen zunehmend an Bedeutung gewinnt.<strong>Die</strong> obige Aufstellung von geostrategischen Akteuren undgeopolitischen Dreh- und Angelpunkten ist weder endgültignoch starr. Möglicherweise kommt der eine oder andere Staatirgendwann hinzu oder fällt weg. In mancherlei Hinsicht könnteman sicherlich Taiwan oder Thailand, Pakistan, vielleicht auchKasachstan oder Usbekistan in die letztere Kategorie aufnehmen.Derzeit scheint dies jedoch in keinem der genannten Fällezwingend. Würde sich am Status eines dieser Staaten etwasverändern, so stünden größere Ereignisse dahinter, die gewisseVerschiebungen in der Machtverteilung mit sich brächten,aber es ist fraglich, ob dies weitreichende Folgen katalytischerArt hätte. Losgelöst von China betrachtet, könnte die <strong>einzige</strong>Ausnahme das Taiwan-Problem darstellen. Doch problematischwürde es erst dann, wenn China den Vereinigten Staaten zumTrotz zur Eroberung der Insel massive Gewalt einsetzen sollte,weil dadurch die politische Glaubwürdigkeit der USA in Fernostganz allgemein in Gefahr geriete. <strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit, daßdergleichen eintritt, scheint gering, dennoch muss man diesenGesichtspunkt im Auge behalten, wenn man eine Politik derUSA gegenüber China entwirft.Ernste Entscheidungen und mögliche HerausforderungenStehen die Hauptakteure und wichtigsten Dreh- und Angelpunkteerst einmal fest, so kann man die großen Verlegenheiten,in denen sich die Politik der USA befindet, benennen unddie wichtigsten Herausforderungen, vor die sie auf dem eura-


78 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>sischen Kontinent gestellt sein könnte, besser vorausberechnen. Bevorwir diese Probleme in den folgenden Kapiteln umfassender erörtern,kann man sie in fünf großen Fragenkomplexen zusammenfassen:-Welches Europa sollte sich Amerika wünschen undmithin fördern?-Welches Russland ist in Amerikas Interesse, und waskann Amerika dazu beitragen?-Wie stehen die Aussichten, daß im Zentrum Eurasiensein neuer Balkan entsteht, und was sollte Amerika tun, umdie daraus entstehenden Risiken zu minimieren?-Zu welcher Rolle in Fernost sollte man China ermutigen,und welche Folgerungen sind aus dem bisher Gesagtennicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern auch fürJapan abzuleiten?-Welche neuen eurasischen Koalitionen sind denkbar, dieden Interessen der USA überaus gefährlich werden könnten,und was muss getan werden, um sie auszuschließen?<strong>Die</strong> Vereinigten Staaten haben immer ihr aufrichtiges Interessean einem vereinten Europa bekundet. Seit den Tagen derKennedy-Administration wurde gebetsmühlenhaft gleichberechtigtePartnerschaft beschworen. Das offizielle Washingtonwurde nicht müde, seinen Wunsch zu beteuern, Europa zu einerEinheit zusammenwachsen zu sehen, die mächtig genug wäre,um sich mit Amerika die Verantwortung wie auch die Lasteneiner globalen Führungsrolle zu teilen.Soweit die herrschende Sprachregelung zu diesem Thema.In der Praxis haben sich die Vereinigten Staaten weniger klarund eindeutig verhalten. Wünscht sich Washington wirklichein Europa, das als ein gleichberechtigter Partner im Weltgeschehenauftritt, oder ist ihm ein ungleiches Bündnis imGrunde lieber? Sind die USA beispielsweise bereit, sich mit


Das Eurasische Schachbrett 79Europa die Führung im Nahen Osten zu teilen, einer Region,die nicht nur geographisch viel näher an Europa liegt als anAmerika, sondern in der einzelne europäische Staaten zudemseit langem eigene Interessen verfolgen? In diesem Zusammenhangfällt einem sofort das Problem Israel ein. Auch dieeuro-amerikanischen Meinungsverschiedenheiten über dieHaltung gegenüber Iran und Irak wurden von den USA nicht alseine strittige Angelegenheit zwischen gleichgestellten Partnern,sondern als ein Fall von Insubordination behandelt. <strong>Die</strong> mehrdeutigeHaltung in der Frage nach dem Ausmaß amerikanischerUnterstützung für die europäische Einheit schloss auchdas Problem mit ein, wie Europas Einheit definiert werden undwelches Land, wenn überhaupt eines, in dem Einigungsprozessdie Führung übernehmen sollte. Washington hat London nichtdavon abgebracht, in den Verhandlungen über die europäischeIntegration Uneinigkeit zu stiften, obwohl es andererseitsdeutlich zu erkennen gab, daß es die deutsche Führungsrolleeiner Frankreichs vorziehe. Angesichts des traditionellenTenors der französischen Politik ist dies verständlich, hatteaber zur Folge, daß damit der gelegentliche Anschein einertaktischen Entente zwischen Engländern und Franzosen gefördertwurde, um Deutschland einen Strich durch die Rechnungzu ziehen, wie auch einen zeitweiligen Flirt Frankreichs mitMoskau, um die amerikanisch-deutsche Koalition wettzumachen.Das Entstehen eines wirklich geeinten Europas – vorallem, wenn dies mit konstruktiver Unterstützung Amerikasgeschehen sollte – wird bedeutsame Veränderungen in derStruktur und den Entscheidungsprozessen der NATO, deswichtigsten Verbindungsglieds zwischen Amerika und Europa,erforderlich machen. <strong>Die</strong> NATO bietet nicht nur deninstitutionellen Rahmen für die Ausübung amerikanischenEinflusses auf europäische Angelegenheiten, sondern auchdie Grundlage für die politisch entscheidende Militärpräsenz


80 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>der USA in Westeuropa. Im Zuge der europäischen Einigungwird jedoch diese Verteidigungsstruktur an die neue Wirklichkeiteines Bündnisses angepasst werden müssen, das aufeiner mehr oder minder gleichberechtigten Partnerschaft beruhtund eben nicht mehr eine Allianz ist, in der es, um traditionelleBegriffe zu gebrauchen, einen Hegemon und dessenVasallen gibt. Trotz der bescheidenen Schritte, die 1996unternommen wurden, um innerhalb der NATO die Rolleder Westeuropäischen Union (WEU), des Militärbündnissesder westeuropäischen Staaten, zu verbessern, ist diesesProblem bisher weitgehend umgangen worden. Eine wirklicheEntscheidung für ein vereintes Europa wird folglicheine weitreichende Neuordnung der NATO erzwingen, dieunweigerlich die Vormachtstellung der USA innerhalb desBündnisses schwächen wird. Kurzum, eine langfristigeamerikanische Geostrategie für Europa wird die Fragen dereuropäischen Einheit und echter Partnerschaft mit Europamit aller Bestimmtheit angehen müssen. Ein Amerika, dasein geeintes und somit unabhängigeres Europa wirklich will,wird sich mit seinem ganzen Gewicht für jene europäischenKräfte einsetzen müssen, denen die politische und wirtschaftlicheIntegration Europas ein echtes Anliegen ist. Einesolche Strategie bedeutet aber auch, sich von den Relikteneines einstmals geheiligten Sonderverhältnisses zwischenden USA und dem Vereinigten Königreich zu verabschieden.Eine Politik für ein geeintes Europa wird sich außerdem– wenn auch gemeinsam mit den Europäern – der hochsensiblenFrage nach Europas geographischer Ausdehnung stellenmüssen. Wie weit sollte sich die Europäische Union nachOsten erstrecken? Und sollten die Ostgrenzen der EU zugleichdie östliche Frontlinie der NATO sein? Ersteres istmehr eine europäische Entscheidung, wird sich aber unmittelbarauf eine NATO-Entscheidung auswirken. <strong>Die</strong>se aller-


Das Eurasische Schachbrett 81dings betrifft auch die Vereinigten Staaten, und die Stimme derUSA ist in der NATO noch immer maßgebend. Da zunehmendKonsens darüber besteht, daß die Nationen Mitteleuropas sowohlin die EU als auch in die NATO aufgenommen werdensollten, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den zukünftigenStatus der baltischen Republiken und vielleicht bald auf dender Ukraine. <strong>Die</strong>ses europäische Dilemma überschneidetsich weitgehend mit dem zweiten, bei dem es um Russlandgeht. Es ist leicht, auf die Frage nach Russlands Zukunft mitder Beteuerung zu antworten, daß man ein demokratisches,eng an Europa gebundenes Russland bevorzuge. Vermutlichbrächte ein demokratisches Russland den von Amerika undEuropa geteilten Werten mehr Sympathie entgegen undwürde demgemäß auch mit größerer Wahrscheinlichkeitein Juniorpartner bei der Gestaltung eines stabileren undkooperativeren Eurasien. Aber Russland hegt womöglichweitergehende Ambitionen und gibt sich nicht damit zufrieden,als Demokratie Anerkennung und Respekt zu erlangen.Innerhalb der russischen Außenamtsbehörde (die zumgrößten Teil aus früheren Sowjetbürokraten besteht) lebtund gedeiht ungebrochen ein tiefsitzendes Verlangen nacheiner Sonderrolle in Eurasien, die folgerichtig mit einer neuerlichenUnterordnung der nun unabhängigen ehemaligenSowjetrepubliken gegenüber Moskau einherginge. In diesemZusammenhang wittern einige einflussreiche Mitglieder derrussischen Politbürokratie sogar hinter einer freundlichenPolitik des Westens die Absicht, Russland seinen rechtmäßigenAnspruch auf <strong>Weltmacht</strong>status streitig zu machen, waszwei russische Geopolitiker folgendermaßen ausdrückten:»<strong>Die</strong> Vereinigten Staaten und die Länder der NATO sinddabei – obzwar unter größtmöglicher Rücksichtnahme auf Ruß-


82 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>lands Selbstachtung, aber nichtsdestoweniger entschiedenund beständig –‚ die geopolitischen Grundlagen zu zerstören,die, zumindest theoretisch, Russland die Hoffnung lassenkönnten, sich in der Weltpolitik den Status der Nummerzwei zu erwerben, den früher die Sowjetunion innehatte.«Überdies wird Amerika unterstellt, es verfolge einePolitik, in der »die vom Westen betriebene Neuordnungdes europäischen Raumes im Grunde von dem Gedankengeleitet ist, in diesem Teil der Welt neue, relativ kleine undschwache Nationalstaaten durch deren mehr oder wenigerenge Bindung an die NATO, die EU und dergleichen zustützen.« 6<strong>Die</strong> zitierten Stellen beschreiben zutreffend, wenn auchnicht ohne eine gewisse Feindseligkeit, das Dilemma, mitdem es die Vereinigten Staaten zu tun haben. Wie weit solltedie Wirtschaftshilfe für Russland gehen – die das Landpolitisch und wirtschaftlich zwangsläufig stärkt –‚ und inwelchem Maße sollte parallel dazu den neuerdings unabhängigenStaaten geholfen werden, ihre Unabhängigkeit zuverteidigen und zu festigen? Kann Russland gleichzeitig einmächtiger Staat und eine Demokratie sein? Sollte es seinefrühere Macht wiedererlangen, wird es dann nicht sein verlorengegangenesReichsgebiet zurückgewinnen wollen, undkann es dann sowohl ein Weltreich als auch eine Demokratiesein?Eine Politik der USA gegenüber den wichtigen geopolitischenAngelpunkten Ukraine und Aserbaidschan kann diesesProblem nicht umgehen, daher sieht sich Amerika, was das6 A. Bogaturow und W. Kremenjuk (beide Hochschullehrer am Amerika-Kanada Institutder Akademie der Wissenschaften) in “Current Relations and Prospects for InteractionBetween Russia and the United States“, Nszawissimaja Gaseta, 28. Juni1996.


Das Eurasische Schachbrett 83taktische Gleichgewicht und die strategische Zielvorstellungangeht, in einer Zwickmühle. Russlands innenpolitischeErholung ist die wesentliche Voraussetzung für seineDemokratisierung und letztlich für seine Europäisierung.Aber jede Erholung seines imperialen Potentials wäre beidenZielen abträglich. Zudem könnte es über diese Fragen zuMeinungsverschiedenheiten zwischen den Vereinigten Staatenund einigen europäischen Staaten kommen, besonders bei einerErweiterung von EU und NATO. Sollte Russland als Anwärterauf eine Mitgliedschaft in einer diesen beiden Strukturenin Betracht gezogen werden? Und was wäre dann mit derUkraine? Bei einem Ausschluss Russlands könnte der dafür zuentrichtende Preis hoch sein – die Russen würden sich in ihrenVorurteilen und Ängsten bestätigt fühlen, eine Art von selffulfillingprophecy griffe um sich –‚ aber eine Aufweichung derEU oder der NATO könnte sich nicht minder destabilisierendauswirken. Eine weitere große Unsicherheit droht in demgeopolitisch im Fluss befindlichen zentraleurasischen Raum,die durch die potentielle Verwundbarkeit der AngelpunkteTürkei und Iran noch verstärkt wird. In dem auf der folgendenKarte eingezeichneten Gebiet von der Krim im SchwarzenMeer geradewegs entlang der neuen südlichen GrenzenRusslands nach Osten bis zur chinesischen Provinz Xinjiang,von da südlich zum Indischen Ozean hinab, weiter nach Westenbis zum Roten Meer, nach Norden zum östlichen Mittelmeerund zurück zur Halbinsel Krim, leben an die 400 MillionenMenschen in etwa 25 Staaten, die fast allesamt sowohl ethnischals auch in ihrem religiösen Bekenntnis heterogen und politischweitgehend instabil sind. Einige dieser Staaten sind womöglichgerade dabei, sich Atomwaffen zu beschaffen.In diesem von leicht entflammbaren Hassgefühlenzerrissenen und von miteinander konkurrierenden mächtigenNachbarn umgebenen Raum werden sich vermutlich Kriege zwi-


84 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>schen Nationalstaaten wie auch, was noch wahrscheinlicher ist,langwierige ethnische und religiöse Konflikte abspielen. Derenregionale Ausdehnung wird maßgeblich davon abhängen, obIndien als Hemmnis wirkt oder ob es von der einen oder anderenGelegenheit Gebrauch macht, Pakistan seinen Willen aufzuzwingen.<strong>Die</strong> innenpolitischen Spannungen der Türkei und des Iranswerden sich wahrscheinlich zuspitzen und beide Staaten weitgehendum ihre stabilisierende Rolle bringen, die sie in dieser unruhigenRegion zu spielen vermögen. Derartige Entwicklungen wiederumwerden die Assimilierung der neuen zentralasiatischen Staaten andie internationale Gemeinschaft erschweren und auch die bishervor allem von den USA gewährleistete Sicherheit der Golfregionnachhaltig beeinträchtigen. Hier jedenfalls könnten Amerika und


Das Eurasische Schachbrett 85die internationale Gemeinschaft mit einer Herausforderungkonfrontiert werden, die die gegenwärtige Krise im früherenJugoslawien weit in den Schatten stellen wird.Teil des Problems in dieser instabilen Region könnteeine Bedrohung der amerikanischen Vormachtstellungdurch den islamischen Fundamentalismus werden. Unterausnutzung der religiösen Feindseligkeit gegenüber demamerican way of life und des arabisch-israelischen Konfliktskönnte der islamische Fundamentalismus einige prowestlicheRegierungen im Nahen Osten unterminieren undschließlich amerikanische Interessen in der Region, besondersam Persischen Golf, gefährden. Ohne politischenZusammenhalt und ohne die Rückendeckung eines wirklichmächtigen islamischen Staates fehlte es dem islamischenFundamentalismus an einem geopolitischen Kern,deshalb würde die von ihm ausgehende Kampfansage sichwahrscheinlich eher in diffuser Gewalt Bahn brechen.Ein geostrategisch grundlegendes Problem wirft ChinasAufstieg zur Großmacht auf. <strong>Die</strong> beste Lösung wäre es,wenn man ein zur Demokratie findendes, marktwirtschaftlichorganisiertes China in einen größeren Rahmen regionaler Zusammenarbeiteinbinden könnte. Doch was ist, wenn Chinanicht demokratisch, aber wirtschaftlich und militärisch immermächtiger wird? Ein größeres China wird es wohl geben,ganz gleich, was seine Nachbarn sich wünschen oder ausrechnen,und alle Bemühungen, dies zu verhindern, könnten einensich verschärfenden Konflikt mit China heraufbeschwören.Ein solcher Konflikt könnte die amerikanisch-japanischenBeziehungen belasten – denn es ist keineswegs sicher, ob JapanAmerikas Versuch, China Paroli zu bieten, mittragen würde –und Tokios Definition seiner Rolle in der Region mit womöglichrevolutionären Konsequenzen ändern, ja, vielleicht sogardas Ende der amerikanischen Präsenz in Fernost einläuten.


86 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Eine Übereinkunft mit China wird jedoch ihren Preis fordern.China als regionale Macht zu akzeptieren heißt mehr, als nureinem Schlagwort beizupflichten. Jede derartige regionaleVorherrschaft wird ein gewisses Gewicht haben müssen. Um esganz deutlich zu formulieren: Wie groß sollte Chinas Bannkreissein und wohin sollte sich die chinesische Einflusssphäre erstrecken,die Amerika bereit wäre, als Teil einer Politik derEinbindung Chinas in die Weltpolitik zu akzeptieren? Welcheder heute außerhalb seines politischen Radius liegenden Gebietemüssten möglicherweise dem Herrschaftsbereich des wiederauferstehenden Himmlischen Reiches zugestanden werden?Vor diesem Hintergrund gewinnt das Festhalten Amerikas anseiner militärischen Präsenz in Südkorea besondere Bedeutung.Ohne sie ist der Fortbestand des amerikanisch-japanischenVerteidigungsabkommens in seiner gegenwärtigen Formschwer vorstellbar, denn Japan wäre dann zwangsläufig militärischstärker auf sich gestellt. Hingegen dürfte jeder Schrittzu einer Wiedervereinigung Koreas die Grundlage für einefortdauernde militärische Präsenz der USA in Südkorea stören.Ein wiedervereinigtes Korea könnte sich möglicherweise gegeneine Fortdauer des US-militärischen Schutzes entscheiden; undin der Tat könnte das der Preis sein, den China dafür verlangt,daß es seinen Einfluss für die Wiedervereinigung der Halbinselgeltend macht. Kurz, das Verhältnis der USA zu China wirdunweigerlich unmittelbare Auswirkungen auf die trilateraleSicherheitspartnerschaft zwischen den USA, Japan und Koreahaben.Schließlich sollte noch auf ein paar Eventualfälle zukünftigerpolitischer Ausrichtungen hingewiesen werden, die inden jeweiligen Kapiteln ausführlicher erörtert werden. In derVergangenheit haben die Kämpfe einzelner Staaten um dieregionale Vorherrschaft die internationale Politik weitgehendbestimmt. Von nun an steht Amerika vor der Frage, wie es mit


Das Eurasische Schachbrett 87regionalen Koalitionen fertig wird, die es aus Eurasien hinauswerfenwollen und damit seinen Status als <strong>Weltmacht</strong>bedrohen. Ob sich solche Koalitionen tatsächlich bilden, umdie amerikanische Vormacht herauszufordern, wird allerdingsin sehr hohem Maße davon abhängen, wie die USA auf diehier dargelegten Zwangslagen reagieren. Das gefährlichsteSzenario wäre möglicherweise eine große Koalition zwischenChina, Russland und vielleicht dem Iran, ein nicht durchIdeologie, sondern durch die tief sitzende Unzufriedenheitaller Beteiligten geeintes antihegemoniales Bündnis. Einsolches Bündnis würde in Größenordnung und Reichweite andie Herausforderung erinnern, die einst von dem chinesischsowjetischenBlock ausging, obgleich diesmal wahrscheinlichChina die Führung übernähme und Russland sich dieseranschlösse. Um diese Eventualität, wie fern sie auch seinmag, abzuwenden, müssen die Vereinigten Staaten gleichzeitigan der westlichen, östlichen und südlichen PeripherieEurasiens geostrategisches Geschick beweisen. Eine geographischbegrenztere, womöglich aber noch folgenreichereHerausforderung könnte eine chinesisch-japanische Achse bedeuten,sollte Amerikas Stellung im Fernen Osten zusammenbrechenund sich Japans Weltsicht auf revolutionäre Weiseändern. Eine solche Achse verbände die Macht zweier außerordentlichproduktiver Völker und könnte sich eine gewisseForm von »Asianismus« als eine beide Partner vereinigendeantiamerikanische Lehre zunutze machen. Angesichts derbeiderseitigen historischen Erfahrung scheint es jedoch unwahrscheinlich,daß China und Japan in absehbarer Zukunftmiteinander ein Bündnis eingehen; allerdings sollte eine weitblickendeamerikanische Politik in Fernost sehr wohl in derLage sein, das Eintreten eines solchen Falles zu verhindern.Nicht minder abseitig, aber nicht völlig auszuschließen istdie Möglichkeit einer großen europäischen Neuorientierung,


88 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>die entweder eine deutsch-russische Absprache oder einefranzösischrussische Entente zur Folge hätte. Für beide gibt esin der Geschichte eindeutige Präzedenzfälle, und zu einer vonbeiden könnte es kommen, wenn die europäische Einigung insStocken geriete und sich die Beziehungen zwischen Europaund Amerika ernsthaft verschlechtern sollten. Tatsächlichkönnte man sich im letzteren Falle eine europäischrussischeÜbereinkunft vorstellen, die Amerika vom Kontinent ausschlösse.Gegenwärtig scheinen alle diese Varianten unwahrscheinlich,andernfalls müssten sich nicht nur die Amerikaner in ihrerEuropapolitik schwer vertun, sondern auch auf seiten der wichtigsteneuropäischen Staaten müsste eine dramatische Um- oderNeuorientierung erfolgen. Was die Zukunft auch bringen mag,der Schluss liegt nahe, daß die amerikanische Vormachtstellungauf dem eurasischen Kontinent durch Turbulenzen und vielleichtzumindest sporadische Ausbrüche von Gewalt erschüttert werdenwird. Sie könnte neuen Herausforderungen ausgesetzt sein,sei es von Anwärtern auf regionale Machtpositionen, sei es vonneuen Konstellationen. Das gegenwärtig herrschende globaleSystem der USA, innerhalb dessen die Kriegsgefahr vom Tischist, bleibt aller Wahrscheinlichkeit nur in jenen Teilen der Weltstabil, in denen sich die von einer lang-fristigen Geostrategiegelenkte Vormachtstellung Amerikas auf vergleich-bare undwesensverwandte soziopolitische Systeme stützt, die miteinanderdurch multilaterale, von Amerika dominierte Strukturenverbunden sind.


3DER DEMOKRATISCHE BRÜCKENKOPFEuropa ist Amerikas natürlicher Verbündeter. Es teilt dieselbenWerte und, im wesentlichen, dasselbe religiöse Erbe; es ist demokratischenPrinzipien verpflichtet und ist die ursprünglicheHeimat der großen Mehrzahl Amerikaner. Bei dem Versuchder Integration von ehemaligen Nationalstaaten in eine gemeinsamesupranationale Wirtschafts- und schließlich auchpolitische Union weist Europa außerdem den Weg zu größerenFormen postnationaler Organisation, jenseits der engstirnigenVisionen und zerstörerischen Leidenschaften, die demZeitalter des Nationalismus sein Gepräge gaben. Es ist bereitsdie am multilateralsten organisierte Weltregion (siehe TabelleSeite 90). Eine erfolgreich verlaufende politische Vereinigungwürde etwa 400 Millionen Menschen unter einem demokratischenDach zusammenschließen, die einen den VereinigtenStaaten vergleichbaren Lebensstandard genießen. Ein solchesEuropa müsste zwangsläufig eine <strong>Weltmacht</strong> werden.Außerdem dient Europa als Sprungbrett für die fortschreitendeAusdehnung demokratischer Verhältnisse bis tief in den euroasiatischenRaum hinein. Europas Osterweiterung würdeden Sieg der Demokratie in den neunziger Jahren festigen.Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene entspräche sieim wesentlichen dem europäischen Zivilisationsgebiet –


90 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>


Der Demokratische Brückenkopf 91dem einstigen römisch-christlichen Europa –‚ daß durchdas gemeinsame, christlich-abendländische Erbe Europasdefiniert wurde. Ein solches Europa hat es schon einmalgegeben, vor dem Zeitalter der Nationalstaaten und dernachfolgenden Teilung des Kontinents in eine amerikanischund eine sowjetisch dominierte Hälfte. Ein solches größeresEuropa könnte eine magnetische Anziehung auf die weiterim Osten liegenden Staaten ausüben und mit der Ukraine,Weißrussland und Russland ein Beziehungsgeflechtaufbauen, sie zu einer immer engeren Zusammenarbeitbewegen und im gleichen Zuge für die gemeinsamendemokratischen Prinzipien gewinnen. Schließlich könnteein solches Europa sogar ein Eckpfeiler einer unteramerikanischer Schirmherrschaft stehenden größereneurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur werden.Vor allen Dingen aber ist Europa Amerikas unverzichtbarergeopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent.<strong>Die</strong> Alte Welt ist für die USA von enormem geostrategischenInteresse. Anders als die Bindungen an Japan verankertdas Atlantische Bündnis den politischen Einfluss und diemilitärische Macht Amerikas unmittelbar auf dem eurasischenFestland. Beim derzeitigen Stand der amerikanischeuropäischenBeziehungen, da die verbündeten europäischenNationen immer noch stark auf den Sicherheitsschild derUSA angewiesen sind, erweitert sich mit jeder Ausdehnungdes europäischen Geltungsbereichs automatisch auch diedirekte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. Umgekehrtwäre ohne diese engen transatlantischen BindungenAmerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin. SeineKontrolle über den Atlantischen Ozean und die Fähigkeit,Einfluss und Macht tiefer in den euroasiatischen Raumhinein geltend zu machen, wären dann äußerst begrenzt.Das Problem besteht jedoch darin, daß es ein rein europäi-


92 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>sches Europa gar nicht gibt. Es ist eine Vision, eine Vorstellungund ein Ziel, aber noch nicht Wirklichkeit. Westeuropaist bereits ein gemeinsamer Markt, aber weit davon entfernt,eine politische Einheit zu bilden. Ein politisches Europamuss erst noch entstehen. <strong>Die</strong> Krise in Bosnien bot hierfüreinen traurigen Beweis, sofern es denn eines solchen bedurfthätte. Tatsache ist schlicht und einfach, daß Westeuropa undzunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanischesProtektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallenund Tributpflichtige von einst erinnern. <strong>Die</strong>s ist kein gesunderZustand, weder für Amerika noch für die europäischenNationen. Das Ganze wird dadurch verschlimmert, daß inEuropa ein Nachlassen innerer Vitalität bedenklich um sichgreift. Neben der Legitimität des bestehenden sozioökonomischenSystems scheint sogar das oberflächliche Bewusstseineuropäischer Identität verwundbar zu sein. In mehreren europäischenStaaten lässt sich eine Vertrauenskrise und einVerlust kreativen Schwungs feststellen, die mit einer aufdie größeren Probleme in der Welt isolationistisch und eskapistischreagierenden inneren Einstellung einhergeht. Esist nicht klar, ob die meisten Europäer überhaupt eine künftigeGroßmacht Europa wollen und ob sie bereit sind, dasfür ihr Zustandekommen Nötige zu tun. Selbst der noch inResten bestehende, gegenwärtig recht schwache europäischeAntiamerikanismus ist merkwürdig zynisch: <strong>Die</strong> Europäerbeklagen die Hegemonie der USA, nehmen deren Schutzaber durchaus in Anspruch.<strong>Die</strong> politische Dynamik zur europäischen Vereinigungging einmal von drei wesentlichen Impulsen aus: der Erinnerungan die beiden zerstörerischen Weltkriege, dem Wunschnach wirtschaftlicher Erholung sowie der Unsicherheit infolgeder sowjetischen Bedrohung. Mitte der neunziger Jahrewaren diese Impulse verpufft. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Erholung


Der Demokratische Brückenkopf 93ist im großen und ganzen eingetreten; das eigentliche Problem,das Europa in zunehmendem Maße zu schaffen macht,ist ein extrem belastendes Sozialsystem, das die Wirtschaftskraftschwächt, während der leidenschaftliche Widerstand,den einzelne Interessengruppen jedweder Reform entgegensetzen,die politische Aufmerksamkeit Europas nach innenlenkt. <strong>Die</strong> sowjetische Bedrohung ist verschwunden,wohingegen das Anliegen einiger Europäer, sich von deramerikanischen Bevormundung zu befreien, nicht in einunwiderstehliches Verlangen nach kontinentaler Einigungumgesetzt wurde. Der Auftrieb zu einem geeinten Europageht mehr und mehr von dem riesigen Behördenapparat aus,den die Europäische Gemeinschaft und ihrer Nachfolgerin,die Europäische Union, hervorgebracht hat. Der Gedankeder Einheit erfreut sich bei der Bevölkerung noch immerbemerkenswert breiter Unterstützung, aber er ist eher lau,es fehlt ihm an Begeisterung und Sendungsbewusstsein. Imallgemeinen macht das heutige Westeuropa den Eindruckeiner Reihe von gequälten, unzusammenhängenden, bequemenund dennoch sozial unzufriedenen und bekümmertenGesellschaften, die keine zukunftweisende Vision mehr haben.<strong>Die</strong> europäische Einigung ist zunehmend ein Prozess,und kein Faktum. Dennoch engagieren sich die politischenEliten zweier führender europäischer Nationen weiterhin inihrer großen Mehrheit für das Ziel, ein Europa zu gestaltenund vertraglich festzulegen, das diesen Namen wirklich verdient.Sie sind die wichtigsten Architekten Europas. Aus ihrerZusammenarbeit könnte ein seiner Vergangenheit und seinerMöglichkeiten würdiges Europa entstehen. Indes tritt jeder füreine etwas andere Vorstellung und Bauweise ein, und keinerder beiden ist stark genug, sich durchzusetzen.<strong>Die</strong>se Sachlage sollte die Vereinigten Staaten zu einem entschiedenenEingreifen veranlassen. Sie erzwingt geradezu ein


94 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Engagement Amerikas für Europas Einheit, denn derEinigungsprozess könnte sonst ins Stocken geraten und sichallmählich sogar wieder rückläufig entwickeln. Ehe sich dieUSA aber am Bau Europas beteiligen, müssen sie sich darüberim klaren sein, welche Art Europa sie wollen und zu fördernbereit sind – einen gleichberechtigten oder einen Juniorpartner–‚ und wie weit Europäische Union und NATO reichen sollen.Es erfordert zudem einen behutsamen Umgang mit den beidenwichtigsten Architekten Europas.Grandeur und ErlösungFrankreich erhofft sich durch Europa seine Wiedergeburt,Deutschland seine Erlösung. <strong>Die</strong>se unterschiedlichen Motivationenhelfen ein gutes Stück weiter, die Ziele der alternativendeutschen und französischen Europa-Entwürfe zu erklären undzu bestimmen.Für Frankreich ist Europa das Mittel, seine einstige Größewiederzuerlangen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg machtensich ernst zu nehmende französische PolitikwissenschaftlerSorgen über den fortschreitenden Verfall der zentralen RolleEuropas in der Weltpolitik. In den Jahrzehnten des KaltenKrieges schlug diese Sorge in Groll über die angelsächsischeDominanz über den Westen um, ganz zu schweigen von derVerachtung für die damit einhergehende Amerikanisierung derwestlichen Kultur. <strong>Die</strong> Schaffung eines authentischen Europa– mit den Worten Charles de Gaulles vom Atlantik bis zum Ural– sollte diesen beklagenswerten Zustand beheben. Und da in einemsolchen Europa Paris die Führung übernehmen müsste, würdeFrankreich zugleich jene grandeur zurückgewinnen, die dieFranzosen immer noch für das besondere Los ihrer Nation halten.


Der Demokratische Brückenkopf 95Deutschland sieht im Engagement für Europa die Grunde fürnationale Erlösung, während es sicherheitspolitisch auf eineenge Bindung an Amerika nicht verzichten kann. Folglich istein Europa, das seine Unabhängigkeit von Amerika stärkerhervorkehrt, keine brauchbare Alternative. Für Deutschlandbedeutet Erlösung + Sicherheit = Europa + Amerika. <strong>Die</strong>seFormel umreißt seine Haltung und Politik, macht es zugleich zuEuropas Musterknaben und zum stärkeren Anhänger Amerikasin Europa. Deutschland versteht sein glühendes Eintreten fürEuropa als historische Reinigung, als Wiederherstellung seinermoralischen und politischen Reputation. Indem es sichmit Europa entsühnt, stellt Deutschland seine Größe wiederher, während es zugleich eine Mission übernimmt, die nichtautomatisch europäische Ressentiments und Ängste gegendie Deutschen mobilisiert. Verfolgen die Deutschen nämlichihr eigenes nationales Interesse, so laufen sie Gefahr, dieanderen ‘Europäer vor den Kopf zu stoßen; fördern sie jedochdas gemeinsame Interesse Europas, trägt ihnen das dieUnterstützung und den Respekt der anderen Europäer ein.In den zentralen Fragen des Kalten Krieges war Frankreichein loyaler, engagierter und entschlossener Verbündeter. Esstand, wenn es darauf ankam, Seite an Seite mit Amerika.Ob während der beiden Berlin-Blockaden oder während derKuba-Krise, es gab keinen Zweifel an Frankreichs Festigkeit.<strong>Die</strong>se Unterstützung der NATO wurde jedoch durch dasgleichzeitige Bestreben Frankreichs gedämpft, eine politischeIdentität eigener Art zu behaupten und sich im wesentlichenseine Handlungsfreiheit zu bewahren, insbesondere in Belangen,die mit Frankreichs Status in der Welt oder der ZukunftEuropas zu tun hatten.Es hat etwas wahnhaft Obsessives, wie stark die französischePolitelite der Gedanke beschäftigt, daß Frankreichimmer noch eine <strong>Weltmacht</strong> ist. Als Premierminister Alain


96 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Juppé im Mai 1995 vor der Nationalversammlung erklärte, daß»Frankreich seinen Ruf als <strong>Weltmacht</strong> behaupten kann undmuss« (womit er nichts anderes sagte als seine Vorgänger),brach die Versammlung in spontanen Beifall aus. Mit seinemBeharren auf einer eigenen atomaren Abschreckung wollteFrankreich vor allem seine Handlungsfreiheit vergrößernund gleichzeitig Entscheidungen auf Leben und Tod, die dieAmerikaner in Sicherheitsfragen für die Allianz insgesamttrafen, beeinflussen können. Sich gegenüber der Sowjetunionzu profilieren lag Frankreich fern, denn seine atomareAbschreckung war für die sowjetische Kriegsmaschinerieallenfalls von marginaler Bedeutung. Vielmehr meinte Paris,durch eigene Atomwaffen eine Rolle in den hochrangigstenund gefährlichsten Entscheidungsfindungsprozessen desKalten Krieges einnehmen zu können. Nach französischerÜberzeugung untermauerte der Besitz von NuklearwaffenFrankreichs Anspruch, eine <strong>Weltmacht</strong> zu sein und eineStimme zu haben, die weltweit Respekt genießt. Tatsächlichstärkte er Frankreichs Position als eines der fünf VetoberechtigtenMitglieder im UN-Sicherheitsrat, die ebenfallsAtommächte sind. Aus französischer Perspektive war dienukleare Abschreckung Großbritanniens nur der verlängerteArm der amerikanischen Atommacht, vor allem da sich dieBriten auf ihr besonderes Verhältnis zu den USA festlegtenund sich bei den Bemühungen, ein unabhängiges Europa zubauen, entsprechend zurückhielten. (Daß das französischeAtomprogramm von heimlicher US-Hilfe deutlich profitierte,war in den Augen der Franzosen für das strategische Kalkülder grande nation ohne Belang.) Eine eigene atomareAbschreckung festigte nach französischem Verständnisauch Frankreichs beherrschende Position als führendeMacht auf dem europäischen Kontinent, die als <strong>einzige</strong>rkontinentaleuropäischer Staat über Atomwaffen verfügt.


Der Demokratische Brückenkopf 97Einen weiteren Ausdruck fanden Frankreichs globaleAmbitionen in den entschiedenen Anstrengungen derfranzösischen Regierungen, in den meisten französischsprachigenLändern Afrikas weiterhin als Sicherheitsmacht präsent zu sein.Trotz des nach langwierigen Kämpfen eingetretenen Verlustsvon Vietnam und Algerien und der Preisgabe weiterer Kolonienhat diese Sicherheitsmission sowie die fortbestehende Kontrolleüber verstreute Inseln im Pazifik (auf denen die umstrittenenfranzösischen Atomtests stattfanden) die französische Elite inihrer Überzeugung bestärkt, daß Frankreich eigentlich immernoch eine globale Rolle zu spielen habe, obwohl es im Grundeeine postimperiale europäische Macht mittlerer Ordnung ist. Alldies hat Frankreichs Anspruch auf die Insignien europäischerFührung aufrechterhalten und motiviert. Angesichts einesGroßbritanniens, das sich selbst an den Rand manövrierte undim wesentlichen ein Anhängsel der US-Macht ist, und einesDeutschlands, das während des Kalten Krieges lange Zeitgeteilt und durch seine jüngere Vergangenheit noch immergehandikapt war, konnte Frankreich die europäische Idee aufgreifen, sich zu eigen machen und sie als gleichbedeutendmit seiner Vorstellung von sich selbst usurpieren. Das Land,das die Idee eines souveränen Nationalstaats erfunden undNationalgefühl zu einer Art weltlichen Religion gemachthatte, fand es somit ganz natürlich, sich selbst – mit derselbenemotionalen Hingabe, die einst la patrie galt – als dieVerkörperung eines unabhängigen, aber geeinten Europa zusehen. <strong>Die</strong> Größe eines von Paris geführten Europas fiele dannauf Frankreich selbst zurück.<strong>Die</strong>se aus einem tiefen Bewusstsein historischerBestimmung gespeiste und von einem ungemeinen Stolzauf die eigene Kultur bekräftigte besondere Berufung hatbedeutende politische Implikationen. Der geopolitische Raum,den Frankreich seiner Einflusssphäre vorbehalten – oder dessen


98 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Beherrschung durch einen mächtigeren Staat es zumindestverhindern – muss, lässt sich auf der Landkarte als Halbkreiseinzeichnen. Er umfasst die Iberische Halbinsel, die nördlichenKüsten des westlichen Mittelmeers sowie Deutschland bis hinzum östlichen Mitteleuropa (siehe Karte Seite 107). Das istnicht nur der kleinste französische Sicherheitsradius, ihm giltauch das größte politische Interesse Frankreichs. Nur wenn dieUnterstützung der südeuropäischen Staaten gewährleistet unddie Rückendeckung durch Deutschland garantiert ist, kanndas Ziel, die Schaffung eines vereinigten und unabhängigen,von Frankreich geführten Europas, wirksam verfolgt werden.Und es liegt auf der Hand, daß innerhalb dieses geopolitischenOrbits der Umgang mit einem zunehmend mächtigerwerdenden Deutschland am schwierigsten sein wird.Nach französischer Vorstellung kann das zentrale Ziel einesgeeinten und unabhängigen Europa dadurch erreicht werden,daß die Vereinigung Europas unter französischer Führung mitdem allmählichen Abbau der amerikanischen Vorrangstellungauf dem Kontinent einhergeht. Wenn jedoch FrankreichEuropas Zukunft gestalten soll, muss es Deutschland miteinbeziehen, zugleich aber an die Kette legen, während esWashington seine politische Führungsrolle in europäischenAngelegenheiten Schritt für Schritt abzunehmen sucht.Daraus ergeben sich für Frankreich zwei große Dilemmas:wie läßt sich ein amerikanisches Sicherheitsengagement fürEuropa bewahren – das Frankreich weiterhin für unverzichtbarhält – und dabei die amerikanische Präsenz ständig reduzieren;wie läßt sich die deutsch-französische Partnerschaft alsökonomisch-politischer Motor der europäischen Einigungerhalten und dabei eine deutsche Führung in Europaverhindern?Wäre Frankreich eine wirkliche <strong>Weltmacht</strong>, so dürfte dieLösung dieser Zwiespalte in der Verfolgung seines zentralen


Der Demokratische Brückenkopf 99Ziels nicht schwerfallen. Mit Ausnahme Deutschlands ist keinanderer europäischer Staat von einem solchen Ehrgeiz beseeltoder von einem solchen Sendungsbewusstsein getrieben.Selbst Deutschland ließe sich vielleicht dazu verleiten, einefranzösische Führungsrolle in einem vereinten, aber (vonAmerika) unabhängigen Europa zu akzeptieren, doch nur,wenn es in Frankreich tatsächlich eine <strong>Weltmacht</strong> sähe, dieEuropa die Sicherheit verschaffen könnte, die es selbst nichtgewährleisten kann, wohl aber die USA.Deutschland kennt indessen die wahren Grenzenfranzösischer Macht. Frankreich ist wirtschaftlich vielschwächer als Deutschland, und sein Militärapparat (wie derGolfkrieg 1991 gezeigt hat) nicht sehr leistungsfähig. Er reichtgerade aus, um Staatsstreiche in afrikanischen Satellitenstaatenniederzuschlagen, doch kann er weder Europa schützen noch fernvon Europa nachhaltigen Einfluss ausüben. Frankreich ist nichtmehr und nicht weniger als eine europäische Macht mittlerenKalibers. Für die Schaffung eines gemeinsamen Europas wardaher Deutschland bereit, Frankreichs Stolz versöhnlich zustimmen, in der Frage der Sicherheit Europas war es hingegennicht bereit, der Führung Frankreichs blindlings zu folgen. Esbesteht weiterhin darauf, daß Amerika für Europas Sicherheitunverzichtbar sei.<strong>Die</strong>ser für die hohe Selbsteinschätzung der Franzosenschmerzliche Tatbestand trat nach der deutschenWiedervereinigung deutlicher zutage. Zuvor erweckte diedeutsch-französische Versöhnung den Eindruck, als fahre diepolitische Führung Frankreichs ganz gut mit der deutschenWirtschaftsdynamik. <strong>Die</strong>ser Eindruck wurde auch tatsächlichbeiden Parteien gerecht. Der deutsch-französische Gleichklangmilderte die traditionellen europäischen Ängste vor Deutschlandund bestärkte die Franzosen in ihren Illusionen, weil derEindruck entstand, die Gestaltung Europas finde unter der


100 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Führung Frankreichs und der Mitwirkung eines wirtschaftlichdynamischen Westdeutschlands statt.<strong>Die</strong> deutsch-französische Versöhnung war, trotz ihrerMissverständnisse, eine positive Entwicklung für Europa,und ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug bewertetwerden. Sie hat sich als eine entscheidende Grundlage füralle in dem schwierigen Prozess der Einigung bisher erzieltenFortschritte erwiesen. Insofern entsprach sie auch voll undganz den Interessen der USA und stand im Einklang mit demlangjährigen Engagement der Amerikaner, eine transnationaleZusammenarbeit in Europa voranzubringen. Ein Scheitern derdeutschfranzösischen Kooperation wäre ein fataler Rückschlagfür Europa und ein Desaster für die Position der VereinigtenStaaten in Europa.Stillschweigende Unterstützung von seiten der USAermöglichte es Frankreich und Deutschland, den Prozessder europäischen Einigung voranzutreiben. <strong>Die</strong> deutscheWiedervereinigung war für Frankreich ein zusätzlicherAnsporn, Deutschland in ein verbindliches Rahmenwerkeinzugliedern. So legten sich am 6. Dezember 1990 derfranzösische Präsident und der deutsche Kanzler auf das Zieleines föderalen Europa (Europa der Bundesstaaten) fest, undzehn Tage später erteilte der EU-Gipfel über die politischeUnion in Rom – ungeachtet britischer Vorbehalte – den zwölfAußenministern der europäischen Gemeinschaft den Auftrag,einen Vertragsentwurf für eine politische Union vorzubereiten.Darüber hinaus veränderte Deutschlands Wiedervereinigungdie tatsächlichen Parameter europäischer Politik erheblich. FürRußland wie für Frankreich bedeutete sie eine geopolitischeNiederlage. Das vereinte Deutschland war nun nicht nurmehr der politische Juniorpartner Frankreichs, es wurdeautomatisch die unbestreitbar erste Macht in Westeuropaund – vor allem wegen seiner beträchtlichen Beitrags


Der Demokratische Brückenkopf 101zahlungen zur Unterstützung der wichtigsten internationalenInstitutionen sogar teilweise eine <strong>Weltmacht</strong>. 7 <strong>Die</strong> neue Realitätbewirkte auf beiden Seiten eine gewisse Ernüchterung, dennDeutschland war jetzt, immer noch als Frankreichs Partner,aber nicht mehr als dessen Protegé, in der Lage und Willens,seine Vision eines zukünftigen Europas zu artikulieren undvoranzutreiben. Da Frankreich nunmehr weniger politischeDruckmittel in der Hand hatte, sah es sich zu verschiedenenKonsequenzen gezwungen. In irgendeiner Form musste esgrößeren Einfluss innerhalb der NATO gewinnen – von der essich aus Protest außerdem seine relative Schwäche mit größerendiplomatischen Manövern kompensieren. Eine Rückkehr indie NATO könnte Frankreich mehr Einflussmöglichkeiten aufAmerika einräumen, gelegentliche Flirts mit Moskau oderLondon könnten sowohl auf Amerika als auch auf Deutschlandvon außen Druck erzeugen.Infolgedessen kehrte Frankreich, eher aus taktischen Gründendenn aus Überzeugung, in die Kommandostruktur der NATOzurück. De facto beteiligte es sich bereits 1994 wieder aktivan den politischen und militärischen Entscheidungsprozessender NATO; seit Ende 1995 sind der französische Außen- undder Verteidigungsminister regelmäßig bei den Sitzungen desVerteidigungsbündnisses anwesend. Allerdings zu einementsprechenden Preis: Nachdem sie erst einmal voll integriertwaren, bekräftigten sie erneut ihre Entschlossenheit, die Strukturdes Bündnisses zu reformieren, um auf mehr Gleichgewichtzwischen der amerikanischen Führung und den europäischenTeilnehmern hinzuwirken.7 Beispielsweise bestreitet Deutschland einen Prozentanteil am Gesamtbudget derEU von 28,5%‚ der NATO von 22,8 %‚ der UN von 8,93 %; zudem ist es der größteAktionär der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.


102 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong><strong>Die</strong> Franzosen wünschten ein ausgeprägteres Profil und einegrößere Rolle für eine kollektive europäische Komponente,wie der französische Außenminister Hervé de Charette in einerRede vom 8. April 1996 darlegte: »Für Frankreich besteht dasgrundlegende Ziel [der Annäherung] darin, eine europäischeIdentität innerhalb des Bündnisses geltend zu machen, dieoperationell glaubwürdig und politisch sichtbar ist.«Gleichzeitig scheute sich Paris keineswegs, seine traditionellguten Beziehungen zu Russland taktisch auszuschlachten, umdie Amerikaner in ihrer Europapolitik unter Druck zu setzenund, wann immer zweckdienlich, die alte französisch-britischeEntente wiederzubeleben, um Deutschlands wachsenderVormachtstellung in Europa zu begegnen. Der französischeAußenminister war nahe daran, dies offen auszusprechen, alser im August 1996 erklärte, daß »Frankreich, wenn es eineinternationale Rolle spielen will, bereit ist, von der Existenzeines starken Russlands zu profitieren, sowie ihm zu helfen,sich wieder als Großmacht zu behaupten«, und damit denrussischen Außenminister zu der Entgegnung veranlasste, daß»von allen Regierungschefs der Welt die Franzosen diejenigensind, die in ihrem Verhältnis zu Russland noch am ehesten einekonstruktive Haltung einnehmen«. 8Frankreichs anfänglich lauwarme Unterstützung einerNATO-Osterweiterung – konkret, seine kaum unterdrückteSkepsis, ob sie überhaupt erstrebenswert sei – war somitteilweise eine Taktik, die ihm bei den Verhandlungen mit denVereinigten Staaten mehr Druckmittel in die Hand geben sollte.Eben weil Amerika und Deutschland die Hauptbefürwortereiner NATO-Erweiterung waren, gefiel sich Frankreichdarin, Gelassenheit zu demonstrieren, widerstrebendzuzustimmen, Bedenken über die mögliche Auswirkung dieserInitiative auf Russland vorzutragen und sich als Europas8 Zitiert in Le Nouvel Observateur, 12. August 1996.


Der Demokratische Brückenkopf 103verständnisvollster Gesprächspartner mit Moskau zu gerieren.Bei einigen Mitteleuropäern erweckten die Franzosen sogar denEindruck, als hätten sie nichts gegen eine russische Einflusssphärein Osteuropa. <strong>Die</strong> russische Karte hielt nicht nur Amerika inSchach und sandte eine nicht allzu verblümte Botschaft andie Adresse Deutschlands, sondern verstärkte auch den Druckauf die USA, die französischen Vorschläge für eine Reformder NATO wohlwollend zu betrachten. Letztlich werden einerNATO-Erweiterung alle 16 Mitglieder zustimmen müssen. Pariswusste, daß seine Einwilligung für diese Einstimmigkeit ebensounabdingbar war wie Frankreichs Unterstützung gebrauchtwurde, um Obstruktion von seiten anderer Bündnismitglieder zuvermeiden. So machte es denn auch kein Hehl aus seiner Absicht,die Unterstützung einer NATO-Erweiterung davon abhängigzu machen, ob sich Amerika schließlich der französischenEntschlossenheit beugt, das Machtgleichgewicht innerhalb derAllianz sowie auch deren Grundstruktur zu verändern.Ähnlich lau war zunächst Frankreichs Befürwortung einerOsterweiterung der Europäischen Union. Hier übernahmDeutschland, unterstützt von den USA, die Führung,allerdings in diesem Fall nicht mit demselben Engagementwie in der Frage der NATO-Erweiterung. Obwohl Frankreichin der NATO gern argumentierte, daß eine erweiterteEU eine passendere Dachorganisation für die früherenkommunistischen Staaten biete, meldete es, als Deutschlandauf eine schnellere Erweiterung der EU nach Mitteleuropahin drang, technische Bedenken an und forderte außerdem,daß die EU Europas ungeschützter mediterraner Südflanke diegleiche Aufmerksamkeit widme. (<strong>Die</strong>se Meinungsverschiedenheiten traten bereits bei dem deutsch-französischen Gipfel imNovember 1994 zutage.) Der Nachdruck, den die Franzosen aufden letzten Punkt legten, sicherte ihnen zudem die Unterstützungsüdeuropäischer NATO-Mitglieder zu und optimierte


104 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Frankreichs Verhandlungsposition insgesamt. Der Preis dafürwar indes eine immer größer werdende Kluft zwischen denvon Frankreich beziehungsweise Deutschland vertretenengeopolitischen Vorstellungen Europas, eine Kluft, die sichnur teilweise schloss, als Frankreich in der zweiten Hälfte desJahres 1996 dem Beitritt Polens zur NATO und der EU mitVerspätung zustimmte.<strong>Die</strong>se Kluft war angesichts des sich verändernden historischenUmfelds unvermeidlich. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegshatte das demokratische Deutschland erkannt, daß diesedeutsch-französische Aussöhnung die Voraussetzung für dieSchaffung einer europäischen Gemeinschaft innerhalb denwestlichen Hälfte des geteilten Europas war. <strong>Die</strong>se Versöhnungwar nicht zuletzt für Deutschlands historische Rehabilitierungvon zentraler Bedeutung. Von daher war die Akzeptanzder französischen Führungsrolle ein angemessener Preis.Gleichzeitig machte die fortdauernde sowjetische Bedrohungeines verwundbaren Westdeutschlands die Loyalität gegenüberAmerika zu einer überlebenswichtigen Voraussetzung – wasselbst die Franzosen erkannten. Nach dem Zusammenbruchder Sowjetunion war für die Bildung eines größeren undgeeinteren Europa eine Unterordnung unter Frankreich aberweder notwendig noch von Vorteil. Eine gleichberechtigtedeutsch-französische Partnerschaft, in der das wiedervereinigteDeutschland nun tatsächlich der stärkere Partner war, warfür Paris mehr als ein faires Geschäft; Frankreich würdeDeutschlands Vorliebe für eine direkte Sicherheitsschiene zuseinem transatlantischen Verbündeten und Beschützer einfachhinnehmen müssen. Mit dem Ende des Kalten Kriegs bekam dasVerhältnis zu den USA für Deutschland eine neue Bedeutung. Inder Vergangenheit hatte es Deutschland vor einer äußeren, abersehr unmittelbaren Bedrohung geschützt und war die notwendigeVoraussetzung für die schließlich eingetretene Wiedervereini-


Der Demokratische Brückenkopf 105gung des Landes gewesen. Nach der Auflösung der Sowjetunionbot die Verbindung zu Amerika dem wiedervereinigtenDeutschland den Schirm, unter welchem es offener eineFührungsrolle in Mitteleuropa übernehmen konnte, ohnedadurch gleichzeitig seine Nachbarn zu bedrohen. <strong>Die</strong>Beziehung zu den USA stellte mehr als ein Zeugnis für gutesBenehmen aus: Sie versicherte den deutschen Nachbarn, daß einenges Verhältnis zu Deutschland auch ein engeres Verhältnis zuAmerika bedeutete. All das erleichterte es Deutschland, eigenengeopolitischen Prioritäten unumwunden offenzulegen.Deutschland – fest in Europa verankert und harmlos,aber durch die sichtbare militärische Präsenz der Amerikanersicherer geworden – konnte nun die Integration des jüngstbefreiten Mitteleuropas in europäische Strukturen vorantreiben.Es würde nicht mehr das alte Mitteleuropa des deutschenImperialismus sein, sondern eine friedliebende Gemeinschaftwirtschaftlicher Erneuerung, die durch deutsche Investitionenund Handelsbeziehungen angespornt und von einemDeutschland ermuntert wird, das außerdem als Befürworter derschließlich auch offiziellen Einbindung des neuen Mitteleuropain EU und NATO auftritt. Da die deutsch-französische Allianzfür Deutschland die unverzichtbare Plattform darstellt, um eineentschiedenere Rolle in der Region zu spielen, braucht es keineHemmungen mehr zu haben, sich im Bereich seines besonderenInteresses zu behaupten.Auf der Europa-Karte könnte die Zone, die für Deutschlandvon besonderem Interesse ist, in der Form eines Rechteckseingezeichnet werden, das im Westen natürlich Frankreicheinschließt und im Osten die erst vor kurzem in die Freiheitentlassenen postkommunistischen Staaten Mitteleuropaseinschließlich der baltischen Republiken, Weißrusslandsund der Ukraine umfasst, und sogar bis nach Rußlandhineinreicht. In vielerlei Hinsicht entspricht dieses Gebiet


106 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>dem historischen Einflussbereich konstruktiver deutscherKultur, den in pränationalistischer Zeit deutsche Städtegrün derund bäuerliche Siedler im östlichen Mitteleuropa und in denheutigen baltischen Republiken geformt hatten, die sämtlich imVerlauf des Zweiten Weltkriegs vertrieben wurden. Wichtigernoch, die Bereiche, die für die Franzosen (wie oben erörtert)und die Deutschen von besonderem Belang sind, entsprechen,wenn man sie wie auf der folgenden Karte gemeinsam betrachtet,den westlichen und östlichen Grenzen Europas, währenddie Überschneidungen zwischen beiden die entscheidende geopolitischeBedeutung der deutsch-französischen Beziehungenals unverzichtbaren Kern Europas unterstreichen.Der entscheidende Durchbruch für ein selbstbewussteresAuftreten Deutschlands in Mitteleuropa wurde durchdie während der neunziger Jahre zustandegekommenedeutsch-polnische Versöhnung erzielt. Trotz eines gewissenanfänglichen Widerstrebens erkannte das wiedervereinigteDeutschland (gedrängt von den USA) die Oder-Neiße-Linieals endgültige Grenze zu Polen an, und dieser Schritt beseitigteden <strong>einzige</strong>n substantiellen Vorbehalt Polens gegenengere Beziehungen zum deutschen Nachbarn. Nach einigenweiteren Gesten des guten Willens und der Vergebung aufbeiden Seiten wandelte sich das Verhältnis durchschlagend.Der deutsch-polnische Handel explodierte förmlich(1995 überflügelte Polen Russland als Deutschlands größtenHandelspartner im Osten), Deutschland trat am entschiedenstenfür eine Mitgliedschaft Polens in der EU und (zusammenmit den Vereinigten Staaten) für seine Aufnahmein die NATO ein. Ohne Übertreibung kann man behaupten,daß spätestens Mitte des Jahrzehnts die deutschpolnischeVersöhnung eine geopolitische Bedeutung in Mitteleuropagewonnen hat, die den früheren Auswirkungen der deutschfranzösischenVersöhnung auf Westeuropa durchaus entspricht.


Der Demokratische Brückenkopf 107Dank Polen konnte der deutsche Einfluss nach Norden – inbaltischen Staaten – sowie nach Osten – bis in die Ukraineund Weißrussland – ausstrahlen. Der Geltungsbereich derdeutsch-polnischen Aussöhnung wurde überdies dadurch etwaserweitert, daß man Polen bei wichtigen deutsch-französischenGesprächen über die Zukunft Europas mit einbezog. Dassogenannte Weimarer Dreieck (nach der Stadt benannt, derdie ersten hochrangigen trilateralen deutsch-französischpolnischenKonsultationen stattfanden, die seither regelmäßigwiederholt werden) schuf eine möglicherweise bedeutsamegeopolitische Achse auf dem europäischen Kontinent, dieetwa 180 Millionen Menschen aus drei Nationen mit einemhochentwickelten Nationalbewusstsein umfasst. Auf dereinen Seite stärkte dies Deutschlands dominierende Rolle


108 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>in Mitteleuropa noch weiter, die andererseits durch die TeilnahmeFrankreichs und Polens an dem dreiseitigen Dialog wiederumetwas ausbalanciert wurde. Das unverkennbare deutscheEngagement für eine Osterweiterung der wichtigsten europäischenInstitutionen hat die Akzeptanz einer deutschen Führungin Mitteleuropa – die bei den kleineren mitteleuropäischenStaaten noch stärker vorhanden ist – erleichtert. Mit seinementschiedenen Einsatz übernahm Deutschland eine historischeMission, die von einigen recht tief verwurzelten westeuropäischenAuffassungen erheblich abweicht, denen zufolge alles,was östlich von Deutschland und Österreich passiert, als für daseigentliche Europa ohne Belang erschien. <strong>Die</strong>se Meinung – imfrühen 18. Jahrhundert von Lord Bolingbroke 9 geäußert, dererklärte, politische Gewalt im Osten sei für die Westeuropäerohne Bedeutung – tauchte im Münchner Abkommen 1938 wiederauf; eine traurige Neuauflage erlebte sie in der Haltung derbritischen und französischen Regierung während des Bosnien-Konflikts Mitte der neunziger Jahre und ist unter der Oberflächeder laufenden Debatten über die Zukunft Europas immer nochvirulent.Im Unterschied dazu ging es in der deutschen Diskussioneigentlich nur darum, ob zuerst die NATO oder die EU erweitertwerden sollte – der Verteidigungsminister bevorzugteersteres, der Außenminister sprach sich für letzteres aus – mitdem Ergebnis, daß Deutschland der unbestrittene Apostel einesgrößeren und geeinteren Europas wurde. Der deutscheKanzler sprach vom Jahr 2000 als dem Zieldatum der erstenEU-Osterweiterung, und der deutsche Verteidigungsministergehörte zu den ersten, die den fünfzigsten Jahrestag derNATO-Gründung als das passende symbolische Datum füreine Ausdehnung des Bündnisses nach Osten vorschlug.9 Vgl. seine History of Europe, from the Pyrenean Peace to die Death of Louis XIV


Der Demokratische Brückenkopf 109Deutschlands Konzeption einer Zukunft Europas unterschiedsich somit von der seiner wichtigsten europäischen die Britensprachen sich für ein größeres Europa aus, weil sie in einerErweiterung ein Mittel sahen, Euro-Einheit zu verwässern; dieFranzosen befürchteten, daß solche Erweiterung DeutschlandsRolle stärken würde, plädierten daher für eine begrenztereIntegration. Deutschland machte sich für beides stark und erlangtedadurch in Mitteleuropa ein ganz eigenes Ansehen.Amerikas zentrales ZielFür die USA lautet die zentrale Frage: Wie baut man einauf der deutschfranzösischen Partnerschaft basierendes, lebensfähigesEuropa, das mit Amerika verbunden bleibt und denGeltungsbereich des demokratischen Systems internationalerZusammenarbeit erweitert, auf das ihre wirkungsvolle Wahrnehmungseiner globalen Vorrangstellung so sehr angewiesenist? Es geht also nicht darum, die Wahl zwischen Deutschlandoder Frankreich zu treffen. Ohne Deutschland wird es ebensowenigein Europa geben wie ohne Frankreich. Aus den bisherigenAusführungen ergeben sich drei Schlussfolgerungen:1. Das Engagement der USA für die Sache der europäischenEinigung ist vonnöten, um die moralischeund Sinnkrise, die Europas Lebenskraft geschwächthat, wieder wettzumachen, um den weit verbreitetenVerdacht der Europäer, Amerika wolle letztendlichgar keine wirkliche europäische Einheit, zu entkräftenund um dem europäischen Unterfangen die notwendigeDosis demokratischer Begeisterung einzuflößen.<strong>Die</strong>s erfordert ein klares Bekenntnis Amerikas, Europaals seinen globalen Partner zu akzeptieren.


110 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>2. Kurzfristig ist eine taktische Opposition gegen die französischePolitik und eine Unterstützung der deutschenFührungsrolle gerechtfertigt; langfristig wird ein geeintesEuropa zu einer klareren politischen und militärischenIdentität finden müssen, wenn ein echtes Europa tatsächlichWirklichkeit werden soll. <strong>Die</strong>s erfordert eine gewisseAnnäherung an den französischen Standpunkt hinsichtlichder Machtverteilung in den transatlantischen Institutionen.3.Weder Frankreich noch Deutschland ist stark genug, umEuropa nach seinen Vorstellungen zu bauen oder mit Russlanddie strittigen Probleme zu lösen, die eine Festlegung der geographischenReichweite Europas zwangsläufig aufwirft. <strong>Die</strong>serfordert ein energisches, konzentriertes und entschlossenesEinwirken Amerikas besonders auf die Deutschen, um dieAusdehnung Europas zu bestimmen und um mit – vor allemfür Russland – derart heiklen Angelegenheiten wie dem etwaigenStatus der baltischen Staaten und der Ukraine innerhalbdes europäischen Staatenbundes fertig zu werden.Ein Blick auf die Karte der riesigen eurasischen Landmasseoffenbart die geopolitische Bedeutung des europäischenBrückenkopfes für Amerika – und auch seine bescheidenen geographischenAusmaße. <strong>Die</strong> Erhaltung dieses Brückenkopfes undseine Erweiterung zum Sprungbrett für Demokratie sind für dieSicherheit Amerikas von unmittelbarer Relevanz. <strong>Die</strong> zwischenAmerikas weltweitem Interesse an Stabilität sowie der damitverbundenen Verbreitung demokratischer Prinzipien und derscheinbaren Gleichgültigkeit der Europäer gegenüber diesenFragen (Frankreichs selbstproklamiertem Status als <strong>Weltmacht</strong>zum Trotz) bestehende Kluft muß überwunden werden; dies kannnur geschehen, wenn Europa mehr und mehr den Charakter einesBundesstaates annimmt. Aufgrund der Zählebigkeit seiner verschiedenennationalen Traditionen kann Europa kein Nationalstaat wer-


Der Demokratische Brückenkopf 111den, wohl aber eine Einheit, die mit gemeinsamen politischenInstitutionen im zunehmenden Maße allen gemeinsame demokratischeWerte widerspiegelt. Indem sie deren allgemeineVerbreitung zu ihrem ureigenen Anliegen macht, übt sie eine magnetischeAnziehungskraft auf all jene aus, die, zusammen mitihr, den euroasiatischen Raum bevölkern. Sich selbst überlassen,laufen die Europäer Gefahr, von ihren sozialen Problemen völligvereinnahmt zu werden. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Erholung Europashat die langfristigen Kosten des scheinbaren Erfolgs verschleiert.<strong>Die</strong>se Kosten wirken sich ökonomisch und politisch schädigendaus. <strong>Die</strong> Krise der politischen Glaubwürdigkeit und desWirtschaftswachstums, die Westeuropa zunehmend zu schaffenmacht – und die es nicht zu überwinden vermag – ist in der allegesellschaftlichen Bereiche erfassenden Ausweitung des sozialstaatlichenSystems, das Eigenverantwortlichkeit klein schreibtund Protektionismus und Engstirnigkeit begünstigt, tief verwurzelt.<strong>Die</strong> Folge ist eine kulturelle Lethargie, eine Kombinationvon eskapistischem Hedonismus und geistiger Leere – die nationalistischeExtremisten oder dogmatische Ideologen für ihreZwecke ausnützen könnten.<strong>Die</strong>ser Zustand könnte sich, wenn er andauerte, für die Demokratieund die europäische Idee als tödlich erweisen. Beidesind nämlich eng miteinander verbunden, denn die neuenProbleme Europas – sei es die Zuwanderung oder die wirtschaftlich-technologischeWettbewerbsfähigkeit mit Amerikaoder Asien, gar nicht zu reden von der Notwendigkeit einerpolitisch dauerhaften Reform der bestehenden sozioökonomischenStrukturen – können nur in einem zunehmend kontinentalenKontext bewältigt werden. Ein Europa, das größerist als die Summe seiner Teile – das heißt, ein Europa, das seineAufgabe in der Welt darin sieht, die Demokratie voranzubringenund den Menschenrechten immer breitere Geltung zuverschaffen – verspricht mit höherer Wahrscheinlichkeit po-


112 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>litischem Extremismus, engstirnigem Nationalismus odergesellschaftlichem Hedonismus den Nährboden zu entziehen.Es bedarf weder der Beschwörung alter Ängste vor einemSonderabkommen zwischen Deutschland und Russland, nochmuss man die Folgen eines taktischen Flirts der Franzosen mitden Russen übertreiben, um im Falle eines Scheiterns der immernoch andauernden Bemühungen um die europäische Einigungdie geopolitische Stabilität Europas – und Amerikas Platz darin– gefährdet zu sehen. Ein solches Scheitern würde voraussichtlichdie Neuauflage einiger recht traditioneller europäischerWinkelzüge nach sich ziehen. Russland oder Deutschland fändedann gewiss Anlässe, ihrem geopolitischen Geltungsdrang freienLauf zu lassen, als ob die neuere Geschichte Europas nicht genuglehrreiche Beispiele bereithielte und ein dauerhafter Erfolg indieser Hinsicht wahrscheinlich ohnehin nicht zu erzielen wäre. Insolch einem Fall würde zumindest Deutschland vermutlich seinenationalen Interessen bestimmter und deutlicher geltend machen.Gegenwärtig sind die Interessen Deutschlands mit denen vonEU und NATO deckungsgleich und sogar innerlich geläutert.Selbst die Sprecher des linksgerichteten Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünenhaben eine Erweiterung von NATO und EU befürwortet. Dochsollte der Einigungs- und Erweiterungsprozess zum Stillstandkommen, spricht einiges dafür, daß die deutsche Vorstellung voneiner europäischen Ordnung nationalistischere Züge annehmenwürde, zum potentiellen Nachteil der Stabilität in Europa.Wolfgang Schäuble, der Fraktionsvorsitzende der ChristlichenDemokraten im deutschen Bundestag und ein möglicherNachfolger von Kanzler Kohl, brachte diese Auffassung 10 mitder Feststellung zum Ausdruck, Deutschland sei nicht länger»das westliche Bollwerk gegen den Osten; wir sind in die MitteEuropas gerückt«, und10 Politiken Søndag, 2. August 1996, Hervorhebungen des Verf.


Der Demokratische Brückenkopf 113er betonte, daß »Deutschland während des gesamten Mittelalters... daran beteiligt war, in Europa Ordnung zu schaffen«. Nachdieser Vorstellung wäre Mitteleuropa nicht allein eine Region,in der Deutschland wirtschaftlich das Übergewicht hat,sondern würde ein Gebiet unverhüllter deutscher politischerVorherrschaft werden und damit die Basis für eine stärkerunilateral ausgerichtete deutsche Politik gegenüber dem Ostenund dem Westen. Europa verlöre dann seine Funktion alseurasischer Brückenkopf für amerikanische Macht und alsmögliches Sprungbrett für eine Ausdehnung des demokratischenGlobalsystems in den eurasischen Kontinent hinein. Deswegenmüssen die USA weiterhin tatkräftig und ohne Wenn und aberfür die europäische Einigung eintreten. Obwohl Amerika in derPhase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und innerhalb desSicherheitsbündnisses die Europäer häufig seiner Unterstützungbei ihrer politischen Einigung versicherte und der internationalenZusammenarbeit in Europa Rückendeckung gab, hat es zuweilenden Anschein erweckt, als führe es unangenehme wirtschaftlicheund politische Verhandlungen lieber auf bilateraler europäischerEbene statt mit der Europäischen Union. Da die Amerikanergelegentlich auf einem Mitspracherecht im europäischen Entscheidungsfindungsprozess bestanden, sahen sich die Europäergern in ihrem alten Verdacht bestätigt, die USA begrüßteneine Zusammenarbeit unter den Europäern, solange diese demamerikanischen Vorbild folgen, sträubten sich aber, wenn sieeigene europäische Politik formulieren. <strong>Die</strong>s ist die falscheBotschaft.Amerikas Eintreten für die Einheit Europas – nachdrücklichin der gemeinsamen amerikanisch-europäischen Erklärungvon Madrid im Dezember 1995 wiederholt – wird so langehohl klingen, bis die USA nicht nur unumwunden ihreBereitschaft bekunden, die Konsequenzen einer endgültigeneuropäischen Einigung zu akzeptieren, sondern auch danach


114 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>handeln. Europa wäre dann kein gehätschelter, aber gleichwohlzweitrangigen Verbündeter mehr, sondern ein gleichwertigerPartner. Und echte Partnerschaft bedeutet, gemeinsamEntscheidungen zu treffen und auch Verantwortung zu tragen.Mit ihrem Eintreten für diese Sache würden die USA den transatlantischenDialog beleben helfen und die Europäer dazuanspornen, sich ernsthafter auf die Rolle zu konzentrieren, dieein wirklich gewichtiges Europa in der Welt spielen könnte. Esist denkbar, daß eine geeinte und mächtige Europäische Unionirgendwann einmal der politische Nebenbuhler der VereinigtenStaaten wenden könnte. Auf wirtschaftlich-technologischemGebiet könnte sie zweifellos ein schwieriger Konkurrent werden,zudem könnten ihre geopolitischen Interessen im NahenOsten und anderswo deutlich von denen der USA abweichen.Mit einem so mächtigen und politisch zielstrebigen Europa istin absehbarer Zukunft allerdings nicht zu rechnen. Anders alsdie Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt ihrer Gründung sinddie europäischen Nationalstaaten historisch tief verwurzelt,und die Begeisterung für ein transnationales Europa hat deutlichnachgelassen.<strong>Die</strong> Alternativen für die nächsten ein, zwei Jahrzehntesind entweder ein immer größeres und geeinteres Europa, das– wenn auch zögerlich und schubweise – das Ziel kontinentalerEinheit verfolgt; ein Europa in der Sackgasse, das überden gegenwärtigen Stand der Integration und geographischenAusdehnung nicht hinauskommt neben einem Mitteleuropa,das ein geopolitisches Niemandsland bleibt; oder, alswahrscheinliche Folge des Stillstands, ein nach und nachzerfallendes Europa, das seine alten Machtkämpfe wiederaufnimmt. Bei einer Stagnation der europäischen Einigungwird Deutschlands Selbstidentifikation mit Europa nahezuzwangsläufig schwinden und das deutsche Staatsinteressefolglich eine nationalere Handschrift tragen. Für Amerika ist


Der Demokratische Brückenkopf 115die erste Möglichkeit eindeutig die beste, aber damit dieseOption Wirklichkeit wird, bedarf es eines massiven Impulsesvon seiten den USA.An diesem Punkt der zögerlichen europäischen Einigung brauchtsich Amerika nicht direkt in so heikle Debatten verwickeln zulassen wie etwa über die Frage, ob die EU ihre außenpolitischenEntscheidungen durch Mehrheitsvotum treffen sollte (einePosition, die besonders von den Deutschen bevorzugt wird),ob das europäische Parlament entscheidende gesetzgebendeGewalt annehmen und die europäische Kommission in Brüsseltatsächlich die europäische Exekutive wenden sollte; ob derZeitplan für die Umsetzung des Abkommens über die europäischeWirtschafts- und Währungsunion gelockert werden,oder schließlich, ob Europa ein breitangelegter Staatenbundoder eine vielschichtige Einheit mit einem föderalen innerenKern und einem etwas lockereren äußeren Rand sein sollte.Das sind Angelegenheiten, die die Europäer untereinanderausdiskutieren müssen – und es ist mehr als wahrscheinlich,daß die Fortschritte in all diesen Streitfragen schwankend,von Pausen unterbrochen und schließlich nur durch komplizierteKompromisse erzielt werden. Nichtsdestoweniger sollteman vernünftigerweise davon ausgehen, daß die EuropäischeWährungsunion spätestens im Jahr 2000 in Kraft treten wird,vielleicht anfangs nur mit sechs bis zehn der gegenwärtig15 EU-Mitglieder. <strong>Die</strong>s wird die wirtschaftliche IntegrationEuropas beschleunigen und ihrer politischen Integration neuenAuftrieb geben.So entsteht stoßweise, mit einem integrierteren Kern und einemlockeren äußeren Umfeld ein einiges Europa, das nach undnach ein wichtiger politischer Mitspieler auf dem eurasischenSchachbrett werden wird.Amerika sollte keinesfalls den Eindruck vermitteln, esbevorzuge eine vagere, wenn auch breitere, europäische Asso-


116 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>ziation, sondern durch Wort und Tat seine Bereitschaft bekunden,letztendlich mit den EU in Fragen der internationalen Politikund globalen Sicherheit partnerschaftlich umzugehen, anstattsie als regionalen gemeinsamen Markt, dessen Mitgliedsstaatenmit den USA durch die NATO verbündet sind, zu behandeln.Um dieses Engagement glaubhafter zu machen und damit überdie bloße Partnerschaftsrhetorik hinauszugehen, könnte mit derEU eine gemeinsame Planung neuer bilateraler transatlantischerEntscheidungsfindungsmechanismen zum Vorschlag gebrachtund initiiert wenden. Das gleiche gilt für die NATO als solche.Sie ist für die transatlantische Verbindung von entscheidenderBedeutung. In diesem Punkte besteht zwischen den USA undEuropa uneingeschränkten Konsens. Ohne die NATO würdeEuropa nicht nur verwundbar werden, sondern fast augenblicklichauch politisch in seine Einzelstaaten zerfallen. <strong>Die</strong> NATOgewährleistet Sicherheit für Europa und gibt einen stabilenRahmen für die Verfolgung den europäischen Einheit ab. Dasmacht die NATO für Europa historisch so unverzichtbar. ImZuge der allmählichen und zögerlichen europäischen Einigungwerden die inneren Strukturen und Abläufe der NATO jedochentsprechend geändert werden müssen. In dieser Frage habendie Franzosen recht. Man kann nicht eines Tages ein geeintesEuropa haben und zugleich ein Verteidigungsbündnis beibehalten,das aus einer Supermacht plus 15 abhängigen Mächtenbesteht. Wenn Europa einmal eine echte politische Identität suigeneris anzunehmen beginnt und die EU einige Funktionen einersupranationalen Regierung übernimmt, wird die NATO aufder Basis einer Eins-plus-eins (USA + EU)-Formel verändertwerden müssen.Das wird nicht über Nacht und auf einen Schlag geschehen.Fortschritte in diese Richtung werden, um mich zu wiederholen,zögernd erfolgen. <strong>Die</strong>se Fortschritte müssen aber inden bestehenden Vereinbarungen der Allianz verankert wer-


Der Demokratische Brückenkopf 117den, um das Bündnis dynamisch zu erhalten. Ein bedeutsamerSchritt in diese Richtung war die Entscheidung des Bündnissesim Jahr 1996, Raum für die Combined Joint Task Forceszu schaffen und dadurch die Möglichkeit rein europäischerMilitäraktionen ins Auge zu fassen, die ebenso auf der Logistikdes Bündnisses basieren wie auf seiner Kommandostruktur,Kontrolle, Kommunikation und geheimdienstlicher Tätigkeit.Auch ein Entgegenkommen den USA gegenüberFrankreichs Forderungen nach einer gewachsenen Rolle denWesteuropäischen Union innerhalb der NATO, besonders inder Befehlsstruktur und bei der Entscheidungsfindung, wäreein echter Beitrag zur europäischen Einheit und geeignet,die Kluft zwischen amerikanischem und französischemSelbstverständnis etwas zu verringern.Längerfristig wird die WEU möglicherweise einigeEU-Mitgliedsstaaten umfassen, die aus verschiedenengeopolitischen oder historischen Gründen keine NATO-Mitgliedschaft anstreben. Als Anwärter könnten Finnland,Schweden, vielleicht sogar Österreich in Frage kommen, dieallesamt bereits bei der WEU Beobachterstatus besitzen. 11Andere Staaten mögen eine Anbindung an die WEU als einenersten Schritt zu einer NATO-Mitgliedschaft anstreben. <strong>Die</strong>WEU könnte auch irgendwann dem Programm der NATO-Partnerschaft für den Frieden im Hinblick auf zukünftigeMitglieder der EU nacheifern wollen. All das würde helfen, ein11 Zu beachten ist, daß einflußreiche Stimmen sowohl in Finnland als auch inSchweden bereits die Möglichkeit einer Angliederung an die NATO diskutieren. Im Mai1996 soll schwedischen Medienberichten zufolge der Oberbefehlshaber der finnischenStreitkräfte die Möglichkeit gewisser NATO-Einsätze auf skandinavischem Boden angesprochenhaben, und im August 1996 sprach der Verteidigungsausschuß des schwedischenParlaments die auf eine allmähliche Tendenz zu engerer Sicherheitskooperationmit der NATO hinweisende Empfehlung aus, Schweden solle sich der WesteuropäischenRüstungsgruppe (WEAG) anschließen, zu der sonst nur NATO-Mitglieder gehören.


118 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>verzweigteres Netz der Zusammenarbeit für die Sicherheit inEuropa zu knüpfen, das über den formalen Aktionsradius destransatlantischen Bündnisses hinausreicht.In der Zwischenzeit, bis ein größeres und geeinteresEuropa entsteht, werden die Vereinigten Staaten sowohl mitFrankreich als auch mit Deutschland eng an seiner Entstehungmitarbeiten müssen. Somit wird sich Amerika weiterhin indem politischen Dilemma befinden, wie es Frankreich zueiner engeren politischen und militärischen Integration indas Atlantische Bündnis bewegen kann, ohne das deutschamerikanischeVerhältnis zu belasten; und was Deutschlandangeht, wie es sein Vertrauen in die deutsche Führungsrollein einem atlantischen Europa nutzen kann, ohne in Frankreichund England sowie in anderen europäischen Ländern Besorgniszu erwecken. Eine größere nachweisliche Flexibilität vonseiten der USA in den zukünftigen Gestalt des Bündnissesverspräche, die französische Unterstützung für dessenOsterweiterung stärker zu mobilisieren. Langfristig würde eineNATO-Zone integrierter militärischer Sicherheit beiderseitsvon Deutschland dieses fester in einer multilateralen Strukturverankern, was für Frankreich durchaus von Bedeutung wäre.Darüber hinaus erhöhte die Erweiterung des Bündnisses dieWahrscheinlichkeit, daß das Weimarer Dreieck (bestehendaus Deutschland, Frankreich und Polen) ein subtiles Mittelwerden könnte, die Führung Deutschlands in Europa etwasauszubalancieren. Obwohl Polen für seine Aufnahme indie Nato auf deutsche Unterstützung angewiesen ist (undFrankreich wegen seines Zögerns gegenüber einer solchenErweiterung grollt), wird sich doch, wenn es erst einmalBündnispartner ist, mit höherer Wahrscheinlichkeit einegemeinsame französisch-polnische Perspektive eröffnen.Auf keinen Fall sollte Washington aus den Augen verlieren,daß Frankreich in Angelegenheiten, die mit den Identität Eu-


Der Demokratische Brückenkopf 119ropas oder den inneren Abläufen der NATO zu tun haben, nurkurzfristig ein Gegner ist. Wichtiger noch, es sollte stets darandenken, daß Frankreich ein maßgebender Partner bei dergrundlegenden Aufgabe ist, ein demokratisches Deutschlandauf Dauer fest in Europa einzubinden. Darin besteht die historischeRolle der deutsch-französischen Freundschaft, und dieOsterweiterung der EU und der NATO sollte die Bedeutungdieses Verhältnisses als festen Kern Europas noch vergrößern.Schließlich ist Frankreich weder stark genug, um Amerikain den geostrategischen Grundlagen seinen Europapolitikzu behindern, noch hat es das Potential, um selbst die führendeMacht in Europa zu wenden. Folglich kann man seineEigenheiten und sogar Ausfälle tolerieren. Von Belang istaußerdem die Feststellung, daß Frankreich eine konstruktiveRolle in Nordafrika und in den frankophonen afrikanischenLändern spielt. Es ist den wichtigste Partner Marokkos undTunesiens und übt in dieser Eigenschaft zugleich einen stabilisierendenEinfluß auf Algerien aus. Für ein solches EngagementFrankeichs gibt es einen triftigen innenpolitischen Grund: Andie fünf Millionen Moslems leben derzeit in Frankreich. Somithat es ein vitales Interesse an den Stabilität und friedlichenEntwicklung Nordafrikas. <strong>Die</strong>ses Interesse kommt EuropasSicherheit noch in anderer Hinsicht zugute. Ohne das französischeSendungsbewußtsein wäre die Südflanke Europas sehrviel instabiler, und die Zustände wären dort noch besorgniserregender.Das gesamte Südeuropa ist mehr und mehr vonder sozialen und politischen Bedrohung betroffen, die von derinstabilen Lage entlang der südlichen Mittelmeerküste ausgeht.Frankreichs intensives Interesse an dem, was am Mittelmeer geschieht,ist daher durchaus relevant für die Sicherheitsbelangeden NATO, und diese Überlegung sollte Amerika in Betrachtziehen, wenn ihm Frankreichs überzogene Ansprüchen auf einebesondere Führungsrolle gelegentlich zu schaffen machen.


120 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Deutschland ist ein anderes Problem. <strong>Die</strong> beherrschendePosition Deutschlands läßt sich nicht bestreiten, gleichwohlmuß jede öffentliche Billigung der deutschen Führungsrollein Europa wohlerwogen sein. <strong>Die</strong>se Führung mag für einigemitteleuropäische Staaten – wie jene, die die deutsche Initiativezur Erweiterung den EU nach Osten begrüßen – nützlichund für die Westeuropäer tolerierbar sein, solange sie derVormachtstellung der USA untergeordnet ist, aber auf langeSicht kann das europäische Haus nicht darauf errichtetwerden. Zu viele Erinnerungen sind noch lebendig, zu vieleÄngste werden wahrscheinlich wieder aufkeimen.Ein von Berlin aus errichtetes und geführtes Europa istschlechterdings undenkbar. Deshalb braucht DeutschlandFrankreich, Europa die deutsch-französische Achse, unddeshalb kann Amerika nicht zwischen Deutschland undFrankreich wählen. Der entscheidende Punkt bei der NATO-Erweiterung ist, daß es sich um einen ganz und gar mit denAusdehnung Europas selbst verbundenen Prozeß handelt.Falls die Europäische Union eine unter geographischemAspekt größere Gemeinschaft – mit einem stärken integriertenfranzösischdeutschen Führungskern und weniger integriertenäußeren Schichten – werden und ein solches Europaseine Sicherheit auf ein fortdauerndes Bündnis mit Amerikagründen soll, dann folgt daraus, daß sein geopolitisch exponiertestenSektor, nämlich Mitteleuropa, von der Teilhabe ander Sicherheit, die das übrige Europa durch die transatlantischeAllianz genießt, nicht demonstrativ ausgeschlossenwerden kann. Hierin sind sich die Vereinigten Staaten undDeutschland einig.Den Anstoß zu einer Erweiterung gaben auf beiden Seitenpolitische, historische und konstruktive Gründe. Er geht wederauf eine Animosität gegenüber Rußland oder auf Angst vordiesem zurück noch auf den Wunsch, diesen Staat zu isolieren.


Der Demokratische Brückenkopf 121Amerika muß also in seinem Eintreten für eine OsterweiterungEuropas besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten.Amerikanischdeutsche Zusammenarbeit und gemeinsameFührung sind zu diesen Frage ganz wesentlich. Wenn dieVereinigten Staaten und Deutschland gemeinsam die anderenNATO-Verbündeten ermutigen, den Schritt gutzuheißen undentweder mit Rußland, sollte es zu einem Kompromiß bereitsein (vgl. Kapitel 4), eine wirksame Übereinkunft aushandeln,oder ihre Entscheidung in der richtigen Überzeugung,daß die Gestaltung Europas nicht den Einwänden Moskausuntergeordnet werden kann, treffen, dann steht derErweiterung nichts im Wege. Das erforderliche einstimmigeEinverständnis sämtlicher NATO-Mitglieder wird nur unteramerikanisch-deutschem Druck zustande kommen, doch wirdkein NATO-Mitglied seine Zustimmung verweigern können,wenn Amerika und Deutschland gemeinsam darauf dringen.Letztlich steht bei dieser Bemühung Amerikas langjährigeRolle in Europa auf dem Spiel. Ein neues Europanimmt bereits Gestalt an, und wenn dieses neue Europageopolitisch ein Teil des »euro-atlantischen« Raums bleibensoll, ist die Erweiterung der NATO von entscheidenderBedeutung. Sollte die von den Vereinigten Staaten in dieWege geleitete NATO-Erweiterung ins Stocken geraten, wäredas das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik fürganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanischeFührungsrolle diskreditieren, es würde den Plan einesexpandierenden Europa zunichte machen, die Mitteleuropäerdemoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlummerndenoder verkümmernden geopolitischen Gelüste Rußlandsin Mitteleuropa neu entzünden. Für den Westen wärees eine selbst beigebrachte Wunde, die die Aussichten aufeinen echten europäischen Eckpfeiler in einen eurasischenSicherheitsarchitektur zunichte macht; und für Amerika


122 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>wäre es nicht nur eine regionale, sondern auch eine globaleSchlappe. Entscheidend für eine fortschreitende AusdehnungEuropas muß die Aussage sein, daß keine Macht außerhalb desbestehenden transatlantischen Systems ein Vetorecht gegen dieTeilnahme eines geeigneten europäischen Staates in dem europäischenSystem – und mithin in dessen transatlantischemSicherheitssystem – hat, und daß kein europäischer Staat, derdie Voraussetzungen mitbringt, a priori von einer eventuellenMitgliedschaft in EU oder NATO ausgeschlossen werdendarf. Besonders die hoch verwundbaren und zunehmend füreinen Beitritt in Frage kommenden baltischen Staaten habenein Anrecht darauf zu wissen, daß sie einmal vollberechtigteMitglieder in beiden Organisationen werden können – und daßin der Zwischenzeit ihre Souveränität nicht bedroht werdenkann, ohne die Interessen eines wachsenden Europa und seinesamerikanischen Partners zu tangieren. Im Endeffekt mußder Westen – von allem Amerika und seine westeuropäischenVerbündeten eine Antwort auf die von Vaclav Havel am 15. Mai1996 in Aachen eloquent gestellte Frage finden:»Ich weiß, daß weder die Europäische Union noch dieNordatlantische Allianz über Nacht all jenen ihre Türen öffnenkann, die sich ihnen anschließen möchten. Aber beide können– und sollten es tun, ehe es zu spät ist – ganz Europa als einerSphäre gemeinsamer Werte die deutliche Gewißheit geben, daßes kein geschlossener Klub ist. Sie sollten eine klare und detailliertePolitik der allmählichen Erweiterung formulieren, dienicht nur einen Zeitplan enthält, sondern auch die Logik diesesZeitplans erklärt. « [Hervorhebung vom Verf.]


Der Demokratische Brückenkopf 123Europas historischer ZeitplanObwohl sich derzeit noch nicht genau und endgültig sagenläßt, wo einmal seine Grenzen im Osten verlaufen wenden,steht Europa im weitesten Sinne für eine gemeinsame derchristlichen Tradition verhaftete Zivilisation. Nach engerem,westlichen Verständnis geht es auf Rom und sein historischesVermächtnis zurück. Aber Europas christliche Tradition umfaßtauch Byzanz und seine russisch-orthodoxe Weiterentwicklung.Somit ist Europa, kulturell gesehen, mehr als das römischchristlicheEuropa, und dieses wiederum mehr als Westeuropa– auch wenn sich letzteres in neuerer Zeit der Bezeichnung desGanzen bemächtigte. Schon ein Blick auf die Karte (siehe Seite124) macht klar, daß das, was gegenwärtig unter dem BegriffEuropa firmiert, nicht das ganze Europa darstellt. Schlimmernoch, es weist eine Zone der Unsicherheit zwischen Europa undRußland auf, die eine Sogwirkung auf beide ausüben kann, waszwangsläufig zu Spannungen und Rivalitäten führen wird.Ein (auf den westlichen Teil begrenztes) Europa Karlsdes Großen war während des Kalten Krieges sinnvoll undeine Notwendigkeit. Heute aber ist es ein Unding, weil dasentstehende vereinte Europa nicht allein auf einer gemeinsamenZivilisation gründet, sondern auch einen bestimmtenway of life und Lebensstandard beinhaltet sowie eine politischeOrdnung mit verbindlichen demokratischen Verfahren,die nicht mehr von ethnischen und territorialen Konfliktenbelastet sind. <strong>Die</strong>ses Europa bleibt in seiner gegenwärtigenOrganisationsform und Ausdehnung weit hinter seinentatsächlichen Möglichkeiten zurück. Mehrere politisch stabileStaaten Mitteleuropas mit höherem Entwicklungsstand undallesamt Teil der westlichen römisch-christlichen Tradition,namentlich die Tschechische Republik, Polen, Ungarn undvielleicht auch Slowenien, kommen für eine Mitgliedschaft


124 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>in Europa und seiner transatlantischen Sicherheitspartnerschaftzweifellos in Frage und sind lebhaft daran interessiert.Unter den gegenwärtigen Umständen wird die NATO-Osterweiterung – vermutlich bis spätestens 1999 – allenWahrscheinlichkeit nach Polen, die Tschechische Republikund Ungarn einbegreifen. Nach diesem ersten, aber bedeutsamenSchritt dürfte jede weitere Ausdehnung des Bündnissesentweder mit einer Erweiterung der EU zusammenfallenoder einer solchen folgen. Allerdings gestalten sowohl dieAnzahl der Qualifizierungshürden als auch die Erfüllung deran eine Mitgliedschaft geknüpften Bedingungen das hierfürvorgesehene Prozedere wesentlich komplizierter (siehe Seite125). Daher ist mit den ersten Aufnahmen mitteleuropäischer


Der Demokratische Brückenkopf 125Länder in die Europäische Union nicht vor dem Jahr 2002 zurechnen. Dennoch werden sich sowohl die NATO als auch dieEU, nachdem die ersten drei neuen NATO-Mitglieder auch derEU beigetreten sind, mit der Frage beschäftigen müssen, wieund wann die Mitgliedschaft auf die baltischen Republiken,Slowenien, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei und zuletztvielleicht sogar auf die Ukraine ausgedehnt werden kann.Es ist bemerkenswert, daß die Aussicht auf eine spätereMitgliedschaft sich bereits jetzt konstruktiv auf die innerenVerhältnisse und das Verhalten der mitgliedswilligenStaaten auswirkt. Das Wissen darum, daß sich weder EUnoch NATO mit zusätzlichen Konflikten zwischen ihrenMitgliedern, gleichgültig, ob es dabei um Minderheitsrechteoder Gebietsansprüche geht, (Türkei versus Griechenland istschon mehr als genug) belasten möchte, hat bereits der Slowakei,Ungarn und Rumänien den nötigen Ansporn gegeben,um Übereinkommen gemäß den vom Europarat aufgestellten


126 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Standards zu erzielen. Ähnlich verhält es sich mit dem allgemeinerenGrundsatz, daß sich nur Demokratien für eine Mitgliedschaftqualifizieren können. Der Wunsch, nicht außen vorzu bleiben, bestärkt die neuen Demokratien, den von ihnen eingeschlagenenWeg weiterzugehen, und hat somit eine wichtigeFunktion. Ein unumstößliches Prinzip sollte jedenfalls sein,daß die politische Einheit und die Sicherheit Europas unteilbarsind. Ein wirklich geeintes Europa ohne einen gemeinsamenSicherheitspakt mit den USA ist in praxi schwer vorstellbar.Daraus folgt, daß Staaten, die Beitrittsgespräche mit der EUaufnehmen wollen, und dazu eingeladen werden, in Zukunftautomatisch unter den Schutz der NATO gestellt werdensollten. Infolgedessen wird der Prozeß der EU-Erweiterungund der Ausdehnung des transatlantischen Sicherheitssystemswahrscheinlich in wohlüberlegten Etappen voranschreiten.Unter der Voraussetzung, daß Amerika und Westeuropa an ihremEngagement festhalten, könnte ein theoretischer aber vorsichtigrealistischer Zeitplan für diese Etappen folgendermaßenaussehen:1.Spätestens 1999 werden die ersten neuen Mitglieder ausMitteleuropa in die NATO aufgenommen sein, wenn auchihr Betritt zur EU vermutlich nicht vor 2002 oder 2003erfolgen wird.2. In der Zwischenzeit wird die EU Beitrittsverhandlungenmit den baltischen Republiken aufnehmen, und auch dieNATO wird sich in der Frage einer Mitgliedschaft dieserStaaten sowie Rumäniens vorwärtsbewegen, derenBeitritt mutmaßlich 2005 abgeschlossen sein dürfte.Irgendwann in diesem Stadium werden wohl die anderenBalkanstaaten die für Beitrittskandidaten erforderlichenVoraussetzungen ebenfalls erfüllen.


Der Demokratische Brückenkopf 1273.Der Beitritt der baltischen Staaten könnte vielleicht auchSchweden und Finnland dazu bewegen, eine Mitgliedschaftin der NATO in Erwägung zu ziehen.4. Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukrainefür ernsthafte Verhandlungen sowohl mit der EU als auchmit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Landin der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seineninnenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicherals ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat.In der Zwischenzeit wird sich wahrscheinlich die deutschfranzösisch-polnischeZusammenarbeit, vor allem im Bereichder Verteidigung, beträchtlich vertieft haben. <strong>Die</strong> Zusammenarbeitkönnte der westliche Kern weiterer europäischer Sicherheitsvereinbarungen werden, die schließlich sogar Rußlandund die Ukraine einbeziehen möchten. Angesichts des besonderengeopolitischen Interesses, das Deutschland und Polen an derUnabhängigkeit der Ukraine haben, ist auch durchaus denkbar,daß die Ukraine allmählich in das Sonderverhältnis zwischenFrankreich, Deutschland und Polen eingebunden wird. Bis zumJahr 2010 könnte sich die 230 Millionen Menschen umfassendedeutsch-französisch-polnisch-ukrainische Zusammenarbeit zueiner Partnerschaft entwickelt haben, die Europas geostrategischeTiefe verstärkt (vgl. Karte Seite 128).Es kommt nun sehr darauf an, ob sich das oben skizzierteSzenario friedlich entwickeln kann oder in den Sog zunehmenderSpannungen mit Rußland gerät. Den Russen solltebeständig versichert werden, daß ihnen die Tür zu Europaoffensteht, ebenso wie die zu seiner späteren Beteiligungihres Landes an einem erweiterten transatlantischen Sicherheitssystemund vielleicht in fernerer Zukunft an einer neuentranseurasischen Sicherheitsstruktur. Um diesen BeteuerungenGlaubwürdigkeit zu verleihen, sollten die Zusammenar-


128 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>beit und der Austausch zwischen Rußland und Europa auf allenGebieten ganz bewußt gefördert werden. (Rußlands Verhältniszu Europa und die Rolle der Ukraine in diesem Zusammenhangsind im nächsten Kapitel ausführlicher dargelegt.)Wenn Europas Einigung und seine Erweiterung nach Ostenhin gelingt und Rußland derweil demokratische Konsolidierungund Modernisierung seiner Gesellschaft zustande bringt, kannes irgendwann ebenfalls für eine echte Beziehung zu Europain Frage kommen. Das wiederum würde eine allmählicheVerschmelzung des transatlantischen Sicherheitssystemsmit einem transkontinentalen eurasischen ermöglichen.In der Praxis jedoch wird sich die Frage einer formellenMitgliedschaft Rußlands für die nächste Zukunft nicht stellen


Der Demokratische Brückenkopf 129– und das ist, wenn überhaupt, ein weiterer Grund, ihm nichttöricht die Türen zu verschließen. Um zum Ende zu kommen:Nachdem das Europa von Jalta der Vergangenheit angehört,geht es darum, zu einem Versailler Europa zu kommen. DasEnde der europäischen Teilung sollte keinem Rückfall in einEuropa streitsüchtiger Nationalstaaten Vorschub leisten, essollte vielmehr der Ausgangspunkt für die Gestaltung einesgrößeren und zunehmend integrierteren Europas sein, das, gestütztauf eine erweiterte NATO und durch eine konstruktiveSicherheitspartnerschaft mit Rußland, sicherer als bisher seinwird. Amerikas zentrales geostrategisches Ziel in Europa läßtsich also ganz einfach zusammenfassen: durch eine glaubwürdigeretransatlantische Partnerschaft muß der Brückenkopfder USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden,daß ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werdenkann, von dem aus sich eine internationale Ordnung derDemokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreitenläßt.


130 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>4DAS SCHWARZE LOCH<strong>Die</strong> Ende 1991 vollzogene Auflösung des gebietsmäßig größtenStaates der Welt verursachte mitten in Eurasien ein »SchwarzesLoch«. Es war, als sei das Herzland wie es die Geopolitikergenannt haben, plötzlich aus der Landkarte herausgerissenworden.<strong>Die</strong>se neuartige und verwirrende geopolitische Lage stelltfür Amerika einen ungemeinen Ansporn dar. Verständlicherweisemuß die vorrangige Aufgabe sein, die Wahrscheinlichkeitzu verringern, daß ein zerbröckelnder, immer noch über einmächtiges Atomwaffenarsenal verfügender Staat in politischeAnarchie verfällt oder sich wieder in eine feindliche Diktaturverwandelt. Als langfristige Aufgabe jedoch bleibt das Problemzu lösen, wie man Rußlands Demokratisierung und wirtschaftlicheErholung unterstützen und dabei das erneute Entsteheneines eurasischen Imperiums vermeiden kann, das Amerika ander Verwirklichung seines geostrategischen Ziels hindern könnte,ein größeres euroatlantisches System zu entwerfen, in welchessich dann Rußland dauerhaft und sicher einbeziehen läßt.


Rußlands neuer geopolitischer RahmenDas Schwarze Loch 131Der Zusammenbruch der Sowjetunion war das letzte Stadiumin der fortschreitenden Fragmentierung des riesigen chinesischsowjetischenkommunistischen Blocks, der von seinem Umfangher für kurze Zeit dem Reich Dschingis Khans entsprach undes mancherorts sogar übertraf. Aber der modernere transkontinentaleeurasische Block war von sehr kurzer Dauer. Schonals Titos Jugoslawien abtrünnig wurde und Maos China derMoskauer Zentrale den Gehorsam verweigerte, deutete sich dieVerwundbarkeit des kommunistischen Lagers gegenüber nationalistischenBestrebungen an, die sich als stärker erwiesen alsideologische Bande. Der chinesisch-sowjetische Block bestand,grob gesagt, zehn, die Sowjetunion etwa siebzig Jahre.Unter geopolitischem Aspekt noch bedeutsamer war jedochder Ruin des jahrhundertelang von Moskau aus regiertenGroßrussischen Reiches. Der Zerfall dieses Reiches wurde durchdas allgemeine sozioökonomische und politische Scheiterndes Sowjetsystems beschleunigt – obwohl dessen Malaise fastbis zum bitteren Ende durch systematische Geheimhaltungund Selbstisolation zum Großteil verschleiert wurde. Daherwar die Welt über die scheinbar rasante Selbstzerstörung derSowjetunion fassungslos. Innerhalb zweier kurzer Wochen wurdeim Dezember 1991 die Sowjetunion von den Oberhäupternder russischen, ukrainischen und weißrussischen Republik zuersttrotzig für aufgelöst erklärt, dann formal durch eine losere Einheit– die sogenannte Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS)– ersetzt, die alle Sowjetrepubliken bis auf die baltischen Staatenumfaßte. Hierauf trat der sowjetische Präsident widerstrebendzurück, die Sowjetfahne wurde zum letzten Mal von der Spitzedes Kremls eingeholt, und schließlich entstand die RussischeFöderation – nun ein vorwiegend russischer Nationalstaat mit


132 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>150 Millionen Einwohnern – als de-facto-Nachfolger der früherenSowjetunion, während die anderen Republiken – dieweitere 150 Millionen Menschen stellen – in unterschiedlichemMaße ihre Souveränität als unabhängige Staaten geltendmachten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion löste einungeheures geopolitisches Durcheinander aus. Binnen zweiWochen mußte das russische Volk – das, allgemein gesagt,über die drohende Auflösung der Sowjetunion noch wenigervorgewarnt war als die übrige Welt – plötzlich erkennen, daßes nicht mehr Herr über ein transkontinentales Reich war, sonderndaß die Grenzen Rußlands dorthin zurückverlegt wordenwaren, wo sie im Kaukasus um 1800, in Zentralasien um 1850und – viel ärgerlicher und einschneidender – im Westen um1600, kurz nach der Regierungszeit Iwans des Schrecklichen,verlaufen waren. Der Verlust des Kaukasus gab den strategischenÄngsten vor einem wiederauflebenden türkischenEinfluß neue Nahrung, die Abspaltung Zentralasiens erzeugteangesichts der dort vorhandenen enormen Energiequellenund Bodenschätze ein Gefühl der Deprivation und schürteÄngste vor einer potentiellen islamischen Bedrohung, und dieUnabhängigkeit der Ukraine stellte den russischen Anspruch,der von Gott auserkorene Bannerträger einer gemeinsamenpanslawistischen Identität zu sein, geradezu im Kern inFrage.Der Raum, den jahrhundertelang das Zarenreich und eindreiviertel Jahrhundert lang die von Rußland dominierte Sowjetunioneingenommen hatte, sollte nun von einem DutzendStaaten gefüllt werden, die in der Mehrzahl (außer Rußland)auf eine echte Souveränität kaum vorbereitet waren und größenmäßigzwischen der relativ großen Ukraine mit ihren 52Millionen Einwohnern und Armenien mit einer Bevölkerungvon 3,5 Millionen lagen. Ihre Existenzfähigkeit erschienfraglich, während man ebensowenig vorhersagen konnte, ob


Das Schwarze Loch 133Moskau gewillt sein würde, sich auf Dauer an die neueRealität anzupassen. Der historische Schock, den die Russenerlitten, wurde noch durch den Umstand vergrößert, daß andie 20 Millionen russisch-sprachiger Menschen nun Bürgerausländischer Staaten waren, deren Politik zunehmend von nationalenEliten dominiert wird, die nach Jahrzehnten mehr oderweniger erzwungener Russifizierung entschlossen sind, die eigeneIdentität zur Geltung zu bringen. Im eigentlichen ZentrumEurasiens hinterließ der Zusammenbruch des russischenImperiums ein Machtvakuum. Nicht nur in den seit kurzemunabhängigen Staaten zeigten sich Anzeichen von Schwächeund Konfusion, auch in Rußland selbst löste der Umbruch eineschwere Systemkrise vor allem deshalb aus, weil der politischeUmschwung mit dem gleichzeitigen Versuch einherging, dasalte sowjetische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell abzuschaffen.Rußlands militärische Verwicklung in Tadschikistan,hinter der die Angst vor einer Machtübernahme durch muslimischeKräfte in diesem nunmehr unabhängigen Staat stand,und insbesondere die tragische, brutale und sowohl wirtschaftlichals auch politisch sehr kostspielige Intervention inTschetschenien verschlimmerten das nationale Trauma noch.Am allerschmerzlichsten freilich war Rußlands beträchtlicheEinbuße an internationalem Prestige: Nun war die eineder beiden Supermächte in den Augen vieler kaum mehr alseine Regionalmacht in der Dritten Welt, obwohl sie nochimmer ein bedeutendes, wenn auch zunehmend veraltetesAtomwaffenarsenal besitzt.Unter dem Ausmaß der sozialen Krise verstärkte sich dasgeopolitische Vakuum zusätzlich. Ein dreiviertel Jahrhundertkommunistischer Herrschaft hatte der russischen Bevölkerungbeispiellose Opfer abverlangt. Millionen seiner begabtestenund erfindungsreichsten Menschen wurden ermordet oderkamen in den Gulags ums Leben. In diesem Jahrhundert


134 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>hatte das Land obendrein die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs,das Gemetzel in einem langwierigen Bürgerkrieg unddie Grausamkeiten und Verluste des Zweiten Weltkriegs erduldenmüssen. Das herrschende kommunistische Regime zwangdem Land eine erstickende doktrinäre Orthodoxie auf und isoliertees von der übrigen Welt. Seine gegenüber ökologischenBelangen völlig gleichgültige Wirtschaftspolitik hat sowohldie Umwelt als auch die Gesundheit der Menschen erheblichin Mitleidenschaft gezogen. Laut offizieller russischer Statistikkamen nur etwa 40 Prozent der Neugeborenen gesund zur Welt,während nach grober Schätzung ein Fünftel der russischenErstkläßler in ihrer geistigen Entwicklung gehemmt sind. <strong>Die</strong>Lebenserwartung bei Männern war auf 57,3 Jahre gesunken,und die Sterblichkeitsrate überstieg die Geburtenquote. <strong>Die</strong>sozialen Bedingungen waren genaugenommen typisch fürein Dritte-Welt-Land mittlerer Kategorie. <strong>Die</strong> Schrecken unddie Heimsuchungen, denen das russische Volk im Lauf diesesJahrhunderts ausgesetzt war, lassen sich schwerlich überschätzen.Kaum eine russische Familie hatte die Möglichkeit, einnormales bürgerliches Leben zu führen. Man bedenke die sozialenFolgen der folgenden Ereignisse:– der russisch-japanische Krieg von 1905, der mit einerfür Rußland demütigenden Niederlage endete;– die erste »proletarische Revolution« von 1905, die inden Städten in größerem Ausmaß Gewalt entzündete;– der Erste Weltkrieg von 1914–1917 mit Millionen vonOpfern und massiver wirtschaftlicher Erschütterung;– der Bürgerkrieg von 1918–1921, der abermals etlicheMillionen Menschenleben forderte und das Land verwüstete;– der russisch-polnische Krieg von 1919–1920, der mitRußlands Niederlage endete;


Das Schwarze Loch 135– die Einführung der Straflager in den frühen zwanziger Jahreneinschließlich der Dezimierung der vorrevolutionärenEliten und deren Massenflucht aus Rußland;– die Industrialisierungs- und Kollektivierungsschübe Anfangund Mitte der dreißiger Jahre, in deren Gefolge verheerendeHungerkatastrophen in der Ukraine und Kasachstan MillionenOpfer forderten;– die großen Säuberungen und der Terror in der zweitenHälfte der dreißiger Jahre, bei denen Millionen von Menschenin Arbeitslager gesperrt, über eine Million erschossen wurdenund mehrere Millionen an den Folgen von Mißhandlung undHunger starben;– der Zweite Weltkrieg von 1941–1 945 mit seinem in die Millionengehenden Blutzoll von Gefallenen und Zivilisten undder ungeheueren wirtschaftlichen Verheerung;– die Neuauflage des stalinistischen Terrors in den späten vierzigerJahren, bei denen es wieder zu Massenverhaftungen undzahlreichen Hinrichtungen kam;– der jahrzehntelange Rüstungswettlauf mit den VereinigtenStaaten, der vom Ende der vierziger bis Ende der achtzigerJahre dauerte und zur Verarmung der Gesellschaft führte;– die in wirtschaftlicher Hinsicht fatalen Anstrengungen währendder siebziger und achtziger Jahre, den Einflußbereichder Sowjetmacht in die Karibik, den Nahen Osten und Afrikaauszudehnen;– der lähmende Krieg in Afghanistan von 1979 bis 1989;– der plötzliche Zerfall der Sowjetunion und in seinemGefolge bürgerkriegsähnliche Zustände, eine verzehrendeWirtschaftskrise und der blutige und demütigende Krieg gegenTschetschenien.Nicht nur die innenpolitische Krise Rußlands und sein Verlustan internationalem Ansehen waren, insbesondere für seinepolitische Elite, besorgniserregend und beunruhigend, die


136 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Turbulenzen hatten auch auf seine geopolitische Lage negativeAuswirkungen. <strong>Die</strong> Auflösung der Sowjetunion hat dieGrenzen Rußlands nach Westen auf höchst einschneidendeWeise verändert und sein geopolitisches Einflußgebiet beachtlichschrumpfen lassen. Seit dem 18. Jahrhundert hattendie baltischen Staaten unter russischer Oberhoheit gestanden;der Verlust der Hafenstädte Riga und Tallin schränkte RußlandsZugang zur Ostsee erheblich ein und machte ihn vonWinterfrösten abhängig. Obwohl sich Moskau eine politischbeherrschende Position in dem offiziell nunmehr unabhängigen,aber stark russifizierten Weißrußland zu bewahren vermochte,galt es keineswegs als sicher, ob die grassierendennationalistischen Bestrebungen nicht schließlich auch dortdie Oberhand gewinnen würden. Und jenseits der Grenzender früheren Sowjetunion bedeutete der Zusammenbruchdes Warschauer Pakts, daß die früheren SatellitenstaatenMitteleuropas, allen voran Polen, rasch zur NATO undEuropäischen Union hinstrebten. Am beunruhigendsten warder Verlust der Ukraine. Das Auftreten eines unabhängigenukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesenihrer eigenen politischen und ethnischen Identität neu zuüberdenken, sondern stellte auch für den russischen Staatein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. Da mehrals dreihundert Jahre russischer Reichsgeschichte plötzlichgegenstandslos wurden, bedeutete das den Verlust einerpotentiell reichen industriellen und agrarischen Wirtschaftsowie von 52 Millionen Menschen, die den Russen ethnischund religiös nahe genug standen, um Rußland zu einemwirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen.<strong>Die</strong> Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Rußlandzudem seiner beherrschenden Position am SchwarzenMeer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handelmit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.


Das Schwarze Loch 137Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraineeinen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Rußlandsgeostrategische Optionen drastisch. Selbst ohne die baltischenStaaten und Polen könnte ein Rußland, das die Kontrolle überdie Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewußteneurasischen Reiches anstreben, in welchem Moskau dienichtslawischen Völker im Süden und Südosten der ehemaligenSowjetunion dominieren könnte. Aber ohne die Ukrainemit ihren 52 Millionen slawischen Brüdern und Schwesterndroht jeder Versuch Moskaus, das eurasische Reich wiederaufzubauen,Rußland in langwierige Konflikte mit den nationalund religiös motivierten Nichtslawen zu verwickeln, wobeider Krieg mit Tschetschenien vielleicht nur ein Vorgeschmackwar. Angesichts der fallenden Geburtenrate in Rußland und desenormen Geburtenzuwachses bei den Völkern Zentralasienswürde der Anteil an Europäern in einem neuen, ausschließlichauf russischer Macht gegründeten eurasischen Einheitsstaatohne die Ukraine unweigerlich von Jahr zu Jahr schwindenund der asiatische Bevölkerungsteil zusehends überwiegen.Der Wegfall der Ukraine wirkte auch als geopolitischer Katalysator.Politische Schritte der ukrainischen Führung – dieukrainische Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1991, dasInsistieren bei den kritischen Verhandlungen in Bela Vezha, daßdie Sowjetunion durch eine losere Gemeinschaft unabhängigerStaaten ersetzt werden sollte, und vor allem die unerwartete,staatsstreichartige Unterstellung der auf ukrainischem Bodenstationierten Einheiten der Sowjetarmee unter ukrainischesKommando – verhinderten, daß sich unter dem neuem NamenGUS die alte UdSSR in etwas föderalerem Gewand verbarg.<strong>Die</strong> politische Selbstbestimmung der Ukraine machte Moskaufassungslos und setzte ein Beispiel, dem die anderen ehemaligenSowjetrepubliken, wenn auch anfangs eher zögerlich,folgten.


138 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Rußlands Verlust seiner beherrschenden Position an derOstsee fand sein Pendant am Schwarzen Meer, zum einen wegender Unabhängigkeit der Ukraine, zum anderen weil die jetztunabhängigen kaukasischen Staaten – Georgien, Armenien undAserbaidschan – die Möglichkeiten der Türkei verbesserten,ihren verlorengegangenen Einfluß in der Region aufs neuegeltend zu machen. Bis 1991 konnte die Sowjetmacht vomSchwarzen Meer aus ihre Kreuzer ins Mittelmeer entsenden.Mitte der neunziger Jahre verfügte Rußland nur noch über einenschmalen Küstenstreifen am Schwarzen Meer und war mit derUkraine in einen ungelösten Streit über die Stützpunkterechteauf der Krim für die Reste der sowjetischen Schwarzmeerflotteverstrickt, während es mit offenkundiger Verärgerung zusah,wie NATO- und ukrainische Streitkräfte gemeinsam See- undLandemanöver durchführten und der türkische Einfluß in derSchwarzmeerregion wuchs. Außerdem verdächtigte Rußland dieTürkei, den tschetschenischen Widerstand mit Hilfslieferungenunterstützt zu haben. Weiter nach Südosten hin führte die geopolitischeErschütterung einen ähnlich bedeutsamen Wandel imStatus des Kaspischen Beckens und Zentralasiens herbei. Vordem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Kaspische Meer,mit Ausnahme eines kleinen Teils im Süden, der zum Iran gehörte,ein nahezu rein russisches Gewässer gewesen. Als nun einunabhängiges und stark nationalistisches Aserbaidschan entstand– gestärkt durch den Zustrom geschäftstüchtiger Ölinvestorenaus dem Westen – und auch Kasachstan und Turkmenistanals unabhängige Staaten auftraten, meldeten plötzlich außerRußland weitere vier Länder Ansprüche auf die Reichtümerdes Kaspischen Beckens an. Rußland konnte nicht mehr selbstverständlichvon der alleinigen Verfügungsgewalt über dieseBodenschätze ausgehen.Mit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten hattesich Rußlands südöstliche Grenze an einigen Stellen um


Das Schwarze Loch 139mehr als tausend Meilen nach Norden verschoben. <strong>Die</strong> neuenStaaten verfügten über riesige Mineral- und Erdölvorkommen,die ausländische Interessenten anlocken mußten. Es warfast unvermeidlich, daß neben den Eliten über kurz oder langauch die Völker dieser Staaten nationalistischer wurden undsich vielleicht zunehmend zum Islam bekehrten. In Kasachstan,einem riesigen Land, das ungeheuere Bodenschätzebesitzt, aber nur knapp 20 Millionen Einwohner hat, zu nahezugleichen Teilen Kasachen und Slawen, werden sich dieReibereien aufgrund nationaler und sprachlicher Unterschiedewahrscheinlich verstärken. Usbekistan – mit einer ethnischviel homogeneren Bevölkerung von etwa 25 Millionen undpolitischen Führern, die die geschichtlichen Ruhmestaten desLandes herausstreichen – hat den neuen, postkolonialen Statusdes Landes in immer stärkerem Maße geltend gemacht.Turkmenistan, durch Kasachstan von jedem direkten Kontaktmit Rußland abgeschirmt, hat ganz unverhohlen neueBeziehungen zum Iran geknüpft, um für einen Zugang zuden Weltmärkten von der russischen Infrastruktur weniger abhängigzu sein. Da sie von der Türkei, dem Iran, Pakistan undSaudi-Arabien unterstützt wurden, waren die zentralasiatischenStaaten entgegen russischen Hoffnungen nicht geneigt,ihre neue politische Souveränität gegen eine selbst gnädigewirtschaftliche Integration mit Rußland zu tauschen. Einegewisse Spannung und Feindseligkeit in ihrem Verhältniszu Rußland bleibt jedenfalls unausweichlich, während dieschmerzlichen Vorgänge von Tschetschenien und Tadschikistandarauf hindeuten, daß etwas Schlimmeres nicht gänzlich ausgeschlossenwerden kann. Für die Russen muß das Gespensteines möglichen Konflikts mit den islamischen Staaten entlangder gesamten Südflanke Rußlands (die zusammen mitder Türkei, dem Iran und Pakistan mehr als 300 MillionenMenschen aufbieten) Anlaß zu ernster Besorgnis sein.


140 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Und schließlich hatte es Rußland zum Zeitpunkt, alssich sein Reich auflöste, auch in Fernost mit einer bedrohlichenneuen geopolitischen Lage zu tun, obzwar dort keineterritorialen oder politischen Veränderungen stattgefundenhaben. Über mehrere Jahrhunderte hinweg war China – zumindestauf politisch-militärischem Gebiet – schwächerund rückständiger gewesen als Rußland. Kein Russe, demdie Zukunft seines Landes am Herzen liegt und der von dengravierenden Veränderungen dieses Jahrzehnts verstört ist,kann über die Tatsache hinwegsehen, daß sich China aufmacht,ein fortschrittlicherer, dynamischerer und erfolgreichererStaat als Rußland zu werden. Mit der enormenTatkraft seiner 1,2 Milliarden Menschen schickt sich ChinasWirtschaftsmacht an, die historische Gleichung zwischenden beiden Ländern von Grund auf umzukehren, wobei dieleeren Räume Sibiriens chinesische Siedler fast schon herbeiwinken.<strong>Die</strong>se atemberaubenden neuen Gegebenheitenkonnten für das russische Sicherheitsbewußtsein in derfernöstlichen Region wie auch für seine Interessen inZentralasien nicht folgenlos bleiben. Im Vergleich zu dieserEntwicklung könnte womöglich schon bald der Verlust derUkraine seine geopolitische Bedeutung verlieren. WladimirLukun, Rußlands erster postkommunistischer Botschafterin den Vereinigten Staaten und späterer Vorsitzender desAußenpolitischen Ausschusses der Duma, hat die sich darausergebenden strategischen Folgerungen sehr gut zumAusdruck gebracht:»In der Vergangenheit sah sich Rußland als VorhutAsiens, wenn auch gegenüber Europa im Rückstand. Aberseither hat sich Asien viel schneller entwickelt ... wir müssenerkennen, daß wir nicht mehr so sehr zwischen demmodernen Europa und dem zurückgebliebenen Asien stehen,sondern vielmehr


Das Schwarze Loch 141


142 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>eine merkwürdige Mittelstellung zwischen zwei Europas einnehmen.«12Kurzum, Rußland, bis vor wenigen Jahren der Schmied einesgroßen Landreiches und Führer eines ideologischen Blocks vonSatellitenstaaten, die sich bis ins Herz von Europa erstrecktenund an einem Punkt sogar bis ins Südchinesische Meer, ist zueinem unruhigen Nationalstaat geworden, der geographisch gesehenkeinen leichten Zugang zur Außenwelt hat und der an seinerwestlichen, südlichen und östlichen Flanke kräftezehrendenKonflikten mit seinen Nachbarn ausgesetzt ist. Nur die unbewohnbarenund unzugänglichen nördlichen Permafrostgebietescheinen geopolitisch noch sicher.Geostrategische WunschvorstellungenEine Phase historischer und strategischer Konfusionwar somit im postimperialen Rußland unausweichlich. DerZusammenbruch der Sowjetunion und unerwartete Zerfall desGroßrussischen Reiches stürzten Rußland in eine mentale Kriseund löste eine weitreichende Debatte über ein neues, der gegenwärtigenhistorischen Lage entsprechendes Selbstverständnisaus. Plötzlich wurden öffentlich und privat Fragen diskutiert,die sich bislang nicht einmal die meisten größeren Nationengestellt haben: Was ist Rußland? Wo ist Rußland? Was heißt es,Russe zu sein?<strong>Die</strong>se Fragen sind nicht nur theoretischer Natur: JedeAntwort enthält eine wichtige geopolitische Aussage. Ist Rußlandein Nationalstaat, der auf einer rein russischen Bevölke-12 In: “Our Security Predicament”, Foreign Policy 88 (Herbst 1992):60.


Das Schwarze Loch 143rung basiert, oder ist Rußland per definitionem etwas mehr(wie Großbritannien mehr als England ist) und daher dazuausersehen, ein Großreich zu sein? Wo verlaufen – historisch,strategisch und ethnisch gesehen – die eigentlichenGrenzen Rußlands? Sollte die Unabhängigkeit der Ukraineunter diesen historischen, strategischen und ethnischenAspekten als eine vorübergehende Verirrung betrachtetwerden? (Viele Russen neigen dieser Ansicht zu.) Mußman, um Russe zu sein, ethnisch ein Russkij sein, oder kanneiner auch nur im politischen Sinn Russe sein (das heißt einRossjanin – das Äquivalent zu britisch, aber nicht englisch)?Jelzin und einige andere Russen haben beispielsweise (mittragischen Konsequenzen) behauptet, die Tschetschenenkönnten – ja, sollten – als Russen betrachtet werden. EinJahr vor dem Ende der Sowjetunion beklagte sich ein russischerNationalist, einer der wenigen, die das Ende kommensahen, bitter und verzweifelt:»Wenn das schreckliche Desaster das für das russischeVolk undenkbar ist, doch eintritt und der Staatauseinandergerissen wird und das Volk, von seiner tausendjährigenGeschichte getäuscht, plötzlich alleine dasteht,weil diejenigen, die bis vor kurzem seine Brüder waren,das sinkende Schiff verlassen haben und mitsamt ihrenHabseligkeiten in ihre nationalen Rettungsboote verschwundensind – tja, wo sollen wir denn hin? – nirgendwo...Russische Eigenstaatlichkeit, die der politische, ökonomischeund geistige Ausdruck der russischen Idee ist, wirdaufs neue entstehen. Sie wird das Beste aus ihren tausendJahren Reichsgeschichte und den im Nu vergangenensiebzig Jahren Sowjetgeschichte zusammenraffen.« 1313 Alexander Proehanow, “Tragedy of Centralism“, Literaturnaja Rossija, Januar1990, S. 4-5.


Aber wie? <strong>Die</strong> historische Krise des russischen Staates hat dieSchwierigkeit, eine für das russische Volk akzeptable Antwortzu formulieren, die dennoch realistisch ist, noch selbst vergrößert.Fast seine ganze Geschichte hindurch war dieser Staatgleichzeitig ein Werkzeug territorialer Expansion und wirtschaftlicherEntwicklung. Es war außerdem ein Staat, der sichnicht als rein nationales Instrument in der westeuropäischenTradition verstand, sondern als Vollstrecker einer besonderensupranationalen Mission, deren zugrundeliegende russischeIdee je nachdem religiös, geopolitisch oder ideologisch interpretiertwurde. Als der Staat im wesentlichen auf das von Russenbevölkerte Gebiet zusammenschrumpfte, hatte diese Missionplötzlich ausgedient. Verschärfend auf die Krise, in die der russischeStaat (sein Wesenskern sozusagen) nach dem Ende derSowjetunion stürzte, wirkte sich aus, daß Rußland sich plötzlichnicht nur seines imperialen Sendungsbewußtseins beraubt sah,sondern zusätzlich von innenpolitischen Modernisierern (undderen Beratern aus dem Westen) gedrängt wurde, von seinemstaatskapitalistischen Wirtschaftssystem Abschied zu nehmen,um die zwischen seiner gesellschaftlichen Rückständigkeitund den fortschrittlicheren Teilen Eurasiens gähnende Kluftzu überwinden. <strong>Die</strong>s erforderte eine geradezu revolutionäreBeschränkung der internationalen und innenpolitischen Rolledes russischen Staates. Es erschütterte selbst die anerkanntestenMuster des russischen Lebens zutiefst und trug dazu bei, daßsich innerhalb der politischen Elite ein Gefühl geopolitischerDesorientierung ausbreitete und Uneinigkeit stiftete.Vor diesem verwirrenden Hintergrund löste die Frage:Wohin gehört Rußland und was ist Rußland? – wie man sichdenken kann – alle möglichen Antworten aus. Rußlands Ausdehnungund Lage im Zentrum Eurasiens bringen es mit sich,daß seine politische Führungsschicht schon seit langem ingeopolitischen Kategorien denkt. Der erste Außenminister


des postimperialen und postkommunistischen Rußlands, AndrejKosyrew, bestätigte diese Denkweise in einem seinerfrühen Versuche, das Verhalten des neuen Rußlands auf derinternationalen Bühne zu bestimmen. Kaum einen Monat nachder Auflösung der Sowjetunion bemerkte er: »Wir geben jedenAnspruch, die Menschheit zu erlösen auf und nehmen Kurs aufPragmatismus ... wir haben schnell begriffen, daß Geopolitik... an die Stelle der Ideologie tritt.« 14 Generell kann man sagen,daß in Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion dreiumfassende und zum Teil sich überschneidende geostrategischeOptionen aufgetaucht sind, deren jede letztlich mit RußlandsSorge um seinen Status gegenüber den USA zusammenhängtund jeweils einige interne Varianten enthält. <strong>Die</strong>se verschiedenenDenkschulen lassen sich wie folgt klassifizieren:1. Jene, für die die vollentwickelte strategischePartnerschaft mit Amerika Priorität hat, die einige ihrerAnhänger tatsächlich als Codewort für ein globalesKondominat verstanden;2. jene, für die Rußlands vorrangiges Anliegen, seineBeziehung zum nahen Ausland sein muß, wobei einigefür eine Form von wirtschaftlicher Integration unter derFührung Moskaus eintreten, andere aber mit der schließlichdoch möglichen Wiederherstellung eines gewissenMaßes an imperialer Gewalt liebäugeln, weil damit eineMacht entstünde, die Amerika und Europa besser Parolibieten könnte; und schließlich3. jene, die ein Gegenbündnis anstrebt, also eine Art voneurasischer Anti-USA-Koalition, die das Übergewicht derVereinigten Staaten in Eurasien verringern soll.14 Interview in Rossijskaja Gaseta, 12. Januar 1992.


146 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Obwohl die erste der genannten Optionen in PräsidentJelzins neuer Regierungsmannschaft anfangs eindeutig denVorrang genoß, rückte kurz darauf die zweite in den Vordergrund;die dritte wurde etwas später, Mitte der neunzigerJahre, in Reaktion auf das um sich greifende Gefühl laut,daß Rußlands postsowjetische Geostrategie unklar und einFehlschlag war. Zufällig erwiesen sich alle drei als historischungeschickt, beruhten sie doch auf ziemlich trügerischenEinschätzungen der gegenwärtigen Macht Rußlands,seiner internationalen Möglichkeiten und seiner außenpolitischenInteressen. Jelzins anfängliche Haltung unmittelbarnach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gipfelte in deralten, aber nie ganz erfolgreichen Westler-Konzeption impolitischen Denken Rußlands, derzufolge Rußland zumWesten gehöre, Teil des Westens sei und in der eigeneninnenpolitischen Entwicklung den Westen so weit wie möglichnachahmen solle. Jelzin und sein Außenminister tratenfür diese Auffassung ein und der Präsident brandmarkteganz explizit Rußlands imperiales Erbe. In einer Rede am19. Dezember 1990 in Kiew äußerte er in Worten, die dieUkrainer und Tschetschenen später gegen ihn verwendensollten, eloquent:»Rußland strebt nicht danach, der Mittelpunkt eines neuenReiches zu werden ... Besser als andere weiß Rußland umdie Schädlichkeit einer solchen Rolle, weil es diese Rolle jalange Zeit gespielt hat. Was hatte es davon? Sind die Russenetwa dadurch freiere Menschen geworden? Wohlhabender?Glücklicher? ... <strong>Die</strong> Geschichte hat uns gelehrt, daß einemVolk, das über andere herrscht, kein Glück beschieden seinkann.«<strong>Die</strong> bewußt freundliche Haltung, die der Westen, insbesonderedie Vereinigten Staaten, gegenüber der neuen russischenFührung einnahm, war für die postsowjetischen Westler im


Das Schwarze Loch 147russischen Außenministerium eine Quelle der Ermutigung.Sie bestärkte sie in ihren proamerikanischen Neigungen undverdrehte ihren Verfechtern den Kopf. <strong>Die</strong> neuen Führer fühltensich geschmeichelt, mit den politischen Repräsentantender <strong>einzige</strong>n Supermacht der Welt auf du und du zu stehen,und gaben sich unkritisch der Selbsttäuschung hin, ebenfallsan der Spitze einer Supermacht zu stehen. Als die Amerikanerdas Schlagwort von der vollentwickelten strategischenPartnerschaft zwischen Washington und Moskau in die Weltsetzten, schien es den Russen, als sei damit ein neues demokratischesamerikanisch-russisches Kondominat – an Stelledes vormaligen Konkurrenzkampfes – sanktioniert worden.Da dieses Kondominium von seinem Geltungsbereich herglobal wäre, würde Rußland zum Rechtsnachfolger der früherenSowjetunion und zum de-facto-Partner in einer globalenÜbereinkunft, die auf echter Gleichberechtigung beruhte.Wie die neuen russischen Machthaber nie müde wurden zubehaupten, hätte das bedeutet, daß die übrige Welt Rußlandals Amerika ebenbürtig anerkennen solle, und darüber hinaus,daß kein globales Problem ohne Rußlands Beteiligungund/oder Erlaubnis angepackt oder gelöst werden könne.Obwohl sie nicht offen ausgesprochen wurde, nährte dieseIllusion die Vorstellung, daß Mitteleuropa irgendwie eine Regionvon besonderer politischer Nähe zu Rußland bliebe odersogar bleiben wollte. <strong>Die</strong> Auflösung des Warschauer Paktsund des Comecon hätte, so dachte man, keine Hinwendungihrer früheren Mitglieder zur NATO, ja nicht einmal zur EUzur Folge.In der Zwischenzeit würde die russische Regierung dankwestlicher Hilfe in die Lage versetzt, innere Reformen inAngriff zu nehmen, im Zuge derer sich der Staat aus demWirtschaftsleben zurückzöge und die Konsolidierung demokratischerInstitutionen zuließe. Rußlands wirtschaftliche Erho-


148 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>lung, sein besonderer Status als gleichberechtigter PartnerAmerikas und seine Attraktivität würden die vor kurzem unabhängiggewordenen GUS-Staaten – dankbar, daß das neueRußland sie nicht bedrohte, und sich der Vorteile einer ArtUnion mit Rußland zunehmend bewußt – zur Beteiligung aneiner immer engeren wirtschaftlichen und allmählich auchpolitischen Integration mit Rußland ermutigen, die wiederumRußlands Geltungsbereich und Macht vergrößerten.Problematisch an diesem Ansatz war, daß er auf einer völligunrealistischen Einschätzung sowohl der internationalen alsauch der innenpolitischen Lage Rußlands beruhte. <strong>Die</strong> Vorstellungvon einer vollentwickelten strategischen Partnerschaftwar ebenso schmeichelhaft wie irreführend. Amerika verspürtekeinerlei Neigung, seine <strong>Weltmacht</strong> mit Rußland zu teilen, eswäre auch völlig unrealistisch gewesen. Das neue Rußlandwar einfach zu schwach, seine Wirtschaft in einem dreiviertelJahrhundert kommunistischer Herrschaft zu heruntergekommenund das Land gesellschaftlich zu rückständig, um ein wirklicherPartner im globalen Maßstab zu sein. In den Augen der amerikanischenFührung waren Deutschland, Japan und China mindestensebenso wichtig und einflußreich. Überdies gingen ineinigen der für die Vereinigten Staaten aus nationalem Interessezentralen geostrategischen Fragen – in Europa, dem NahenOsten und in Fernost – die amerikanischen und russischenBestrebungen keineswegs in die gleiche Richtung. Nachdemdann, ganz unvermeidlich, die ersten Differenzen aufgetretenwaren, mußte die vollentwickelte strategische Partnerschaftangesichts des zwischen den USA und Rußland bestehendenUngleichgewichts in politischer Macht, Finanzkraft, technologischemInnovationspotential und kultureller Attraktion hohlerscheinen – und bei immer mehr Russen verstärkte sich derEindruck, als sei diese Formel bewußt dazu bestimmt, Rußlandhinters Licht zu führen.


Das Schwarze Loch 149Vielleicht hätte die Enttäuschung abgewendet werden können,wenn sich Amerika schon früher – während der amerikanisch-russischenFlitterwochen sozusagen – den Plan einerNATO-Erweiterung zu eigen gemacht und Rußland gleichzeitigeinen Deal angeboten hätte, den es nicht hätte ablehnen können,nämlich ein besonderes Kooperationsverhältnis zwischenRußland und der NATO. Wären die Amerikaner von vornhereinklar und entschieden für eine Erweiterung des Bündnisses eingetretenunter der Bedingung, daß Rußland in irgendeiner Formin den Prozeß mit eingebunden werden sollte, dann hätte diespätere Enttäuschung Moskaus über die vollentwickelte strategischePartnerschaft möglicherweise ebenso vermieden werdenkönnen wie die fortschreitende Schwächung des prowestlichenLagers im Kreml. Der richtige Zeitpunkt dafür wäre im zweitenHalbjahr 1993 gewesen, unmittelbar nachdem Jelzin im AugustPolens Interesse an einem Beitritt zur transatlantischen Allianzals mit den Interessen Rußlands vereinbar gebilligt hatte. Stattdessen verfolgte die Clinton-Administration unverdrossen ihreRußland-geht-vor-Politik, die sich noch weitere zwei Jahredahinquälte, in denen der Kreml seine Meinung änderte undgegenüber den inzwischen auftauchenden vagen Hinweisenauf die von den USA beabsichtigte NATO-Erweiterung einezunehmend feindliche Haltung einnahm. Als Washington1996 endlich beschloß, der NATO-Erweiterung in seiner aufdie Gestaltung einer größeren und sichereren euroatlantischenGemeinschaft abzielenden Politik Priorität einzuräumen, hattensich die Russen bereits in eine starre Opposition verrannt.Folglich könnte man 1993 als das Jahr einer verpaßten historischenChance ansehen.Wie man zugeben muß, waren nicht alle russischen Bedenkengegen eine NATO-Erweiterung aus der Luft gegriffenoder böswilliger Natur. Einige Gegner, besonders im russischenMilitär, verharrten in der vom Kalten Krieg geprägten


150 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Einstellung und sahen in der NATO-Erweiterung keinenwesentlichen Bestandteil eines größer werdenden Europa,sondern vielmehr das Vorrücken einer von Amerika geführten,immer noch feindlichen Allianz gegen Rußland. MancheVertreter des russischen Außenministeriums – die meisten vonihnen frühere Kader – hielten an der langjährigen geostrategischenÜberzeugung fest, daß Amerika in Eurasien nichts zusuchen habe und die NATO-Erweiterung weitgehend aufden Wunsch der Amerikaner zurückgehe, ihre Einflußsphärezu vergrößern. Zum Teil speiste sich ihr Widerstand auchaus der Hoffnung, ein neutrales Mitteleuropa werde einesTages in den geopolitischen Einflußbereich Moskauszurückkehren, wenn Rußland wirtschaftlich wieder auf dieBeine gekommen sei. Hingegen fürchteten viele russischeDemokraten, daß Rußland durch die Ausdehnung der NATOvon Europa ausgeschlossen und politisch geächtet bleibeund einer Mitgliedschaft im institutionellen Rahmen europäischerZivilisation für unwürdig erachtet werde. Ein Gefühlkultureller Unterlegenheit verstärkte die politischen Ängsteund ließ die NATO-Erweiterung als Kulminationspunkt einerseit langem vom Westen betriebenen Politik der IsolierungRußlands erscheinen, das schließlich ganz allein dastehenund seinen verschiedenen Feinden wehrlos ausgeliefert seinwerde. Überdies begriffen nicht einmal die demokratischenKreise Rußlands, wie tief bei den Mitteleuropäern der Unmutüber ein halbes Jahrhundert Moskauer Vorherrschaft saß undwie sehr sie Teil eines größeren euroatlantischen Systemswerden wollten.Alles in allem betrachtet, hätte wahrscheinlich weder dieEnttäuschung noch die Schwächung des prowestlichen Lagersvermieden werden können. <strong>Die</strong> in sich gespaltene neuerussische Elite mit einem Präsidenten und einem Außenministeran der Spitze, von denen keiner eine in sich stimmige


Das Schwarze Loch 151geostrategische Führung darzubieten vermochte, war weder inder Lage, klar zu definieren, was Rußland in Europa wollte,noch imstande, das Ausmaß der Misere Rußlands realistischeinzuschätzen. Moskaus politisch so kampfbereite Demokratenkonnten sich nicht zu der Aussage durchringen, daß ein demokratischesRußland nichts gegen die Erweiterung der demokratischentransatlantischen Gemeinschaft einzuwenden habeund sich ihr anschließen wolle. Verblendet von dem Wahn, mitden USA den Status als <strong>Weltmacht</strong> zu teilen, konnte sich diepolitische Elite Moskaus nur schwer mit der Tatsache abfinden,daß Rußland sowohl im Gebiet der einstigen Sowjetunionselbst als auch im Hinblick auf die früheren Satellitenstaatenin Mitteleuropa keine privilegierte geopolitische Position mehreinnahm. <strong>Die</strong>se Entwicklungen spielten den Nationalisten,die 1994 die Sprache wiederzufinden begannen, ebenso in dieHände wie den Militaristen, die mittlerweile Jelzins wichtigsteinnenpolitische Stützen geworden waren. Ihre zunehmendschrillen und gelegentlich drohenden Töne gegenüber denmitteleuropäischen Ländern bestärkten die früheren Satellitenstaatennur um so mehr in ihrer Entschlossenheit, den sicherenHafen der NATO zu erreichen.<strong>Die</strong> Weigerung des Kremls, sich von allen EroberungenStalins loszusagen, vertiefte die Kluft zwischen Washingtonund Moskau weiter. <strong>Die</strong> öffentliche Meinung des Westens,vor allem in Skandinavien, aber auch in den Vereinigten Staatenwar besonders über die zwiespältige Haltung Rußlandsgegenüber den baltischen Republiken beunruhigt. Selbst demokratischeFührungspersönlichkeiten, die die Unabhängigkeitdieser Länder anerkannten und nicht auf eine Mitgliedschaft inder GUS drängten, verlegten sich wiederholt auf Drohungen,um den russischen Bevölkerungsgruppen, die in der Stalin-Ära bewußt in diesen Ländern angesiedelt worden waren,eine Vorzugsbehandlung zu verschaffen. Eine weitere


152 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Verschlechterung erfuhr die Atmosphäre, als Moskau sichostentativ weigerte, das geheime Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Paktvon 1939, das der gewaltsamen Eingliederungdieser Republiken in die Sowjetunion den Weg geebnet hatte,für null und nichtig zu erklären. Noch fünf Jahre nach demZusammenbruch der UdSSR bestanden Kreml-Sprecher (in eineroffiziellen Erklärung vom 10. September 1996) darauf, daß sichdie baltischen Staaten im Jahr 1940 freiwillig der Sowjetunion»angeschlossen« hätten. <strong>Die</strong> postsowjetischen Machthaber hattenanscheinend auch damit gerechnet, daß der Westen Rußlanddabei behilflich sein werde, sich im Raum der früheren UdSSRwieder als bestimmende Kraft zu etablieren, oder es zumindestnicht daran hindern würde. Daher nahmen sie es dem Westenübel, daß er bereit war, die nun unabhängigen postsowjetischenStaaten bei der Konsolidierung ihrer Eigenstaatlichkeitzu unterstützen. Im Gegenzug zu ihrer Warnung vor einerKonfrontation mit den Vereinigten Staaten behaupteten ranghoheAnalytiker der amerikanischen Außenpolitik (nicht ganz zuUnrecht), daß die USA in ganz Eurasien eine Reorganisierungder zwischenstaatlichen Beziehungen anstreben ... wobei esaber auf dem Kontinent keine <strong>einzige</strong> führende Macht, sondernviele mittlere, relativ stabile und mäßig starke gäbe, die aber alseinzelne oder im Kollektiv den Vereinigten Staaten zwangsläufigunterlegen seien.15Von entscheidender Bedeutung war in dieser Hinsicht dieUkraine. In der seit spätestens 1994 zunehmenden Tendenzder USA, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchstePriorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationaleFreiheit bewahren zu helfen, erblickten viele in Moskau –sogardie sogenannten Westler – eine gegen das vitale russi-15 A. Bogaturow und W Kremenjuk (beide Hochschullehrer am Amerika-KanadaInstitut der Akademie der Wissenschaften), in: “The Americans Themselves Will NeverStop“ Nesawissimaja Gaseta, 28. Juni 1996.


Das Schwarze Loch 153sche Interesse gerichtete Politik, die Ukraine schließlich wiederin den Schoß der Gemeinschaft zurückzuholen. Daß sich dieUkraine eines Tages irgendwie reintegrieren lasse, gehört nachwie vor zum Credo vieler Mitglieder der russischen Politelite. 16Der Zusammenprall war unvermeidbar: der Umstand, daßRußland die Souveränität der Ukraine aus geopolitischen undhistorischen Gründen in Frage stellte, stand gegen die amerikanischeÜberzeugung, daß ein imperialistisches Rußland keindemokratisches Rußland sein könne.Zudem gab es rein innenpolitische Gründe dafür, daßsich eine vollentwickelte strategische Partnerschaft zwischenzwei Demokratien als Illusion erwies. Rußland war einfachzu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet,um ein brauchbarer demokratischer Partner derVereinigten Staaten zu sein. Über dieses Kernproblem konnteauch keine vollmundige Partnerschaftsrhetorik hinwegtäuschen.Auch hatte das postsowjetische Rußland nur zumTeil mit seiner Vergangenheit gebrochen. Fast alle seine demokratischenPolitiker – selbst die von der sowjetischen Vergangenheitgründlich desillusionierten – waren nicht nur dasProdukt des Sowjetsystems, sondern hochrangige Mitgliederseiner Herrschaftselite gewesen. Sie kamen nicht wie in Polenoder der Tschechischen Republik aus Dissidentenkreisen. <strong>Die</strong>wichtigsten Institutionen der Sowjetunion bestanden – wenn16 So wurde z.B. sogar Jelzins Spitzenberater, Dmitrij Rjurikow, von Interfax(20. November 1996) dergestalt zitiert, daß er die Ukraine, für “ein vorübergehendesPhänomen“ halte, während Moskaus Obschtschaja Gaseta (10. Dezember 1996) berichtete,daß “in absehbarer Zeit Ereignisse in der östlichen Ukraine Moskau mit einem sehrschwierigen Problem konfrontieren könnten. Massenproteste aus Unzufriedenheit werdenmit Appellen oder sogar Bitten an Rußland, die Region zu übernehmen, einhergehen.Recht wenige Leute in Moskau waren bereit, solche Vorhaben zu unterstützen.“ <strong>Die</strong>Forderungen Moskaus nach der Krim und Sewastopol haben die Bedenken des Westenswegen der russischen Absichten genausowenig beschwichtigt wie provokative Aktionenwie die bewußte Einbeziehung von Sewastopol in die allabendlichen Wetterberichte desöffentlichenrussischen Fernsehens für russische Städte Ende 1996.


154 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>auch geschwächt, demoralisiert und korrumpiert – fort. DasLenin-Mausoleum, noch immer das historische KernstückMoskaus, ist ein Sinnbild für den anhaltenden Einfluß der kommunistischenVergangenheit. Man stelle sich vor Deutschlandwäre nach dem Ende des Nationalsozialismus von ehemaligenGauleitern, die sich demokratischer Schlagworte befleißigten,regiert worden, und mitten in Berlin hätte ein Hitler-Denkmalgestanden! <strong>Die</strong> wirtschaftliche Misere des Landes belastete diepolitisch schwache neue demokratische Regierung zusätzlich.Das Bedürfnis nach durchgreifenden Reformen – dem Rückzugdes russischen Staates aus dem Wirtschaftsleben – riefüberzogene Erwartungen an westliche, vor allem amerikanischeHilfe hervor. Obwohl diese Hilfe, besonders von seitenDeutschlands und der USA, immer größere Ausmaße annahm,konnte sie selbst unter günstigsten Bedingungen keine schnellewirtschaftliche Erholung bewirken. <strong>Die</strong> damit einhergehendesoziale Unzufriedenheit war Wasser auf die Mühlen der enttäuschtenKritiker, die behaupteten, daß die Partnerschaft mitden Vereinigten Staaten eine Farce sei, allein den Amerikanernnütze und Rußland schade.Kurzum, in den Jahren, die auf den Zusammenbruch derSowjetunion folgten, bestanden weder die subjektiven nochdie objektiven Bedingungen für eine effektive globale Partnerschaft.<strong>Die</strong> demokratischen Westler wollten einfach zuviel und konnten zu wenig in die Waagschale werfen. Siewünschten sich eine gleichberechtigte Partnerschaft oder,besser gesagt, ein Kondominat mit Amerika, relativ freieHand innerhalb der GUS und ein geopolitisches Niemandslandin Mitteleuropa. Doch ihre ambivalente Einstellungzur sowjetischen Vergangenheit, ihre unrealistischen <strong>Weltmacht</strong>sphantasien,die schwere Wirtschaftskrise und diemangelnde Unterstützung in weiten Kreisen der Gesellschafthatten zur Folge, daß sie das stabile und wirklich demokratische


Das Schwarze Loch 155Rußland nicht vorweisen konnten, von dem die Konzeptioneiner gleichberechtigten Partnerschaft stillschweigend ausgegangenwar. Bevor Rußland nicht einen langwierigen Prozeßpolitischer Reformen, einen ebenso langwierigen Prozeß demokratischerStabilisierung und einen noch längeren Prozeßsozioökonomischer Modernisierung durchmachte und damiteinhergehend einen Gesinnungswandel hinsichtlich der neuenpolitischen Gegebenheiten nicht nur in Mitteleuropa, sondernvor allem auch in dem vormaligen Russischen Reich vollzog,konnte eine echte Partnerschaft mit Amerika keine tauglichegeopolitische Option werden. Unter diesen Umständenüberrascht es nicht, daß die Hauptkritik an der prowestlichenOrientierung aus den Kreisen kam, die in der vorrangigenKonzentration auf das nahe Ausland schon frühzeitig eine außenpolitischeAlternative sahen. Ihr lag die These zugrunde,daß die Partnerschafts-Konzeption ignoriere, was für Rußlandam wichtigsten sein sollte, nämlich seine Beziehungen zu denfrüheren Sowjetrepubliken. <strong>Die</strong> Kurzformel »nahes Ausland«stand somit für eine politische Richtung, der es in erster Liniedarum ging, in dem einst von der Sowjetunion eingenommenengeopolitischen Raum wieder irgendeine Art von Staatenbundmit Moskau als Zentrum der Entscheidungsfindung aufzubauen.Unter dieser Prämisse bestand breite Übereinstimmungdarüber, daß eine sich auf den Westen, speziell auf Amerika,konzentrierende Politik wenig eintrage und zuviel koste. Sieerleichtere es dem Westen nur, so wurde argumentiert, diedurch den Zusammenbruch der Sowjetunion entstandenenMöglichkeiten auszunutzen.<strong>Die</strong>se Denkrichtung bot jedoch ganz verschiedenengeopolitischen Vorstellungen Raum. Sie vereinigte nebenden ökonomischen Funktionalisten und Deterministen (einschließlicheiniger »Westler«, die glaubten, die GUS könntesich zu einer von Moskau gelenkten Version der EU entwik-


156 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>keln) auch andere, die in der wirtschaftlichen Integrationeines von mehreren Werkzeugen imperialer Restauration erblickten,die entweder unter dem Dach der GUS oder durchspezielle (1996 getroffene) Vereinbarungen zwischen Rußlandund Weißrußland oder Rußland, Weißrußland und Kirgistanwirksam werden könnten. Ebenfalls dazu gehörtenslawophile Romantiker, die für eine aus Rußland, der Ukraineund Weißrußland bestehende Slawische Union eintraten,und schließlich noch die Verfechter eines etwas mystischenEurasianismus als der endgültigen Definition der bleibendenhistorischen Mission Rußlands. Auf einen knappen Nenner gebracht,verbirgt sich hinter der Priorität des »nahen Auslands«die durchaus vernünftige Forderung, daß Rußland sich zuallererstauf die Beziehungen zu den neuerdings unabhängigenStaaten konzentrieren müsse, zumal diese allesamt dank einerSowjetpolitik, die die ökonomischen Abhängigkeiten unter ihnengefördert hatte, nach wie vor an Rußland gebunden sind.Sie war sowohl ökonomisch als auch geopolitisch sinnvoll. Dergemeinsame Wirtschaftsraum von dem die neuen russischenFührer so oft sprachen, war ein Faktum, über das die Führer derjetzt unabhängigen Staaten nicht einfach hinwegsehen konnten.Zusammenarbeit und sogar eine gewisse Integration wareneine ökonomische Notwendigkeit. So erschien es denn nichtnur normal, sondern auch geboten, gemeinsame GUS-Institutionenvoranzubringen, um die durch den politischen Zerfall derSowjetunion ausgelösten Störungen und Auflösungserscheinungenauf wirtschaftlichem Gebiet in den Griff zu bekommen.In den Augen mancher Russen war daher die Förderungwirtschaftlicher Integration eine zweckmäßige, wirkungsvolleund politisch verantwortungs-bewußte Reaktion. Oft stellteman im Zusammenhang mit der postsowjetischen Situationeine Analogie zur EU her. Eine Wiederherstellung des Impe-


Das Schwarze Loch 157riums wurde von den gemäßigteren Verfechtern einer wirtschaftlichenIntegration ausdrücklich abgelehnt. So trat beispielsweiseein einflußreicher Bericht mit dem Titel »EineStrategie für Rußland«, den der Rat für Außen- und Verteidigungspolitik,eine Gruppe prominenter Persönlichkeiten undRegierungsbeamter, bereits im August 1992 herausgegeben hatte,sehr pointiert für eine postimperiale, aufgeklärte Integration alsdem geeigneten Programm für den postsowjetischen gemeinsamenWirtschaftsraum ein. <strong>Die</strong> Betonung des nahen Auslands warjedoch nicht bloß eine politisch segensreiche Doktrin regionalerWirtschaftskooperation. Ihr geopolitischer Inhalt hatte imperialeUntertöne. Selbst der relativ moderate Bericht von 1992 sprachvon einem genesenen Rußland, das schließlich eine strategischePartnerschaft mit dem Westen eingehen würde, in der Rußlanddie Regelung der Angelegenheiten in Osteuropa, Zentralasienund im Fernen Osten zufallen sollte. Andere Befürworter dieserPriorität waren unverfrorener, sie sprachen ausdrücklich vonRußlands einzigartiger Rolle im postsowjetischen Raum und beschuldigtenden Westen, eine anti-russische Politik zu betreiben,weil er der Ukraine und den anderen nunmehr unabhängigenStaaten Hilfe zuteil werden lasse.Ein typisches, aber keineswegs extremes Beispiel war dieThese, die J. Ambartsumow, der Vorsitzende des außenpolitischenParlamentsausschusses und frühere Anwalt, einer Prioritätder Partnerschaft 1993 aufstellte: Offen behauptete er,das Gebiet der früheren Sowjetunion sei die geopolitischeEinflußsphäre Rußlands, in der kein anderer Staat etwas zusuchen habe. Im Januar 1994 schlug der bis dahin energischeVerfechter einer prowestlichen Option, Rußlands AußenministerAndrej Kosyrew dieselben Töne an, als er erklärte,Rußland müsse seine militärische Präsenz in den Regionenerhalten, die seit Jahrhunderten sein Interessens-gebiet gewesensind. Und am 8. April 1994 berichtete die Iswestija, Ruß-


158 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>land habe nicht weniger als 28 Militärbasen auf dem Bodender neuen unabhängigen Staaten beibehalten können – undverbände man auf der Landkarte die russischen Militärstützpunktein Kaliningrad, Moldawien, auf der Krim, in Armenien,Tadschikistan und auf den Kurilen untereinander miteiner Linie, so ergäben sich ungefähr die Außengrenzen derfrüheren Sowjetunion, wie die Karte auf Seite 159 zeigt.Im September 1995 gab Präsident Jelzin ein Kommuniqueüber die russische Politik gegenüber der GUS heraus, dasRußlands Ziele wie folgt festlegte:»Hauptziel der Politik Rußlands gegenüber der GUS ist es,einen wirtschaftlich und politisch integrierten Staatenbundzu schaffen, der in der Lage ist, seinen angestammten Platzin der Weltgemeinschaft zu behaupten ...‚ um Rußland als dieführende Kraft in dem Gefüge neuer zwischenstaatlicher politischerund wirtschaftlicher Beziehungen auf dem Territoriumder früheren Sowjetunion zu konsolidieren.«Man beachte den Nachdruck, der auf den politischenAspekt des Bemühens, auf die darin erwähnte Körperschaftgelegt wird, die ihren Platz in der Weltgemeinschaft behauptet,und auf Rußlands dominierende Rolle innerhalbdieser neuen Körperschaft. Ganz in diesem Sinne bestandMoskau darauf, daß auch die politischen und militärischenBeziehungen zwischen Rußland und der vor kurzem insLeben gerufenen GUS verstärkt würden: daß ein militärischesOberkommando geschaffen werde; daß die Streitkräfteder GUS-Staaten durch einen formellen Vertrag verbundenwürden; daß die Außengrenzen der GUS zentraler (sprich:Moskauer) Kontrolle unterworfen werden; daß russischeStreitkräfte bei jedweden friedenserhaltenden Maßnahmeninnerhalb der GUS die entscheidende Rolle spielen solltenund daß die GUS eine gemeinsame Außenpolitik entwerfensollte, deren wichtigste


Das Schwarze Loch 159Institutionen in Moskau anzusiedeln seien (und nicht Minsk,wie 1991 ursprünglich vereinbart), wobei der russischePräsident den Vorsitz bei den GUS-Gipfeltreffen innehabensollte. Das war noch nicht alles. Das Dokument vom September1995 gab außerdem bekannt, daß: »die Ausstrahlung russischerRadio- und Fernsehsendungen im nahen Ausland garantiert, dieVerbreitung der russischen Presse in der Region unterstützt unddie nationalen Kader für die GUS von Rußland trainiert werdensollten.Besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet werden, diePosition Rußlands als wichtigstes Ausbildungszentrum auf demGebiet der früheren Sowjetunion wiederherzustellen,


160 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>und dabei stets darauf zu achten, daß die junge Generationin den GUS-Staaten im Geiste freundlicher Beziehungen zuRußland erzogen werden.«<strong>Die</strong> russische Duma ging Anfang 1996 sogar so weit,die Auflösung der Sowjetunion für ungültig zu erklären.Im Frühjahr desselben Jahres unterzeichnete Rußland zweiAbkommen für eine engere wirtschaftliche und politischeIntegration Rußlands mit den bereitwilligeren GUS-Staaten.Das eine, mit großem Pomp und Trara unterzeichneteAbkommen stellte im Effekt eine Union zwischen Rußlandund Weißrußland innerhalb einer neuen GemeinschaftSouveräner Republiken sicher (die russische AbkürzungSSR erinnerte ostentativ an das SSR der Sowjetunion), unddie andere, von Rußland, Kasachstan, Weißrußland undKirgistan unterzeichnete Übereinkunft postulierte langfristigdie Schaffung einer Gemeinschaft integrierter Staaten.Beide Initiativen deuteten darauf hin, daß Rußland derIntegrationsprozeß innerhalb der GUS zu langsam vorangingund es entschlossen war, ihn unverdrossen voranzutreiben.Dem Nachdruck, mit dem auf eine Verbesserung derzentralen Mechanismen der GUS hingearbeitet wurde, lagenalso durchaus objektive wirtschaftliche Gegebenheitenzugrunde, doch war eine starke Dosis subjektiver imperialerEntschlossenheit darin unverkennbar. Keine der beidenKomponenten aber lieferte eine philosophischere oder auchnur geopolitische Antwort auf die quälende Frage: Was istRußland, worin besteht seine wahre Mission und sein rechtmäßigerGeltungsbereich?Genau dieses Vakuum versuchte der ebenfalls auf das naheAusland konzentrierte Eurasianismus auszufüllen, der immermehr Anklang fand. <strong>Die</strong>se eher kulturphilosophische, jasogar mystisch gefärbte Gruppierung ging von der Prämisseaus, Rußland sei geopolitisch und kulturell weder so recht ein


Das Schwarze Loch 161europäisches noch ein asiatisches Land, und postulierte füres eine eigene, eurasische Identität.<strong>Die</strong>se Identität besteht in dem Vermächtnis der glorreichenVergangenheit Rußlands, das einst über die riesigeLandmasse zwischen Mitteleuropa und den Küsten desStillen Ozeans gebot, dem Vermächtnis eines Reiches,das Moskau durch permanente Expansion nach Osten invier Jahrhunderten zusammengeschmiedet hatte. Im Zugedieser Expansion wurden viele nichtrussische und nichteuropäischeVölker Rußland assimiliert sowie politisch undkulturell die Grundlagen für einen einzigartigen eurasischenMenschenschlag geschaffen. Der Eurasianismus alsWeltanschauung entstand nicht erst in der postsowjetischenÄra. Zum ersten Mal machte er im 19. Jahrhundert vonsich reden, gewann aber im 20. Jahrhundert als eine klareAlternative zum Sowjetkommunismus und als Reaktionauf die angebliche Dekadenz des Westens an Einfluß.Russische Emigranten propagierten diese Lehre besondersaktiv als eine Alternative zur Sowjetideologie, da sie begriffen,daß das nationale Erwachen der nichtrussischenBevölkerung innerhalb der Sowjetunion einer übergreifenden,transnationalen Doktrin bedurfte, damit nicht der etwaigeUntergang des Kommunismus zur Auflösung des altenGroßrussischen Reiches führe. Bereits Mitte der zwanzigerJahre hatte diesen Standpunkt Prinz N.S. Trubetzkoi, einführender Vertreter des Eurasianismus, überzeugend dargelegt:»Mit seiner Zerstörung der geistigen Grundlagenund der nationalen Einzigartigkeit des russischen Lebens,der Verbreitung der materialistischen Weltanschauung, dieja Europa wie auch Amerika tatsächlich schon beherrscht,war der Kommunismus in Wirklichkeit eine verschleierteVersion des Europäismus...Unsere Aufgabe ist es, eine völlig neue Kultur zu schaffen,


162 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>unsere eigene Kultur, die der europäischen Zivilisation nichtgleichen wird ... wenn Rußland kein Abklatsch europäischerKultur mehr ist ... wenn es endlich wieder zu sich selbst findet:Rußland-Eurasien, das sich als Erbe Dschingis Khans verstehtund sich seines großen Vermächtnisses bewusst ist. « 17<strong>Die</strong>se Botschaft fand in der allgemeinen Verwirrung nachdem Zusammenbruch der Sowjetunion willige Ohren. Aufder einen Seite wurde der Kommunismus als Verrat am russisch-orthodoxenGlauben und der besonderen, mystischenrussischen Idee verdammt, und auf der anderen Seite lehnteman Verwestlichungstendenzen ab, weil der Westen, vor allemAmerika, als korrupt, der russischen Kultur abträglich und gewilltgalt, Rußlands historisch gewachsenen und geographischverwurzelten Anspruch auf alleinige Verfügungsgewalt überdie eurasische Landmasse in Abrede zu stellen. Einen akademischenAnstrich erhielt der Eurasianismus in den vielzitiertenWerken des Historikers, Geographen und Ethnographen LewGumilew, dessen Bücher Das Mittelalterliche Rußland und dieGroße Steppe und Ethnographie in historischer Zeit nachdrücklichfür die These eintraten, daß Eurasien der natürliche geographischeSchauplatz für den besonderen Ethnos der russischenBevölkerung sei, das Ergebnis einer historischen Symbiosezwischen Russen und den nichtrussischen Steppenbewohnern,die eine kulturell und geistig einzigartige eurasische Identitätgeschaffen habe. Gumilew gab zu bedenken, daß eineAnpassung an den Westen für das russische Volk geradezu denVerlust seines Volkstums und seiner Seele bedeuten würde.<strong>Die</strong>se Ansichten fanden bei einer Vielzahl nationalistischerPolitiker Rußlands ein, wenn auch primitiveres, Echo. Jelzins17 N. S. Trubetzkoi, “The Legacy of Gengis Khan“, Cross Currents 9(1990): 68.


Das Schwarze Loch 163früherer Vizepräsident Alexander Rutzkoj behauptete beispielsweise,daß Rußland aufgrund seiner geopolitischen Lagedie <strong>einzige</strong> Brücke zwischen Asien und Europa darstellt. Werauch immer diesen Raum beherrscht, wird der Herr der Weltwerden. 18 Trotz seines marxistisch-leninistischen Hintergrundsbetonte Jelzins kommunistischer Herausforderer bei der Wahl1996, Gennadij Sjuganow, ganz im Sinne des mystischenEurasianismus, die besondere geistige und missionarischeRolle des russischen Volkes in den riesigen Weiten Eurasiensund ließ erkennen, daß Rußland aufgrund seiner Kultur und seinergünstigen geographischen Basis geradezu prädestiniert sei,weltweit als Führungsmacht aufzutreten. Eine etwas nüchternereund pragmatischere Version des Eurasianismus brachte auchder Regierungschef von Kasachstan, Nursultan Nazarbajew,vor. Da er es zu Hause mit einem Anteil russischer Siedler zutun hat, die dem der einheimischen Bevölkerung zahlenmäßigin etwa entspricht, und nach einem Rezept suchte, den DruckMoskaus auf politische Integration etwas abzuschwächen,propagierte Nazarbajew den Plan einer eurasischen Union alsAlternative zu der gesichts- und wirkungslosen GUS. Wennseiner Version auch der mystische Inhalt der traditionellereneurasianischen Lehre fehlte und sie gewiß keine speziellemissionarische Rolle für die Russen als Führer Eurasiens postulierte,so beruhte sie doch auf der Idee, daß Eurasien – geographischetwa dem Raum der Sowjetunion entsprechend – einorganisches Ganzes bilde, dem auch eine politische Dimensiongebühre.Das Bemühen, dem nahen Ausland die höchste Prioritätim geopolitischen Denken Rußlands einzuräumen, war bis zueinem gewissen Grad insofern gerechtfertigt, als ein Mindestmaßan Ordnung und Übereinkunft zwischen dem postim-18 Interview mit L‘espresso (Rom), 15. Juli 1994.


164 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>perialen Rußland und den neuerdings unabhängigen Staatensicherheitspolitisch und ökonomisch geboten ist. Einen surrealistischenZug erhielt die Diskussion jedoch durch dieunausrottbare Vorstellung, daß eine irgendwie geartete politischeIntegration des früheren Imperiums erstrebenswert undauch machbar sei, gleichgültig, ob sie nun freiwillig (auswirtschaftlichen Gründen) zustande käme oder auf Druckeines wiedererstarkten russischen Staates – ganz zu schweigenvon dessen besonderem eurasischen oder slawischenSendungsauftrag. In dieser Hinsicht vernachlässigt der häufigbeschworene Vergleich mit der EU einen ganz wesentlichenUnterschied: selbst unter Berücksichtigung des besonderenEinflusses Deutschlands, wird die EU nicht von einer einzelnenMacht dominiert, die alle übrigen Mitglieder zusammengenommen,bezogen auf das Bruttosozialprodukt, dieBevölkerungszahl oder die territoriale Ausdehnung in denSchatten stellt. Auch ist die EU nicht der Nachfolgestaateines früheren Imperiums, dessen befreite Mitglieder vondem tiefen Mißtrauen durchdrungen sind, daß Integration einCodewort für erneute Unterordnung sein könnte. Doch unabhängigdavon kann man sich die Reaktion der europäischenStaaten unschwer vorstellen, wenn Deutschland offiziell erklärthätte, daß es seine Führungsrolle in der EU gemäß demoben zitierten russischen Statement vom September 1995 zufestigen und auszubauen gedenke.Der Vergleich mit der EU hinkt noch aus einem anderenGrund. <strong>Die</strong> offenen und relativ hochentwickelten westeuropäischenVolkswirtschaften waren für eine demokratischeIntegration bereit, und die Mehrheit der Westeuropäerversprach sich von einer solchen Integration handfestewirtschaftliche und politische Vorteile. <strong>Die</strong> ärmeren westeuropäischenLänder profitierten außerdem von erheblichenSubventionsleistungen. Dagegen sehen die jetzt unabhängi-


Das Schwarze Loch 165gen Staaten in Rußland ein instabiles Staatswesen, das nachwie vor hegemoniale Ambitionen hegt, und sie, in ökonomischerHinsicht, auf ihrem Weg zur Weltwirtschaft und inihrem Zugang zu dringend benötigten ausländischen Investitionenbehindert. Besonders in der Ukraine stießen MoskausVorstellungen einer Integration auf massive Opposition. Ihrepolitische Führung erkannte rasch, daß eine solche Integrationangesichts der russischen Vorbehalte gegen die Legitimitätder ukrainischen Unabhängigkeit am Ende womöglich zumVerlust nationaler Souveränität führen könnte. Zudem hatteder ungeschickte Umgang Rußlands mit dem neuen ukrainischenStaat – seine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzenanzuerkennen, sein Bestreiten des ukrainischen Rechts aufdie Krim, sein Beharren auf der ausschließlich exterritorialenKontrolle über den Hafen von Sewastopol – dem neuerwachtenukrainischen Nationalismus eine unverkennbar antirussischeSchärfe verliehen. Während der kritischen Aufbauphasedes neuen Staates gewann die Ukraine ihr nationales Selbstverständnisdaher nicht wie früher aus ihrer antipolnischen undantirumänischen Orientierung, sondern konzentrierte sich stattdessen auf den Widerstand gegen alle russischen Vorschlägefür eine stärker integrierte GUS, eine besondere slawischeGemeinschaft (mit Rußland und Weißrußland) oder eine eurasischeUnion, die allesamt als imperialistische Taktik derRussen gedeutet wurden.<strong>Die</strong> Entschlossenheit der Ukraine, sich ihre Unabhängigkeitzu bewahren, erhielt Unterstützung von außen. Obwohlder Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, die geopolitischeBedeutung eines souveränen ukrainischen Staates erstreichlich spät erkannt hatte, waren um die Mitte der neunzigerJahre sowohl Amerika als auch Deutschland zu eifrigenFörderern einer eigenständigen Identität Kiews geworden.Im Juli 1996 erklärte der amerikanische Verteidigungsmini-


166 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>ster: <strong>Die</strong> Bedeutung der unabhängigen Ukraine ist für dieSicherheit und Stabilität von ganz Europa nicht zu überschätzen,und im September ging der deutsche Kanzler – ungeachtetseiner starken Unterstützung für Boris Jelzin – sogar nochweiter mit der Versicherung, daß der feste Platz der Ukrainein Europa von niemandem mehr in Frage gestellt werdenkann, und daß niemand, mehr der Ukraine ihre Unabhängigkeitund territoriale Integrität streitig machen darf. Auchamerikanische Politiker bezeichneten nun das amerikanischukrainischeVerhältnis als eine strategische Partnerschaft undbedienten sich dabei bewußt desselben Begriffs, mit demsie die Beziehung der USA zu Rußland beschrieben hatten.Wie bereits erwähnt, ist ohne die Ukraine eine imperialeRestauration, sei es auf der Basis der GUS, sei es auf der einerpaneurasischen Identität, keine realistische Option. Ohne dieUkraine würde ein russisches Reich asiatischer werden undsich weiter von Europa entfernen. Überdies fühlten sich diejungen unabhängigen Staaten Zentralasiens, von denen nurwenige auf eine neue Union mit Moskau erpicht waren, vonder Idee des Eurasianismus nicht sonderlich angesprochen.Nachdrücklich unterstützte Usbekistan die von der Ukrainevorgebrachten Einwände gegen eine Aufwertung der GUSzu einer supranationalen Einheit und den Widerspruch gegenrussische Initiativen zur Stärkung der GUS. AndereGUS-Staaten, die Moskaus Absichten mit dem gleichenArgwohn verfolgten, scharten sich lieber um die Ukraineund Usbekistan, um sich Moskaus Drängen nach engererpolitischer und militärischer Integration zu widersetzen oderzu entziehen. Überdies gewann in fast allen neuen Staatenein nationales Selbstbewußtsein an Stärke, das sich in derEinsicht Bahn bricht, die frühere Unterwerfung unter Moskauals Kolonialismus zu verwerfen und deren verschiedeneErblasten auszumerzen. So schloß sich sogar das ethnisch


Das Schwarze Loch 167verwundbare Kasachstan den anderen zentralasiatischenStaaten an, als diese das kyrillische Alphabet aufgaben unddurch die lateinische Schrift ersetzten, wie das schon früher dieTürkei getan hatte. Um die Mitte der neunziger Jahre war unterder stillschweigenden Führung der Ukraine und unter Einschlußvon Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, manchmal auchKasachstan, Georgien und Moldawien inoffiziell ein Blockentstanden, der die russischen Anstrengungen, die GUS als einWerkzeug zu politischer Integration zu gebrauchen, vereitelte.Da sich die Ukraine lediglich zu einer begrenzten und hauptsächlichwirtschaftlichen Integration bereitfand, verlor auch dieIdee einer Slawischen Union jede praktische Bedeutung. <strong>Die</strong>sevon einigen Slawophilen propagierte Vorstellung ist berühmtgeworden, weil Alexander Solschenyzin sie unterstützte, undwurde geopolitisch bedeutungslos, nachdem die Ukraine sieverworfen hatte. Übrig blieben nur Rußland und Weißrußlandals potentielle Mitglieder jener Union, die stillschweigendauch eine Spaltung Kasachstans beinhaltete, dessen nördlicheRegionen mit ihrer russischen Bevölkerung diesem suprastaatlichenGebilde hätten beitreten können. Verständlicherweisewirkte eine solche Option auf die neuen Machthaber inKasachstan nicht gerade beruhigend und verstärkte lediglichdie antirussische Stoßrichtung ihres Nationalismus. FürWeißrußland wäre eine Slawische Union ohne die Ukrainefaktisch der Eingliederung in Rußland gleichgekommen, diezudem unberechenbare nationalistische Ressentiments entzündethätte.<strong>Die</strong>se außenpolitischen Hindernisse einer auf das naheAusland abstellenden Geostrategie wurden durch ein wichtigesinnenpolitisches Hemmnis noch gewaltig verstärkt: dieStimmung des russischen Volkes. Trotz des ganzen rhetorischenAufwands, mit dem Vertreter verschiedener ParteienRußlands besondere Mission im Raum der früheren Sowjet-


168 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>union beschworen, zeigte das russische Volk – teils ausschierem Überdruß, teils aus gesundem Menschenverstand– wenig Begeisterung für ehrgeizige Programme imperialerRestauration. Es war für offene Grenzen, freien Handel,Reisefreiheit, einen Sonderstatus der russischen Sprache, abereine politische Integration, vor allem, wenn sie mit materiellenKosten oder Blutvergießen verbunden war, rief keinen großenEnthusiasmus hervor. Der Zerfall der Union wurde zwar bedauert,ihre Wiederherstellung für gut befunden; aber die öffentlicheReaktion auf den Krieg in Tschetschenien deutete daraufhin, daß jede Politik, die über den Einsatz von wirtschaftlichemEinfluß und / oder politischem Druck hinausginge, in derBevölkerung keine Unterstützung fände. Kurzum, eine Politik,die dem nahen Ausland Priorität einräumte, mußte sich letztenEndes deshalb als unzulänglich erweisen, weil Rußland politischnicht stark genug war, um den neuen Staaten seinen Willenauf zuzwingen, und weil es auch wirtschaftlich nicht attraktivgenug war, um diese freiwillig zu engerer Zusammenarbeit zubewegen. Russischer Druck bewirkte lediglich, daß sie sichnoch stärker nach außen orientierten, zuerst und vor allem zumWesten hin, in einigen Fällen auch nach China und den wichtigstenislamischen Staaten im Süden. Als Rußland in Reaktionauf die NATO-Osterweiterung einen eigenen Militärblockzu bilden drohte, stand die Frage: mit wem? wohl kaum zurDebatte, denn die peinliche Antwort wäre gewesen: allenfallsvielleicht mit Weißrußland und Tadschikistan.Zuvor schon waren die neuen Staaten aus Furcht vorden möglichen politischen Konsequenzen selbst gegenübervollkommen legitimen und notwendigen Formenwirtschaftlicher Integration mit Rußland immer mißtrauischergeworden. Mit den Vorstellungen von seiner angeblichen eurasischenMission und der slawischen Mystik isolierte sichRußland zugleich nur noch stärker von Europa und vom We-


Das Schwarze Loch 169sten ganz allgemein. Infolgedessen wurde die postsowjetischeKrise festgeschrieben und eine notwendige Modernisierungund Verwestlichung der russischen Gesellschaft – wie KemalAtatürk sie nach dem Zusammenbruch des OsmanischenReiches in die Wege geleitet hatte – verzögert. <strong>Die</strong> Option»nahes Ausland« bescherte Rußland keine politische Lösung,sondern eine geopolitische Illusion.Wenn aber kein Kondominat mit Amerika und ebensowenigdas nahe Ausland – welche andere geostrategische Optionstand Rußland dann noch offen? Da die Westorientierungfür ein demokratisches Rußland nicht zu der ersehnten globalenGleichstellung mit Amerika führte, die ohnehin mehrSchlagwortcharakter hatte, als daß sie der Realität entsprochenhätte, machte sich unter den Demokraten Enttäuschungbreit. Hingegen verleitete die widerwillige Einsicht, daß eineReintegration des alten Imperiums bestenfalls eine ferneMöglichkeit sei, einige russische Geopolitiker dazu, mit demGedanken irgendeiner Gegenallianz zu spielen, die sich gegendie Vormachtstellung der USA in Eurasien richten sollte.Anfang 1996 ersetzte Präsident Jelzin seinen westlich orientiertenAußenminister Kosyrew durch den erfahreneren,aber zu Sowjetzeiten linientreu kommunistischen Fachmannfür internationale Beziehungen Jewgenij Primakow, dessenInteresse seit langem schon dem Iran und China galt. Einigerussische Kommentatoren stellten bereits die Vermutung an,daß es unter Primakow schneller zu einer neuen antihegemonialenKoalition jener drei Mächte kommen werde, die aneiner Schwächung der amerikanischen Position das größtegeopolitische Interesse haben. Bestärkt wurde dieser Eindruckdurch die ersten Reisen, die Primakow als neuer Außenministerunternahm, sowie einige seiner anfänglichen Äußerungen.Zudem schienen die chinesischiranische Verbindung imWaffenhandel wie auch die Neigung Rußlands, dem Iran grö-


170 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>ßeren Zugang zur Kernenergie zu verschaffen, die idealenVoraussetzungen für einen engeren politischen Dialog undschließlich für ein Bündnis zu bieten. Im Ergebnis könnten sichso, zumindest theoretisch, die führende slawische Macht, diemilitanteste islamische Macht und der bevölkerungsreichsteund mächtigste asiatische Staat zusammenfinden und eine starkeKoalition auf die Beine stellen. Für jede Option einer derartigenGegenallianz mußte zunächst einmal die bilaterale chinesischrussischeBeziehung erneuert werden: dabei ließ sich aus demGroll, den die politischen Führungen beider Staaten über dasAuftreten Amerikas als <strong>einzige</strong>r globaler Supermacht hegten,prächtig Kapital schlagen. Zu Beginn des Jahres 1996 reisteJelzin nach Peking und unterzeichnete eine Erklärung, in derdas Streben nach globaler Hegemonie ausdrücklich verurteiltwurde, ein deutlicher Hinweis darauf, daß die beiden Staatensich gegen die USA verbünden würden. Im Dezember erwiderteder chinesische Premierminister Li Peng den Besuch, und beideSeiten wiederholten nicht nur ihre Ablehnung eines von einer<strong>einzige</strong>n Macht beherrschten internationalen Systems, sondernsprachen sich auch für den Ausbau bestehender Bündnisseaus. Russische Kommentatoren begrüßten diese Entwicklung,sahen sie darin doch eine positive Verschiebung im globalenMachtverhältnis und eine passende Antwort auf das EintretenAmerikas für eine NATO-Osterweiterung. Manche konntensogar eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen, daß daschinesischrussische Bündnis den USA die verdiente Quittungpräsentiere.Allerdings kann sich eine Koalition, die Rußland mit Chinaund dem Iran verbände, nur dann entwickeln, wenn dieVereinigten Staaten so kurzsichtig sind, sich China und denIran gleichzeitig zum Feind zu machen. Zwar kann dieseEventualität nicht ausgeschlossen werden, und das Verhaltender USA in den Jahren 1995 und 1996 schien beinahe der Vor-


Das Schwarze Loch 171stellung zu entsprechen, daß sie sowohl zu Teheran als auch zuPeking auf Konfrontationskurs gehen wollten. Doch war wederder Iran noch China bereit, sich in strategischer Hinsicht mit eineminstabilen und schwachen Rußland zusammenzutun. Beideerkannten, daß sie sich mit einer derartigen Koalition, ginge sieüber ein gelegentliches taktisches Säbelrasseln hinaus, denZugang zu den Industrieländern des Westens und deren Investitionsmöglichkeiten sowie deren dringend benötigter Technologieverbauen würden. Rußland hatte zuwenig anzubieten, um in einersolchen antihegemonialen Koalition einen wirklich brauchbarenPartner abzugeben. In Ermangelung einer verbindendenIdeologie und bloß aus einer antihegemonialen Animositätheraus würde eine solche Koalition im Grunde eine Dritte-Welt-Gruppierung gegen die führenden Nationen der ErstenWelt sein. Keines ihrer Mitglieder könnte viel dabei gewinnen,und vor allem China würde seine enormen Investitionszuflüsseaufs Spiel setzen. Auch für Rußland würde »das Phantom einerrussisch-chinesischen Allianz ... die Gefahr verschärfen, abermalsvon westlicher Technologie und westlichem Kapital abgeschnittenzu werden«, wie ein kritisch eingestellter russischerGeopolitiker dazu bemerkte.‘ 9 Der Zusammenschluß würde amEnde vielleicht sogar alle ihre Teilnehmer, ob nun zwei oder drei,zu anhaltender Isolation und gemeinsamer Rückständigkeit verurteilen.Zudem schlüge jede ernsthafte Bemühung Rußlands,eine solche antihegemoniale Koalition zustande zu bringen,zum Vorteil Chinas aus. Da es über eine größere, arbeitsamere,innovativere und dynamischere Bevölkerung verfügt undmöglicherweise gewisse territoriale Absichten auf Rußland hat,19 Alexeij Bogaturow, “Current Relations and Prospects for Interaction BetweenRussia and the United States“. Nesawissimaja Gaseta, 28. Juni 1996.


172 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>würde China Rußland unweigerlich auf den Status eines Juniorpartnersdegradieren, während es ihm an den Mitteln(und wahrscheinlich auch am ehrlichen Wunsch) fehlt, Rußlandaus der derzeitigen Talsohle herauszuhelfen. Rußlandwürde somit zum Puffer zwischen einem expandierendenEuropa und einem expansionistischen China werden. Undschließlich hegten einige außenpolitische Experten Rußlandsweiterhin die Hoffnung, daß ein Stillstand des europäischenEinigungsprozesses einschließlich vielleicht westlicherMeinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt derNATO am Ende zumindest taktische Möglichkeiten für einenrussisch-deutschen oder russisch-französischen Flirt zumSchaden des transatlantischen Verhältnisses zwischen Europaund den USA eröffnen könnten. <strong>Die</strong>se Perspektive war nichtgerade neu, denn während des gesamten Kalten Krieges versuchteMoskau immer wieder einmal die deutsche oder diefranzösische Karte zu spielen. Dennoch erschien es einigenMoskauern Geopolitikern keineswegs abwegig, daß eineStagnation in der EU Chancen für taktische Überlegungenzeitigen könnte, die sich womöglich zum Nachteil Amerikasausschlachten ließen. Aber das ist auch so ziemlich alles,was damit erreicht werden könnte: rein taktische Optionen.Weder Frankreich noch Deutschland dürfte wohl so leichtdie Verbindung zu den USA aufgeben. Ein gelegentlicherFlirt, vor allem mit den Franzosen, der sich auf irgendwelchebegrenzten Fragen beschränkt, ist nicht auszuschließen– aber einer geopolitischen Richtungsänderung müßteschon ein massiver Umschwung in der Europapolitik vorausgehen,ein Scheitern der europäischen Einigung und einZusammenbruch der transatlantischen Bindungen. Und selbstdann wären die europäischen Staaten wohl kaum geneigt, sichgeopolitisch auf ein desorientiertes Rußland hin auszurichten.In letzter Konsequenz bietet also keine der Optionen für


Das Schwarze Loch 173ein Gegenbündnis eine brauchbare Alternative. <strong>Die</strong> Lösungfür Rußlands geopolitisches Dilemma wird nicht in einer Gegenallianzzu finden sein, ebensowenig wird sie sich mit derIllusion einer gleichberechtigten strategischen Partnerschaftmit Amerika erreichen lassen oder durch irgendeine neue politischeoder ökonomische Integration auf dem Gebiet der früherenSowjetunion. Alle drücken sich vor der <strong>einzige</strong>n Wahl, dieRußland tatsächlich bleibt.Das Dilemma der <strong>einzige</strong>n AlternativeRußlands <strong>einzige</strong> geostrategische Option – die Option, die ihmeine realistische Rolle auf der internationalen Bühne eintragenund auch seine Chancen für eine gesellschaftliche Veränderungund Modernisierung erhöhen könnte – ist Europa. Und zwarnicht irgendein Europa, sondern das transatlantische Europaeiner erweiterten EU und NATO. Ein solches Europa nimmtGestalt an, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, ~ und es wirdaller Wahrscheinlichkeit nach auch eng mit Amerika verbundenbleiben. An dieses Europa wird sich Rußland halten müssen,wenn es die Gefahr einer geopolitischen Isolation vermeidenwill. Als Partner ist Rußland für die USA viel zu schwach,aber es ist immer noch zu stark, um einfach ihr Patient zu sein.Es könnte zu einem Problem werden, es sei denn, Amerikaschafft eine Atmosphäre, in der die Russen schneller zu derÜberzeugung gelangen, daß die beste Wahl für ihr Land eineimmer organischere Beziehung zu einem transatlantischenEuropa ist. Obwohl ein langfristiges russischchinesisches undrussisch-iranisches strategisches Bündnis unwahrscheinlichist, sollte Amerika in jedem Fall eine Politik vermeiden, dieRußland davon abbringen könnte, die notwendige geopolitischeWahl zu treffen. Daher sollten die Beziehungen der


174 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>USA zu China und dem Iran möglichst so formuliert werden,daß deren Folgen für Rußlands geopolitische Planungen berücksichtigtbleiben. Fortbestehende Illusionen über großegeostrategische Optionen können außerdem die historischeWahl hinauszögern, die Rußland treffen muß, um aus seinertiefen Malaise herauszukommen. Nur ein Rußland, das willensist, sich mit den neuen ökonomischen und auch geopolitischenGegebenheiten in Europa abzufinden, wird innenpolitisch vonder immer umfassenderen transkontinentalen europäischenZusammenarbeit im Handel, in der Kommunikation, bei denInvestitionen und im Bildungssektor profitieren. RußlandsTeilnahme an Sitzungen des Europarats ist daher ein Schrittin die richtige Richtung. Es ist ein Vorgeschmack auf weitereinstitutionelle Verbindungen zwischen dem neuen Rußlandund dem wachsenden Europa. <strong>Die</strong>sen Weg einzuschlagenheißt für Rußland auch, daß es keine andere Wahl haben wird,als schließlich denselben Kurs zu verfolgen wie seinerzeitdie postosmanische Türkei, als sie ihre Großmachtphantasienaufzugeben und sich ganz bewußt auf eine Modernisierung,Europäisierung und Demokratisierung zuzubewegen beschloß.Keine andere Option kann Rußland die Vorteile verheißen, dieein modernes, reiches, demokratisches, an die USA gekoppeltesEuropa zu bieten vermag. Europa und Amerika stellen für einennicht auf Expansion ausgerichteten, demokratischen russischenNationalstaat keine Bedrohung dar. Sie haben keine territorialenAbsichten auf Rußland, was man von China nicht behauptenkann, noch teilen sie mit ihm eine unsichere und potentiellexplosive Grenze wie die ethnisch und territorial unklar verlaufendezu den muslimischen Völkern im Süden. Im Gegenteil, fürEuropa wie für Amerika ist ein nationales und demokratischesRußland eine geopolitisch wünschenswerte Größe, eine Quelleder Stabilität in dem unberechenbaren eurasischen Komplex.


Das Schwarze Loch 175Infolgedessen steht Rußland vor dem Dilemma, daß dieEntscheidung für Europa und Amerika um greifbarer Vorteilewillen in erster Linie erfordert, seiner imperialen Vergangenheitklar und deutlich abzuschwören und es zweitens hinsichtlichder sich erweiternden politischen und SicherheitsbindungEuropas an Amerika nicht dauernd seine Einstellung änderndarf. Ersteres bedeutet Anpassung an den geopolitischenPluralismus, der sich in dem Gebiet der früheren Sowjetuniondurchgesetzt hat. Eine solche Anpassung schließt eine wirtschaftlicheZusammenarbeit nicht aus, etwa nach dem Vorbildder alten europäischen Freihandelszone, aber sie kann nichtin die politische Souveränität der neuen Staaten eingreifen– aus dem einfachen Grund, weil diese es nicht wollen. Amwichtigsten ist in diesem Zusammenhang, daß Rußland dieUnabhängigkeit der Ukraine, deren Grenzen und eigenständigenationale Identität ohne Wenn und Aber anerkennt undrespektiert. <strong>Die</strong> zweite Kröte dürfte möglicherweise schwererzu schlucken sein. Ein wirklich kooperatives Verhältnis zurtransatlantischen Gemeinschaft kann nicht auf der Vorstellungberuhen, daß jene demokratischen Staaten Europas, die daranteilnehmen möchten, ausgeschlossen werden, weil die Russenes so bestimmen. <strong>Die</strong> Erweiterung der Gemeinschaft brauchtnicht überstürzt zu werden, und sie sollte wahrlich nicht durcheinen antirussischen Unterton zustande kommen. Aber wederkann noch sollte sie durch einen politischen Machtspruchzum Stillstand gebracht werden, der eine längst überholteVorstellung von europäischer Sicherheitsarchitektur widerspiegelt.Ein expandierendes und demokratisches Europa muß einnach vorne offener historischer Prozeß sein und darf keinenpolitisch willkürlichen geographischen Beschränkungen unterworfenwerden.Für viele Russen mag das Dilemma der <strong>einzige</strong>n Alternativevorerst nicht so schnell und so leicht zu überwinden sein.


176 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Es wird eine enorme politische Willensanstrengung erfordernund vielleicht auch eine herausragende Führungspersönlichkeit,die in der Lage ist, die Wahl zu treffen und die Vision einesdemokratischen, national begrenzten, wirklich modernen undeuropäischen Rußlands zu entwerfen. Das mag eine Weile dauern.<strong>Die</strong> Überwindung der postkommunistischen und postimperialenKrisen wird nicht nur mehr Zeit in Anspruch nehmen alsdie Umformung Mitteleuropas nach dem Zusammenbruch desKommunismus, sondern auch einer weitblickenden und stabilenpolitischen Führung bedürfen. Ein russischer Atatürk ist derzeitnicht in Sicht. Nichtsdestoweniger werden die Russen schließlichbegreifen müssen, daß Rußlands nationale Selbstfindung kein Aktder Kapitulation, sondern der Befreiung ist. 20 Sie werden akzeptierenmüssen, daß das, was Jelzin 1990 in Kiew sagte, den Kernder Sache traf. Und auch ein nicht-imperiales Rußland wird immernoch ein bedeutendes Machtgebilde sein, das sich weit überEurasien, der Welt größte territoriale Einheit, erstreckt.Auf jeden Fall wird sich die Antwort auf die Frage: Was istRußland und wo liegt Rußland? erst nach und nach einstellen, undder Westen muß dabei eine kluge und feste Haltung einnehmen.Amerika und Europa werden helfen müssen. Sie sollten Rußlandnicht nur ein Sonderabkommen oder eine Charta mit der NATOanbieten, sondern auch einen Prozeß in Gang setzen, in dem siemit Rußland gemeinsam ausloten, wie ein transkontinentalesSystem der Sicherheit und Zusammenarbeit aussehen könnte, dasweit über die lockere Struktur der Organi-sation für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa (OSZE) hinausreicht. Wenn Rußlandseine demokratischen Institutionen im Inneren festigt und greifbareFortschritte in einer auf freiem Markt basierenden Volkswirt-20 Anfang 1996 veröffentlichte General Alexander Lebed einen bemerkenswertenArtikel („.The Fading of Empire and the Rebirth of Russia“, Segodnja, 26. April 1996), derviel zur Klärung beitrug.


Das Schwarze Loch 177schaft vorweist, sollte auch eine noch engere Anbindung andie NATO und die EU nicht ausgeschlossen werden. Für denWesten und vor allem für Amerika gilt es derweil, eine Politikzu verfolgen, die das Dilemma der <strong>einzige</strong>n Alternative fortschreibt.<strong>Die</strong> politische und wirtschaftliche Stabilisierung derjungen postsowjetischen Staaten ist ein wesentlicher Faktor,um Rußland zu einem historisch neuen Selbstverständnis zunötigen. Somit muß die Rückendeckung für die neuen postsowjetischenStaaten – für einen geopolitischen Pluralismus imRaum der früheren Sowjetmacht – ein integraler Bestandteileiner Politik sein, die Rußland dazu bringen soll, seine europäischeOption ohne Wenn und Aber auszuüben. Drei dieserStaaten fallen geopolitisch besonders ins Gewicht, nämlichAserbaidschan, Usbekistan und die Ukraine.Ein unabhängiges Aserbaidschan kann dem Westen denZugang zu dem an Ölquellen reichen Kaspischen Becken undZentralasien eröffnen. Umgekehrt würde ein unterworfenesAserbaidschan bedeuten, daß Zentralasien von der Außenweltabgeriegelt wird und somit politisch dem russischenDruck nach einer Wiedereingliederung ausgesetzt sein könnte.Usbekistan, volksmäßig der vitalste und am dichtestenbesiedelte zentralasiatische Staat, stellt ein Haupthindernisfür jede neuerliche Kontrolle Rußlands über die Region dar.Seine Unabhängigkeit ist von entscheidender Bedeutung fürdas Überleben der anderen zentralasiatischen Staaten, und esversteht sich des russischen Drucks noch am besten zu erwehren.Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine. Da die EUund die NATO sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraineschließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationenwerden möchte. Es ist davon auszugehen, daß sie,um ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte,wenn deren Einzugsbereich einmal an ihr Territorium


178 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>grenzt und sie die für eine Mitgliedschaft notwendigen innerenReformen durchgeführt hat. Obwohl dies Zeit brauchenwird, kann der Westen – während er seine Sicherheits- undWirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut –‚ schon jetztdas Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für einesukzessive Eingliederung der Ukraine ins Auge fassen. Dadurchvermindert er das Risiko, daß die Ukrainer befürchten könnten,Europas Erweiterung werde an der polnischukrainischen Grenzehaltmachen.Trotz seiner Proteste wird sich Rußland wahrscheinlich damitabfinden, daß die NATO-Erweiterung im Jahre 1999 mehreremitteleuropäische Länder einschließt, zumal sich die kulturelleund soziale Kluft zwischen Rußland und Mitteleuropa seit demZusammenbruch des Kommunismus beträchtlich vertieft hat. ImGegensatz dazu wird es Rußland unvergleichlich schwerer fallen,sich mit einem NATO-Beitritt der Ukraine abzufinden, denndamit würde Moskau eingestehen, daß das Schicksal der Ukrainenicht mehr organisch mit dem Rußlands verbunden ist. Dochwenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben soll, wird sieeher mit Mitteleuropa als mit Eurasien zusammengehen müssen.Soll sie zu Mitteleuropa gehören, wird sie an den BindungenMitteleuropas zur NATO und der Europäischen Union voll teilhabenmüssen. Akzeptiert Rußland diese Bindungen, dann legtes sich damit in seiner Entscheidung fest, selbst Teil von Europazu werden. Rußlands Weigerung wäre gleichbedeutend mitdem Eingeständnis, daß es Europa zugunsten einer eurasischenIdentität und Existenz den Rücken kehrt.Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen:Ohne die Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören,wohingegen die Ukraine ohne Rußland durchaus Teilvon Europa sein kann. Sollte Rußland beschließen, sich mitEuropa zusammenzutun, liegt es letztendlich in seinem ureigenenInteresse, daß die Ukraine in ein größer werdendes eu-


Das Schwarze Loch 179ropäisches Haus aufgenommen wird. Tatsächlich könnte dieBeziehung der Ukraine zu Europa der Wendepunkt für Rußlandselbst sein. Das heißt aber, daß der Zeitpunkt, an demRußland über sein Verhältnis zu Europa entscheidet, nochnicht in Sicht ist – entscheidet in dem Sinne, daß die Wahl derUkraine zugunsten Europas auch Rußland zu einer Entscheidungdrängt, wie es mit ihm weitergehen soll: ob es ein Teilvon Europa oder ein eurasischer Außenseiter werden will, derim Grunde weder zu Europa noch zu Asien gehört und ausseinen Konflikten mit dem nahen Ausland nicht mehr herausfindet.Es ist zu hoffen, daß ein kooperatives Verhältnis zwischeneinem wachsenden Europa und Rußland nicht beioffiziellen bilateralen Kontakten stehenbleibt, sondern sichzu organischeren und verbindlicheren Formen wirtschaftlicherund politischer Zusammenarbeit und einer echtenSicherheitspartnerschaft entwickelt. Auf diese Weise könnteRußland im Lauf der ersten beiden Jahrzehnte des kommendenJahrhunderts zunehmend integraler Bestandteil einesEuropa werden, das nicht nur die Ukraine umfaßt, sondernbis zum Ural und noch darüber hinausreicht. Eine Anbindungoder gar irgendeine Form von Mitgliedschaft für Rußland inden europäischen und transatlantischen Strukturen würde hinwiederumdrei kaukasischen Ländern – Georgien, Armenienund Aserbaidschan –‚ die eine Bindung an Europa verzweifeltherbeiwünschen, die Türen zu einem Beitritt öffnen.Wie schnell dieser Prozeß vonstatten gehenwird, läßt sichnicht voraussagen, aber eines ist sicher: Er wird sich beschleunigen,wenn ein geopolitischer Kontext geschaffen ist, derRußland in diese Richtung treibt und zugleich andere Versuchungenausschließt. Je rascher sich Rußland auf Europazubewegt, desto schneller wird sich das Schwarze Loch imHerzen Eurasiens mit einer Gesellschaft füllen, die immer


180 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>modernere und demokratischere Züge annimmt. Tatsächlichbesteht das Dilemma für Rußland nicht mehr darin, einegeopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde geht es umsÜberleben.


5DER EURASISCHE BALKANDas Wort Balkan beschwört in Europa Bilder von ethnischenKonflikten und Stellvertreterkriegen der Großmächte herauf.Auch Eurasien hat seinen Balkan, aber der ist viel größer, dichterbevölkert und religiös und ethnisch noch heterogener. Dereurasische Balkan liegt innerhalb jenes großen Rechtecks, dasdie in Kapitel 2 angesprochene Kernzone globaler Instabilitäteinschließt und Teile von Südosteuropa, Zentralasien sowieeinige Gebiete Südasiens, die Region um den Persischen Golfund den Nahen Osten umfaßt. Der eurasische Balkan bildetden inneren Kern dieses großen Rechtecks (siehe Karte Seite183) und unterscheidet sich von seinem äußeren Umfeld durchein besonderes Merkmal:Er ist ein Machtvakuum. Zwar sind auch die meisten Staatender Golfregion und im Nahen Osten alles andere als stabil, dochüben im Endeffekt die USA dort eine Schiedsrichterfunktionaus. <strong>Die</strong> instabile Region steht mithin unter der Hegemonieeiner <strong>einzige</strong>n Macht, die einen mäßigenden Einfluß ausübt.Im Gegensatz dazu erinnert der eurasische Balkan wirklichan den uns aus der Geschichte dieses Jahrhunderts vertrauterenBalkan in Südosteuropa: <strong>Die</strong> dortigen Staaten sindnicht nur hochgradig instabil, ihre Lage und innenpolitischeVerfassung fordern die mächtigen Nachbarn zum Ein-


182 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>greifen geradezu heraus, und jeder widersetzt sich mit Entschlossenheitden Bestrebungen der anderen, die Vorherrschaftin der Region zu erlangen. Es ist dieses wohlvertraute Phänomendes Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung, das dieBezeichnung eurasischer Balkan rechtfertigt.Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelleBalkan als geopolitische Beute. Geopolitisch interessant istauch der eurasische Balkan, den die künftigen Transportwege,die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen undöstlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellensollen, durchziehen werden. Außerdem kommt ihm sicherheitspolitischeBedeutung zu, weil mindestens drei seiner unmittelbarenund mächtigsten Nachbarn von alters her Absichten daraufhegen, und auch China ein immer größeres politisches Interessean der Region zu erkennen gibt. Viel wichtiger aber ist der eurasischeBalkan, weil er sich zu einem ökonomischen Filetstückentwickeln könnte, konzentrieren sich in dieser Region dochungeheuere Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigenMineralien einschließlich Gold ganz zu schweigen.Der weltweite Energieverbrauch wird sich in den nächstenzwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Schätzungen desUS-Department of Energy zufolge steigt die globale Nachfragezwischen 1993 und 2015 um voraussichtlich mehr als50 Prozent, und dabei dürfte der Ferne Osten die bedeutendsteZunahme verzeichnen. Schon jetzt ruft der wirtschaftlicheAufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschungund Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor,und es ist bekannt, daß die zentralasiatische Region und dasKaspische Becken über Erdgas- und Erdölvorräte verfügen, diejene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in denSchatten stellen.Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten und an ihremReichtum teilzuhaben sind Ziele, die nationale Ambitionen


Der Eurasische Balkan 183wecken, Gruppeninteressen anregen, historische Ansprüchewieder ins Bewußtsein rücken, imperiale Bestrebungenaufleben lassen und internationale Rivalitäten anfachen.Noch brisanter wird die Situation dadurch, daß die Regionnicht nur ein Machtvakuum darstellt, sondern auchintern instabil ist. Jeder der dortigen Staaten hat ernsteinnenpolitische Schwierigkeiten, die einzelnen Staatsgrenzensind entweder von Gebietsansprüchen ihrer Nachbarngefährdet oder sie liegen in ethnischen Problemzonen,nur wenige sind bevölkerungsmäßig homogen, undeinige sind in gewalttätige Auseinandersetzungenterritorialer, ethnischer oder religiöser Art verwickelt.


Der ethnische HexenkesselDer eurasische Balkan besteht aus neun Ländern, auf die dieobige Beschreibung mehr oder weniger zutrifft, und vielleichtkommen bald zwei weitere Staaten hinzu. <strong>Die</strong> neun Länder sindKasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan,Aserbaidschan, Armenien und Georgien – alle gehörten einst zurfrüheren Sowjetunion – sowie Afghanistan. <strong>Die</strong> beiden Länder,die man hinzuzählen könnte, nämlich die Türkei und der Iran,sind politisch und wirtschaftlich wesentlich lebensfähiger; beidebemühen sich aktiv um regionalen Einfluß innerhalb des eurasischenBalkans und stellen somit wichtige geostrategische Akteurein der Region dar. Zugleich sind beide für ethnische Konflikteanfällig. Käme es zur Destabilisierung eines dieser Staaten oderauch beider, wären die internen Probleme der Region nicht mehrzu steuern, und selbst eine regionale Vorherrschaft der Russenkönnte dann womöglich nicht mehr verhindert werden.<strong>Die</strong> drei Kaukasusrepubliken – Armenien, Georgien undAserbaidschan – können sich auf historisch gewachseneStaatsvölker stützen, die ein ausgeprägtes, alle Bevölkerungsschichtendurchdringendes Nationalgefühl besitzen; ihr Gemeinwohlwird hauptsächlich von äußeren Konflikten bedroht.<strong>Die</strong> fünf neuen zentralasiatischen Staaten hingegen befindensich überwiegend in einer nationalen Aufbauphase, in derStammeszugehörigkeiten und ethnische Identitäten nach wievor eine große Rolle spielen, so daß Uneinigkeit im Inneren zumHauptproblem wird. Beide Gruppen von Staaten wecken somitdas Verlangen ihrer mächtigeren und von Großmachtphantasiengetriebenen Nachbarn, diese Situation auszuschlachten.Der eurasische Balkan ist ein ethnisches Mosaik (vgl. dieTabelle Seite 187). In den zwanziger und dreißiger Jahren des20. Jahrhunderts haben sowjetische Kartographen die Gren-


186 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>zen der damals formal gegründeten Sowjetrepubliken ganz willkürlichgezogen. (<strong>Die</strong> Ausnahme bildet Afghanistan, das nie zurSowjetunion gehörte.) Zwar hatte man sich bei der Grenzziehungweitgehend von ethnischen Gesichtspunkten leiten lassen, dochsie spiegelte zugleich das Interesse des Kreml wider, im südlichenTeil des russischen Imperiums keinen Zusammenschlüsseneinzelner Volksgruppen Vorschub zu leisten, die womöglich gegendie Zentralgewalt aufbegehrt hätten.Demgemäß lehnte Moskau die Vorschläge zentralasiatischerNationalisten ab, die verschiedenen zentralasiatischenVölker (von denen die meisten allenfalls ein rudimentäresNationalgefühl entwickelt hatten) zu einer politischen Einheit zuverschmelzen – die den Namen Turkestan tragen sollte –‚ und rieflieber fünf Republiken ins Leben, gab jeder einen neuen Namenund Zickzackgrenzen. Vermutlich aus ähnlichen Erwägungenverwarf der Kreml Pläne für eine Kaukasische Föderation.Daher überrascht es nicht, daß nach dem Zusammenbruch derSowjetunion sowohl die drei Kaukasusrepubliken als auch diefünf zentralasiatischen Staaten auf ihre neue Unabhängigkeitund auf die notwendige regionale Zusammenarbeit kaum vorbereitetwaren.Prompt gerieten im Kaukasus die weniger als vier MillionenArmenier und die über acht Millionen Aserbaidschanerin einen offenen Krieg über den Status von Nagorny-Karabach, einer Enklave mit überwiegend armenischerBevölkerung innerhalb Aserbaidschans. Der Konfliktgipfelte in großangelegten ethnischen Säuberungen, undHunderttausende von Flüchtlingen und Vertriebenen flohenin beide Richtungen. Da die Armenier Christen und dieAserbaidschaner Moslems sind, trug die AuseinandersetzungZüge eines Religionskrieges. Der in ökonomischer Hinsichtverheerende Konflikt erschwerte es beiden Ländern zusätzlich,ihre Unabhängigkeit zu festigen. Armenien war genö-


Der Eurasische Balkan 187Bev.in Mio.Stand 1995EthnizitätAfghanistan Armenien Aserbaidschan Georgien Kasachstan Kirgistan Tadschikistan Turkmenistan Usbekistan21,3 3,6 7,8 5,7 17,4 4,8 6,2 4,1 23,145,4 72,4 71,1 73,1 68,3 68,1 69,0 65,4Paschtunen(38%)Tadschiken(25%)Hasaras(19%)Usbeken(6%)Armenier(93%)Aseri(3%)Russen(2%)Andere(2%)Aseri(90%)Dagestani(3,2%)Russen(2,5%)Armenier(2,3%)Andere(2%)Georgier(70,1%)Armenier(8,1%)Russen(6,3%Aseri(5,7%)Osseten(3%)Abchasen(1,8%)Andere(5%)Kasachen(41,9%)Russen(37%)Ukrainer(5,2%)Deutsche(4,7%)Usbeken(2,1%)Tataren(2%)Andere(7%)Kirgisen(52,4%)Russen(21,5%)Usbeken(12,9%)Ukrainer(2,5%)Deutsche(2,4%)Andere(8,3%)Tadschiken(64,9%)Usbeken(25%)Russen(3,5%)Andere(6,6%)Turkmenen(73,3%)Russen(9,8%)Usbeken(9%)Kasachen(2%)Andere(5,9%)68,8Usbeken(71,4%)Russen(8,3%)Tadschiken(4,7%)Kasachen(4,1%)Tataren(2,4%)Karakalpaken(2,1%)BSP: Mill.$ KA 8,1 13,8 6,0 55,2 8,4 8,5 13,1 54,5WichtigsteExportgüterAndere(7%)Weizen Gold Erdöl Zitrusfrüchte Erdöl Wolle Baumwolle Erdgas BaumwolleVieh Aluminum Erdgas Tee Eisenmetalle Chemikal. Aluminium Baumwolle** GoldObstTeppiche ElektrogeräteChemikalien WeinWolle Textilien Eisenmetalle GetreideEdelsteine BaumwolleBaum-wolle Obst Erdölprodukte ErdgasMaschinen Chemikalien Eisenmetalle Pflanzenöl ElektrizitätNichteisenmetalleMineral.DüngerTextilien Textilien EisenmetalleWolle Schuhe Teppiche TextilienFleisch MaschinenKohle TabakLebenserwartungTransport-zubehörNichteisenmetalleErdölförderungszubehörNichteisenmetalleLebensmittel-Produkte* Kaufkraftparität von 1994, extrapoliert nach Schätzungen der Weltbank für 1992.** Turkmenistan ist der Welt zehntgrößter Baumwollerzeuger; es verfügz über die fünftgrößten Erdgas- und Erdölreserven der Welt.


188 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>tigt, sich stärker auf Rußland zu verlassen, das erheblichemilitärische Hilfe zur Verfügung gestellt hatte, während Aserbaidschansneue Unabhängigkeit und innere Stabilität durch denVerlust von Nagorny-Karabach gefährdet waren.Aserbaidschans Verwundbarkeit zeitigt Auswirkungen auf diegesamte Region, weil seine Lage es zu einem geopolitischenDreh- und Angelpunkt macht. Es ist gewissermaßen der lebenswichtigeKorken, der den Zugang zur Flasche mit denBodenschätzen des Kaspischen Beckens und Zentralasiens kontrolliert.Ein unabhängiges, Türkisch sprechendes Aserbaidschanmit Pipelines, die es mit der ethnisch verwandten und politischals Stütze agierenden Türkei verbinden, verwehrte Rußland eineMonopolstellung im Zugang zur Region und beraubte es damitseines entscheidenden politischen Druckmittels auf die Politikder neuen zentralasiatischen Staaten. Dennoch ist Aserbaidschanvon zwei Seiten starkem Druck ausgesetzt: von Rußland imNorden und vom Iran im Süden. Im nordwestlichen Iran lebenzweimal soviel Aseris – einige Schätzungen sprechen sogar von20 Millionen – wie in Aserbaidschan. Da der Iran separatistischeTendenzen unter seinen Aseris befürchtet, betrachtet er dieSouveränität Aserbaidschans mit recht gemischten Gefühlen,obwohl beide Völker dem Islam angehören. Folglich sieht sichAserbaidschan bei seinen Verhandlungen mit dem Westen sowohlrussischem als auch iranischem Druck ausgesetzt.Anders als in Armenien oder Aserbaidschan mit ihrerethnisch recht homogenen Bevölkerung gehören etwa 30 Prozentder sechs Millionen Georgier ethnischen Minderheitenan. Überdies hegen diese kleinen Volksgruppen, die in ihrerOrganisationsform und ihrem Selbstverständnis eher Stämmengleichen, Groll gegen die georgische Herrschaft. Nachder Auflösung der Sowjetunion machten sich daher die Ossetenund die Abchasen den innergeorgischen Machtkampf zunutze,um sich von Georgien abzuspalten. <strong>Die</strong>s geschah mit


Der Eurasische Balkan 189stillschweigender Rückendeckung Rußlands, das Georgien zumVerbleib in der GUS (aus der sich Georgien anfangs gänzlichzurückziehen wollte) und zur Duldung russischer Militärbasenauf seinem Territorium zwingen wollte, um das Gebiet von derTürkei abzuriegeln.<strong>Die</strong> instabile Lage in Zentralasien hat vor allem innenpolitischeGründe. Vier der fünf neuen unabhängigen zentralasiatischenStaaten gehören dem türkischen Sprach- und Kulturrauman. Tadschikistans Sprache und Kultur sind persisch, währendAfghanistan (außerhalb der früheren Sowjetunion) ein Mosaikaus pathanischen, tadschikischen, paschtischen und persischenVolksgruppen ist. <strong>Die</strong> Bewohner aller sechs Ländersind Muslime, wenn auch die Tadschiken zum größten Teil derschiitischen Glaubensrichtung des Islams anhängen. Obwohldiese Völker mehrheitlich jahrhundertelang persischer, türkischerund russischer Herrschaft unterstanden, hat dieseErfahrung unter ihnen kein Bewußtsein eines gemeinsamenregionalen Interesses entstehen lassen. Im Gegenteil: Aufgrundihrer unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung sindsie für innere und äußere Konflikte ausgesprochen anfällig– für die mächtigeren Nachbarn ein Anreiz, sich in die innerenAngelegenheiten dieser Staaten einzumischen.<strong>Die</strong> wichtigsten der fünf jüngst in die Unabhängigkeit entlassenenzentralasiatischen Staaten sind Kasachstan und Usbekistan.Kasachstan ist der Schild und Usbekistan die Seeledes nationalen Erwachens der verschiedenen Völker in derRegion. Durch seine Größe und geographische Lage schütztKasachstan die anderen vor direktem russischen Druck, danur Kasachstan an Rußland grenzt. Seine etwa 18 MillionenMenschen zählende Bevöl-kerung besteht zu etwa 35 Prozentaus Russen (in der gesamten Region schwindet der russischeBevölkerungsanteil stetig) und zu weiteren 20 Prozent ausnichtkasachischen Volksstämmen, ein Umstand, der es den


190 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>neuen kasachischen Machthabern – die selbst immer nationalistischereTöne anschlagen, aber nur knapp die Hälfte der gesamtenBevölkerung des Landes vertreten – erschwert hat, ihrenStaat auf der Basis von Volkstum und Sprache aufzubauen.<strong>Die</strong> in dem neuen Staat lebenden Russen sind natürlichder kasachischen Führung nicht wohlgesonnen. Als die ehemaligenKolonialherren gehören sie zu der gebildeteren undbesser situierten Schicht und fürchten um ihre Privilegien.Außerdem blicken sie auf den neuen kasachischen Nationalismusmit kaum verhüllter, aus kulturellem Dünkel gespeisterVerachtung herab. Da die russischen Kolonisten in den nordwestlichenwie auch in den nordöstlichen Teilen Kasachstanseindeutig in der Überzahl sind, drohte Kasachstan im Falle einertiefgehenden Verschlechterung der kasachischrussischenBeziehungen die territoriale Spaltung. Zugleich leben mehrerehunderttausend Kasachen auf der russischen Seite derStaatsgrenze und im Nordosten Usbekistans, dem Land,das die Kasachen als ihren Hauptrivalen um die Führung inZentralasien betrachten.Usbekistan ist durchaus ernsthafter Kandidat. Es ist zwarkleiner und weniger mit Bodenschätzen gesegnet als Kasachstan,hat aber eine größere Bevölkerung (fast 25 Millionen)und, viel wichtiger noch, eine wesentlich homogenere Bevölkerungals Kasachstan aufzuweisen. Angesichts der höherenGeburtenrate unter den Einheimischen und des allmählichenExodus der Russen werden bald etwa drei Viertel des VolkesUsbeken sein mit einer vor allem in Taschkent, der Hauptstadtdes Landes, ansässigen bedeutungslosen russischenMinderheit.Geschickt führt die politische Elite des Landes den neuenStaat bewußt und unmittelbar auf das im Mittelalter bestehenderiesige Reich Tamerlans (1336–1404) zurück, dessenHauptstadt Samarkand das berühmte regionale Zentrum für


Der Eurasische Balkan 191das Studium der Religion, der Astronomie und der Künstewar. <strong>Die</strong>se Abstammung erfüllt das moderne Usbekistan miteinem tieferen Bewußtsein historischer Kontinuität und regionalerSendung, als das bei seinen Nachbarn der Fall ist. Inder Tat betrachten manche Usbeken ihr Land als den nationalenKern eines gemeinsamen zentralasiatischen Staatsgebildes,dessen Hauptstadt vermutlich Taschkent wäre. <strong>Die</strong> politischeFührungsschicht Usbekistans – und in zunehmendemMaße auch seine Bevölkerung – bringt bessere subjektiveVoraussetzungen für einen modernen Nationalstaat mit als dieHerrschaftseliten der anderen zentralasiatischen Staaten, undsie ist – ungeachtet innenpolitischer Schwierigkeiten –fest entschlossen,nie mehr auf den Status einer Kolonie zurückzufallen.Infolgedessen kommt Usbekistan bei der Förderung einesmodernen Nationalismus eine Vorreiterrolle zu, wasunter seinen Nachbarn gewisses Unbehagen erregt. Im gleichenMaße wie die führenden usbekischen Politiker bei derStaatsbildung und in ihrem Eintreten für größere regionaleSelbständigkeit das Tempo vorgeben, wecken die größerenationale Homogenität und das stärkere Nationalbewußtseindes Landes bei den Regierenden von Turkmenistan, Kirgistan,Tadschikistan und sogar Kasachstan Befürchtungen, daß sichUsbekistans Führungsrolle in der Region zu regionaler Vorherrschaftauswachsen könnte. <strong>Die</strong>se Besorgnis behindert dieregionale Zusammenarbeit der neuen souveränen Staaten – dievon den Russen natürlich ohnehin nicht gefördert wird – undperpetuiert die Verwundbarkeit der Region.Allerdings ist auch Usbekistan nicht ganz frei von ethnischenSpannungen. Südliche Teile des Landes, vor allem umdie historisch und kulturell bedeutenden Zentren Samarkandund Buchara, sind überwiegend von Tadschiken bevölkert,die sich mit den von Moskau gezogenen Grenzen nicht abfindenwollen. Weiter kompliziert wird die Lage noch durch den


192 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Umstand, daß im westlichen Tadschikistan Usbeken leben undin Kirgistans wirtschaftlich wichtigem Fergana-Tal (wo es inden letzten Jahren zu blutigen Auseinandersetzungen ethnischerGruppen gekommen ist) sowohl Usbeken als auch Tadschikenansässig sind, gar nicht zu reden von den Usbeken im NordenAfghanistans.Von den übrigen drei aus russischer Kolonialherrschaft hervorgegangenenzentralasiatischen Staaten, nämlich Kirgistan,Tadschikistan und Turkmenistan, ist nur letzteres, ethnischgesehen, relativ geschlossen. Ungefähr 75 Prozent seiner 4,5Millionen Einwohner sind Turkmenen, während Usbeken undRussen jeweils weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen.Dank seiner geschützten geographischen Lage ist es relativweit weg von Rußland. Von weitaus größerer geopolitischerBedeutung für die Zukunft des Landes sind Usbekistan und derIran. Wenn erst einmal Pipelines in die Region führen, verheißendie wahrhaft riesigen Erdgasvorkommen Turkmenistansseiner Bevölkerung eine blühende Zukunft.<strong>Die</strong> fünf Millionen zählende Bevölkerung Kirgistans istsehr viel gemischter. <strong>Die</strong> Kirgisen stellen etwa 55 Prozent derGesamtbevölkerung und die Usbeken etwa 13 Prozent, währendder Anteil der Russen in jüngster Zeit um 5 Prozent auf etwasüber 15 Prozent zurückfiel. Vor der Unabhängigkeit stellten dieRussen das Gros der technischen Intelligenz; ihre Massenfluchthat der Wirtschaft des Landes geschadet. Obzwar reich anBodenschätzen und von einer landschaftlichen Schönheit, dieihm die Bezeichnung »zentralasiatische Schweiz« eintrug (wodurches zu einem neuen Touristengebiet werden könnte), istdas zwischen China und Kasachstan eingezwängte Kirgistanstark davon abhängig, inwieweit Kasachstan seine Souveränitätbehaupten kann.Tadschikistan ist, ethnisch gesehen, nur etwas homogener.Seine 6,2 Millionen Einwohner sind zu knapp zwei Dritteln


Der Eurasische Balkan 193Tadschiken und zu mehr als 25 Prozent Usbeken (die vonden Tadschiken mit einer gewissen Feindseligkeit betrachtetwerden), während die verbleibenden Russen noch etwadrei Prozent ausmachen. Wie anderswo ist jedoch selbstdie dominierende ethnische Gemeinschaft strikt – ja sogarkraß – nach Stämmen gegliedert. Ein nationales Bewußtseinist weitgehend auf die politische Elite in den Städten beschränkt.Infolgedessen hat die Unabhängigkeit nicht nurbürgerkriegsähnliche Zustände ausgelöst, sondern auchRußland einen bequemen Vorwand geliefert, Teile seinerArmee weiterhin in dem Land zu belassen. <strong>Die</strong> starken tadschikischenMinderheiten jenseits der Grenze, im NordostenAfghanistans, machen die ethnische Lage noch komplizierter.Es leben fast ebenso viele Tadschiken in Afghanistan wie inTadschikistan, ein Sachverhalt, der zusätzlich dazu beiträgt,die Stabilität in der Region zu untergraben.Das gegenwärtige Durcheinander in Afghanistan ist ebenfallsein sowjetisches Vermächtnis, obwohl das Land nie zurSowjetunion gehörte. Zerrissen durch die sowjetische Besatzungund den langjährigen Guerillakrieg, der in dem Land geschürtwurde, ist Afghanistan nur noch dem Namen nach einNationalstaat. Seine 22 Millionen Einwohner hat man strengnach ethnischen Kriterien getrennt mit der Folge, daß dieGräben zwischen den einheimischen Paschtunen, Tadschikenund Hasaras immer tiefer werden. Der Dschihad gegen dierussischen Besatzer machte die Religion zum dominierendenFaktor im politischen Leben des Landes und hat die ohnehinscharfen politischen Differenzen mit dogmatischem Eifer versetzt.Afghanistan muß somit nicht nur als ein Teil des ethnischenHexenkessels in Zentralasien betrachtet, sondern auchpolitisch dem eurasischen Balkan zugerechnet werden.Obwohl die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepublikenwie auch Aserbaidschan allesamt überwiegend von Mus-


194 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>limen bevölkert sind, haben ihre politischen Eliten – großenteilsProdukte der Sowjetära – fast durchweg nichts mit Religionim Sinn und die Staaten eine weltliche Verfassung. Esist jedoch anzunehmen, daß ihre Bevölkerungen ebenso, wiesie die traditionellen Sippen- und Stammesbindungen durchein modernes Nationalbewußtsein ersetzen, verstärkt einislamisches Bewußtsein entwickeln werden. Eine islamischeWiedererweckung, die bereits von außen her vom Iran, aberauch von Saudi-Arabien Unterstützung erfährt, wird wahrscheinlichaggressive Nationalismen beflügeln, die jeglicherReintegration unter russischer – und mithin ungläubiger– Herrschaft entschiedenen Widerstand entgegensetzen.Genauer gesagt, dürfte der Prozeß der Islamisierung auchdie innerhalb Rußlands verbliebenen Muslime anstecken. IhreZahl beläuft sich auf etwa 20 Millionen und übersteigt jene dernunmehr unter fremder Herrschaft in den unabhängigen zentralasiatischenStaaten lebenden Russen (circa 9,5 Millionen)um das Doppelte. <strong>Die</strong> russischen Muslime machen mithin etwa13 Prozent der russischen Bevölkerung aus, und es ist beinaheunvermeidlich, daß sie ihre Rechte auf eine eigenständige religiöseund politische Identität selbstbewußter einklagen werden.Auch wenn dieser Anspruch nicht die Form einer Forderungnach absoluter Unabhängigkeit, wie in Tschetschenien annimmt,wird er sich mit den unlösbaren Problemen überschneiden,denen sich Rußland, angesichts seines jüngstenGroßmachtabenteuers und der russischen Minoritäten in denneuen Staaten in dieser Region weiterhin wird stellen müssen.Der Umstand, daß zwei der größeren angrenzenden Nationalstaaten– die Türkei und der Iran – jeder mit einemhistorisch gewachsenen imperialen, kulturellen, religiösenund ökonomischen Interesse an der Region, in ihrer geopolitischenOrientierung unberechenbar sind und zudem selbstmit internen Problemen zu schaffen haben, verstärkt die In-


Der Eurasische Balkan 195stabilität des eurasischen Balkan gravierend und macht dieLage noch explosiver. Eine Destabilisierung dieser beidenStaaten würde sehr wahrscheinlich die ganze Region ins Chaosstürzen; die laufenden ethnischen und territorialen Konfliktegerieten dann außer Kontrolle und das jetzt schon fragileMachtgleichgewicht in der Region würde schwer gestört.Infolgedessen sind die Türkei und der Iran nicht nur wichtigegeostrategische Akteure, sondern auch geopolitische Dreh- undAngelpunkte, deren innere Verfassung für die Region von ganzentscheidender Bedeutung ist. Beide sind mittlere Mächtemit starken regionalen Bestrebungen und ausgeprägtem,aus ihrer Vergangenheit abgeleiteten Selbstbewußtsein. <strong>Die</strong>künftige geopolitische Orientierung und sogar der nationaleZusammenhalt der beiden Staaten bleiben jedoch unsicher.<strong>Die</strong> Türkei, ein postimperialer Staat, der immer nochauf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis ist, wirdin drei Richtungen gezerrt: die Modernisten sähen ihr Landgern als europäischen Staat und blicken nach Westen, dieIslamisten tendieren in Richtung Naher Osten und muslimischeGemeinschaften und schauen nach Süden, die historischdenkenden Nationalisten entdecken in den Turkvölkerndes Kaspischen Beckens und Zentralasiens ein neuesMissionsgebiet für eine in der Region dominierende Türkei undsehen nach Osten. Jede dieser drei Perspektiven postuliert eineandere strategische Achse, und in der Unvereinbarkeit dieserStandpunkte kündigt sich zum ersten Mal seit der RevolutionKemal Atatürks eine gewisse Unsicherheit über die Rolle derTürkei in der Region an.<strong>Die</strong> Türkei könnte zumindest teilweise ein Opfer derethnischen Konflikte in der Region werden. Obwohl 80 Prozentihrer an die 65 Millionen Bewohner vorwiegend Türken sind(wenn auch dazu eine bunte Mischung aus Tscherkessen,Albanern, Bosniern, Bulgaren und Arabern gehörten), machen


196 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>die Kurden immerhin 20 Prozent oder mehr aus. <strong>Die</strong> in den östlichenGebieten des Landes konzentrierten türkischen Kurdenwurden zunehmend in den Kampf der irakischen und iranischenKurden um nationale Unabhängigkeit hineingezogen. Von derpolitischen Ausrichtung des Landes verursachte Spannungeninnerhalb der Türkei würden die Kurden zweifellos ermuntern,noch gewaltsamer auf einen eigenständigen Nationalstaat zudrängen.Noch schwerer zu bestimmen ist die zukünftige Orientierungdes Irans. <strong>Die</strong> Revolution der schiitischen Fundamentalisten,die Ende der siebziger Jahre den Sieg davontrug, könntein ein Thermidordium eintreten, was die Ungewißheit über diegeostrategische Rolle des Irans erhöht. Der Zusammenbruchder atheistischen Sowjetunion eröffnete dem Iran einerseitsdie Möglichkeit, seine nunmehr unabhängigen nördlichenNachbarn zum Islam zu bekehren. Andererseits neigte Teheranaufgrund seiner Feindschaft gegen die USA zu einer zumindesttaktisch prorussischen Haltung, und die Sorge, daß sich dieUnabhängigkeit Aserbaidschans negativ auf den eigenen nationalenZusammenhalt auswirken könnte, bestärkte ihn darin.<strong>Die</strong> Sorge gründet in der Anfälligkeit des Iran gegenüberethnischen Spannungen. Von den 65 Millionen Bewohnerndes Landes (zahlenmäßig fast gleichauf mit der Türkei), sindnur etwas mehr als die Hälfte Perser. Grob geschätzt ein Viertelsind Aseris, und der Rest setzt sich aus Kurden, Baluchis,Turkmenen, Arabern und anderen Stämmen zusammen. Abgesehenvon den Kurden und den Aseris stellen die anderenderzeit keine Bedrohung der nationalen Einheit des Irans dar,zumal die Perser ein starkes nationales, ja sogar imperialesBewußtsein beseelt. Aber das könnte sich ganz schnell ändern,wenn es zu einer neuen politische Krise im Iran kommen sollte.Ferner muß der bloße Umstand, daß es nun mehrere unab-


Der Eurasische Balkan 197hängige Staaten mit der Endsilbe -stan- in diesem Gebietgibt und daß selbst die eine Million Tschetschenen ihrenpolitischen Bestrebungen Geltung verschaffen konnten,ansteckend auf die Kurden wie auch auf andere ethnischeMinderheiten im Iran wirken. Wenn es Aserbaidschan gelingt,politisch und wirtschaftlich stabile Verhältnisse zu schaffen,werden sich die iranischen Aseris vermutlich immer stärkerfür ein größeres Aserbaidschan einsetzen. Somit könnten politischeInstabilität und Uneinigkeit in Teheran sich zu einerGefährdung der nationalen Einheit auswachsen, das wiederumwürde die Probleme des eurasischen Balkans auf dramatischeWeise vermehren und verstärken.Wettstreit mit vielen BeteiligtenUm den europäischen Balkan stritten drei Großmächte: dasOsmanische Reich, die österreich-ungarische Monarchie unddas russische Zarenreich. Außerdem gab es drei indirekt Beteiligte,die Angst hatten, daß sich der Sieg eines dieser Protagonistennegativ auf ihre geopolitischen Interessen auswirkenkönnte: Deutschland fürchtete Rußlands Macht, Frankreichwidersetzte sich Österreich-Ungarn, und Großbritannien sahlieber ein geschwächtes Osmanisches Reich die Dardanellenkontrollieren, als daß einer der anderen Hauptkontrahentendie Herrschaft über den Balkan erlangte. Während des 19.Jahrhunderts gelang es diesen Mächten noch, aufflackerndeBalkankonflikte einzudämmen, ohne dadurch vitale Interessender Beteiligten zu verletzen, aber 1914 versagten sie – mitverheerenden Folgen für alle.Auch der derzeitige Kampf um die Vormachtstellung imeurasischen Balkan wird von drei benachbarten Staaten ausgetragen:von Rußland, der Türkei und dem Iran, doch könn-


198 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>te nicht zuletzt China ein wichtiger Protagonist werden.Ebenfalls, wenngleich auch nicht unmittelbar daran beteiligt,sind die Ukraine, Pakistan, Indien und das ferne Amerika. Alledrei Hauptkontrahenten haben nicht nur künftige geopolitischeund wirtschaftliche Vorteile im Auge, sie berufen sich zudem aufhistorische Ansprüche. Jeder war zu irgendeiner Zeit die politischoder kulturell beherrschende Macht in der Region. Jeder betrachtetdie anderen mit Argwohn. Es ist zwar unwahrscheinlich, daßes zu einer direkten Konfrontation zwischen ihnen kommt, dochkönnten ihre Rivalitäten das Chaos in der Region noch vergrößern.<strong>Die</strong> feindselige Haltung der Russen gegenüber den Türkennimmt schon fast obsessive Züge an: Das Bild, das die russischenMedien von ihrem südlichen Nachbarn entwerfen, zeigteine Türkei, die die ganze Region unter ihre Knute zwingenwill, lokalen Widerstand gegen Rußland anzettelt (im Fallevon Tschetschenien hatte dieser Vorwurf sogar eine gewisseBerechtigung) und die Sicherheit Rußlands in einem Maßebedroht, das in keinem Verhältnis zu ihren tatsächlichenMöglichkeiten steht. <strong>Die</strong> Türken revanchieren sich entsprechendund verstehen sich als Befreier ihrer Brüder aus langjähriger russischerKnechtschaft. Auch Türken und Iraner (Perser) rivalisiertenin der Vergangenheit um die Vormachtstellung in der Region,und diese Rivalität ist in den letzten Jahren wiederaufgelebt, zumaldie Türkei dem Konzept des islamischen Gottesstaates einemoderne und weltliche Alternative entgegensetzt.Jeder der drei Staaten strebt, das darf man wohl behaupten,zumindest nach einer Einflußsphäre; doch Moskaus Ehrgeizgeht viel weiter, weil seine Erinnerung an imperiale Herrschaftnoch relativ frisch ist, in der Region mehrere MillionenRussen leben und der Kreml Rußland wieder in den Rangeiner <strong>Weltmacht</strong> erheben möchte. Aus außenpolitischen ErklärungenMoskaus geht klar hervor, daß es den gesamten


Der Eurasische Balkan 199Raum der früheren Sowjetunion als eine Zone besonderengeostrategischen Interesses betrachtet, aus der politischer– und sogar wirtschaftlicher – Einfluß von außerhalb ferngehaltenwerden sollte. Obwohl auch den Bestrebungen derTürkei auf regionale Einflußnahme Züge einer indes weiterzurückliegenden imperialen Vergangenheit anhaften (dasOsmanische Reich ereichte 1590 nach der Eroberung desKaukasus und Aserbaidschans seine größte Ausdehnung,obgleich es Zentralasien nicht mit einschloß), gründen siedoch stärker in der gemeinsamen ethnisch-sprachlichenIdentität der Turkvölker (siehe nachfolgende Karte). InAnbetracht ihrer viel begrenzteren politischen und militärischenMachtmittel kann die Türkei keine beherrschendePosition in der Region einnehmen. Sie versteht sich eher alsFührerin einer losen turksprachigen Staatengemeinschaft.<strong>Die</strong> relative Modernität der türkischen Gesellschaft, ihreSprachverwandtschaft mit den Turkvölkern und ihreWirtschaftskraft sind Faktoren, die die Türkei nutzt, um sichals einflußreichste Kraft in den derzeit in der Region vonstattengehendenStaatsgründungsprozessen zu etablieren.Was der Iran im Schilde führt, ist noch schwerer zubestimmen, könnte aber langfristig für Rußlands ehrgeizigePläne nicht weniger bedrohlich sein. Das Perserreichliegt viel weiter zurück als das der Osmanen. Auf demHöhepunkt seiner Macht, etwa um 500 v. Chr., umfaßte esdas gegenwärtige Territorium der drei Kaukasusrepubliken– Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan –‚ Afghanistansowie das Gebiet der heutigen Türkei, des Iraks,Syriens, des Libanons und Israels. Obgleich die Ziele desIran derzeit enger gesteckt sind als die der Türkei undsich hauptsächlich auf Aserbaidschan und Afghanistankonzentrieren, richtet sich das Interesse seiner religiösenFührer auf die gesamte muslimische Bevölkerung in


200 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>der Region, ja sogar innerhalb Rußlands. In der Tat ist dieWiederbelebung des Islam in Zentralasien zu einem substantiellenElement der Bestrebungen der gegenwärtig in TeheranRegierenden geworden.<strong>Die</strong> konkurrierenden Interessen Rußlands, der Türkei unddes Irans sind auf der folgenden Karte (Seite 201) dargestellt:<strong>Die</strong> geopolitische Stoßrichtung Rußlands ist mit zwei Pfeilenwiedergegeben, die direkt nach Süden auf Aserbaidschanund Kasachstan zielen; die der Türkei mit einem <strong>einzige</strong>nPfeil, der nach Osten durch Aserbaidschan und das KaspischeMeer hindurch auf Zentralasien weist, und die des Iransmit zwei Pfeilen, von denen der eine nach Norden auf Aserbaidschanund der andere nach Nordosten auf Turkmenistan,Afghanistan und Tadschikistan zeigt. <strong>Die</strong>se Pfeile


Der Eurasische Balkan 201laufen nicht nur kreuz und quer; sie können auch zusammenstoßen.Chinas Rolle ist derzeit begrenzter, und seine Zielesind weniger offensichtlich. Es versteht sich von selbst, daß esChina an seiner Grenze nach Westen lieber mit einer Ansammlungrelativ unabhängiger Staaten als mit einem russischen Imperiumzu tun hat.Zumindest dienen die neuen Staaten als eine Art Pufferzone.Dennoch befürchtet China, seine Turkminderheiten in derProvinz Xingjiang könnten in den jungen unabhängigenStaaten ein attraktives Vorbild erblicken, und aus diesemGrund hat es von Kasachstan die Zusicherung verlangt, daßder Aktionismus von Minderheiten im Grenzgebiet unterbundenwerde. Da auf lange Sicht die Energievorkommender Region für Peking zweifellos von großem Inter-


202 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>esse sein werden, muß der direkte Zugang zu ihnen, unbehelligtvon Moskaus Kontrolle, Chinas zentrales Anliegen sein.Tendenziell kollidiert Chinas allgemeines geopolitisches Interessemit Rußlands Streben nach einer beherrschenden Rolleund ist somit zu den türkischen und iranischen Zielsetzungenkomplementär.Für die Ukraine geht es um den zukünftigen Charakterder GUS und einen freieren Zugang zu Energiequellen, dieihre Abhängigkeit von Rußland vermindern würden. Unterdiesem Aspekt rücken für Kiew engere Beziehungen zu Aserbaidschan,Turkmenistan und Usbekistan in den Vordergrund.Auch die Rückendeckung, die die Ukraine den nach größererUnabhängigkeit strebenden Staaten gibt, verfolgt den Zweck,die eigene Unabhängigkeit gegenüber Moskau zu stärken. Sohat die Ukraine die Anstrengungen Georgiens unterstützt, aserischeÖlexporte über sein Gebiet zu leiten. Darüber hinaus tatsie sich mit der Türkei zusammen, um den russischen Einfluß imSchwarzen Meer zu schwächen, und unterstützte die türkischenBemühungen, Erdöl von Zentralasien in türkische Terminals zuleiten.Ein Engagement Pakistans und Indiens liegt vorerst inweiterer Ferne, aber keinem der beiden Länder ist es gleichgültig,was in diesem neuen eurasischen Balkan geschieht.Pakistan ist bestrebt, durch politischen Einfluß in Afghanistangeostrategische Tiefe zu gewinnen – Iran aber daran zu hindern,dasselbe zu tun und sich in Tadschikistan einzumischen– und aus jeder neuen Pipeline Nutzen zu ziehen, die Zentralasienmit dem Arabischen Meer verbindet. In Anbetrachtder Bemühungen Pakistans und möglicherweise aus Sorgedarüber daß China langfristig auf die Region Einfluß nehmenkönnte, betrachtet Indien iranische Absichten auf Afghanistanund eine stärkere Präsenz Rußlands in dem vormals vonder Sowjetunion besetzten Raum mit größerem Wohlwollen.


Der Eurasische Balkan 203<strong>Die</strong> USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interessean der Erhaltung eines geopolitischen Pluralismus im postsowjetischenEurasien. Als ein zunehmend wichtiger, wenn auchnicht direkt eingreifender Mitspieler, der nicht allein an derFörderung der Bodenschätze in der Region interessiert ist, sondernauch verhindern will, daß Rußland diesen geopolitischen Raumallein beherrscht, halten sie sich drohend im Hintergrund bereit.Neben seinen weiterreichenden geostrategischen Zielenin Eurasien vertritt Amerika auch ein eigenes wachsendesökonomisches Interesse, wie auch das Europas ~ und desFernen Ostens, an einem unbehinderten Zugang zu dieser demWesten bisher verschlossenen Region. In diesem Hexenkesselgeopolitischer Macht stehen somit der Zugang zu möglicherweisegroßem Reichtum, die Erfüllung nationaler und / oderreligiöser Missionen und Sicherheit auf dem Spiel. In ersterLinie jedoch geht es um Zugang zur Region, über den biszum Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau allein verfügenkonnte. Alle Bahntransporte, Erdgas-und Erdöl-pipelinesund sogar der Flugverkehr wurden über das Zentrum geleitet.<strong>Die</strong> russischen Geopolitiker sähen es natürlich lieber, wennes so bliebe, da sie genau wissen, daß wer den Zugang zurRegion unter Kontrolle oder unter seiner Herrschaft hat, allerWahrscheinlichkeit nach auch den geopolitischen und ökonomischenGewinn einheimst. Genau diese Überlegung hat derPipeline-Frage für die Zukunft des Kaspischen Beckens undZentralasiens eine so zentrale Bedeutung verliehen. Falls diewichtigsten Ölleitungen in die Region weiterhin durch russischesTerritorium zum russischen Absatzmarkt am SchwarzenMeer in Noworossijsk verlaufen, werden sich die politischenKonsequenzen, auch ohne daß die Russen die Muskeln spielenlassen, bemerkbar machen. <strong>Die</strong> Region wird eine politischeDependance bleiben und Moskau darüber entscheiden können,wie der neue Reichtum der Region verteilt werden soll. Wenn je-


204 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>doch umgekehrt eine andere Pipeline übers Kaspische Meer nachAserbaidschan verläuft und von dort durch die Türkei zumMittelmeer und eine weitere durch den Iran zum ArabischenMeer führt, wird kein Staat das Monopol über den Zugang haben(siehe Karte Seite 205).Das Mißliche an dieser Diskussion ist, daß es einige Kräfteinnerhalb der politischen Elite Rußlands offenbar vorzögen,wenn die Ressourcen dieses Gebiets überhaupt nicht gefördertwürden, sollte Moskau nicht mehr die vollständige Kontrolleüber den Zugang haben. Wenn die Alternative heißt, daß ausländischeInvestitionen ein größeres wirtschaftliches und auchpolitisches Interesse des Auslands an der Region nach sich ziehen,sollen die Bodenschätze lieber ungenutzt bleiben. <strong>Die</strong>sesBesitzdenken hat seine Wurzeln in der imperialen GeschichteRußlands und wird sich nur mit der Zeit und unter äußeremDruck ändern.<strong>Die</strong> zaristische Expansion in den Kaukasus und nach Zentralasienhinein erfolgte über einen Zeitraum von etwa dreihundertJahren, aber das Ende, das sie vor kurzem nahm, kamerschreckend abrupt. Als das Osmanische Reich im Niedergangbegriffen war, drängte das Zarenreich nach Süden, entlang derKüsten des Kaspischen Meeres gegen Persien. Es bemächtigtesich 1556 der Astrachan-Khanate und erreichte um 1607 Persien.Zwischen 1774 und 1784 eroberte es die Krim, verleibte sich1801 das Königreich Georgien ein, unterwarf in der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts die Stämme im Nordkaukasus(wogegen sich die Tschetschenen mit einzigartiger Zähigkeitwidersetzten) und schloß 1878 die Übernahme Armeniens ab.Bei der Eroberung Zentralasiens ging es weniger darum,ein rivalisierendes Imperium zu bezwingen, als im Grundeisolierte und zumeist nach Stämmen organisierte feudaleKhanate und Emirate zu unterwerfen, die nur sporadischenund vereinzelten Widerstand zu leisten vermochten. Zwischen


Der Eurasische Balkan 2051801 und 1881 wurden in einer Reihe von MilitärexpeditionenUsbekistan und Kasachstan eingenommen, währenddie Zerschlagung und Unterwerfung Turkmenistans in denJahren 1873 bis 1886 erfolgte. Um 1850 jedoch war dieEroberung des größten Teils von Zentralasien im wesentlichenabgeschlossen, obgleich es noch in der Sowjetära immer wiederzu Ausbrüchen lokalen Widerstands kam.Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte eine dramatischehistorische Wende herbei. Im Laufe von nur zweiWochen schrumpfte im Dezember 1991 der asiatische TeilRußlands um etwa 20 Prozent, und von den 75 MillionenAsiaten, die vordem unter sowjetischer Herrschaft lebten,waren plötzlich nur noch 30 Millionen russische Staatsbürger.Darüber hinaus verlor Rußland weitere 18 Millionen Bewohner


206 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>des Kaukasus. Am meisten aber wurmte die politische Führungin Moskau die Erkenntnis, daß sich nun ausländischeInteressen, die über die nötigen Mittel verfügten, um zuinvestieren, Bodenschätze zu fördern und auszubeuten, aufdas bis vor kurzem allein Rußland zugängliche wirtschaftlichePotential dieser Gebiete richteten.Rußland steht vor einem Dilemma: Es ist politisch zuschwach, um die Region völlig von der Außenwelt abzuriegeln,und zu arm, um das Gebiet allein zu erschließen. EinsichtigePolitiker in Rußlands Führung erkennen zudem, daß die in denneuen Staaten im Gange befindliche Bevölkerungsexplosion ander russischen Südgrenze eine brenzlige Lage heraufbeschwörendürfte, sollten diese Staaten ihr Wirtschaftswachstum nichtaufrechterhalten können. <strong>Die</strong> bitteren Erfahrungen, die Rußlandin Afghanistan und Tschetschenien machen mußte, könntensich entlang der sich vom Schwarzen Meer bis in die Mongoleierstreckenden Grenze wiederholen, zumal dort eine Wellenationaler und islamistischer Wiedererweckung die einstmalsunterjochten Völker erfaßt hat.Folglich muß Rußland einen Weg finden, um sich auf dieneue, postimperiale Realität einzustellen. Es wird bestrebtsein, die Präsenz der Türkei und des Irans in der Region unterKontrolle zu halten, ein Abdriften der jungen Staaten zu seinenHauptrivalen zu verhindern, das Zustandekommen einer wirklichunabhängigen regionalen Zusammenarbeit in Zentralasienzu hintertreiben und den geopolitischen Einfluß Amerikas in denneuerdings souveränen Hauptstädten zu begrenzen. Es geht alsonicht mehr darum, das ehemalige Imperium wiederherzustellen –was zu kostspielig wäre und auf zu heftigen Widerstand stieße –‚sondern es gilt statt dessen, ein neues Netz von Beziehungen zuknüpfen, mit dem die jungen Staaten in ihrer Bewegungsfreiheiteingeschränkt und Rußlands beherrschende geopolitischeund wirtschaftliche Position aufrechterhalten werden kann.


Der Eurasische Balkan 207Zu diesem Zweck bediente sich Rußland bisher vorzugsweiseder GUS, wenn auch an manchen Stellen der Einsatzrussischen Militärs und die geschickte Anwendung russischerDiplomatie nach dem Grundsatz divide et impera genausowirksam war. Moskau setzte die neuen Staaten unter Druck, umsie soweit wie möglich für seine Vision von einem zunehmendintegrierten commonwealth zu gewinnen. Es drängte auf einzentral gesteuertes Kontrollsystem über die Außengrenzen derGUS, auf engere militärische Integration innerhalb eines gemeinsamenaußenpolitischen Rahmens und auf die Ausdehnungdes bestehenden (ursprünglich sowjetischen) Pipelinenetzes,um den Bau neuer Ölleitungen, die Rußland umgehen könnten,zu verhindern. Strategische Analysen russischerseits habenausdrücklich festgestellt, daß Moskau dieses Gebiet als seineangestammte geopolitische Interessensphäre betrachtet, auchwenn es nicht mehr Bestandteil seines Imperiums ist.Der Eifer, mit dem der Kreml auf den Territorien der neuenStaaten militärisch präsent zu bleiben trachtete, läßt diegeopolitischen Absichten Rußlands erahnen. Moskau machtesich die abchasische Unabhängigkeitsbewegung zunutze, umStützpunktrechte in Georgien zu erlangen. Seine Militärpräsenzauf armenischem Boden legitimierte es damit, daß esdie Notlage Armeniens ausnutzte, das im Krieg gegen Aserbaidschanauf russische Unterstützung angewiesen war. Mitpolitischem und finanziellem Druck erpreßte es von Kasachstandie Einwilligung zum Fortbestehen russischer Militärbasen.Überdies lieferte der Bürgerkrieg in Tadschikistan der früherenSowjetarmee einen Vorwand, weiterhin in der Region zu bleiben.Moskaus Politik stellt anscheinend noch immer darauf ab,daß sein postimperiales Beziehungsgeflecht mit Zentralasiendie neuen, noch schwachen Staaten allmählich um ihre Souveränitätbringen und der Kommandozentrale der integrierten


208 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>GUS unterordnen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, rätRußland den dortigen Regierungen ab, eigene Armeen aufzustellen, den Gebrauch ihrer jeweiligen Landessprachen zupflegen (in denen sie das kyrillische Alphabet nach und nachdurch das lateinische ersetzen), enge Bindungen nach außen zupflegen und neue Pipelines zu den Häfen am Arabischen oderam Mittelmeer auszubauen. Sollte dieser Politik Erfolg beschiedensein, könnte Rußland die Beziehungen dieser Länderzum Ausland diktieren und über die Verteilung der Einkünfteentscheiden.Bei der Verfolgung dieses Ziels berufen sich Sprecher derrussischen Regierung, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben,häufig auf das Beispiel der Europäischen Union. Tatsächlichjedoch erinnert Rußlands Politik gegenüber den zentralasiatischenStaaten und den Kaukasusrepubliken viel stärker an diefrankophone afrikanische Gemeinschaft – wo die französischenMilitärkontingente und Haushaltssubventionen die Politik unddas Wirtschaftsgebaren der französischsprachigen postkolonialenStaaten bestimmen.Während es den Russen ganz allgemein darum geht, ihrenfrüheren politischen und wirtschaftlichen Einfluß auf die Regionso weit wie möglich wiederherzustellen und dafür vor allem dieGUS zu instrumentalisieren, scheint es Moskau geopolitisch inerster Linie auf Aserbaidschan und Kasachstan abgesehen zuhaben. Um eine erfolgreiche politische Gegenoffensive zu starten,muß Rußland nicht nur den Zugang zur Region abriegeln,sondern auch deren geographischen Schild durchbrechen.Moskau muß sein Augenmerk vor allen Dingen auf Aserbaidschanrichten. Würde es sich dem Kreml unterordnen,ließe sich Zentralasien gegen den Westen, vornehmlich gegenüberder Türkei, abschotten. Dadurch könnte Rußland seinenDruck auf das widerspenstige Usbekistan und das nichtminder aufsässige Turkmenistan verstärken. So dient die tak-


Der Eurasische Balkan 209tische Zusammenarbeit mit dem Iran in strittigen Angelegenheiten wie der Verteilung der Konzessionen für Tiefseebohrungenim Kaspischen Meer dem wichtigen Ziel, Baku zu zwingen,sich Moskaus Wünschen anzupassen. Ein unterwürfigesAserbaidschan würde es Moskau außerdem erleichtern, seinebeherrschende Position in Georgien und Armenien zu festigen.Auch Kasachstan ist für Rußland höchst verlockend, weiles aufgrund seiner ethnischen Probleme in einer offenenKonfrontation mit Moskau mit Sicherheit den kürzeren zöge.Zustatten kommt Moskau zudem die Angst der Kasachen voreinem immer dynamischeren China sowie der wachsendeUnmut der kasachischen Regierung über dessen Bestrebungen,die von kasachischen Stämmen besiedelte Provinz Xinjiangjenseits der Grenze gleichzuschalten. Würde sich Kasachstannach und nach dem russischen Druck beugen, gerieten Kirgistanund Tadschikistan fast automatisch in die EinflußsphäreMoskaus, das dann sowohl Usbekistan als auch Turkmenistanstärker unter Druck setzen könnte.Rußlands Strategie läuft jedoch den Bestrebungen fast allerauf dem eurasischen Balkan angesiedelten Staaten zuwider. Ihreneuen politischen Eliten werden gewiß nicht freiwillig Machtund die Privilegien aufgeben, die sie durch die Unabhängigkeitgewonnen haben. Während die Russen vor Ort allmählich ihrevormals privilegierten Posten räumen, entwickeln die neuenFührungskräfte rasch ein persönliches Interesse an staatlicherSouveränität – ein dynamischer und ansteckender Prozeß, dergleichfalls in den einst politisch passiven Bevölkerungen zubeobachten ist, in denen sich ein nationalistisches Denken und,außerhalb Georgiens und Armeniens, auch ein stärkeres islamischesBewußtsein breitmachen.Außenpolitisch wünschten sich Georgien und Armenien(obwohl letzteres von russischer Unterstützung gegen Aser-


210 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>baidschan abhängig ist) eine zunehmend engere Anbindungan Europa. <strong>Die</strong> zentralasiatischen Staaten mit ihren reichenBodenschätzen und ebenso Aserbaidschan würden gern nochmehr amerikanisches, europäisches, japanisches und neuerdingsauch koreanisches Kapital in ihre Länder locken. Aufdiese Weise hoffen sie, ihre wirtschaftliche Entwicklung wesentlichbeschleunigen und ihre Unabhängigkeit festigen zukönnen. Darum begrüßen sie auch, daß die Türkei und derIran eine immer wichtigere Rolle spielen, in der sie ein Gegengewichtzur russischen Macht und eine Brücke zur großenmuslimischen Welt im Süden sehen.Ermutigt durch die Türkei und die USA, hat Aserbaidschannicht nur die Forderungen Rußlands zurückgewiesen, auf seinemBoden Militärbasen zu errichten, sondern sich auch demAnsinnen Moskaus widersetzt, daß alles Öl von Baku zu einemrussischen Schwarzmeerhafen geleitet werden solle. Statt dessenentschied es sich für eine Doppellösung, die eine zweite,durch Georgien zur Türkei verlaufende Ölleitung vorsieht.(Eine Pipeline nach Süden durch den Iran, die ein amerikanischesUnternehmen hätte finanzieren sollen, mußte wegen desUS-Handelsembargos gegen den Iran aufgegeben werden.) Mitgroßem Trara wurde 1995 eine neue Bahnverbindung zwischenTurkmenistan und dem Iran eröffnet; auf diesem Weg könnenEuropa und Zentralasien, unter gänzlicher Umgehung Rußlands,miteinander Handel treiben. <strong>Die</strong>se Wiedereröffnung der altenSeidenstraße hatte etwas Symbolträchtiges, da Rußland nunnicht in der Lage ist, Europa von Asien zu trennen.Auch Usbekistan tritt immer entschiedener gegen RußlandsIntegrationsbemühungen auf. Sein Außenminister erklärteim August 1996 unverblümt, daß Usbekistan gegendie Schaffung supranationaler GUS-Institutionen ist, die alsMittel zentraler Kontrolle gebraucht werden können. <strong>Die</strong> starknationalistische Haltung der usbekischen Führung hatte in


Der Eurasische Balkan 211der russischen Presse bereits scharfe Verurteilungen ausgelöstwegen Usbekistans strikt prowestlicher Orientierung in derWirtschaft, harscher Invektiven gegen die Integrationsverträgeinnerhalb der GUS, entschiedener Ablehnung, selbst derZollunion beizutreten, und wegen einer methodisch antirussischenNationalitätenpolitik (sogar Kindergärten, die Russenbenutzen, werden geschlossen) ... Für die Vereinigten Staaten,die in Asien eine Politik der Schwächung Rußlands verfolgen,ist diese Position ungemein attraktiv. 21Als Antwort auf russischen Druck ist inzwischen sogarKasachstan für eine nichtrussische Nebenroute seiner Erdölexporte.Umirserik Kasenow, der Berater des kasachischenPräsidenten, drückte es so aus:»Daß Kasachstan auf der Suche nach alternativenÖlleitungen ist, hat sich Rußland zum Teil selbst zuzuschreiben,zum Beispiel weil es Transportbeschränkungen für kasachischesErdöl nach Noworossijsk und von Tjumen-Öl zu derPawlodar-Raffinerie verhängte. Und Turkmenistan betreibt denBau einer Gaspipeline in den Iran nicht zuletzt deshalb, weil dieLänder der GUS nur 60 Prozent des Weltmarktpreises oder dasgelieferte Gas überhaupt nicht bezahlen.« 22Aus ähnlichen Gründen hat Turkmenistan aktiv dieMöglichkeiten einer neuen Pipeline durch Afghanistan undPakistan zum Arabischen Meer geprüft, ganz abgesehen vondem energisch betriebenen Bau neuer Bahnverbindungen mitKasachstan und Usbekistan im Norden und zum Iran undzu Afghanistan im Süden. Auch haben zwischen Kasachen,Chinesen und Japanern erste Sondierungsgespräche über einehrgeiziges Pipelineprojekt stattgefunden, das sich von Zentral-21 Zawtra 28 (Juni 1996).22 »What Russia Wants in the Transcaucasus and Central Asia«,Nesawissimaja Gaseta, 24. Januar 1995.


212 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>asien bis zum Chinesischen Meer erstrecken würde. Da sichder Westen mit Investitionen in die Erdöl- und Erdgasförderung,die in Aserbaidschan eine Summe von mehr als 13 MilliardenDollar erreichen und in Kasachstan sogar weit über20 Milliarden Dollar (Stand 1996) hinausgehen, langfristigfestgelegt hat, kann angesichts des weltweiten wirtschaftlichenDrucks und der begrenzten finanziellen Möglichkeiten Rußlandsdie ökonomische und politische Isolation dieser Regionnicht mehr aufrechterhalten werden.<strong>Die</strong> Angst vor Rußland veranlaßte die zentralasiatischenStaaten außerdem zu einer stärkeren regionalen Zusammenarbeit.<strong>Die</strong> im Januar 1993 gegründete Zentralasiatische Wirtschaftsunion,die anfangs nur auf dem Papier existierte, erhieltnach und nach Substanz. Selbst der kasachische PräsidentNursultan Nazarbajew, zuerst überzeugter Verfechter einer neuenEurasischen Union, bekehrte sich allmählich zur Idee einerengeren zentralasiatischen Kooperation. Er befürwortete einestärkere militärische Zusammenarbeit zwischen den Staatender Region und die Unterstützung Aserbaidschans in dessenBemühen, Öl aus dem Kaspischen Meer und aus Kasachstandurch die Türkei zu schleusen. Außerdem trat er dafür ein, russischenund iranischen Versuchen, die Aufteilung des KaspischenSchelfs und seiner Bodenschätze unter den Anrainerstaaten zuverhindern, gemeinsam Widerstand entgegenzusetzen.In Anbetracht der Tatsache, daß die Regierungen in derRegion zu einem ausgesprochen autoritären Führungsstil neigen,fiel die persönliche Aussöhnung der wichtigsten Staatsoberhäuptervielleicht noch stärker ins Gewicht. Es war einoffenes Geheimnis, daß sich die Präsidenten von Kasachstan,Usbekistan und Turkmenistan nicht grün waren (darausmachten sie ausländischen Besuchern gegenüber kein Hehl)und der Kreml aufgrund dieser persönlichen Antipathien den


Der Eurasische Balkan 213einen um so leichter gegen den anderen auszuspielen vermochte.Mitte der neunziger Jahre sahen die drei schließlichein, daß eine engere Zusammenarbeit für die Bewahrung ihrerneu gewonnenen Souveränität unabdingbar war. Fortan stellensie ihre angeblich engen Beziehungen publikumswirksamzur Schau und betonten, daß sie ihre Außenpolitik künftigmiteinander abstimmen wollten. Noch wichtiger jedoch wardas Entstehen einer informellen Koalition innerhalb der GUSunter der Führung der Ukraine und Usbekistans, die sich derIdee eines kooperativen, aber nicht integrierten Staatenbundesverschrieb. Zu diesem Zweck unterzeichneten die Ukraine,Usbekistan, Turkmenistan und Georgien mehrere Abkommenüber eine militärische Zusammenarbeit; und im September1996 gaben die Außenminister der Ukraine und Usbekistansin einem höchst symbolträchtigen Akt eine Erklärung heraus,in der sie forderten, daß bei Gipfeltreffen der GUS künftignicht mehr Rußlands Präsident, sondern reihum ein anderesMitglied den Vorsitz führen solle.Das Beispiel der Ukraine und Usbekistans verfehlte selbstbei jenen Regierungschefs, die sich gegenüber Moskaus zentralenAnliegen willfähriger gezeigt haben, seine Wirkungnicht. Mit einiger Verblüffung dürfte der Kreml die Erklärungvon Kasachstans Nursultan Nazarbajew und GeorgiensEduard Schewardnadse im September 1996 vernommenhaben, sie würden, wenn »unsere Unabhängigkeit bedrohtist«, aus der GUS austreten. <strong>Die</strong> zentralasiatischen Staatenund Aserbaidschan verstärkten auch ihre Aktivitäten in derOrganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, einemimmer noch relativ losen Verbund der islamischen Staatenin der Region – einschließlich der Türkei, des Iran undPakistans –‚ der auf währungspolitischem, wirtschaftlichemund verkehrstechnischem Gebiet die Beziehungen zwischenden Mitgliedern verbessern will. Moskau hat sich öffentlich


214 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>kritisch über diese Initiativen geäußert, sieht es darin doch –völlig zu Recht – den Versuch, den Zusammenhalt der GUS zuschwächen.Auf ähnliche Weise sind die Verbindungen mit der Türkeistetig, und in geringerem Maße auch die zum Iran, verbessertworden. <strong>Die</strong> turksprachigen Länder haben die Angebote derTürkei, die neuen nationalen Offizierkorps auszubilden und fürmehrere zehntausend Studenten ihre Universitäten zu öffnen,gern angenommen. Beim vierten Gipfeltreffen der turksprachigenLänder, das im Oktober 1996 in Taschkent stattfand undmit türkischer Unterstützung vorbereitet wurde, ging es um denAusbau der Transportverbindungen, um verstärkten Handel sowieum gemeinsame Ausbildungsstandards und um eine engerekulturelle Zusammenarbeit mit der Türkei. Sowohl die Türkeials auch der Iran waren besonders rührig, den neuen Staatenbeim Aufbau ihrer Fernsehprogramme zu helfen, über die sieunmittelbaren Einfluß auf ein großes Publikum bekommen.Ein Festakt in Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, imDezember 1996 brachte besonders sinnfällig zum Ausdruck,wie sehr die Türkei die Unabhängigkeit der neuen Staaten zuihrer eigenen Sache macht. Aus Anlaß des fünften Jahrestagesder Unabhängigkeit Kasachstans wohnte der türkischeStaatspräsident Suleyman Demirel neben Präsident Nazarbajewder Enthüllung eines Denkmals bei: einer 28 Meter hohengoldfarbenen Säule, die ein auf einem greifartigen Wesenstehender legendärer kasachisch-türkischer Krieger krönt. Beidieser Gelegenheit huldigte Kasachstan der Türkei, die ihm beijedem Schritt seiner Entwicklung zu einem unabhängigen Staatbeigestanden habe, worauf die Türken dem Land einen Kreditin Höhe von 300 Millionen Dollar gewährten, zusätzlich zuden etwa 1,2 Milliarden, die türkische Geschäftsleute bereits inKasachstan investiert haben.Da weder die Türkei noch der Iran über die Mittel verfü-


Der Eurasische Balkan 215gen, Rußland um seinen regionalen Einfluß zu bringen, habenbeide (und der Iran im beschränkteren Rahmen) die neuenStaaten darin bestärkt, sich einer Reintegration mit ihrem nördlichenNachbarn und vormaligen Herrn zu widersetzen. Unddas trägt zweifellos dazu bei, die geopolitische Zukunft derRegion offenzuhalten.USA im Wartestand<strong>Die</strong> geostrategischen Implikationen für die USA liegen auf derHand: Amerika ist geographisch zu weit entfernt, um in diesemTeil Eurasiens eine beherrschende Rolle zu spielen, aber es istzu mächtig, um unbeteiligt zuzusehen. Alle Staaten der Regionbetrachten Amerikas Engagement als für ihr Überleben notwendig.Rußland ist einerseits zu schwach, um die Region wiederunter seine Herrschaft zu zwingen oder andere davon fernzuhalten,und andererseits zu nahe und zu stark, um ausgeschlossenzu werden. <strong>Die</strong> Türkei und der Iran sind stark genug, um ihrenEinfluß geltend zu machen, aber ihre Anfälligkeit für ethnischeKonflikte könnte dazu führen, daß die Region mit der Bedrohungaus dem Norden und den internen Auseinandersetzungen nichtmehr fertig wird. China ist zu mächtig, um nicht von Rußlandund den zentralasiatischen Staaten gefürchtet zu werden, dochChinas Präsenz in der Region und seine wirtschaftliche Dynamikerleichtern es den zentralasiatischen Staaten auch, das Interesseder Welt auf sich zu ziehen.Amerikas primäres Interesse muß folglich sein, mit dafürzu sorgen, daß keine einzelne Macht die Kontrolle über diesesGebiet erlangt und daß die Weltgemeinschaft ungehindertenfinanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat. GeopolitischerPluralismus wird nur dann zu einer dauerhaftenRealität werden, wenn ein Netz von Pipeline- und Transport-


216 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>routen die Region direkt mit den großen Wirtschaftsknotenpunktender Welt verbindet, über das Mittelmeer und dasArabische Meer ebenso wie auf dem Landweg.Somit kann das Bemühen Rußlands, allein über den Zugangzu bestimmen, nicht hingenommen werden, da es der regionalenStabilität abträglich ist.Rußland aus der Region auszuschließen ist indessen wederwünschenswert noch machbar, und ebensowenig ist es sinnvoll,Feindseligkeit zwischen den neuen Staaten des Gebietsund Rußland zu schüren. <strong>Die</strong> aktive wirtschaftliche TeilnahmeRußlands an der Entwicklung der Region ist nämlich ganz entscheidendfür deren Stabilität – und im Gegensatz zu Rußlandals ausschließlichem Beherrscher, kann ein Partner Rußlanderhebliche ökonomische Früchte tragen. Größere Stabilität undvermehrter Reichtum innerhalb der Region würden unmittelbarzu Rußlands Wohlergehen beitragen und dem commonwealth,daß das Akronym GUS verspricht, wirklichen Sinn geben. Aberdiese kooperative Option wird sich Rußlands Politik nur dannzu eigen machen, wenn es seine viel ehrgeizigeren, historischanachronistischen und auf schmerzliche Weise an den europäischenBalkan erinnernden Pläne ein für allemal aufgibt.<strong>Die</strong> Staaten, die Amerikas stärkste geopolitische Unterstützungverdienen, sind Aserbaidschan, Usbekistan und(außerhalb dieser Region) die Ukraine, da alle drei geopolitischeDreh- und Angelpunkte darstellen. <strong>Die</strong> Rolle Kiewsbestätigt fraglos die These, daß die Ukraine der kritischePunkt ist, wenn es um Rußlands eigene künftige Entwicklunggeht. Gleichzeitig verdient Kasachstan – in Anbetracht seinerGröße, seines wirtschaftlichen Potentials und seinergeographisch wichtigen Lage – vorsichtige internationaleRückendeckung und anhaltende Wirtschaftshilfe. Mit derZeit könnte vielleicht ein Wirtschaftswachstum in Kasachstandie ethnische Spaltung überwinden, die diesen zentralasiati-


Der Eurasische Balkan 217schen Schild gegenüber russischen Druck so wehrlos macht.In dieser Region hat Amerika ein gemeinsames Interessenicht nur mit einer stabilen, prowestlichen Türkei, sondernauch mit dem Iran und mit China. Eine allmähliche Verbesserungin den amerikanisch-iranischen Beziehungen würdeden globalen Zugang zur Region erheblich erweitern undinsbesondere die unmittelbare Bedrohung abwenden, derAserbaidschans Überleben ausgesetzt ist. Chinas wachsendewirtschaftliche Präsenz in der Region und sein Interesse anihrer Unabhängigkeit sind ebenfalls deckungsgleich mit denInteressen der USA. Auch die Rückendeckung, die Pakistanfür seine Bemühungen in Afghanistan von China erhält, istein positiver Faktor, denn engere pakistanisch-afghanische Beziehungenwürden den internationalen Zugang zu Turkmenistanerleichtern und dabei diesem Staat wie auch Usbekistan (fallsKasachstan zögern sollte) zugute kommen. Ausschlaggebendfür die Zukunft der Kaukasusrepubliken dürfte die weitereEntwicklung und politische Orientierung der Türkei sein. Wennsie ihren Kurs auf Europa beibehält – und wenn Europa ihrnicht die Türen zuschlägt –, werden die Kaukasusstaaten vermutlichin den Einflußbereich Europas streben, eine Aussicht,die sie glühend herbeisehnen. Aber wenn die Europäisierungder Türkei aus innenpolitischen oder äußeren Gründen insStocken gerät, dann wird Georgien und Armenien keine andereWahl bleiben, als sich Rußlands Willen anzupassen. IhreZukunft wird dann von Rußlands eigenem sich entwickelndenVerhältnis zu dem größer werdenden Europa abhängen, im positivenwie im negativen Sinn.<strong>Die</strong> Rolle des Irans ist wahrscheinlich noch problematischer.Eine Rückkehr zu einer prowestlichen Einstellungwürde die Stabilisierung und Konsolidierung der Regiongewiß erleichtern, daher ist es für Amerika strategisch wünschenswert,eine solche Wendung im Verhalten des Irans zu


218 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>fördern. Vorerst aber droht der Iran eine negative Rolle zuspielen und die Aussichten Aserbaidschans selbst dann nachteiligzu beeinflussen, wenn er positive Schritte, wie etwa dieÖffnung Turkmenistans gegenüber der Welt, unternimmt, undtrotz des gegenwärtigen iranischen Fundamentalismus, der dasBewußtsein der Zentralasiaten für ihr religiöses Erbe stärkt.Letztendlich wird wohl die Zukunft Zentralasiens von nochkomplexeren Umständen abhängen und das Schicksal seinerStaaten von dem schwierigen Wechselspiel russischer türkischer,iranischer und chinesischer Interessen bestimmt sein. Vonentscheidender Bedeutung ist ferner inwieweit die VereinigtenStaaten ihre Beziehungen zu Rußland davon abhängig machen,ob Moskau die Unabhängigkeit der neuen Staaten respektiert.Angesichts dieser komplizierten Sachlage verbieten sich etwaigeGroßmachtphantasien oder Monopolansprüche der beteiligtengeostrategischen Akteure von selbst. Vielmehr bleibt imGrunde nur die Wahl zwischen einem empfindlichen regionalenGleichgewicht – das die Voraussetzung böte, um die Regionschrittweise in die entstehende Weltwirtschaftsordnung einzugliedern,während sich die Staaten der Region konsolidierenund wahrscheinlich eine ausgeprägtere islamische Identität annehmen– und ethnischem Konflikt, politischer Zersplitterungund womöglich sogar offenen Feindseligkeiten entlang derrussischen Südgrenzen. Vorrangiges Ziel jeder umfassendenamerikanischen Geostrategie für Eurasien muß es daher sein,dieses regionale Gleichgewicht herzustellen und zu festigen.


6DER FERNÖSTLICHE ANKEREine wirksame amerikanische Politik für Eurasien muß auchim Fernen Osten verankert sein, unabdingbare Voraussetzungdafür ist, daß Amerika auf dem asiatischen Festland präsentbleibt, weder ausgeschlossen wird noch sich selbst ausschließt.Eine enge Beziehung zum japanischen Inselstaat istfür Amerikas Weltpolitik unerläßlich und ein kooperativesVerhältnis zu China für seine eurasische Geostrategie dringendgeboten. <strong>Die</strong>se Sachlage muß in ihrer ganzen Tragweiteins Auge gefaßt werden, denn aus dem Wechselspiel der dreiGroßmächte im Fernen Osten – Amerika, China und Japan –könnte in der Region ein gefährlicher Hexenkessel entstehenmit der sehr wahrscheinlichen Folge geopolitisch tief greifenderMachtverschiebungen.Für China sollten die USA als Anrainer auf der anderenSeite des Pazifischen Ozeans ein natürlicher Verbündetersein, da Amerika nichts gegen das asiatische Festland imSchilde führt und in der Vergangenheit sowohl russischenals auch japanischen Übergriffen auf ein schwächeres Chinaentgegengetreten ist. Das gesamte letzte Jahrhundert hindurchwar Japan für die Chinesen der Hauptfeind. Rußland hat eslange Zeit mißtraut, und auch Indien türmt sich jetzt als potentiellerGegner auf. Der Grundsatz »Der Nachbar meines


220 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Nachbarn ist mein Verbündeter« trifft also das geopolitischeund historische Verhältnis zwischen China und den VereinigtenStaaten genau.Amerika ist jedoch nicht mehr Japans Gegner jenseits desMeeres, sondern eng mit ihm verbündet. Es unterhält außerdemgute Beziehungen zu Taiwan und zu verschiedenen südostasiatischenNationen. <strong>Die</strong> Chinesen reagieren empfindlichauf die amerikanischen Vorhaltungen wegen der restriktivenInnenpolitik ihres gegenwärtigen Regimes. Daher betrachtetChina die USA als das Haupthindernis sowohl in seinemBemühen um eine herausragende Rolle auf globaler Ebeneals auch in seinem Drängen nach der Vorrangstellung in derRegion. Ist somit ein Konflikt zwischen Amerika und Japan unausweichlich?Für Japan waren die USA der Schutzschirm, unter dem essich unbesorgt von der verheerenden Niederlage im ZweitenWeltkrieg erholen, wirtschaftlich wieder auf die Beine kommenund dann sukzessive zu einer der führenden Nationen der Weltaufsteigen konnte. Aber eben dieser Schutzschirm schränktJapan in seiner Handlungsfreiheit ein und hat zu der paradoxenLage geführt, daß eine <strong>Weltmacht</strong> zugleich ein Protektorat ist.Amerika bleibt für Japan bei seinem Aufstieg zur internationalenFührungsmacht auch weiterhin ein unverzichtbarer Partner.Zugleich aber ist Amerika der Hauptgrund dafür, daß es Japanauf sicherheitspolitischem Gebiet nach wie vor an nationalerSelbständigkeit mangelt. Wie lange kann diese Situation nochandauern? Mit anderen Worten: Zwei geopolitische Fragenvon zentraler Bedeutung – die eng miteinander verknüpft sind– werden bis auf weiteres die Rolle der USA im fernen OstenEurasiens bestimmen:1. Was heißt es praktisch, wenn China zur beherrschendenRegionalmacht aufsteigt und zunehmend nach dem Status


Der Fernöstliche Anker 221einer <strong>Weltmacht</strong> strebt, und inwieweit können die USA dieAusdehnung seines Einflußgebiets hinnehmen?2. Wie sollte Amerika, da Japan für sich eine Rolle in derWeltpolitik zu definieren sucht, mit den regionalen Konsequenzenumgehen, die sich zwangsläufig daraus ergeben, wenn Japan denStatus eines amerikanischen Protektorats immer weniger zu akzeptierenbereit sein wird?<strong>Die</strong> geopolitische Bühne Ostasiens ist derzeit durch metastabileMachtverhältnisse gekennzeichnet. Metastabilität umschreibteine Situation äußerer Starrheit, aber relativ geringer Festigkeit,die, so gesehen, eher an Eisen als an Stahl gemahnt. In einemsolchen Gefüge könnte bereits ein <strong>einzige</strong>r mächtiger Schlag eineKettenreaktion mit verheerenden Folgen auslösen. Der FerneOsten erlebt gegenwärtig eine Art Wirtschaftswunder und danebenwachsende politische Unsicherheit. Womöglich trägt sogar dasasiatische Wirtschaftswachstum zu dieser Unsicherheit bei, weildie Prosperität über die politischen Schwachpunkte der Regionhinwegtäuscht, zumal sie nationale Ambitionen verstärkt und sozialeErwartungen vergrößert.Daß das asiatische Wirtschaftswunder in der Menschheitsgeschichtenicht seinesgleichen hat, versteht sich von selbst. Schonein paar grundlegende statistische Daten machen dies überdeutlich.Vor weniger als vier Jahrzehnten stellte Ostasien (einschließlichJapan) etwa vier Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts,während Nordamerika mit ungefähr 35 bis 40 Prozent an derSpitze stand; Mitte der neunziger Jahre hatten die beiden Regionenannähernd gleichgezogen (um die 25 Prozent). Ebenfalls historischbeispiellos ist die Wachstumsrate in Asien gewesen. Wirtschaftswissenschaftlerhaben darauf hingewiesen, daß Großbritannienin der Anfangsphase der Industrialisierung mehr als fünfzig Jahreund die USA knapp fünfzig Jahre gebraucht haben, um ihre jewei-


222 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>lige Pro-Kopf-Leistung zu verdoppeln, wohingegen China wieauch Südkorea es in ungefähr zehn Jahren schafften. Wenn eszu keinen massiven Turbulenzen in der Region kommt, wirdAsien innerhalb eines Vierteljahrhunderts wahrscheinlich mitseinem Bruttosozialprodukt sowohl Nordamerika als auchEuropa überholen.Jedoch ist Asien nicht nur dabei, das ökonomische Gravitationszentrumder Welt zu werden, es könnte sich auch alspolitisches Pulverfaß erweisen. Zwar überflügelt es mit seinemWirtschaftswachstum Europa, doch steckt es mit seiner politischenEntwicklung noch in den Kinderschuhen. Es fehlen ihmdie Strukturen multilateraler Zusammenarbeit, die die politischeLandschaft Europas prägen und die territorialen, ethnischenund nationalen Konflikte, die es dort von jeher gegeben hat,abschwächen, dämpfen und eindämmen. Es gibt in Asien nichtsder Europäischen Union oder auch der NATO Vergleichbares.Keine der drei regionalen Verbände –ASEAN (Vereinigung dersüdostasiatischen Nationen), ARF (Asiatisches Regionalforum,sicherheitspolitisches Forum der ASEAN-Staaten) und APEC(Gruppe für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischenRaum) – entspricht auch nur im entferntesten dem Netzmultilateraler und regionaler Beziehungen, das die StaatenEuropas miteinander verbindet.Im Gegenteil: Wie kein anderer Teil der Welt ist Asien heuteein Herd aufstrebender, bis vor kurzem noch schlummernderNationalismen. Angefacht durch den plötzlichen Zugangzu Massenkommunikationsmitteln, wurden sie von denwachsenden gesellschaftlichen Erwartungen geschürt, diewiederum der wirtschaftliche Wohlstand und die sich zusehendsvertiefende Kluft zwischen Arm und Reich hervorgerufenhaben. Bevölkerungsexplosion und fortschreitendeVerstädterung erleichtern es, die Menschen zu mobilisieren.<strong>Die</strong> dramatische Steigerung des asiatischen Waffenpotentials


Der Fernöstliche Anker 223macht diese Lage noch bedrohlicher. Nach Erkenntnissendes internationalen Instituts für strategische Studien wurdedie Region 1995 zum größten Waffenimporteur der Welt undübertraf damit Europa und den Nahen Osten.Kurzum, Ostasien brodelt vor Tatendrang und Energie, diebisher durch das rapide Tempo des regionalen Wirtschaftswachstumsin friedliche Bahnen gelenkt wurden. Aber diesesSicherheitsventil könnte eines Tages versagen, wenn politischeLeidenschaften die Oberhand gewinnen. Und Anlässegibt es genug angesichts der zahlreichen ungelösten Problemeund strittigen Fragen, die ein gefundenes Fressen für Demagogenund somit potentiell hochexplosiv sind:– Der Unmut Chinas über den Sonderstatus Taiwans wächstin dem Maße, wie es selbst mächtiger wird und das prosperierendeTaiwan mit dem offiziellen Status eines Nationalstaatszu liebäugeln beginnt.– <strong>Die</strong> Paracel- und Spratly-Inseln im SüdchinesischenMeer bergen das Risiko, daß es wegen der Frage desZugangs zu wertvollen Ölquellen auf dem Meeresboden zueinem Zusammenstoß zwischen China und verschiedenen südostasiatischenStaaten kommt, zumal China das Süd-chinesischeMeer als sein legitimes nationales Erbe reklamiert.– Auf die Senkaku-Inseln erheben sowohl die Japaner alsauch die Chinesen Anspruch (hierin sind sich die RivalenTaiwan und Volksrepublik China einig), und die uralteRivalität zwischen Japan und China um die regionale Vorherrschaftverleiht dieser strittigen Frage auch eine symbolischeBedeutung.– <strong>Die</strong> Teilung Koreas und die damit einhergehendeInstabilität Nordkoreas – die durch Nordkoreas Strebennach Atomwaffen noch gefährlicher wird – birgt die Gefahr,daß eine plötzliche Explosion die Halbinsel in einen Krieg


224 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>stürzen könnte, der wiederum die Vereinigten Staaten mit hineinziehenund indirekt auch Japan betreffen würde.– <strong>Die</strong> Frage der südlichsten Kurilen-Inseln, die sich die Sowjetunion1945 einverleibte, lähmt und vergiftet weiterhin dierussisch-japanischen Beziehungen.–Andere latente Konflikte territorial-ethnischer Art habenmit russischchinesischen, chinesisch-vietnamesischen,japanisch-koreanischen und chinesisch-indischen Grenzproblemen,möglichen ethnischen Unruhen in der ProvinzXinjiang und chinesisch-indonesischen Streitigkeiten überozeanische Grenzverläufe zu tun (Siehe Karte Seite 225).Hinzu kommt die unausgewogene Machtverteilung in derRegion. China stellt mit seinem Atomwaffenarsenal und seinergroßen Armee ganz klar die beherrschende Militärmacht(siehe nachfolgende Karte) dar. <strong>Die</strong> Chinesische Marinehat bereits eine Strategie der »seegestützten Verteidigung«ausgearbeitet und strebt innerhalb der nächsten 15 Jahre einhochseetaugliches Potential zur »wirksamen Kontrolle der Gewässerinnerhalb der ersten Inselkette« (gemeint sind die Straßevon Taiwan und das Südchinesische Meer) an. Zwar verstärktauch Japan seine militärische Schlagkraft, deren Qualität inder Region ihresgleichen sucht. Gegenwärtig jedoch sind diejapanischen Streitkräfte kein Werkzeug der Außenpolitik desInselstaates und werden zum größten Teil als verlängerter Armder militärischen Präsenz der USA im Fernen Osten betrachtet.Das stärkere Gewicht, das China inzwischen auf derinternationalen Bühne genießt, hat bereits seine südöstlichenNachbarn zu größerer Willfährigkeit gegenüber chinesischenAnliegen veranlaßt. Es ist bemerkenswert, daß während derMinikrise um Taiwan Anfang 1996 (in der sich China an einigendrohenden Militärmanövern beteiligte und den Luft-undSeeweg zu einem Gebiet nahe Taiwan abriegelte und damit


Der Fernöstliche Anker 225sogleich ein demonstratives Flottenauf gebot der USA auf denPlan rief) sich der thailändische Außenminister zu erklärenbeeilte, eine solche Abriegelung sei durchaus normal, sein indonesischerAmtskollege behauptete, es handele sich um einerein chinesische Angelegenheit, während die Philippinen undMalaysia für eine Politik der Neutralität in dieser strittigenFrage eintraten.Das nicht vorhandene Machtgleichgewicht in der Regionhat Australien und Indonesien – die einander zuvor mit ziemlichemMißtrauen begegnet waren – in jüngster Zeit zu immerengerer Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet veranlaßt.Beide Länder machen kein Hehl aus ihrer Besorgnis über dielangfristigen Aussichten einer militärischen Vorherrschaft


226 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Asiatische ArmeeestärkenAktiveArmeestärkePanzerTotalFlugzeugeTotalKriegsschiffeTotalU-BooteTotalChina 3030000 9400 (500) 5224 (124) 57 (40) 53 (7)Pakistan 577000 1 890 (40) 336 (160) 11 (8) 6 (6)Indien 1100000 3500 (2700) 700 (374) 21 (14) 18 (12)Thailand 295000 633 (313) 74 (18) 14 (6) 0 (0)Singapur 55500 350 (0) 143 (6) 0 (0) 0 (0)Nordkorea 1127000 4200 (2225) 730 (136) 3 (0) 23 (0)Südkorea 633000 1 860 (450) 334 (48) 17 (9) 3 (3)Japan 237700 1200 (929) 324 (231) 62 (40) 17 (17)Taiwan* 442000 1400 (0) 460 (10) 38 (11) 4 (2)Vietnam 857000 1 900 (400) 240 (0) 7 (5) 0 (0)Malaysia** 114500 26 (26) 50 (0) 2 (0) 0 (0)Philippinen 106500 41 (0) 7 (0) 1 (0) 0 (0)Indonesien 270900 235 (110) 54 (12) 17 (4) 2 (2)<strong>Die</strong> Zahlen in Klammern beziehen sich auf technologisch hochwertige Systeme, gebaut ab Mitteder 60er Jahre.* Taiwan hat 150 F-16, 60 Mirage und 130 weitere Kampfbomber geordert und baut zur Zeit anmehreren Kriegsschiffen.** Malaysia kauft 8 F-18 und wahrscheinlich 18 MIG-29 Kampfflugzeuge.Quelle: “General Accounting Office“-Bericht, “Impact of China‘s Military Modernization in thePacific region“, Juni 1995.Chinas in der Region und über das Stehvermögen derVereinigten Staaten als Sicherheitsgarant. <strong>Die</strong>se Sorge hatauch Singapur bewogen, eine engere Zusammenarbeit inSicherheitsbelangen mit den genannten Nationen auszuloten.Tatsächlich stellen sich Strategen in der gesamten Regioninzwischen die zentrale, aber noch unbeantwortete Frage:»Wie lange können 100 000 amerikanische Soldaten denFrieden in der bevölkerungsreichsten und inzwischen fast amhöchsten gerüsteten Region der Welt noch sichern? Und wielange werden sie überhaupt noch bleiben?In dieser brisanten Atmosphäre immer ausgeprägtererNationalismen, rapide steigender Bevölkerungszahlen, wachsendenReichtums, explodierender Erwartungen und sich


Der Fernöstliche Anker 227überschneidenden Machtstrebens spielen sich tiefgreifendeVeränderungen in der geopolitischen Landschaft Ostasiens ab:-China ist eine aufstrebende und bald vielleicht schon beherrschendeMacht, egal, wie seine Absichten im einzelnenaussehen mögen.-Amerikas Rolle als Sicherheitsgarant gerät in immer stärkereAbhängigkeit von der Zusammenarbeit mit Japan.-Japan ist auf der Suche nach einer klarer umrissenen undautonomen Rolle in der Weltpolitik.-Rußland hat erheblich an Einfluß verloren, währendfrüher das von der Sowjetunion dominierte ZentralasienGegenstand internationalen Wettstreits geworden ist.<strong>Die</strong>se Verwerfungen verleihen den beiden zentralenProblemen, die am Anfang dieses Kapitels dargestelltwurden, zusätzliches Gewicht.China: regionale, aber keine <strong>Weltmacht</strong>China kann auf eine große Geschichte zurückblicken. Dasgegenwärtig starke Nationalgefühl des chinesischen Volkesist nur in seiner gesellschaftlichen Verbreitung neu, denn niezuvor identifizierten sich so viele Chinesen, auch emotional,mit ihrem Staat und den Geschicken ihres Landes. Andersals zu Beginn dieses Jahrhunderts, wo vor allem Studentenfür einen politischen Nationalismus eintraten und damit demKuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas den


228 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Weg ebneten, ist der chinesische Nationalismus inzwischenein Massenphänomen und bestimmt das Bewußtsein des bevölkerungsreichstenStaates der Welt.<strong>Die</strong>ses Bewußtsein hat tiefe historische Wurzeln. Aufgrund dernationalen Geschichte neigt die chinesische Führung dazu, Chinafür den natürlichen Mittelpunkt der Welt zu halten. Nun enthältdas chinesische Wort für China – Chung-kuo oder »Reich derMitte« – einerseits die Vorstellung von Chinas zentraler Rolle imWeltgeschehen und bekräftigt andererseits die Bedeutung nationalerEinheit. Der Begriff beinhaltet zugleich, daß der Einfluß voneinem Machtzentrum ausgeht und in hierarchischen Abstufungendie Randzonen erfaßt; daher erwartet China als der Mittelpunktvon seinen Nachbarn Ehrerbietung und Achtung.Seit undenklichen Zeiten ist China mit seiner riesigen Bevölkerungeine eigenständige und stolze Zivilisation ganz besondererArt gewesen. <strong>Die</strong>se Zivilisation war auf allen Gebietenhoch entwickelt: im Bereich der Philosophie, der Kultur, derKünste, der gesellschaftlichen Fähigkeiten, des technischenErfindungsreichtums und der politischen Macht. <strong>Die</strong> Chinesenerinnern daran, daß China bis zu Beginn des 17. Jahrhundertsweltweit die höchste landwirtschaftliche Produktivitäts- undindustrielle Innovationsrate sowie den höchsten Lebensstandardhatte. Aber im Unterschied zur europäischen und islamischenZivilisation, aus denen etwa 75 Staaten hervorgegangen sind, istChina in seiner Geschichte fast immer ein <strong>einzige</strong>r Staat geblieben,der zur Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärungbereits mehr als 200 Millionen Menschen umfaßte und dessenManufakturen führend auf der Welt waren.So gesehen, ist Chinas Niedergang – die Demütigung derletzten 150 Jahre – eine Verirrung, eine Entweihung des besonderenRanges, den China immer genoß, und eine für jedenChinesen persönliche Beleidigung. Sie muß getilgt werden,


Der Fernöstliche Anker 229und diejenigen, die dieses Verbrechen begangen haben, müssengebührend bestraft werden. Daran waren, in unterschiedlichemMaße, hauptsächlich vier Mächte beteiligt: Großbritannien,Japan, Rußland und Amerika – Großbritannien wegen desOpiumkriegs und der daraus folgenden schmachvollenErniedrigung Chinas; Japan wegen der Raubkriege in den letztenhundert Jahren, die entsetzliches (und bis heute ungesühntes)Leid über das chinesische Volk brachten; Rußland wegenseiner fortgesetzten Übergriffe auf chinesisches Territoriumim Norden und weil Stalin die chinesische Selbstachtung mitFüßen trat; und schließlich Amerika, das mit seiner militärischenPräsenz in Asien und seiner Unterstützung Japans Chinasaußenpolitischen Bestrebungen im Weg steht. Zwei der vierMächte hat nach Ansicht der Chinesen bereits die Geschichtebestraft. Großbritannien ist kein Weltreich mehr, und mit demEinholen des Union Jack in Hongkong ist dieses besondersschmerzliche Kapitel ein für allemal beendet. Rußland mußtein seiner Stellung, seinem Ansehen und Territorium zwar starkeEinbußen hinnehmen, bleibt aber nach wie vor der unmittelbareNachbar. Doch die ernstesten Probleme wirft Chinas Verhältniszu Amerika und Japan auf. Welche Rolle es künftig in derRegion und in der Welt spielen wird, hängt wesentlich davonab, wie sich dieses Verhältnis gestaltet.In erster Linie kommt es jedoch darauf an, wie sichChina entwickelt, wie mächtig es auf wirtschaftlichem undmilitärischem Gebiet letzten Endes wird. Deshalb sind dieVoraussagen für China, wenn auch mit einigen größerenUnwägbarkeiten behaftet und unter manchen Einschränkungen,im großen und ganzen vielversprechend. Sowohl aufgrund derWachstumsrate der chinesischen Wirtschaft als auch aufgrunddes ausländischen Investitionsaufkommens – mit beidenbewegt sich China ganz oben auf der internationalen Skala –


230 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>kann man die Prognose aufstellen, daß China innerhalb der, grobgesagt, nächsten zwei Jahrzehnte zu einer <strong>Weltmacht</strong> aufsteigenwird, etwa gleichauf mit den Vereinigten Staaten und Europa (vorausgesetzt,es kommt dort zu einer Erweiterung und Einigung).Bis zu diesem Zeitpunkt könnte China ein Bruttosozialprodukterreichen, das über das Japans beträchtlich hinausgeht. Dasrussische übersteigt es bereits jetzt erheblich. Angesichts dieserwirtschaftlichen Dynamik dürfte sich China eine Militärmachtleisten können, die alle seine Nachbarn einschüchtern wird,vielleicht sogar jene Widersacher chinesischen Ehrgeizes, die,geographisch gesehen, weiter weg sind. Mit der EinverleibungHongkongs und Macaos und vielleicht auch durch eine am Endeerfolgende politische Subordination Taiwans zusätzlich gestärkt,wird ein Großchina entstehen, das nicht nur den Fernen Ostendominiert, sondern auch eine <strong>Weltmacht</strong> erster Ordnung ist.Allerdings birgt jede Prognose eines zwangsläufig wiedererstehenden»Reichs der Mitte« gewisse Fehleinschätzungen,deren offensichtlichste mit dem unerschütterlichen Vertrauen aufstatistische Voraussagen zu tun haben. Genau diesem Trugschlußerlagen vor kurzer Zeit jene, die vorhersagten, daß Japan dieUSA als weltweit führende Wirtschaftsmacht ablösen würde undunweigerlich zum neuen Superstaat aufsteigen werde.<strong>Die</strong>se Sichtweise stellte weder die Verwundbarkeit der japanischenWirtschaft noch das Problem politischer Diskontinuitätin Rechnung – und den gleichen Fehler begehen jene, die denzwangsläufigen Aufstieg Chinas zur <strong>Weltmacht</strong> verkünden undauch befürchten.Zunächst einmal ist es alles andere als sicher, ob Chinasein explosives Wachstumstempo in den nächsten beiden Jahrzehntenbeibehalten kann. Eine ökonomische Verlangsamungläßt sich nicht ausschließen, und das allein brächte schondie gängige Prognose um ihre Glaubwürdigkeit. Um solcheWachstumsraten über einen langen Zeitraum hinweg auf


Der Fernöstliche Anker 231rechterhalten zu können, bedürfte es einer ganz ungewöhnlichglücklichen Koinzidenz günstiger Voraussetzungen, als dasind eine erfolgreiche Staatsführung, Ruhe im Lande, sozialeDisziplin, hohe Sparzuwächse, ein weiterhin starker Zustromausländischer Investitionen und regionale Stabilität. Eine anhaltendeVerbindung dieser positiven Faktoren ist mehr alsfraglich.Zudem dürfte Chinas enormes Wirtschaftswachstum politischeNebenwirkungen zeitigen, die es in seiner Handlungsfreiheiteinschränken könnten. Der Energieverbrauch desLandes nimmt bereits jetzt in einem Maße zu, das die heimischeFörderung bei weitem übersteigt. <strong>Die</strong>se Kluft zwischenNachfrage und Angebot wird auf jeden Fall größer werden, besondersdann, wenn Chinas Wachstumsrate weiterhin so hochbleibt. Das gleiche gilt für die Ernährungslage. Auch wenn sichdas demographische Wachstum jetzt etwas verlangsamt, nimmtdie chinesische Bevölkerung in absoluten Zahlen stetig zu, sodaß Lebensmittelimporte für das Wohlergehen der Menschenund die politische Stabilität immer unverzichtbarer werden. <strong>Die</strong>Abhängigkeit von Importen wird nicht nur Chinas Finanzenaufgrund höherer Kosten belasten, sie machen das Land auchwehrloser gegen Druck von außen.Militärisch gesehen, könnte sich China teilweise als <strong>Weltmacht</strong>qualifizieren, da die schiere Größe seiner Volkswirtschaftund ihre hohen Wachstumsraten die Regierenden indie Lage versetzen dürften, einen erheblichen Teil des Bruttosozialproduktsfür eine bedeutende Erweiterung und Modernisierungseiner Streitkräfte einschließlich der Aufstockungseines Arsenals an strategischen Atomwaffen abzuzweigen.Wenn allerdings hierbei übertrieben wird (und nach Schätzungenwestlicher Kreise verschlangen die Militärausgabenbereits Mitte der neunziger Jahre etwa 20 Prozent des chinesischenBruttosozialprodukts), könnte sich das genauso ne-


232 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>gativ auf Chinas langfristige Wirtschaftsentwicklung auswirken,wie die Niederlage der UDSSR im Rüstungswettlaufmit Amerika auf die sowjetische Wirtschaft. Darüber hinauszögen größere chinesische Rüstungsanstrengungen sehrwahrscheinlich eine Aufrüstung Japans nach sich, wodurchder politische Nutzen einer wachsenden militärischen StärkeChinas zum Teil wieder zunichte gemacht würde. Und mandarf dabei nicht übersehen, daß es China, abgesehen von seinenAtomwaffen, in nächster Zeit wahrscheinlich noch an dennötigen Mitteln fehlen wird, sich außerhalb der Region alsMilitärmacht zu behaupten.Auch innerhalb Chinas könnten sich die Spannungenverschärfen, da das hochgradig beschleunigte, durch diehemmungslose Ausbeutung marginaler Vorteile angetriebeneWirtschaftswachstum unweigerlich zu einer sozialenSchieflage führt. <strong>Die</strong> südlichen und östlichen Küstenstreifenwaren ebenso wie die wichtigsten städtischen Zentren – die denausländischen Investitionen und dem Überseehandel leichterzugänglich sind – bisher die Hauptnutznießer des eindrucksvollenWirtschaftswachstums. Im Gegensatz dazu hinken dieländlichen Gebiete im Landesinneren ganz allgemein sowieeinige abgelegene Regionen deutlich hinterher (mit über 100Millionen Arbeitslosen unter der Landbevölkerung).Der Unmut über regionale Disparitäten und der Zorn übersoziale Ungleichheit könnten sich gegenseitig hochschaukeln.Chinas rapides Wachstum vertieft die Kluft in der Verteilungdes Wohlstands. Eines Tages könnten diese Spannungen diepolitische Stabilität des Landes massiv beeinträchtigen, entwederweil die Regierung womöglich diese Unterschiede zubegrenzen versucht oder sich von unten her sozialer Unmutregt.Der zweite Grund für vorsichtige Skepsis gegenüber weitverbreitetenPrognosen, die China innerhalb des nächsten


Der Fernöstliche Anker 233Vierteljahrhunderts zu einer dominierenden Macht in derWeltpolitik aufsteigen sehen, ist die Zukunft der chinesischenPolitik. Der dynamische Charakter von Chinasgrundlegender wirtschaftlicher Veränderung, einschließlichseiner Aufgeschlossenheit gegenüber dem Rest der Welt, istauf lange Sicht mit einer relativ geschlossenen, bürokratischstarren kommunistischen Diktatur nicht vereinbar. Bei demKommunismus, den diese Diktatur verkündet, geht es wenigerum ideologisches Engagement als um die persönlichenInteressen einer Parteibürokratie. <strong>Die</strong> Organisationsstrukturder politischen Führung Chinas ist nach wie vor die einer insich geschlossenen, starren, disziplinierten, durch Intoleranzund Meinungsmonopol geprägten Hierarchie, die immer nochrituell ihre Treue zu einem Dogma verkündet, das ihre Machtrechtfertigen soll, aber dieselbe Elite nicht mehr mit gesellschaftlichemLeben erfüllt. Wenn die chinesische Politik nichtlangsam beginnt, sich an die sozialen Erfordernisse der chinesischenVolkswirtschaft anzupassen, werden diese beiden Seitender Wirklichkeit irgendwann frontal auf einanderprallen.Eine Demokratisierung läßt sich auf die Dauer nicht umgehen,es sei denn, China trifft plötzlich dieselbe Entscheidung,die es im Jahre 1474 getroffen hat: sich von der Welt abzuschotten,etwa so wie das heutige Nordkorea. Dazu müßteChina seine mehr als 70 000 Studenten, die gegenwärtig inAmerika studieren, zurückrufen, ausländische Geschäftsleutedes Landes verweisen, seine Computer abschalten und vonMillionen chinesischen Häusern die Satellitenschüsseln herunterreißen. Es wäre ein Akt des Wahnsinns, vergleichbarder Kulturrevolution. Eine Weile könnte vielleicht noch eindogmatischer Flügel der herrschenden, aber immer schwächerwerdenden Kommunistischen Partei im Zuge eines innenpolitischenMachtkampfs Nordkorea nachzuahmen versuchen,doch wäre das allenfalls eine kurze Episode. Höchstwahr-


234 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>scheinlich würde ein solcher Versuch zu wirtschaftlicher Stagnationführen und eine politische Explosion auslösen. Einefreiwillige Isolation wäre auf alle Fälle das Ende jedes ernsthaftenchinesischen Anspruchs auf regionale Vorherrschaft,geschweige denn auf eine führende Rolle im internationalenMachtgefüge. Zudem hängt für das Land zuviel von einemZugang zur Welt ab, und diese Welt ist, anders als die von 1474,einfach zu allgegenwärtig, um wirksam ausgesperrt zu werden.Daher gibt es zu einer weiteren Öffnung Chinas gegenüber derWelt keine praktische, wirtschaftlich rentable und politischgangbare Alternative. <strong>Die</strong> Forderung nach Demokratisierungwird die chinesische Führung nicht mehr loslassen. Sie kannsich weder ihr noch der ihr verbundenen Menschenrechtsfrageallzu lange entziehen. Deshalb wird Chinas zukünftigerFortschritt ebenso wie sein Auftreten als Großmacht im hohenMaße davon abhängen, wie geschickt seine herrschende Elitedie Machtübergabe von der jetzigen Herrschergeneration aufein jüngeres Team handhabt und mit der wachsenden Spannungzwischen den ökonomischen und politischen Strukturen desLandes fertig wird.Vielleicht gelingt es der chinesischen Führung, einen langsamenund evolutionären Übergang zu einem sehr begrenztenWahlautoritarismus herbeizuführen, in welchem eine gewissepolitische Mitsprache der Bevölkerung auf unterer Ebenehingenommen wird; danach könnte sie sich auf einen echtenParteienpluralismus zubewegen, der ein größeres Gewicht aufAnfänge einer verfassungsmäßigen Regierung einschließt. Einsolch kontrollierter Übergang entspräche den Erfordernissender zunehmend offeneren Wirtschaftsdynamik des Landesbesser als das Festhalten an dem Machtmonopol einer <strong>einzige</strong>nPartei.Eine solch kontrollierte Demokratisierung verlangt vonder politischen Führung Chinas außerordentliches Geschick


Der Fernöstliche Anker 235und einen von gesundem Menschenverstand geleiteten Pragmatismus:Sie muß eine relative Geschlossenheit wahren undbereit sein, etwas von ihrem Machtmonopol (und ihren persönlichenPrivilegien) abzugeben – während die Bevölkerungim großen und ganzen Geduld aufbringen muß und keinegroßen Ansprüche stellen darf. <strong>Die</strong>ses Zusammentreffen glücklicherUmstände dürfte sich wohl nicht so leicht einstellen.<strong>Die</strong> Erfahrung lehrt, daß der Druck von unten, mit dem jene,die sich politisch unterdrückt (Intellektuelle und Studenten),oder jene, die sich ökonomisch ausgebeutet fühlen (die neuestädtische Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung), aufDemokratisierung drängen, zumeist stärker ist als die Bereitschaftder Herrschenden nachzugeben. Irgendwann werden sichwahrscheinlich die politischen Dissidenten und die sozialUnzufriedenen zusammenschließen, um gemeinsammehr Demokratie, Meinungsfreiheit und Beachtung derMenschenrechte einzufordern. 1989 auf dem Platz desHimmlischen Friedens war das noch nicht der Fall, aber beimnächsten Mal könnte es durchaus dazu kommen.Folglich wird China eine Phase politischer Unruhen wahrscheinlichnicht erspart bleiben. Angesichts der Größe desLandes, der wachsenden regionalen Unterschiede und derErbschaft von fünfzig Jahren doktrinärer Diktatur könnte siedie politische Führung wie auch die Wirtschaft in eine schwereKrise stürzen. Damit scheinen selbst die chinesischenSpitzenpolitiker zu rechnen, sagen doch interne, Anfang derneunziger Jahre durchgeführte Untersuchungen der KommunistischenPartei möglicherweise ernste politische Unruhenvoraus. 23 Einige Experten prophezeiten sogar, daß China23 Das “Official Document Anticipates Disorder During the Post-Deng Period.”,Hong Kong,1. Februar 1995, bietet eine detaillierte Zusammenfassung zweier Analysen,die für die Parteiführung über verschiedene Formen politischer Unruhe vorbereitetwurden. Eine westliche Sichtweise siehe in Richard Baum, „China After Deng: TenScenarios in Search of Reality in China“ Quarterly (März 1996).


236 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>in den Sog eines der in seiner Geschichte häufigen Zykleninnerer Zersplitterung geraten könnte; damit wäre sein Aufstiegzur <strong>Weltmacht</strong> beendet. Allerdings vermindert der starke Einflußdes Nationalismus und der modernen Kommunikationssysteme,die beide für einen geeinten chinesischen Staat arbeiten, dieWahrscheinlichkeit, daß es zu einem solchen Extremfallkommt.Schließlich gibt es noch einen dritten Grund, weshalb manden Aussichten, daß China im Laufe der nächsten zwanzigJahre zu einer echten Großmacht und – in den Augen einigerAmerikaner bereits drohenden – <strong>Weltmacht</strong>, aufsteigt,mit Skepsis begegnen sollte. Selbst wenn China von ernstenpolitischen Krisen verschont bleibt und selbst wenn es seineaußerordentlich hohen Wachstumsraten über ein Vierteljahrhundertaufrechterhalten kann – beides ist noch sehr die Frage–‚ wäre es immer noch ein vergleichsweise armes Land. Selbstbei einem dreimal so hohen Bruttosozialprodukt würde ChinasBevölkerung in der nach dem Pro-Kopf-Einkommen gegliedertenRangliste der Nationen weiterhin einen unteren Platz einnehmen,gar nicht zu reden von der tatsächlichen Armut einesbedeutenden Teils des chinesischen Volkes. 24<strong>Die</strong> Anzahl der Telefonanschlüsse, Autos und Computer,gar nicht zu reden von Konsumgütern, wäre im internationalenVergleich sehr niedrig.Fazit: Selbst um das Jahr 2020 und selbst unter optimalenBedingungen ist es ganz unwahrscheinlich, daß Chinain den für eine <strong>Weltmacht</strong> maßgeblichen Bereichen wirklichkonkurrenzfähig werden könnte. Trotzdem ist China auf dembesten Weg, die bestimmende regionale Macht in Ostasien zu24 In einem etwas optimistischen Bericht, der 1996 vom chinesischen Institute forQuantitative Economic and Technological Studies herausgegeben wurde, wird daschinesische Pro-Kopf-Einkommen im Jahre 2010 auf etwa $ 735 geschätzt und damitweniger als $30 über dem Wert liegen, den die Weltbank ihrer Definition eines Landesmit niedrigem Einkommen zugrundegelegt hat.


Der Fernöstliche Anker 237werden. Geopolitisch beherrscht es bereits das Festland. Aufmilitärischem und wirtschaftlichem Gebiet stellt es seine unmittelbarenNachbarn, mit Ausnahme Indiens, deutlich in enSchatten. Es ist daher nur natürlich, daß sich China, ganz imEinklang mit seinen historischen, geographischen und ökonomischenVorgaben, auf regionaler Ebene zunehmend durchsetzenwird.Chinesische Studenten, die sich mit der Geschichte ihresLandes beschäftigen, wissen, daß sich Chinas Machtbereichnoch im Jahr 1840 über ganz Südostasien bis hinunter zurStraße von Malakka erstreckte, einschließlich Birma, Teilendes heutigen Bangladesch sowie Nepal, Gebieten des heutigenKasachstan, der gesamten Mongolei und der heute fernöstlichenProvinz Rußlands nördlich der Amur-Münder (vgl. Karte Seite31). <strong>Die</strong>se Gebiete unterstanden entweder irgendeiner Form derchinesischen Kontrolle oder zahlten an China Tribut. Zwischen1885 und 1895 verdrängten Briten und Franzosen im Zuge ihrerkolonialen Ausdehnung die Chinesen aus Südostasien, währendzwei ihnen von Rußland aufgezwungene Verträge in denJahren 1858 und 1864 territoriale Verluste im Nordosten undNordwesten zur Folge hatten. Im Anschluß an den chinesischjapanischenKrieg verlor China 1895 auch noch Taiwan.Man kann nahezu mit Bestimmtheit davon ausgehen,daß die Chinesen aufgrund ihrer Geschichte und Geographieimmer nachdrücklicher – und emotionsbeladener – auf derWiedervereinigung Taiwans mit dem Festland bestehen. Desweiteren ist anzunehmen, daß ein mächtiger werdendes China,nachdem es Hongkong wirtschaftlich intergriert und politischverdaut hat, in den ersten zehn Jahren des nächsten Jahrhundertssein Hauptaugenmerk auf dieses Ziel richten wird.Vielleicht könnte eine friedliche Wiedervereinigung – unterder Formel »eine Nation, verschiedene politische Systeme«(eine Variante des 1984 von Deng Xiaoping geprägten Slo-


238 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>gans: »ein Land, zwei Systeme« bei Taiwan Anklang undden USA Zustimmung finden, vorausgesetzt, China hatseine ökonomische Entwicklung erfolgreich weiterverfolgtund bedeutende demokratische Reformen durchgeführt.Andernfalls wird wahrscheinlich nicht einmal ein regionalbeherrschendes China seinen Willen militärisch durchsetzenkönnen, erst recht nicht angesichts einer amerikanischenOpposition. In diesem Falle dürfte die Taiwan-Frage demchinesischen Nationalismus weiterhin enormen Auftrieb gebenund dabei die amerikanischchinesischen Beziehungenerheblich belasten.Geographische Gesichtspunkte stehen auch hinter dem InteresseChinas, ein Bündnis mit Pakistan einzugehen und inBirma militärisch präsent zu sein. In beiden F ällen heißt dasgeostrategische Ziel Indien. Eine enge militärische Zusammenarbeitmit Pakistan bringt Indien sicherheitspolitisch ingrößere Verlegenheit und hindert es daran, sich selbst als regionaleHegemonialmacht in Südasien und als Rivale Chinaszu etablieren. Von der militärischen Zusammenarbeit mit Birmaverspricht sich China Zugang zu Marineeinrichtungen aufküstennahen birmanischen Inseln im Indischen Ozean, mitdenen es ein weiteres strategisches Druckmittel in Südostasienallgemein und der Straße von Malakka im besonderenerhielte. Und wenn China die Straße von Malakka und dengeostrategischen Dreh- und Angelpunkt Singapur in die Handbekäme, könnte es Japans Zugang zu den Ölquellen im NahenOsten und zu den europäischen Märkten kontrollieren.Chinas Interesse an Korea hat neben geographischen auchhistorische Gründe. Ein wiedervereinigtes Korea als Verlängerungdes amerikanischen (und mittelbar auch japanischen)Einflusses würde für China eines Tages unerträglich sein.Zumindest würde China darauf bestehen, daß ein wiedervereinigtesKorea ein neutraler Pufferstaat zwischen China und


Der Fernöstliche Anker 239Japan wäre, und auch damit rechnen, daß sich Korea aufgrundseiner traditionellen Animosität gegen Japan von selbst auf dieSeite Chinas schlagen wird. Vorläufig jedoch ist ein geteiltesKorea China am genehmsten, daher wird es wahrscheinlich fürden Fortbestand des nordkoreanischen Regimes eintreten.Nicht zuletzt bestimmen natürlich wirtschaftliche Erwägungendie Stoßrichtung chinesischer Bestrebungen in derRegion. So hat zum Beispiel China aufgrund seines rapide steigendenEnergiebedarfs bereits sein Mitspracherecht bei jederregionalen Nutzung der Erdöllager im Südchinesischen Meerdurchgesetzt. Aus demselben Grund zeigt China nun ein wachsendesInteresse an der Unabhängigkeit der an Rohstoffen reichenzentralasiatischen Staaten. Im April 1996 unterzeichnetenChina, Rußland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan eingemeinsames Grenz-und Sicherheitsabkommen; und währenddes Besuchs von Präsident Jian Zemin in Kasachstan im Julidesselben Jahres soll die chinesische Seite den »BemühungenKasachstans, seine Unabhängigkeit, Souveränität und territorialeIntegrität zu verteidigen, Unterstützung zugesichert haben.Aus dem bisher Gesagten geht deutlich hervor, daß sich Chinakünftig zunehmend in die Geopolitik Zentralasiens einschaltenwird.Geschichte und Ökonomie sind gemeinsam dafür verantwortlich,daß sich ein regional mächtigeres China immer stärkerfür Rußlands Fernen Osten interessiert. Zum ersten Mal,seit China und Rußland eine offizielle Grenze miteinanderteilen, ist China der wirtschaftlich dynamischere und politischstärkere Part. Inzwischen hat die Kolonie chinesischerEinwanderer und Händler, die auf russischem Gebiet leben,bedeutende Ausmaße angenommen, und China setzt sich inzwischentatkräftiger für eine nordostasiatische Wirtschaftskooperationein, die sich auch auf Japan und Korea erstreckt.Bei dieser Zusammenarbeit hat Rußland nunmehr die viel


240 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>schlechteren Karten, während seine fernöstliche Provinz in wirtschaftlicherHinsicht zunehmend auf enge Bindungen zur chinesischenMandschurei angewiesen ist. Ähnliche ökonomischeKräfte sind auch in Chinas Beziehungen zur Mongolei am Werk,die kein russischer Satellitenstaat mehr ist und deren formelleUnabhängigkeit China widerwillig anerkannt hat.Eine regionale Einflußsphäre Chinas ist also im Entstehenbegriffen. Eine Einflußsphäre sollte jedoch nicht mit einerZone politischer Vorherrschaft verwechselt werden, wie siedie Sowjetunion früher in Osteuropa ausübte. Sie ist sozioökonomischporöser und auf politischem Gebiet weniger von derMonopolstellung eines Staates geprägt. Nichtsdestowenigerentsteht dabei ein geographischer Raum, in dem die einzelnenStaaten bei der Festlegung ihrer jeweiligen Politik auf dieInteressen, Standpunkte und voraussichtlichen Reaktionen derregional bestimmenden Macht besondere Rücksicht nehmen.Kurz, eine chinesische Interessensphäre – vielleicht wäre Sphäreder Rücksichtnahme auf chinesische Interessen eine passendereFormulierung – läßt sich dadurch charakterisieren, daß die ersteFrage, die man sich in den verschiedenen Hauptstädten beieinem auftauchenden Problem stellt, lautet: »Was sagt Pekingdazu?«<strong>Die</strong> nachfolgende Karte (Seite 242) zeigt das Einflußgebiet,das ein in der Region dominierendes China im Laufe des nächstenVierteljahrhunderts erlangen könnte und stellt darüberhinaus die mögliche Einflußsphäre einer <strong>Weltmacht</strong> Chinadar, falls es – allen bereits erwähnten inneren und äußerenHindernissen zum Trotz – tatsächlich eine werden sollte. Einin der Region dominierendes Großchina, das die politischeUnterstützung seiner ungeheuer reichen und wirtschaftlichmächtigen Diaspora in Singapur, Bangkok, Kuala Lumpur,Manila und Jakarta, gar nicht zu reden von Taiwan undHongkong, gewänne (einige überraschende Daten hierzu fin-


Der Fernöstliche Anker 241den sich in der Fußnote 25 ) und sowohl nach Zentralasienals auch in den Fernen Osten Rußlands vordringen würde, entsprächevon seinem Radius her der Ausdehnung des chinesischenKaiserreichs vor dem Beginn seines Niedergangs,wobei es durch das Bündnis mit Pakistan seine geopolitischeEinflußzone sogar noch erweitern könnte. Je mehr Chinaan Macht und Ansehen gewinnt, desto stärker werden sichwahrscheinlich die reichen Auslandschinesen Pekings Bestrebungenzu eigen machen und damit zu einer mächtigen Vorhutauf dem Weg Chinas zur Großmacht werden. <strong>Die</strong> südostasiatischenStaaten könnten es womöglich für klüger halten,auf Chinas politische Empfindlichkeiten und ökonomischeInteressen Rücksicht zu nehmen – und tun dies bereits inzunehmendem Maße. 26 Ähnlich betrachten die neuen zentralasiatischenLänder China mehr und mehr als eine Macht, die25 Laut Yazhou Zhoukan (Asiaweek) vom 25. September 1994 belief sich dasKapital der 500 führenden chinesischen Unternehmen in Südostasien auf insgesamtetwa 540 Milliarden Dollar. Andere Schätzungen liegen sogar noch höher: In ihrerAusgabe vom November/Dezember 1996 berichtete International Economy, daß dasJahreseinkommen der 50 Millionen im Ausland lebenden Chinesen ungefähr die obengenannte Summe erreiche und somit in etwa dem Bruttosozialprodukt des chinesischenFestlandes entspreche. <strong>Die</strong> außerhalb Chinas lebenden Chinesen sollen an die90% der indonesischen Volkswirtschaft, 75% der Thailands, 50-60% der Malaysiasund die gesamteWirtschaft Taiwans, Hongkongs und Singapurs unter ihrer Kontrollehaben. Aus Sorge über diese Sachlage sah sich der indonesische Botschafter in Japangenötigt, öffentlich vor einem “wirtschaftlichen Eingreifen Chinas in die Region“ zuwarnen, was nicht nur eine derartige Präsenz der Chinesen ausnützen, sondern sogarzu “Marionettenregierungen“ unter der Schirmherrschaft Chinas führen könnte.(Saydiman Suryohadiprojo, “How to Deal with China and Taiwan“, Asahi ShimbunTokio), 23. September 1996.26 Symptomatisch hierfür war der in der englischsprachigen TageszeitungBangkoks The Nation (31.März 1997) veröffentlichte Bericht über den Besuch desthailändischen Premierministers Chavalit Yongchaiudh in Peking. Als Zweck desBesuchs wurde die Herstellung eines festen strategischen Bündnisses mit “Großchina“genannt. <strong>Die</strong> thailändische Führung soll “China als eine Supermacht, die eine globaleRolle hat, anerkannt“ haben und soll als “eine Brücke zwischen China und ASEAN“dienen wollen. Singapur ist in seinem demonstrativen Schulterschluß mit China sogarnoch weiter gegangen.


242 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>an ihnen als unabhängige Pufferstaaten zwischen China undRußland ein echtes Interesse hat.Das Einflußgebiet einer <strong>Weltmacht</strong> China würde vermutlichwesentlich tiefer nach Süden ausbuchten, so daß sichsowohl Indonesien als auch die Philippinen darauf einstellenmüßten, daß die chinesische Flotte das Südchinesische Meerbeherrscht. Ein solches China könnte viel stärker versuchtsein, das Taiwan-Problem gewaltsam zu lösen, ohne Rücksichtauf die Haltung Amerikas. Im Westen könnte Usbekistan,also der zentralasiatische Staat, der sich russischenÜbergriffen auf dessen früheres Reichsgebiet am entschiedenstenwidersetzt, für ein ausgleichendes Bündnis mit Chinaeintreten, dasselbe gilt für Turkmenistan. Und auch in demethnisch gespaltenen und daher für Nationalitätenkonflikte


Der Fernöstliche Anker 243anfälligen Kasachstan könnte sich China womöglich stärker zurGeltung bringen. Ein China, das wirklich ein politischer wie auchwirtschaftlicher Riese wird, könnte sich außerdem offener in dieinneren Angelegenheiten der fernöstlichen Provinz Rußlandseinschalten, während es Koreas Vereinigung unter chinesischerSchirmherrschaft betreibt.Aber ein derart aufgeblähtes China bekäme es höchstwahrscheinlichmit einer starken Opposition von außen zu tun. Aus derKarte aus Seite 242 geht deutlich hervor, daß im Westen sowohlRußland als auch Indien triftige geopolitische Gründe haben, sichzusammenzuschließen, um die von China ausgehende Gefahr gemeinsamabzuwehren. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit zwischen ihnen dürftesich dann wohl in erster Linie auf Zentralasien und Pakistankonzentrieren, von woher China ihre Interessen am stärkstenbedroht. Im Süden ginge der heftigste Widerstand von Vietnamund von Indonesien aus (das wahrscheinlich von AustralienRückendeckung erhielte). Im Osten würde Amerika, vermutlichunterstützt von Japan, jedem Versuch Chinas entgegentreten, dieVormachtstellung in Korea zu gewinnen und sich Taiwan gewaltsameinzuverleiben, zumal ein solcher Akt die politische Präsenzder USA im Fernen Osten auf einen potentiell unsicheren undabgelegenen Stützpunkt in Japan reduzieren würde.Ob eines der auf der Karte eingezeichneten SzenariosWirklichkeit wird, hängt letzten Endes nicht nur von der weiterenEntwicklung Chinas, sondern auch ganz wesentlichvon dem Verhalten und der Präsenz der Vereinigten Staatenab. Sollte sich Amerika heraushalten, würde das zweite Szenariosehr viel wahrscheinlicher, aber auch wenn das ersteWirklichkeit werden sollte, wäre dazu ein gewisses Maß anEntgegenkommen und Selbstbeherrschung von seiten derUSA nötig. <strong>Die</strong> Chinesen wissen das; daher muß es der chinesischenPolitik in erster Linie darum gehen, auf das VerhaltenAmerikas und auf die alles entscheidende amerikanischjapa-


244 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>nische Partnerschaft gleichermaßen einzuwirken und seineanderen Beziehungen entsprechend diesem strategischen Anliegenzu handhaben.Chinas Haupteinwand gegen die USA richtet sich wenigergegen das, was diese tatsächlich tun, als gegen das, was dieUSA derzeit sind und wo sie sind. Amerika ist in den AugenChinas die gegenwärtig bestimmende <strong>Weltmacht</strong>, deren bloßeGegenwart in der Region, gestützt auf seine dominierendePosition in Japan, Chinas Einfluß eindämmt. Mit den Worteneines Analytikers in der Forschungsabteilung des chinesischenAußenministeriums: »Das strategische Ziel der USAbesteht darin, ihre Hegemonie auf die ganze Welt auszudehnen,und sie können nicht hinnehmen, daß in Europa oderAsien eine Großmacht entsteht, die einmal ihre Führungspositionbedroht.« 27 Somit wird Amerika ungewollt, einfachdurch seine nationale Identität und geographische Lage, eherChinas Gegner als sein natürlicher Verbündeter.Demgemäß ist es die Aufgabe chinesischer Politik – entsprechendder strategischen Einsicht Sun Tsus –‚ AmerikasMacht zu benutzen, um die amerikanische Hegemonie auffriedlichem Wege zu überwinden, ohne dadurch irgendwelchelatenten regionalen Gelüste Japans zu entfesseln. Zu diesemZweck muß Chinas Geostrategie zwei Ziele gleichzeitigverfolgen, wie dies Deng Xiaoping etwas verklausuliert imAugust 1994 klargemacht hat: »Erstens, Hegemoniestrebenund Machtpolitik entgegenwirken und den Weltfrieden sichern;zweitens, eine neue internationale politische und öko-27 Song Yimin, “Discussion of the Division and Grouping of Forces in the WorldAfter the End of the Cold War”, International Studies (China Institute of InternationalStudies, Peking) 6–8 (1996): 10. Daß diese Einschätzung Amerikas die Meinung vonChinas oberster Führung wiedergibt, belegt der Umstand, daß eine Kurzfassung dergenannten Untersuchung am 29. April 1996 in dem in Massenauflage erscheinendenoffiziellen Parteiorgan Renmin Ribao (People‘s Daily) erschien.


Der Fernöstliche Anker 245nomische Ordnung aufbauen.« Ersteres zielt unverkennbar aufdie Vereinigten Staaten ab und bezweckt eine Schwächung deramerikanischen Vormachtstellung, während ein militärischerZusammenstoß sorgfältig vermieden wird, der Chinas ökonomischenAufschwung beenden würde; die zweite Forderung strebteine Revision der Machtverteilung auf der Erde an und schlägtdabei aus dem Unmut Kapital, den einige Schlüsselstaaten gegendie derzeit bestehende internationale Hackordnung hegen,in der die Vereinigten Staaten ganz oben rangieren, unterstütztvon Europa (oder Deutschland) im äußersten Westen und vonJapan im äußersten Osten Eurasiens.Chinas zweite Zielsetzung veranlaßt Peking, eine regionaleGeostrategie zu verfolgen, die ernste Konflikte mit seinenunmittelbaren Nachbarn zu vermeiden sucht, auch wenn esdabei weiterhin nach einer Vormachtstellung in der Regionstrebt. Eine taktische Verbesserung der chinesisch-russischenBeziehungen kommt da wie gerufen, zumal Rußland nunschwächer ist als China. Dementsprechend erteilten im April1996 beide Länder jeglichem »Hegemoniestreben« eine klareAbsage und erklärten die NATO-Erweiterung für »unzulässig«.Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß China ein langfristigesund umfassendes Bündnis mit Rußland gegen Amerika ernsthaftin Erwägung zöge. Ein solches Bündnis hätte zur Folge,daß die amerikanisch-japanische Partnerschaft, die China langsamaufweichen möchte, an Festigkeit und Umfang gewönne,und würde China außerdem von relevanten Kapitalquellen undmoderner Technologie isolieren.Wie in den chinesisch-russischen Beziehungen empfiehltes sich für China, jede direkte Konfrontation mit Indien zu vermeiden,auch wenn es weiterhin an seiner engen militärischenZusammenarbeit mit Pakistan und Birma festhält. Eine Politikoffener Feindseligkeit hätte den negativen Effekt, Chinasaus taktischen Gründen ratsame Einigung mit Rußland zu


246 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>komplizieren, während es zudem Indien in ein kooperativeresVerhältnis zu Amerika triebe. Da auch Indien unterschwelligeinen leicht antiwestlichen Vorbehalt gegen die bestehende »globaleHegemonie« teilt, steht eine Verminderung der chinesischindischenSpannungen im Einklang mit Chinas umfassenderemgeostrategischen Interesse.<strong>Die</strong>selben Gesichtspunkte gelten im großen und ganzenfür Chinas derzeitige Beziehungen zu den südostasiatischenStaaten. Obwohl sie das Südchinesische Meer einseitig für sichreklamieren, pflegen Chinesen gleichzeitig ihre Beziehungen zuden südostasiatischen Regierungen (mit Ausnahme der von jeherfeindlich gesinnten Vietnamesen). Dabei machen sie sich die unverhohlenenantiwestlichen Ansichten (vor allem in den Fragenwestlicher Wertvorstellungen und der Menschenrechte) zunutze,die in den letzten Jahren von den Regierungschefs Malaysias undSingapurs geäußert worden sind. Insbesondere begrüßten sie diegelegentlich schrille antiamerikanische Rhetorik des malaysischenPremierministers Datuk Mahatir, der auf einem Forumim Mai 1996 in Tokio sogar öffentlich die Notwendigkeit desamerikanisch-japanischen Sicherheitsabkommens mit der Frageanzweifelte, welchen Feind die Allianz denn abwehren solle, undbehauptete, Malaysia brauche keine Verbündeten. <strong>Die</strong> Chinesenrechnen ganz offensichtlich damit, daß jede Verminderung desamerikanischen Ansehens automatisch ihrem Einfluß in derRegion zugute komme.Auf ähnliche Weise scheint steter, geduldig ausgeübterDruck der Leitgedanke der momentan gegenüber Taiwanverfolgten chinesischen Politik zu sein. Während sie sich einerseitsauf eine kompromißlose Haltung hinsichtlich des internationalenStatus‘ Taiwans versteift – derart, daß sie sogarbewußt internationale Spannungen in Kauf nimmt, um deutlichzu machen, daß es Peking in dieser Sache ernst ist (wie imMärz 1996) –‚ sind sich die chinesischen Führer vermutlich


Der Fernöstliche Anker 247bewußt, daß sie vorläufig nicht über die Macht verfügen werden,eine für sie befriedigende Lösung zu erzwingen. Ihnen istklar, daß eine verfrühte Anwendung von Gewalt nur einen unsinnigenStreit mit Amerika vom Zaun brechen und dadurch dieUSA in ihrer Rolle als Garant für Frieden in der Region stärkenwürde. Überdies gestehen sich die Chinesen selbst ein, daß dieAussichten für die Entstehung eines Großchina nicht zuletztdavon abhängen, wie wirksam Hongkong in die Volksrepublikintegriert wird.<strong>Die</strong> gütliche Einigung, die in Chinas Verhältnis zu Südkoreastattgefunden hat, ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil seinerPolitik, die Flanken zu konsolidieren, um sich wirksam auf daseigentliche Ziel konzentrieren zu können. Angesichts der koreanischenGeschichte und der antijapanischen Stimmung imLande trägt eine chinesisch-koreanische Verständigung an sichschon zu einer Schwächung der potentiellen Rolle Japans in derRegion bei und bereitet den Boden für ein wiedererstehendestraditionelleres Verhältnis zwischen China und (einem wiedervereinigtenoder weiterhin geteilten) Korea.Am wichtigsten jedoch ist: <strong>Die</strong> auf friedlichem Wege erzielteVerbesserung des chinesischen Ansehens in der Regionerleichtert es Peking, sein zentrales Ziel zu verfolgen, dasder alte chinesische Stratege Sun Tsu folgendermaßen formulierthaben könnte: Amerikas Macht in der Region so weitzu schwächen, daß ein geschwächtes Amerika ein regionalbeherrschendes China als Verbündeten und schließlich sogareine <strong>Weltmacht</strong> China als Partner brauchen wird. <strong>Die</strong>ses Zielsollte auf eine Weise verfolgt und erreicht werden, die wedereine Erweiterung der amerikanisch-japanischen Allianz zuVerteidigungszwecken provoziert noch dazu, daß Japans Machtdie der USA in der Region ersetzt.Um dieses zentrale Ziel zu erreichen, sucht China kurzfristigdie Festigung und Ausdehnung der amerikanisch-japani-


248 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>schen Sicherheitspartnerschaft zu verhindern. Besonders beunruhigtwar China, als deren Geltungsbereich Anfang 1996indirekt von einem engeren »fernöstlichen« zu einem umfassenderen»asiatisch-pazifischen« Raum ausgeweitet wurde.Peking sah darin nicht nur eine unmittelbare Bedrohung seinernationalen Interessen, sondern den Ausgangspunkt fürein von den USA dominiertes asiatisches Sicherheitssystem(in dem Japan die wichtigste Stütze 28 sein würde, etwa sowie Deutschland in der NATO während des Kalten Krieges),das China in Schach halten soll. Das Abkommen wurde inPeking als der Versuch aufgefaßt, Japan den Aufstieg zu einerbedeutenden Militärmacht zu erleichtern, die dann ungeklärteStreitfälle wirtschaftlicher Art und auf dem Gebiet des Seerechtsvielleicht sogar allein und mit Waffengewalt lösen könne.China wird also wahrscheinlich die immer noch starkenÄngste der Asiaten vor jeder wichtigen militärischen RolleJapans in der Region energisch anfachen, um Amerika Einhaltzu gebieten und Japan einzuschüchtern.In Chinas strategischem Kalkül kann jedoch die HegemonieAmerikas nicht von langer Dauer sein. Obwohl einigeChinesen, besonders in militärischen Kreisen, dazu neigen,Amerika als Chinas erbitterten Feind zu betrachten, geht manin Peking überwiegend davon aus, daß die USA in der Regionin die Isolation geraten, weil sie allzusehr auf Japan setzen.Dadurch werde ihre Abhängigkeit von dem Inselstaat nochgrößer, was indes auch für die Widersprüche im amerikanischjapanischenVerhältnis und die amerikanischen Ängste voreinem japanischen Militarismus gelte. <strong>Die</strong>se Entwicklung wirdChina in die Lage versetzen, Amerika und Japan gegeneinanderauszuspielen, wie es das früher im Fall der USA und28 Eine ausführliche Untersuchung der angeblichen Absicht Amerikas, ein solchesantichinesisches asiatisches System zu errichten, stellt Wang Chunyiun in “LookingAhead toAsia-Pacific Security in the Early Twenty-first Century“, an. Guoji Zhanwang(World Outlook), Februar 1996.


Der Fernöstliche Anker 249der Sowjetunion tat. Nach Ansicht Pekings wird die Zeit kommen,da Amerika begreift, daß es – um eine einflußreiche Machtim asiatisch-pazifischen Raum zu bleiben – keine andere Wahlhat, als sich seinem natürlichen Partner auf dem asiatischenFestland zuzuwenden.Japan: nicht regional, aber international<strong>Die</strong> Entwicklung des amerikanisch-japanischenVerhältnisses ist somit von entscheidender Bedeutung fürChinas geopolitische Zukunft. Seit dem Ende des chinesischenBürgerkriegs im Jahre 1949 stützt sich die amerikanischeFernost-Politik auf Japan. Anfangs nur ein amerikanischesBesatzungsgebiet, ist Japan Basis für die politisch-militärischePräsenz der USA im asiatisch-pazifischen Raum und einweltweit unverzichtbarer Verbündeter geworden, gleichzeitigaber zu einer Schutzzone. Das Hervortreten Chinas wirft nundie Frage auf, ob – und zu welchem Zweck – die engen amerikanisch-japanischenBeziehungen in dem sich veränderndenregionalen Kontext Bestand haben können. Japans Rolle ineinem gegen China gerichteten Bündnis wäre klar; aber wiesollte Japans Rolle aussehen, wenn man Chinas Aufstieg inirgendeiner Form Rechnung tragen will, selbst um den Preis,daß Amerikas Vormachtstellung in der Region Einbußenhinnehmen muß?Wie China ist Japan ein Nationalstaat mit einem unerschütterlichenGlauben an seine Einzigartigkeit und Sonderstellung.Aufgrund seiner Insellage, seiner Geschichte undauch seiner kaiserlichen Mythologie betrachtet sich dasbienenfleißige, disziplinierte japanische Volk als im Besitzeeiner besonderen, seinen Nachbarn überlegenen Lebensart,die Japan zunächst durch splendid isolation verteidigte, ehe es


250 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>dann, als die Welt sich im 19. Jahrhundert aufdrängte, die europäischenReiche nachahmte und sich auf dem asiatischenFestland selbst ein Imperium zu schaffen trachtete. <strong>Die</strong> vernichtendeNiederlage im Zweiten Weltkrieg bewirkte, daß sichdas japanische Volk ausschließlich auf den wirtschaftlichenWiederaufbau konzentrierte, ohne ein darüber hinausgehendesSelbstverständnis zu entwickeln.<strong>Die</strong> gegenwärtigen Ängste Amerikas vor einem übermächtigenChina erinnern an die noch nicht allzu lange zurückliegendeParanoia gegenüber Japan. <strong>Die</strong> Japanophobie ist Inzwischeneiner Chinophobie gewichen. Vor einem Jahrzehnt erst hattenVorhersagen, daß ein Aufstieg Japans zum »Welt-Superstaat«– bereit, nicht nur Amerika zu entthronen (es gar aufzukaufen!),sondern auch eine Art »Pax Nipponica« zu verhängen – unabwendbarsei und unmittelbar bevorstehe, bei amerikanischenKommentatoren und Politikern Hochkonjunktur. Und das nichtnur in Amerika. <strong>Die</strong> Japaner stießen selbst schnell in das gleicheHorn mit einer Reihe von Bestsellern, die die These vertraten,daß Japan den High-Tech-Wettlauf mit den Vereinigten Staatenzwangsläufig gewinnen müsse und bald schon zum Zentrum einesweltweiten »Informationsimperiums« werde, wohingegenes mit Amerika, das mittlerweile erschöpft und gesellschaftlichdurch Disziplinlosigkeit geschwächt sei, bergab gehe.Bei diesen oberflächlichen Deutungen geriet völlig inVergessenheit, wie verwundbar Japan als Staat ist und bleibt.Es ist selbst den geringfügigsten Störungen im weltweitenRessourcen- und Handelsfluß, gar nicht zu reden von Krisen derinternationalen Stabilität, hilflos ausgeliefert und wird zu Hausevon demographischen, sozialen und politischen Problemenbedrängt. Japan ist einerseits ein reiches, dynamischesund wirtschaftlich starkes Land, andererseits jedoch in derRegion isoliert und in seiner politischen Handlungsfreiheiteingeschränkt, weil es in Sicherheitsfragen von einem mächtigen


Der Fernöstliche Anker 251Verbündeten abhängig ist, der zufällig der Garant globaler Stabilität(auf die Japan nicht verzichten kann) und gleichzeitigJapans Hauptkonkurrent auf wirtschaftlichem Gebiet ist.Japans gegenwärtige Position – einerseits ein weltweit respektierterWirtschaftsriese, andererseits eine geopolitischeVerlängerung amerikanischer Macht – dürfte für künftige Generationenvon Japanern, die nicht mehr von der Erfahrung desZweiten Weltkriegs traumatisiert und mit Scham erfüllt sind,auf Dauer nicht akzeptabel sein. Sowohl aus historischen alsauch aus Gründen der Selbstachtung ist Japan, wenn auch verhaltenerals China, mit dem weltweiten Status quo nicht so rechtzufrieden. Mit einer gewissen Berechtigung meint es, Anspruchauf eine förmliche Anerkennung als <strong>Weltmacht</strong> zu haben, weißaber auch, daß die regional nützliche (und für seine asiatischenNachbarn beruhigende) Sicherheitsabhängigkeit von Amerikadiese Anerkennung behindert.Überdies verstärkt die wachsende Macht Chinas auf demasiatischen Festland sowie die Aussicht, daß sie bald in die fürJapan ökonomisch wichtigen ozeanischen Gebiete ausstrahlenkönnte, das zwiespältige Gefühl der Japaner hinsichtlich dergeopolitischen Zukunft des Landes. Auf der einen Seite gibt es inJapan ein ausgeprägtes kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühlgegenüber China sowie ein latentes Bewußtsein gemeinsamerasiatischer Identität. Einige Japaner glauben vielleicht auch, mitdem Entstehen eines stärkeren Chinas und einer Schwächung deramerikanischen Vormachtstellung in der Region gewinne Japanfür die USA an Bedeutung. Andererseits ist China in den Augenvieler Japaner der traditionelle Gegner, ein früherer Feind undeine potentielle Bedrohung der regionalen Stabilität. <strong>Die</strong>s läßtdie Sicherheitsbindung an Amerika wichtiger denn je erscheinen,selbst wenn dadurch der Unmut mancher nationalistischerenJapaner steigt, denen die lästigen Beschränkungen der politischenund militärischen Unabhängigkeit Japans ein Dorn im Auge sind.


252 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Oberflächlich betrachtet, besteht eine gewisse Ähnlichkeitzwischen der Situation Japans im fernen Osten Asiens undDeutschlands im äußersten Westen Eurasiens. Beide sind diewichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in der jeweiligenRegion. Ja, man kann sagen, Amerikas Stärke in Europa und Asienberuht unmittelbar auf den engen Allianzen mit diesen beidenLändern. Beide verfügen über ansehnliche Militärapparate, aberkeines ist in dieser Hinsicht unabhängig: Deutschland sind durchseine militärische Integration in die NATO die Hände gebunden,während Japan von seinen eigenen (obzwar die HandschriftAmerikas aufweisenden) Verfassungsvorbehalten und demamerikanisch-japanischen Sicherheitsabkommen in Schrankengehalten wird. Beide sind Wirtschaft-und Finanzriesen, regionalbestimmend und rangieren ganz oben auf der globalen Skala.Beide kann man als Quasi-Weltmächte bezeichnen, und beideverstimmt es, daß man ihnen die mit einem dauerhaften Sitz imUN-Sicherheitsrat verbundene Anerkennung verweigert.Aber die Unterschiede in ihren jeweiligen geopolitischenVoraussetzungen fallen möglicherweise stärker ins Gewicht.Deutschland ist aufgrund seines konkreten Verhältnisses zurNATO mit seinen wichtigsten europäischen Verbündetengleichgestellt und hat im Rahmen des nordatlantischen Paktsgegenüber den Vereinigten Staaten formell gegenseitige Verteidigungsverpflichtungen.Das amerikanisch-japanische Sicherheitsabkommenbestimmt, daß die USA Japan zu verteidigenhaben, aber den Einsatz des japanischen Militärs zur VerteidigungAmerikas sieht es nicht vor (nicht einmal auf dem Papier). DasAbkommen schreibt im Grunde einen Schutzpakt fest.Dank seines aktiven Einsatzes in der EuropäischenUnion und der NATO wird Deutschland außerdem von jenenNachbarn, die in der Vergangenheit Opfer seiner Aggressionwurden, nicht mehr als Bedrohung empfunden, sondern gilt


Der Fernöstliche Anker 253heute als attraktiver Partner auf wirtschaftlichem und politischemGebiet. Einige würden es sogar begrüßen, wenn einvon Deutschland angeführtes Mitteleuropa entstünde, daDeutschland als eine positive regionale Macht betrachtet wird.Das ist bei Japans asiatischen Nachbarn ganz anders, die wegendes Zweiten Weltkriegs Japan gegenüber noch immer gewisseAnimositäten hegen. Zum Unmut der Nachbarn trägt ferner dieinternationale Wertschätzung des Yen bei, die nicht nur bittereKlagen ausgelöst, sondern auch eine Aussöhnung mit Malaysia,Indonesien, den Philippinen und selbst China behindert hat, dasseine erheblichen langfristigen Schulden gegenüber Japan inYen begleichen muß.Mangels eines mehr oder weniger gleichen regionalen Partnershat Japan auch kein asiatisches Äquivalent wie Deutschlandim Nachbarn Frankreich. Es besteht zwar eine starkekulturelle Affinität zu China, in die sich vielleicht ein gewissesSchuldgefühl mischt, aber sie ist politisch zwiespältig, da keineSeite der anderen traut und keine die regionale Führungsrolleder anderen akzeptieren will. Ebensowenig hat Japan einÄquivalent zu Deutschlands Verhältnis zu Polen: das heißt einenviel schwächeren, aber geopolitisch wichtigen Nachbarn,mit dem die Versöhnung und sogar Zusammenarbeit nach undnach Realität werden. Vielleicht könnte Korea nach einer eventuellenWiedervereinigung dieses Äquivalent werden, dochsind die japanisch-koreanischen Beziehungen nur auf demPapier gut, da die Erinnerungen der Koreaner an vergangeneHerrschaft und das Überlegenheitsgefühl der Japaner jede echteAussöhnung der beiden Gesellschaften erschweren. 29Schließlich stand Japan mit Rußland stets auf viel schlechteremFuß als Deutschland. Da Rußland in der Rückgabe der29 Der Japan Digest berichtete am 25. Februar 1997, daß laut einer von derRegierung in Auftrag gegebenen Untersuchung nur 36% der Japaner gegenüberSüdkorea freundlich gesinnt sind.


254 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>südlichen Kurilen, die es gegen Ende des ZweitenWeltkriegs noch schnell besetzt hatte, kein Entgegenkommenzeigt, bewegen sich die russischjapanischen Beziehungenum den Nullpunkt. Kurzum, Japan ist in der Region politischisoliert, was man von Deutschland nicht behaupten kann.Des weiteren hat Deutschland mit seinen Nachbarn sowohldie gleichen demokratischen Prinzipien als auch Europas umfassendereschristliches Erbe gemein. Und es strebt danach, ineiner Einheit aufzugehen, die größer ist als es selbst, nämlichin »Europa«. Im Unterschied dazu gibt es kein vergleichbares»Asien«. Obwohl sich in den letzten Jahren in verschiedenenasiatischen Ländern die Demokratie durchgesetzt hat, ist Japaninfolge seiner insularen Vergangenheit und auch wegen seinesderzeit demokratischen Systems eher ein Außenseiter im asiatisch-pazifischenRaum. In den Augen vieler Asiaten ist Japaneine einseitig auf den eigenen Nutzen bedachte Nation und einallzu williger Nachahmer des Westens, zumal sich Tokio sträubt,die abendländische Betonung der Menschenrechte und dieBedeutung des Individualismus gemeinsam mit anderen asiatischenRegierungschefs in Frage zu stellen. Somit sehen vieleAsiaten in Japan kein wahrhaft asiatisches Land, wie auch derWesten zuweilen staunt, in welchem Ausmaß Japan westlicheZüge angenommen hat.In Wirklichkeit fühlt sich Japan, obwohl zu Asien gehörend, nichtso recht wohl als asiatisches Land. <strong>Die</strong>ser Umstand schränkt seinegeostrategischen Möglichkeiten beträchtlich ein. Eine wirklich regionaleOption, nämlich die eines regional bestimmenden Japans,das China überragt – selbst wenn sie nicht mehr auf japanischerVorherrschaft, sondern eher auf einer friedlichen Zusammenarbeitunter der Ägide Japans beruht –‚ scheint aus stichhaltigen historischen,politischen und kulturellen Gründen nicht realisierbar.Hinzu kommt, daß Japan auch in Zukunft auf den militärischenSchutz und die internationale Schirmherrschaft der USA an-


Der Fernöstliche Anker 255gewiesen ist. Ohne das amerikanisch-japanischeSicherheitsabkommen, ja sogar schon durch seine allmählicheVerwässerung würde Japan augenblicklich gegenüberjeder ernsthaften regionalen oder internationalen Krise störungsanfällig.<strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> Alternative wäre dann, entwederChinas regionale Vormachtstellung zu akzeptieren oderein massives – ebenso kostspieliges wie sehr gefährliches– Wiederaufrüstungsprogramm durchzuziehen.Verständlicherweise halten viele Japaner die gegenwärtigePosition ihres Landes – eine Quasi-<strong>Weltmacht</strong> und zugleich eineSchutzzone – für abnorm. Aber zugkräftige und realisierbareAlternativen zu den bestehenden Regelungen bieten sich nichtan. Wenn Chinas nationale Ziele als einigermaßen klar und dieregionale Stoßrichtung seiner geopolitischen Ambitionen als relativvorhersehbar gelten kann, so ist die geostrategische VisionJapans eher verschwommen und die öffentliche Stimmung imLande viel uneinheitlicher.Den meisten Japanern ist klar, daß eine strategisch bedeutsameund abrupte Richtungsänderung Gefahren in sich birgt.Kann Japan eine regionale Macht in einer Region werden, inder es noch immer Unmut auf sich zieht und China sich alsregional vorherrschende Macht zu etablieren beginnt? Dochsollte sich Japan einfach mit einer solchen Rolle Chinas abfinden?Kann Japan eine wirklich umfassende <strong>Weltmacht</strong> (in allihren Dimensionen) werden, ohne amerikanische Unterstützungaufs Spiel zu setzen und die Feindseligkeit, die ihm in derRegion entgegenschlägt, zu schüren? Vorausgesetzt, die USAwerden in jedem Fall in Asien bleiben, wie wird sich dann ihreReaktion auf Chinas wachsenden Einfluß auf die Beziehungenzu Japan auswirken, das bisher Priorität genoß? In der Zeit desKalten Krieges waren solche Fragen so gut wie kein Thema.Heute bestimmen sie die strategische Diskussion und habenin Japan eine zunehmend lebhaftere Debatte in Gang gesetzt.


256 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Seit den fünfziger Jahren ließ sich die japanische Außenpolitikvon vier wesentlichen Grundsätzen leiten, die der erstePremierminister nach dem Krieg, Shigeru Yoshida, öffentlichbekanntgab. <strong>Die</strong> Yoshida-Doktrin postulierte, (1) Japan sollesich in erster Linie auf seine Wirtschaftsentwicklung konzentrieren,(2) es solle nur eine kleine Armee unterhalten und sichaus internationalen Konflikten heraushalten, (3) es solle der politischenFührung der Vereinigten Staaten folgen und deren militärischenSchutz annehmen und (4) die japanische Diplomatiesolle frei von Ideologie und auf internationale Zusammenarbeitgerichtet sein. Da jedoch das Ausmaß, in dem sich Japan imKalten Krieg engagierte, bei vielen Japanern Unbehagen hervorrief,wurde gleichzeitig die Fiktion einer Semineutralitätgepflegt. Noch im Jahre 1981 mußte Außenminister MasayoshiIto seinen Hut nehmen, weil er es zugelassen hatte, daß mandie amerikanisch-japanischen Beziehungen mit dem Begriff»Bündnis« (domei) charakterisierte.<strong>Die</strong>s gehört nun alles der Vergangenheit an. Japan wardamals in einer Aufbauphase, China hatte sich selbst isoliertund Eurasien war polarisiert. Heute dagegen begreift Japanspolitische Elite, daß ein reiches, wirtschaftlich in die Welteingebundenes Japan Selbstbereicherung nicht mehr zum vorrangigennationalen Zweck betreiben kann, ohne internationalesRessentiment auszulösen. Ferner kann ein wirtschaftlichmächtiges Japan, das mit Amerika wetteifert, nicht einfacheine Verlängerung der amerikanischen Außenpolitik sein, währendes zugleich jeder internationalen Verantwortung aus demWeg geht. Ein politisch einflußreicheres Japan, das weltweitAnerkennung sucht (beispielsweise einen ständigen Sitz imSicherheitsrat der UNO), muß in den für den Weltfrieden entscheidenderengeopolitischen- und Sicherheitsfragen Stellungbeziehen.<strong>Die</strong> Folge davon war, daß in den letzten Jahren unzählige


Der Fernöstliche Anker 257Studien japanischer Körperschaften des privaten und öffentlichenRechts sowie eine Fülle oft umstrittener Bücher vonbekannten Politikern und Professoren erschienen, die Japansneue Aufgabengebiete und Zielsetzungen in der Zeit nach demKalten Krieg umrissen. 30 In vielen dieser Veröffentlichungenging es unter anderem um die Frage, wie lange das amerikanisch-japanischeSicherheitsbündnis noch Bestand habe und obes noch wünschenswert sei. Außerdem sprach man sich für eineaktivere japanische Diplomatie, vor allem gegenüber China,aus oder redete einer energischeren militärischen Rolle Japansin der Region das Wort. Wollte man den Stand der amerikanisch-japanischenBeziehungen nach dem öffentlichen Dialogbeurteilen, so müßte man wohl zu dem Schluß kommen, daßdas Verhältnis zwischen beiden Ländern Mitte der neunzigerJahre in eine Krise geraten ist.30 Zum Beispiel betonte die Higuchi-Kommission, eine Beraterabteilung desPremierministers, die in einem im Sommer 1994 herausgegebenen Bericht die „dreiSäulen japanischer Sicherheitspolitik“ skizzierte, den Vorrang amerikanisch-japanischerSicherheitsbeziehungen, sprach sich daneben aber für einen multilateralen asiatischenSicherheitsdialog aus; der Bericht des Ozawa-Ausschusses von 1994 „Plan für einneues Japan“ der Entwurf Yomiuri Shimbuns für „eine umfassende Sicherheitspolitik“vom Mai 1995, der u.a. für den Auslandseinsatz japanischer Kräfte zum Zweckeder Friedenssicherung eintrat; der mit Unterstützung der Fuji-Bank vorbereiteteBericht der Japan Association of Corporate Executives (keizai doyukai) „Denkfabrik“drängt auf mehr Symmetrie in dem amerikanisch-japanischen Verteidigungssystem;der Bericht mit dem Titel „Möglichkeit und Rolle eines Sicherheitssystems in derasiatisch-pazifischen Region“, der dem Premierminister im Juni 1996 von demJapan-Forum für internationale Angelegenheiten vorgelegt wurde; sowie zahlreicheBücher und Artikel, die in den letzten Jahren erschienen und oft viel polemischereund extremere Standpunkte vertreten und häufiger von den westlichen Medien zitiertwurden als die oben erwähnten Berichte, die vorwiegend dem mainstream zuzurechnensind. So löste zum Beispiel ein von einem japanischen General 1996 herausgegebenesBuch ein weites Presseecho aus, weil darin Vermutungen darüber angestellt werden,daß die USA unter bestimmten Umständen Japan nicht mehr würden schützen könnenund Japan deshalb sein nationales Verteidigungspotential erhöhen müsse (vgl. GeneralYasuhiro Marino, ed. Next Generation Ground Self-Defense Force und den Artikel darüberin “Myths of the U.S. Coming to Our Aid“ in Sankei Shimbun, 4. März 1996).


258 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Auf der Ebene der offiziellen Politik waren jedoch die ernsthaftdiskutierten Empfehlungen insgesamt gesehen relativ nüchtern,maßvoll und vernünftig. <strong>Die</strong> extremen Optionen – sowohl dievorbehaltlos pazifistische (mit einem anti-amerikanischenBeigeschmack) als auch die Option einer einseitigen und größerenWiederbewaffnung (die eine Revision der Verfassungerfordern und vermutlich negativen Reaktionen von seiten derUSA und der Staaten in der Region zum Trotz verfolgt würde)– haben wenig Anhänger gefunden. <strong>Die</strong> breite Öffentlichkeit undzweifellos auch einflußreiche Wirtschaftskreise spüren instinktiv,daß keine der beiden Optionen eine echte politische Alternativedarstellt und beide im Grunde Japans Wohlstand nur gefährdenwürden.In den politisch entscheidenden öffentlichen Diskussionenging es primär um eine unterschiedliche Gewichtung der grundlegendenRolle Japans auf der internationalen Bühne und in zweiterLinie um verschiedene Auffassungen über seine geopolitischenPrioritäten. Grob gesagt, lassen sich drei Hauptstandpunkteund vielleicht noch ein vierter von nachrangiger Bedeutungfesthalten und wie folgt kennzeichnen: die unerschütterlichenVerfechter eines »Amerika zuerst«, die globalen Merkantilisten,die weltoffenen Pragmatiker und die weltpolitischen Visionäre.Letzten Endes ist jedoch allen vier ein Ziel gemeinsam und teilensie dieselbe Sorge: sich das besondere Verhältnis zu den USAzunutze zu machen, um Japan internationale Anerkennung zu erringen,zugleich Feindseligkeiten in Asien zu vermeiden und denSicherheitsschirm der USA nicht vorzeitig aufs Spiel zu setzen.<strong>Die</strong> Vertreter der ersten Richtung gehen davon aus, daßder Erhalt der bestehenden und zugegebenermaßen asymmetrischenamerikanischjapanischen Beziehungen der Kern japanischerGeostrategie bleiben sollte. Sie wollen, wie die meistenJapaner, größere internationale Anerkennung für Japan undmehr Gleichheit in der Allianz, ihr kardinaler Glaubens-


Der Fernöstliche Anker 259grundsatz aber ist, wie Premierminister Kiichi Miyazawaes im Januar 1993 ausdrückte, daß »die Aussichten für dieWelt auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert weitgehend davonabhängen werden, ob Japan und die Vereinigten Staatenin einer koordinierten Führung mit einer gemeinsamen Visionaufwarten können.« <strong>Die</strong>ser Standpunkt herrschte bisher in derinternationalistisch orientierten politischen Elite und dem außenpolitischenEstablishment vor, das während der letzten zweiJahrzehnte im Amt war. In geostrategischen Schlüsselfragenwie der Rolle Chinas in der Region und der Präsenz der USA inKorea hat diese Führung die USA unterstützt, aber sie sieht ihreAufgabe auch darin, die USA von einem Konfrontationskursgegenüber China abzuhalten. Tatsächlich betont selbst dieseGruppierung inzwischen zunehmend die Notwendigkeitengerer japanisch-chinesischer Beziehungen, die sie in ihrerBedeutung gleich nach denen zu Amerika einstuft. <strong>Die</strong>Anhänger der zweiten Richtung bestreiten nicht, daß Japanmit den USA geostrategisch an einem Strang ziehen sollte,in ihren Augen ist den Interessen Japans aber am besten gedient,wenn man offen eingesteht und akzeptiert, daß Japanin erster Linie eine Wirtschaftsmacht ist. <strong>Die</strong>se Ansicht wirdsehr oft mit der seit jeher einflußreichen MITI-Bürokratie(Ministerium für Internationalen Handel und Industrie) undden Spitzen von Handel und Export in Verbindung gebracht.Ihr zufolge ist die weitgehende Demilitarisierung Japans einVorteil, den zu bewahren sich lohnt. Solange Amerika dieSicherheit des Landes garantiert, kann sich Japan ungehindertweltweit auf wirtschaftlichem Gebiet engagieren, wasinsgeheim seinem internationalen Ansehen zugute käme.In einer idealen Welt würden die Anhänger dieser zweitenRichtung wohl für einen zumindest de facto neutralen politischenKurs eintreten. Amerika müßte demnach ein Gegengewichtzu Chinas Macht in der Region darstellen und Taiwan


260 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>und Südkorea Schutz bieten, wodurch Japan freie Hand bekäme,engere Wirtschaftsbeziehungen zum Festland und zu Südostasienzu pflegen. In Anbetracht der gegenwärtigen politischenRealitäten nehmen die globalen Merkantilisten jedoch das amerikanisch-japanischeBündnis als ein notwendiges Arrangement inKauf, einschließlich der relativ bescheidenen Haushaltsmittel fürdie japanischen Streitkräfte (die noch immer kaum ein Prozentdes Bruttosozialprodukts übersteigen), ohne es darauf anzulegen,das Bündnis mit irgendeinem regional bedeutsamen Gehalt zuerfüllen.<strong>Die</strong> dritte Gruppe, die weltoffenen Pragmatiker, dürften wohlden neuen Typus des Politikers und geopolitischen Denkersverkörpern. Sie sind der Meinung, daß Japan als eine reicheund erfolgreiche Demokratie sowohl die Gelegenheit als auchdie Pflicht habe, sich in der Welt nach dem Kalten Krieg anderszu verhalten. Mit einer anderen Einstellung könne es sichweltweit auch die Anerkennung verschaffen, die ihm als einemWirtschaftsriesen zustehe, der historisch gesehen, zu den wenigenwirklich großen Nationen der Welt zählt. Bereits in den achtzigerJahren deutete sich mit Premierminister Yasuhiro Nakasoneeine solch entschiedenere und selbstbewußtere Haltung an, aberdie vielleicht bekannteste Darlegung dieses Standpunktes war indem umstrittenen Bericht des Ozawa-Ausschusses enthalten, der1994 unter dem vielsagenden Titel »Plan für ein neues Japan: dasUmdenken einer Nation« veröffentlicht wurde.Benannt nach dem Vorsitzenden des Ausschusses, IchiroOzawa, einem aufstrebenden Parteipolitiker der politischenMitte, trat der Bericht sowohl für eine Demokratisierung derhierarchischen Strukturen des Landes als auch für ein Umdenkenin der japanischen Außenpolitik ein. Er forderte Japanauf, ein »normales Land« zu werden, und empfahl, an deramerikanisch-japanischen Sicherheitspartnerschaft festzuhalten,gab dem Inselstaat aber zugleich den Rat, seine interna-


Der Fernöstliche Anker 261tionale Passivität aufzugeben und sich aktiv an der Weltpolitikzu beteiligen, indem er neue Wege in den internationalenBemühungen um Friedenssicherung weise. Hierfür sollten, soder Bericht, die Verfassungsvorbehalte gegen eine Entsendungjapanischer Streitkräfte ins Ausland aufgehoben werden.Unausgesprochen – aber durch die Akzentuierung »einnormales Land« impliziert – blieb auch der Gedanke einermerklicheren geopolitischen Emanzipation vom SicherheitsnetzAmerikas. <strong>Die</strong> Verfechter dieses Standpunkts neigten zuder Ansicht, daß Japan in Angelegenheiten von globaler Bedeutungnicht zögern solle, für Asien einzutreten, anstatt sichautomatisch hinter die USA zu stellen. In so heiklen Fragenwie der wachsenden Bedeutung Chinas in der Region oderder Zukunft Koreas blieben sie bezeichnenderweise vage undunterschieden sich nicht sehr von ihren traditionalistischerenKollegen. In puncto regionale Sicherheit teilten sie diestark ausgeprägte Neigung der Japaner, die Verantwortungin beiden Fragen primär den USA zu überlassen, wobeiJapan lediglich die Rolle zufällt, auf allzu übertriebenenEifer der Amerikaner mäßigend einzuwirken. In der zweitenHälfte der neunziger Jahre setzte sich der Standpunktder weltoffenen Pragmatiker in der öffentlichen Meinungimmer mehr durch und hinterließ auch in der japanischenAußenpolitik seine Spuren. In der ersten Hälfte des Jahres1996 sprach die japanische Regierung plötzlich von »Japansunabhängiger Diplomatie« (jishu gaiko), obgleich das stetsvorsichtige japanische Außenministerium in der japanischenÜbersetzung die unbestimmtere (und für Amerika besserverdauliche) Wendung »weltoffene Diplomatie« wählte. <strong>Die</strong>vierte Richtung, die der weltpolitischen Visionäre, ist dieam wenigsten einflußreiche von allen, sie dient allerdingsgelegentlich dazu, den japanischen Standpunkt mit idealistischererRhetorik zu garnieren. In der Öffentlichkeit wird sie


262 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>gern mit herausragenden Persönlichkeiten – wie Akio Moritavon Sony – in Verbindung gebracht, die mustergültig demonstrieren,wie wichtig es für Japan ist, sich weltweit energischfür moralisch wünschenswerte Ziele einzusetzen. Oftmalsunter Berufung auf eine »neue Weltordnung« fordern dieseVisionäre ihr Land auf – gerade weil es nicht mit geopolitischenVerantwortungen belastet ist –‚ eine führende Rolle inder Entwicklung und Beförderung eines wahrhaft humanenProgramms für die Weltgemeinschaft zu übernehmen.Alle vier Richtungen stimmen in einer regionalen Schlüsselfrageüberein: daß eine stärker multilaterale asiatisch-pazifischeZusammenarbeit in Japans Interesse ist. Eine solcheZusammenarbeit könnte mit der Zeit in dreierlei HinsichtFrüchte tragen: durch sie kann China eingebunden (undauch auf raffinierte Weise in Schranken gehalten) werden;sie kann die USA dazu bewegen, auch dann in Asien präsentzu bleiben, wenn ihre Vormachtstellung schwindet, und siekann zum Abbau anti-japanischer Ressentiments beitragenund damit Japans Einfluß stärken. Es ist zwar unwahrscheinlich,daß Japan die Region zu seiner Einflußsphäre machenwird, doch es könnte sich vielleicht bei den Inselstaatenvor dem asiatischen Festland, die über Chinas wachsendeMacht beunruhigt sein mögen, ein gewisses Maß an Achtungverschaffen. Einigkeit besteht zwischen den Vertretern dergenannten vier Standpunkte außerdem darin, daß ein behutsamesBemühen um ein besseres Verhältnis zu China jedemvon Amerika ausgehenden Versuch, dessen Macht unmittelbareinzudämmen, eindeutig vorzuziehen ist. <strong>Die</strong> Idee einerAbwehrstrategie gegen China unter Führung der USA findetim japanischen Außenministerium keinen großen Anklang,und dasselbe gilt für die Vorstellung einer informellen, auf dieInselstaaten Taiwan, die Philippinen, Brunei und Indonesienbegrenzten Koalition als Gegengewicht zu China. Nach japa-


Der Fernöstliche Anker 263nischer Auffassung erforderte jede Bemühung dieser Art nichtnur auf unbestimmte Zeit eine erhebliche Militärpräsenz derAmerikaner sowohl in Japan als auch in Korea, sondern – dasich die geopolitischen Interessen mit denen des amerikanischjapanischenBündnisses auf gefährliche Weise überschneiden –zöge wahrscheinlich irgendwann, im Sinne einer self-fulfillingprophecy, einen Zusammenstoß mit China nach sich. 31 <strong>Die</strong>Folge davon wäre, daß Japans Emanzipation erschwert und derwirtschaftliche Wohlstand des Fernen Ostens bedroht würde.31 Einige konservative Japaner ließen sich von der Vorstellung einer japanischtaiwanesischenSonderbeziehung verleiten und bildeten 1996 eine “japanischtaiwanesischeParlamentariervereinigung“, um diesem Ziel näherzukommen. Chinareagierte darauf, wie vorauszusehen, feindselig.


264 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Aus demselben Grund befürworten nur wenige das Gegenteil:eine große Übereinkunft zwischen Japan und China. Einesolch klassische Umkehrung der Bündnisse brächte die ganzeRegion zu sehr aus dem Gleichgewicht: Zögen sich die USAaus Fernost zurück und gerieten Taiwan wie auch Korea unterchinesische Herrschaft, wäre Japan auf Gedeih und Verderb derGnade Chinas ausgeliefert. <strong>Die</strong>s ist keine reizvolle Aussicht,außer vielleicht für ein paar Extremisten. Da Rußland geopolitischan den Rand gedrängt wurde und von jeher in Japankeine große Achtung genießt, gibt es mithin keine Alternativezu dem Grundkonsens, daß die Bindung an Amerika Japanszentrale Lebensader bleibt. Ohne sie kann Japan weder seineÖlversorgung sicherstellen noch sich gegen eine <strong>einzige</strong> chinesische(und vielleicht bald schon auch eine koreanische)Atombombe schützen. Im Grunde kann es der japanischenPolitik nur darum gehen, sich des Verhältnisses zu den USAzum optimalen Nutzen des Landes zu bedienen.Demgemäß erklärten sich die Japaner einverstanden, alsAmerika eine Verbesserung der militärischen Zusammenarbeitzwischen beiden Ländern verlangte, und stimmten aucheiner scheinbaren Erweiterung seines Geltungsbereichs von»Fernost« auf »asiatisch-pazifisch« zu. Anfang 1996 erweitertedie japanische Regierung bei ihrer Überprüfung dersogenannten japanisch-amerikanischen Verteidigungsrichtlinienden Passus über den möglichen Einsatz japanischerVerteidigungsstreitkräfte von in »fernöstlichen Notfällen«zu »Notfälle in Japans Nachbarregionen«. Hinter der japanischenBereitschaft, Amerika in diesem Punkt entgegenzukommen,standen auch latente Zweifel an dem langfristigenStehvermögen der USA in Asien sowie die Sorge, daß ChinasAufstieg – und Amerikas offensichtliche Besorgnis darüber– Japan irgendwann in der Zukunft vor die inakzeptable Wahlstellen könnte: mit Amerika gemeinsame Sache gegen China


Der Fernöstliche Anker 265zu machen oder ohne Amerika und mit China verbündet zusein. Für Japan enthält dieses grundlegende Dilemma auch einhistorisches Gebot: Da es unrealistisch ist, eine beherrschendeMachtposition in der Region anzustreben und der Aufstieg zueiner wirklichen <strong>Weltmacht</strong> eine regionale Basis unabdingbarvoraussetzt, kann Japan folglich den Status einer globalenFührungsmacht am ehesten dann erlangen, wenn es sich aktivan der globalen Friedenssicherung und Wirtschaftsförderungbeteiligt. Indem es das amerikanisch-japanische Militärbündnisdazu nutzt, die Stabilität im Fernen Osten zu sichern – aberohne es zu einer Anti-China-Koalition werden zu lassen –‚ kannJapan sich, als die Macht, die dafür sorgt, daß die internationaleZusammenarbeit durch die Schaffung effektiver Institutionenverbessert und ausgedehnt wird, in aller Ruhe einer neuen,weltweit einflußreichen Aufgabe widmen. Japan könnte somitzu einem viel mächtigeren und weltweit einflußreicherenÄquivalent Kanadas werden: ein Staat, der geachtet wird, weiler seinen Reichtum und seine Macht zu konstruktiven Zweckenverwendet, aber keine Ängste und Ressentiments auslöst.Amerikas Anpassung an die geopolitische LageAufgabe amerikanischer Politik sollte es sein sicherzustellen,daß Japan eine solche Wahl trifft und daß Chinas Aufstiegzur bestimmenden Größe in der Region ein solides dreiseitigesMachtgleichgewicht in Ostasien nicht ausschließt. Das Bemühen,sowohl mit Japan als auch mit China zurechtzukommenund ein tragfähiges Dreiecksverhältnis aufrechtzuerhalten,das auch Amerika miteinbezieht, wird das diplomatische


266 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Geschick und die politische Phantasie der Amerikaner auf eineharte Probe stellen. Eine Politik, die sich nicht mehr auf dieBedrohung fixiert, die Japans wirtschaftlicher Höhenflug angeblichdarstellt, und die Ängste vor Chinas politischer Machtablegt, könnte zu einem kühlen Realismus finden und sorgfältigestrategische Überlegungen anstellen, wie sich Japans Energie indie internationale Richtung lenken und Chinas Macht auf eineregionale Übereinkunft hinsteuern läßt.Nur so wird Amerika in der Lage sein, im Osten deseurasischen Festlands ein geopolitisch ebenbürtiges Äquivalentzu Europa an der westlichen Peripherie zu schaffen, das heißteine regionale Machtstruktur, die auf gemeinsamen Interessender Beteiligten beruht. Doch ein demokratischer Brückenkopfauf dem östlichen Festland wird noch auf sich warten lassen.Solange muß in Fernost das neugestaltete Bündnis mit Japan auchals Basis für eine gütliche Einigung Amerikas mit einem regionalbestimmenden China dienen.Aus den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels ergebensich für die USA mehrere wichtige geostrategischeSchlußfolgerungen:<strong>Die</strong> derzeit herrschende Einsicht, daß China die nächste<strong>Weltmacht</strong> ist, erzeugt paranoide Ängste vor China und nährt inChina Größenwahn. Ängste vor einem aggressiven und feindlichenChina, das dazu ausersehen ist, in Kürze die nächste <strong>Weltmacht</strong> zuwerden, sind bestenfalls verfrüht und können sich schlimmstenfallszu einer selffulfilling prophecy auswachsen. Folglich wäre eskontraproduktiv, wollte man eine Koalition auf die Beine stellen,die Chinas Aufstieg zur <strong>Weltmacht</strong> verhindern soll. Damit würdeman nur erreichen, daß ein in der Region einflußreiches China einefeindselige Haltung einnähme. Zugleich würde jeder derartigeVersuch das amerikanisch-japanische Verhältnis belasten, dadie meisten Japaner wahrscheinlich gegen eine solche Koalitionwären. Daher sollte Amerika aufhören, Japan zur Übernahme


Der Fernöstliche Anker 267größerer Verantwortung im asiatisch-pazifischen Raum zudrängen. Bemühungen in dieser Richtung hemmen lediglichdas Entstehen eines stabilen Verhältnisses zwischen Japanund China, während sie Japan noch weiter in der Region isolieren.Aber gerade weil China wohl nicht so schnell eine<strong>Weltmacht</strong> werden dürfte – und schon deshalb wäre es unklug,eine Politik der regionalen Eindämmung Chinas zu verfolgen–‚ sollte es als wichtiger Akteur auf der internationalen Bühnebehandelt werden. Bezieht man China in weitere internationaleZusammenarbeit mit ein und billigt man ihm den Status, nachdem es strebt, zu, so könnte man damit vielleicht seinem nationalenEhrgeiz die Spitze nehmen. Ein wichtiger Schritt indiese Richtung wäre es, wenn man China bei dem jährlichenGipfel der führenden Wirtschaftsnationen, den erweiterten G7-Staaten, hinzuzöge.Allem Anschein zum Trotz hat China im Grunde keinegroßen strategischen Optionen. Sein anhaltender wirtschaftlicherErfolg ist weiterhin stark auf Kapital und Technologieaus dem Westen sowie auf den Zugang zu ausländischenMärkten angewiesen, und dies schränkt Chinas Möglichkeitendrastisch ein. Ein Bündnis mit einem instabilen und verarmtenRußland würde Chinas wirtschaftliche und geopolitischeAussichten nicht verbessern (und für Rußland Unterordnungunter China bedeuten). Es bietet daher keine realistischeLösung, obgleich es aus taktischen Gründen für beide Länderverlockend sein mag, mit diesem Gedanken zu spielen.Unmittelbarere regionale und geopolitische Bedeutung hatfür China die Hilfe, die es dem Iran und Pakistan zukommenläßt, aber auch das verschafft ihm keinen Ausgangspunktfür ein ernsthaftes Streben nach <strong>Weltmacht</strong>. Eine »antihegemoniale«Koalition könnte ein letzter Ausweg sein, wennChina zu der Auffassung gelangte, daß seine nationalen undregionalen Bestrebungen von den Vereinigten Staaten (mit ja-


268 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>panischer Unterstützung) blockiert werden. Es wäre jedocheine Koalition der Armen, die dann wahrscheinlich für einegeraume Zeit gemeinsam arm blieben. Ein Großchina wird diedominierende Macht in der Region sein. Als solche könnte esversuchen, sich seinen Nachbarn auf eine Weise aufzudrängen,die die Stabilität in der Region zerstört; oder es könnte sichdamit begnügen, seinen Einfluß weniger offen auszuüben, wasseiner imperialen Vergangenheit mehr entspräche. Ob eine hegemonialeEinflußsphäre oder eine offenere Sphäre entsteht, inder jedoch die Nachbarstaaten ihre politischen Entscheidungenmehr oder weniger mit Peking abstimmen, wird zum einen Teildavon abhängen, wie brutal und autoritär das chinesische Regimebleibt, und zum anderen Teil von der Art, in der die wichtigstenAkteure außerhalb, nämlich Amerika und Japan, auf dasEntstehen eines Großchina reagieren. Eine Politik der einfachenBefriedung könnte China zu einer anmaßenderen Haltungermuntern; das gleiche Ergebnis aber würde wahrscheinlicheine Politik zeitigen, die das Entstehen eines solchen China nurhintertreibt. Durch eine vorsichtige Einigung in einigen strittigenFragen und eine scharfe Abgrenzung in anderen würdenvielleicht beide Extreme vermieden.Auf jeden Fall könnte ein Großchina in einigen GebietenEurasiens einen geopolitischen Einfluß ausüben, der mitAmerikas hochfliegendem geostrategischen Interesse an einemstabilen, aber politisch pluralistischen Eurasien vereinbarist. So schränkt beispielsweise das wachsendes InteresseChinas an Zentralasien Rußland in seiner Handlungsfreiheitzwangsläufig bei dem Versuch ein, die Region in irgendeinerForm von politischer Reintegration wieder unter seine Kontrollezu bringen. Chinas steigender Energiebedarf diktiertihm in diesem Zusammenhang und in bezug auf den PersischenGolf wegen der Aufrechterhaltung freier Zugänge zuund politischer Stabilität in den Erdölgebieten mit Amerika


Der Fernöstliche Anker 269an einem Strang zu ziehen. Auf ähnliche Weise schiebt Chinamit seiner Unterstützung für Pakistan Indiens Ehrgeiz einenRiegel vor, sich dieses Land zu unterwerfen, und schafft damitein Gegengewicht zu Indien, das im Hinblick auf Afghanistanund Zentralasien mit Rußland gerne zusammenarbeiten würde.Zur regionalen Stabilität kann schließlich beitragen, mitwenn China und Japan sich an der Erschließung Ostsibiriensbeteiligen. Alle diese gemeinsamen Interessen sollten in einemanhaltenden strategischen Dialog ausgelotet werden. 32Es gibt auch Gebiete, wo die Bestrebungen Chinas mitamerikanischen (und ebenso japanischen) Interessen vor allemdann kollidieren könnten, wenn jene mit einer aus derVergangenheit wohlvertrauten Politik der Härte verfochtenwerden sollten. <strong>Die</strong>s gilt insbesondere für Südostasien, Taiwanund Korea.Südostasien ist potentiell zu reich, geographisch zu ausgedehnt,einfach zu groß, um sich selbst von einem mächtigenChina ohne weiteres unterjochen zu lassen – aber esist auch zu schwach und politisch zu zerstückelt, um davorgefeit zu sein, in den Sog Pekings zu geraten. Chinas regionalerEinfluß, dem die Finanz- und Wirtschaftsmacht derAuslandschinesen in allen Ländern des asiatischpazifischenRaums noch dazu Vorschub leistet, wird stetig zunehmen.Viel hängt davon ab, wie China diese Macht handhabt, aberes versteht sich durchaus nicht von selbst, daß Amerika ein32 Bei einem Treffen mit Chinas Topfunktionären für Fragen der nationalenSicherheit und Verteidigung 1996 nannte ich (gelegentlich unter Verwendung bewußtvager Formulierungen) die folgenden Gebiete gemeinsamen strategischen Interesses alsgrundlegend für einen solchen Dialog: 1) ein friedliches Südostasien; 2) kein Einsatzvon Gewalt in der Resolution von „offshore-Fragen“ 3) friedliche WiedervereinigungChinas; 4) Stabilität in Korea; 5) Unabhängigkeit Zentralasiens; 6) Gleichgewichtzwischen China und Pakistan; 7) ein wirtschaftlich dynamisches und internationalgutartiges Japan; 8) ein stabiles, aber nicht zu starkes Rußland.


270 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>besonderes Interesse hat, sich ihr direkt zu widersetzen odersich in Probleme, wie den Streit um das SüdchinesischeMeer, hineinziehen zu lassen. <strong>Die</strong> Chinesen haben historischeErfahrung im raffinierten Umgang mit ungleichen (oder auchtributpflichtigen) Beziehungen, und es wäre bestimmt fürChina von Vorteil, sich in Selbstbeherrschung zu üben, umregionale Ängste vor chinesischem Imperialismus zu vermeiden.<strong>Die</strong>se Furcht könnte eine regionale Anti-China-Koalitionhervorbringen (und einige derartige Untertöne sind in der imEntstehen begriffenen militärischen Zusammenarbeit zwischenIndonesien und Australien durchaus vorhanden), die dannhöchstwahrscheinlich bei den Vereinigten Staaten, Japan undAustralien um Unterstützung nachsuchen würde.Ein Großchina wird, nachdem es Hongkong verdaut hat,mit ziemlicher Sicherheit energisch auf eine WiedervereinigungTaiwans mit dem Festland hinarbeiten. Man darf nichtvergessen, daß China nie in eine endgültige Trennung Taiwanseingewilligt hat. Daher könnte diese Frage irgendwann einmaleine direkte Konfrontation zwischen Amerika und Chinaheraufbeschwören, mit fatalen Konsequenzen für alle Beteiligten:China würde wirtschaftlich zurückgeworfen, AmerikasBeziehungen zu Japan könnten ernsthaft belastet werden, unddie Bemühungen der USA, im östlichen Eurasien ein stabilesMachtgleichgewicht zu schaffen, könnten scheitern.Folglich müssen beide Seiten über dieses Problem äußersteKlarheit erzielen. Obwohl es China wahrscheinlich in absehbarerZeit an den nötigen Mitteln fehlen wird, Taiwan wirksamunter Druck zu setzen, muß Peking wissen – und glaubhaftüberzeugt werden –‚ daß eine amerikanische Einwilligung inden Versuch der gewaltsamen Wiedereingliederung Taiwansfür das Ansehen der USA in Fernost so verheerend wäre, daßdiese es sich einfach nicht leisten könnten, militärisch passivzu bleiben, sollte sich Taiwan nicht selbst schützen können.


Der Fernöstliche Anker 271Mit anderen Worten, Amerika würde nicht einem eigenständigenTaiwan zuliebe eingreifen müssen, sondern wegen seiner eigenengeopolitischen Interessen im asiatisch-pazifischen Raum. <strong>Die</strong>sist ein wichtiger Unterschied. <strong>Die</strong> Vereinigten Staaten haben perse kein besonderes Interesse an einem eigenständigen Taiwan.Tatsächlich lautete ihre offizielle Position (und daran sollte sichauch nichts ändern), daß es nur ein China gibt. Aber wie Chinaeine Wiedervereinigung betreibt, kann die vitalen InteressenAmerikas tangieren, und darüber müssen sich die Chinesen imklaren sein.Das Taiwan-Problem verschafft Amerika außerdem einenlegitimen Grund, in Verhandlungen mit China die Frage nachden Menschenrechten zu stellen, ohne sich den Vorwurf gefallenlassen zu müssen, es mische sich in Chinas innenpolitischeAngelegenheiten ein. Es ist absolut angebracht, Peking gegenüberständig zu wiederholen, daß eine Wiedervereinigung erst zustandekommen wird, wenn es der chinesischen Bevölkerung materiellbesser geht und demokratische Reformen stattgefunden haben.Nur ein China, das auch bereit ist, eine auf dem Grundsatz »einLand, verschiedene Systeme« basierende Konföderation zu werden,wird für Taiwan attraktiv sein und dieses assimilieren können.Taiwans wegen ist es auf jeden Fall in Chinas eigenem Interesse,den Menschenrechten mehr Achtung einzuräumen und in diesemZusammenhang sollte Amerika das Thema durchaus ansprechen.Gleichzeitig sollten sich die Vereinigten Staaten – im Einklangmit ihrem China gegebenen Versprechen – des direktenoder indirekten Eintretens für eine internationale Aufwertungdes taiwanesischen Sonderstatus enthalten. In den neunzigerJahren erweckten offizielle Kontakte zwischen den USA undTaiwan den Eindruck, als begännen die USA stillschweigend,Taiwan als eigenen Staat zu behandeln, und der ÄrgerChinas darüber war ebenso verständlich wie sein Unmutüber die verstärkten Bemühungen taiwanesischer Regie-


272 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>rungskreise, dem Sonderstatus Taiwans internationale Anerkennungzu verschaffen.<strong>Die</strong> Vereinigten Staaten sollten daher ruhig deutlich machen,daß taiwanesische Versuche, die seit langem das Verhältniszwischen China und Taiwan prägende Politik in der Schwebezu ändern, sich auf Washingtons Haltung gegenüber Taiwannegativ auswirken werden. Wenn China prosperiert und zurDemokratie findet und wenn seine Einverleibung Hongkongsnicht zu einer Rückentwicklung in der Menschenrechtsfrageführt, würden die USA mit einem von ihnen angeregtenernsthaften Dialog zwischen Peking und Taipeh über dieBedingungen einer Wiedervereinigung zudem Druck auf einefortschreitende Demokratisierung innerhalb Chinas ausübenund wären somit einer umfassenderen strategischen Einigungmit einem Großchina förderlich.Korea, der geopolitische Dreh- und Angelpunkt in Nordostasien,könnte erneut zum Zankapfel zwischen Amerika undChina werden, und außerdem wird seine Zukunft unmittelbareAuswirkungen auf das amerikanisch-japanische Verhältnis haben.Solange Korea geteilt und anfällig für einen Krieg zwischen deminstabilen Nordkorea und dem immer reicher werdenden Südenist, werden US-Streitkräfte auf der Halbinsel stationiert bleibenmüssen. Jeder einseitige Abzug der USA würde wahrscheinlichnicht nur einen neuen Krieg heraufbeschwören, sondern wohlauch das Ende der amerikanischen Militärpräsenz in Japan einläuten.Es ist schwer vorstellbar, daß sich die Japaner noch viel voneinem weiteren US-Truppenkontingent auf japanischem Bodenversprechen, wenn die Amerikaner Südkorea aufgegeben haben.Eine rasche Aufrüstung Japans wäre die wahrscheinlichste Folge,mit destabilisierendem Effekt für die gesamte Region.Koreas Wiedervereinigung dürfte jedoch ernste geopolitischeProbleme aufwerfen. Sollten amerikanische Streitkräftein einem wiedervereinigten Korea stationiert bleiben, würden


Der Fernöstliche Anker 273die Chinesen sie unweigerlich als gegen ihr Land gerichtetbetrachten. Ob die Chinesen unter diesen Umständen in eineWiedervereinigung einwilligen würden, ist zweifelhaft. Fallsdiese Wiedervereinigung sich schrittweise, gewissermaßenals weiche Landung, vollzieht, würde China sie politisch hintertreibenund jene Kräfte in Nordkorea unterstützen, die sichbeharrlich gegen eine Wiedervereinigung sträuben. Sollte dieWiedervereinigung gewaltsam erfolgen und Korea dabei eineBruchlandung erleben, könnte selbst eine militärische Interventionder Chinesen nicht ausgeschlossen werden. Aus derSicht Pekings wäre ein wiedervereinigtes Korea nur dann hinnehmbar,wenn es nicht gleichzeitig eine direkte Verlängerungamerikanischer Macht wäre (mit Japan als dem Sprungbrett imHintergrund).Ein wiedervereinigtes Korea, in dem keine US-Truppenmehr stationiert wären, würde vermutlich zunächst zu einer ArtNeutralität zwischen China und Japan tendieren und hieraufallmählich – teils aufgrund noch immer in Resten vorhandenerstarker antijapanischer Vorurteile – ins Magnetfeld Chinas, dasheißt entweder direkt unter den politischen Einfluß Pekings oderaber in ein indirektes Abhängigkeitsverhältnis geraten. Es erhöbesich dann die Frage, ob Japan immer noch willens wäre, den USAals <strong>einzige</strong>r Militärstützpunkt in Asien zu dienen. Zumindestwürde diese Frage das Land innenpolitisch spalten. Jeder darausresultierende militärische Rückzug der USA aus Fernosthätte umgekehrt eine Gefährdung des Machtgleichgewichts inEurasien zur Folge. Aufgrund dieser Überlegungen sind Japanund Amerika um so mehr daran interessiert (wenn auch aus jeweilsetwas anderen Gründen), daß sich am Status quo Koreasnichts ändert, und wenn es dennoch zu einer solchen Änderungkommen sollte, so muß diese in sehr langsamen Schrittenerfolgen, vorzugsweise im Rahmen einer zunehmendenamerikanischchinesischen Einigung über regionale Belange.


274 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>In der Zwischenzeit würde eine echte Aussöhnung zwischenJapan und Korea entscheidend zu einem stabileren regionalenUmfeld beitragen, das einer Wiedervereinigung des geteiltenLandes zugute käme. Eine echte Versöhnung zwischenJapan und Korea würde die verschiedenen internationalenKomplikationen, die aus einer koreanischen Wiedervereinigungerwachsen könnten, mildern und zu einer zunehmend kooperativenund verbindlichen politischen Beziehung führen. <strong>Die</strong> USAkönnten eine ganz entscheidende Rolle beim Zustandekommeneiner solchen Versöhnung spielen. <strong>Die</strong> vielen einzelnenSchritte, die zuerst die deutsch-französische Aussöhnung undspäter die zwischen Deutschland und Polen vorangebracht (zumBeispiel vom akademischen Austausch bis hin zu gemeinsamenMilitärverbänden) haben, könnten auch hier unternommen werden.Eine umfassende und sich auf die regionale Stabilität positivauswirkende japanisch-koreanische Partnerschaft wiederumwürde eine ständige Präsenz der USA im Fernen Osten, selbstnach einer Wiedervereinigung Koreas, erleichtern.Es erübrigt sich fast zu erwähnen, daß ein enges politischesVerhältnis zu Japan im globalen geostrategischen InteresseAmerikas liegt. Aber ob Japan der Vasall, Gegner oder PartnerAmerikas sein wird, hängt davon ab, ob Amerikaner undJapaner in der Lage sind, die von beiden Ländern gemeinsamzu verfolgenden internationalen Ziele deutlicher herauszuarbeiten,und ob sie klarer bestimmen können, wo die Grenzliniezwischen der geostrategischen Mission der USA in Fern-Ostund Japans Streben nach Weltgeltung verläuft. Trotz der imLande geführten Debatten über die japanische Außenpolitikbleibt für Japan die Beziehung zu Amerika das Leuchtfeuer,nach dem es sich international orientiert. Ein desorientiertesJapan, das zwischen Wiederaufrüstung oder einemSonderabkommen mit China schwankt, bedeutete das Endeder amerikanischen Rolle im asiatischpazifischen Raum und


Der Fernöstliche Anker 275verhinderte das Entstehen einer regional stabilen Dreiecks-Vereinbarung zwischen Amerika, Japan und China; damitwäre auch der Plan der USA, in Eurasien ein politischesGleichgewicht herzustellen, hinfällig.Kurz: ein desorientiertes Japan wäre einem gestrandetenWal vergleichbar: der hilflos, aber gefährlich um sich schlägt.Es könnte Asien destabilisieren, aber es könnte keine realistischeAlternative zu der notwendigen stabilisierenden Balancezwischen Amerika, Japan und China anbieten. Nur in einerengen Allianz mit Japan werden die USA Chinas regionaleBestrebungen ausgleichen und deren willkürlichere Auswüchsezügeln können. Allein auf dieser Basis kann eine komplizierte,dreiseitige Vereinbarung zustande kommen –eine, die Amerikas<strong>Weltmacht</strong>, Chinas Übergewicht in der Region und Japans internationaleFührungsrolle berücksichtigt.Folglich ist ein Abbau der derzeitigen Truppenstärkein Japan (und um Korea erweitert) in nächster Zeit nichtwünschenswert. Aus demselben Grund allerdings ist eine erklecklicheErweiterung der geopolitischen Ausdehnung undeine Erhöhung der tatsächlichen militärischen Schlagkraft Japansnicht erstrebenswert. Ein Rückzug Amerikas hätte sehrwahrscheinlich ein größeres japanisches Rüstungsprogrammvor dem Hintergrund einer beunruhigenden strategischenDesorientierung zur Folge. Der Druck Amerikas auf Japan, einegrößere militärische Rolle zu übernehmen, kann hingegen nurdie Aussichten auf regionale Stabilität beschädigen, eine umfassendereregionale Einigung mit Großchina erschweren undJapan davon abbringen, eine konstruktivere Aufgabe auf internationalerEbene zu übernehmen und hierdurch die Bemühung,einen stabilen geopolitischen Pluralismus in ganz Eurasien zufördern, komplizieren.Des weiteren folgt daraus, daß Japan – wenn es sich derWelt zu und von Asien abwenden soll – einen sinnvollen An-


276 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>reiz und einen Sonderstatus erhalten muß, damit auch seinennationalen Interessen gedient ist. Im Unterschied zu China, dasden Status einer <strong>Weltmacht</strong> anstreben kann, nachdem es eineregionale Macht geworden ist, kann Japan weltweiten Einflußerlangen, indem es das Streben nach regionaler Macht aufgibt.Dadurch wird es aber für Japan um so wichtiger, sich an derSeite Amerikas einer auf politischem Gebiet ebenso befriedigendenwie auf wirtschaftlichem Gebiet segensreichen globalenAufgabe zu widmen. Mit Hinblick darauf täten die USA gutdaran, ein amerikanisch-japanisches Freihandelsabkommen inErwägung zu ziehen, mit dem ein gemeinsamer amerikanisch-japanischerWirtschaftsraum geschaffen würde. Einsolcher Schritt, der die wachsende Verkettung der beidenVolkswirtschaften formalisiert, würde sowohl die ständigePräsenz Amerikas im Fernen Osten als auch Japans weltweiteskonstruktives Engagement untermauern. 33Um zum Schluß zu kommen: Japan sollte für Amerika derunerläßliche und vorrangige Partner beim Aufbau einer immerumfassenderen und alle Lebensbereiche durchdringenden globalenZusammenarbeit sein, aber nicht in erster Linie ihr militärischerVerbündeter in einem regionalen Abkommen, das esdarauf anlegt, Chinas regionale Vormachtstellung anzufechten.In Wirklichkeit sollte Japan Amerikas globaler Partner sein, dermit ihm das neue Programm der Weltpolitik in Angriff nimmt.In der traditionellen Sphäre der Machtpolitik sollte ein regionalherausragendes China Amerikas fernöstlicher Anker werdenund. dadurch ein eurasisches Machtgleichgewicht befördernhelfen, wobei Großchinas Rolle im Osten Eurasiens der einesgrößer werdenden Europa in Eurasiens Westen entspricht.33 Für diese Initiative hat sich besonders Kurt Tong stark gemacht, der in„Revo1utionazing America‘s Japan Policy’s“ Foreign Policy (Winter 1996–1997) aufdie gegenseitigenWirtschaftsvorteile hinwies.


.7SCHLUSSFOLGERUNGENEs ist an der Zeit, daß Amerika eine einheitliche, umfassendeund langfristige Geostrategie für Eurasien als Ganzes formuliertund verfolgt. <strong>Die</strong>se Notwendigkeit ergibt sich aus demZusammenwirken zweier grundlegender Faktoren: Amerika istheute die <strong>einzige</strong> Supermacht auf der Welt, und Eurasien ist derzentrale Schauplatz. Von daher wird die Frage, wie die Machtauf dem eurasischen Kontinent verteilt wird, für die globaleVormachtstellung und das historische Vermächtnis Amerikasvon entscheidender Bedeutung sein. Amerikas globaleVorherrschaft ist in ihrer Ausdehnung und in ihrer Art einzigartig.Sie ist eine Hegemonie neuen Typs, die viele Merkmale deramerikanischen Demokratie widerspiegelt: sie ist pluralistisch,durchlässig und flexibel. In weniger als einem Jahrhundert zustandegekommen, zeigt sie sich vor allem in der beispiellosenRolle Amerikas auf der eurasischen Landmasse, wo bisheralle früheren Konkurrenten um die <strong>Weltmacht</strong> ihren Ursprunghatten. Amerika ist nun der Schiedsrichter Eurasiens, und keingrößeres eurasisches Problem läßt sich ohne die Beteiligungder USA oder gegen ihre Interessen lösen.Ausschlaggebend für die Dauer und Stabilität der amerikanischen<strong>Weltmacht</strong>stellung wird sein, wie die Vereinigten


278 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Staaten die wichtigsten geostrategischen Spieler auf dem eurasischenSchachbrett einerseits steuern und ihnen andererseitsentgegenkommen, und wie sie mit den entscheidenden geopolitischenDreh- und Angelpunkten umzugehen verstehen. InEuropa werden Deutschland und Frankreich auch weiterhin dieSchlüsselfiguren sein, und Amerika sollte sich bemühen, denbestehenden demokratischen Brückenkopf an der westlichenPeripherie Eurasiens zu festigen und zu erweitern. Im FernenOsten Eurasiens wird wahrscheinlich China immer starker in denMittelpunkt des Geschehens treten, und Amerika wird auf demasiatischen Festland politisch nicht Fuß fassen können, wenn esnicht erfolgreich auf einen geostrategischen Konsens mit Chinahinarbeitet. In der Mitte Eurasiens wird der Raum zwischen einemsich erweiternden Europa und einem regional aufstrebendenChina geopolitisch solange ein Schwarzes Loch bleiben, wie sichRußland noch zu keiner postimperialen Selbstdefinition durchgerungenhat, während die Region südlich von Rußland – dereurasische Balkan – ein Hexenkessel ethnischer Konflikte undGroßmacht-Rivalitäten zu werden droht.Vor diesem Hintergrund wird Amerikas Status alsführende <strong>Weltmacht</strong> in absehbarer Zeit – für mehr als eineGeneration – wohl von keinem Herausforderer angefochtenwerden. Kein Nationalstaat dürfte sich mit den USA in denvier Schlüsselbereichen der Macht (militärisch, wirtschaftlich,technologisch und kulturell) messen können, die gemeinsamdie entscheidende globale politische Schlagkraft ausmachen.Außer einer bewußten oder unfreiwilligen Abdankung Amerikasist in absehbarer Zeit die einzig reale Alternative zur globalenFührungsrolle der USA die internationale Anarchie. So gesehen,kann man zu Recht behaupten, daß Amerika, wie PräsidentClinton es ausdrückte, die für die Welt »unentbehrliche Nationist«.Man muß hier dem Faktum der Unentbehrlichkeit das Po-


Schlussfolgerungen 279tential für weltweite Anarchie gegenüberstellen. <strong>Die</strong> verheerendenFolgen der Bevölkerungsexplosion, Armutsmigration,sich rasant beschleunigender Urbanisierung, ethnischerund religiöser Feindseligkeiten und der Verbreitung vonMassenvernichtungswaffen wären nicht zu bewältigen, sollteauch noch das bestehende, auf Nationalstaaten basierendeGrundgerüst rudimentärer geopolitischer Stabilität zu Bruchgehen. Ohne ein abhaltendes und gezieltes EngagementAmerikas könnten bald die Kräfte weltweiter Unordnung dieinternationale Bühne beherrschen. Angesichts der geopolitischenSpannungen, nicht nur im heutigen Eurasien, sondernüberall auf der Welt, ist ein solches Szenario durchaus denkbar.<strong>Die</strong> daraus resultierenden Gefahren für eine globaleStabilität werden durch die Aussicht auf eine allgemeine Verschlechterungder menschlichen Lebensbedingungen nochvergrößert. Vor allem in den ärmeren Ländern der Welt lassenBevölkerungsexplosion und gleichzeitige Verstädterung dasHeer der Benachteiligten und der Abermillionen arbeitsloserund immer unruhiger werdender junger Leute unaufhaltsamanwachsen, deren Frustrationspegel rasend steigt. <strong>Die</strong> modernenMedien verstärken den Bruch, den diese jungen Leutegegenüber traditionellen Autoritäten vollziehen, und führenihnen die krasse Ungleichheit auf der Welt vor Augen. Dasschürt ihren Unmut und macht sie für extremistische Rattenfängeranfällig. Einerseits könnte das Phänomen weltweiterWanderungsbewegungen, die bereits in die zehn Millionengehende Menschen umfaßt, für einige Zeit als Sicherheitsventilwirken, andererseits werden dadurch auch ethnische undsoziale Konflikte von einem Kontinent auf den anderen übertragen.Das Amt des Weltpolizisten, das Amerika geerbt hat, wirddaher kaum von Turbulenzen, Spannungen und zumindest


280 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>sporadischen Gewaltausbrüchen verschont bleiben. <strong>Die</strong> neueund komplexe internationale Ordnung, die unter amerikanischerHegemonie zustande kam und ihre Handschrift trägt, undinnerhalb derer die Kriegsgefahr vom Tisch ist, wird sich wohlauf jene Teile der Welt beschränken, in denen demokratischeGesellschaften und Verfassungen sowie ausgeklügelte multilaterale– doch ebenfalls von Amerika dominierte –Strukturen dieMacht der USA gestützt haben.Eine amerikanische Geostrategie für Asien wird sich folglichgegen die Kräfte des Chaos behaupten müssen. In Europa gibt esAnzeichen dafür, daß der Impuls zu Integration und Erweiterungnachläßt und die alten europäischen Nationalismen bald wiederaufleben könnten. Selbst in den erfolgreichsten europäischenStaaten dauert die Massenarbeitslosigkeit unvermindert an underzeugt ausländerfeindliche Reaktionen, die in der deutschenoder französischen Politik einen plötzlichen Rechtsruck undchauvinistische Tendenzen herbeiführen könnten. Es wäre inder Tat denkbar, daß dort eine vorrevolutionäre Lage entsteht.Der historische Zeitplan für Europa, wie er in Kapitel 3 skizziertwurde, wird nur dann eingehalten werden können, wenndie Vereinigten Staaten Europas Einigungsbestrebungen nachhaltigermuntern, ja sogar anspornen.<strong>Die</strong> Ungewißheiten über die Zukunft Rußlands sind nochgrößer und die Aussichten auf eine positive Entwicklungviel geringer. Darum muß Amerika unbedingt einen geopolitischenRahmen entwerfen, der Rußlands Assimilationan einen von wachsender europäischer Zusammenarbeitgeprägten Hintergrund Rechnung trägt und der außerdem dieselbstbewußte Unabhängigkeit seiner neuerdings souveränenNachbarn fördert. Doch ob die Ukraine oder Usbekistan (garnicht zu reden vom ethnisch zweigeteilten Kasachstan) alsunabhängige Staaten überleben können, bleibt ungewiß, zumalwenn neue Krisen innerhalb Europas, wie etwa die wach-


Schlussfolgerungen 281sende Kluft zwischen der Türkei und der EU oder feindseligerwerdende Töne im amerikanisch-iranischen Verhältnis dieAufmerksamkeit der USA ablenken sollten.<strong>Die</strong> Möglichkeit, daß es schließlich doch zu einer großenEinigung mit China kommt, könnte durch eine zukünftigeTaiwan-Krise zunichte werden oder weil innenpolitischeTurbulenzen ein aggressives, feindseliges Regime in Pekingan die Macht bringen, beziehungsweise weil sich die amerikanisch-chinesischenBeziehungen als Fehlschlag erweisen.China könnte dann zu einer äußerst destabilisierenden Kraftin der Welt werden, das amerikanisch-japanische Verhältnisenorm belasten und vielleicht auch in Japan eine zerrüttendegeopolitische Orientierungslosigkeit auslösen. In einem solchenSzenario wäre zweifellos die Stabilität Südostasiens inGefahr, und man kann nur Vermutungen anstellen, wie sich dasZusammentreffen dieser Ereignisse auf die Haltung und nationaleGeschlossenheit Indiens auswirken würde, einem für dieStabilität Südasiens entscheidenden Land.<strong>Die</strong>se Bemerkungen sollen vor Augen führen, daß weder dieneuen globalen Probleme, die die Zuständigkeit der einzelnenNationalstaaten übersteigen, noch die herkömmlichen geopolitischenAngelegenheiten gelöst oder auch nur in Grenzen gehaltenwerden können, falls die geopolitischen Grundstrukturenzu bröckeln beginnen. In Anbetracht des Wetterleuchtens ampolitischen Horizont Europas und Asiens muß sich jede erfolgreicheamerikanische Politik auf Eurasien als Ganzes konzentrierenund sich von einem geostrategischen Plan leiten lassen.Eine Geostrategie für Eurasien<strong>Die</strong> hierfür erforderliche Politik muß zuallererst die dreibislang nie dagewesenen Bedingungen ungeschminkt zur


282 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Kenntnis nehmen, von denen das Weltgeschehen geopolitischderzeit bestimmt wird: zum ersten Mal in der Geschichte ist (1)ein einzelner Staat die wirkliche <strong>Weltmacht</strong>, hat (2) ein außereurasischerStaat weltweit diese Vormachtstellung inne und wird (3)der zentrale Schauplatz der Welt, Eurasien, von einer außereurasischenMacht dominiert.Eine umfassende und einheitliche Geostrategie für Eurasienmuß allerdings auf der Einsicht gründen, daß auch derMacht Amerikas Grenzen gesetzt sind und daß mit der ZeitVerschleißerscheinungen unvermeidlich sind. Wie schon erwähnt,setzen allein die schiere Größe und Vielfalt Eurasiens wieauch die potentielle Macht einiger seiner Staaten dem EinflußAmerikas und dem Ausmaß seiner Kontrolle über den Gang derEreignisse Grenzen. <strong>Die</strong>ser Umstand erfordert geostrategischesVerständnis und den bewußt selektiven Einsatz amerikanischerRessourcen auf dem riesigen eurasischen Schachbrett. Und da diebeispiellose Macht der USA mit der Zeit notgedrungen abnimmt,muß es in erster Linie darum gehen, mit dem Aufkommen andererregionaler Mächte so zurechtzukommen, daß Amerikas globaleVormachtstellung nicht bedroht wird.Wie beim Schach müssen Amerikas globale Strategen etlicheZüge im voraus durchdenken und mögliche Züge des Gegnersvorwegnehmen. Eine konsequente Geostrategie muß daher zwischenkurzfristiger Perspektive (grob gesagt, für die nächstenfünf Jahre), einer mittelfristigen (bis zu zwanzig Jahren in etwa)und einer langfristigen (über zwanzig Jahre hinaus) Perspektiveunterscheiden. Zudem dürfen diese Zeitabschnitte nicht als insich abgeschlossen betrachtet werden, sondern als Teil einesKontinuums. <strong>Die</strong> erste Phase muß allmählich und stetig in diezweite überleiten – ja, muß bewußt auf sie ausgerichtet sein –‚und die zweite muß entsprechend in die dritte übergehen.Kurzfristig ist es in Amerikas Interesse, den derzeit herrschendenPluralismus auf der Landkarte Eurasiens zu festigen


Schlussfolgerungen 283und fortzuschreiben. <strong>Die</strong>s erfordert ein hohes Maß anTaktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalitionzustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung inFrage stellen könnte, ganz abgesehen davon, daß dies einemeinzelnen Staat so schnell nicht gelänge. Mittelfristig solltedie eben beschriebene Situation allmählich einer anderenweichen, in der auf zunehmend wichtigere, aber strategischkompatible Partner größeres Gewicht gelegt wird, die,veranlaßt durch die Führungsrolle Amerikas, am Aufbau eineskooperativeren transeurasischen Sicherheitssystems mitwirkenkönnen. Schließlich, noch längerfristiger gedacht, könnte sichaus diesem ein globaler Kern echter gemeinsamer politischerVerantwortung herausbilden.Zunächst besteht die Aufgabe darin sicherzustellen, daßkein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt,die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oderauch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.<strong>Die</strong> Festigung des transkontinentalen geopolitischenPluralismus sollte jedoch nicht Selbstzweck sein, sondern nurdem mittelfristigen Ziel, echte strategische Partnerschaften inden Schlüsselregionen Eurasiens zu bilden, dienen. Es ist nichtanzunehmen, daß ein demokratisches Amerika sich auf Dauerder schwierigen, aufreibenden und kostspieligen Aufgabe zuwidmen gewillt sein wird, Eurasien durch dauerndes Taktierenund Manipulieren in den Griff zu bekommen, und dabei weltweitseine militärischen Ressourcen einsetzt, um die regionaleDominanz irgendeiner Macht zu verhindern. <strong>Die</strong> erste Phasemuß daher logisch und planvoll in die zweite überleiten, einePhase, in der eine friedliche Hegemonie der USA andere auchweiterhin davon abhält, diese in Frage zu stellen, weil zumeinen der Preis, den sie dafür bezahlen müßten, zu hoch istund zum andern Amerika die vitalen Interessen derer, die inEurasien regionale Zielsetzungen verfolgen, nicht bedroht.


284 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Mittelfristig geht es darum, echte Partnerschaften zu fördern,allen voran jene mit einem geeinteren und politisch klarerdefinierten Europa und mit einem regional beherrschendenChina, sowie mit (so ist zu hoffen) einem postimperialen undnach Europa hin orientierten Rußland und am südlichen RandEurasiens mit einem, auf die Region stabilisierend wirkenden,demokratischen Indien. Aber wie das Umfeld aussehen wird,das Rußlands Rolle bestimmt, hängt davon ab, ob es gelingt,umfassendere strategische Beziehungen mit Europa beziehungsweiseChina zu schmieden oder nicht.Daraus folgt, daß ein größeres Europa und eine erweiterteNATO den kurz- und längerfristigen Zielen der US-Politikdurchaus dienlich sind. Ein größeres Europa wird den EinflußbereichAmerikas erweitern – und mit der Aufnahmeneuer Mitglieder aus Mitteleuropa in den Gremien der EuropäischenUnion auch die Zahl der Staaten erhöhen, die denUSA zuneigen –‚ ohne daß ein politisch derart geschlossenesEuropa entsteht, das bald schon die Vereinigten Staaten in fürsie bedeutsamen geopolitischen Belangen anderswo, insbesondereim Nahen Osten, herausfordern könnte. Ein politischklar definiertes Europa ist nicht zuletzt für die fortschreitendeEinbindung Rußlands in ein System globaler Zusammenarbeitunverzichtbar.Amerika kann allein kein geeinteres Europa schaffen – dasist Sache der Europäer, allen voran der Franzosen und Deutschen–‚ Amerika kann aber das Entstehen eines geeinterenEuropa behindern. Und dies könnte sich für die Stabilität inEurasien und somit für Amerikas eigene Interessen als fatalerweisen. In der Tat droht Europa, wenn es nicht zu einerEinheit kommt, wieder zu zerfallen. Folglich ist es, wie obendargelegt, lebenswichtig, daß Amerika sowohl mit Deutschlandals auch mit Frankreich eng zusammen-arbeitet, auf einpolitisch lebensfähiges Europa hin, das gleichwohl mit den


Schlussfolgerungen 285USA verbunden bleibt und den Geltungsbereich des internationalenSystems demokratischer Zusammenarbeit ausdehnt.Ohne Europa wird es kein transeurasisches System geben.Praktisch heißt das: Es muß allmählich eine Übereinkunftüber eine gemeinsame Führung in der NATO erzielt, FrankreichsInteresse an einer Rolle Europas nicht nur in Afrika,sondern auch im Nahen Osten stärker berücksichtigt undeine Osterweiterung der EU anhaltend unterstützt werden,selbst wenn die EU ein politisch wie wirtschaftlich selbstbewußtererglobal player werden sollte. 34 Ein transatlantischesFreihandelsabkommen, das bereits eine Reihe prominenterStaatsmänner des Atlantischen Bündnisses befürworten, könnteaußerdem das Risiko verringern, daß es auf wirtschaftlichemGebiet zu immer stärkerenRivalitäten zwischen einer geeinteren EU und den VereinigtenStaaten kommt. Wenn es der EU schließlich gelänge, die jahrhundertealtennationalstaatlichen Feindseligkeiten mit all ihrennegativen Folgen für die Welt zu begraben, könnte Amerikadafür durchaus in Kauf nehmen, daß seine Schiedsrichterrollein Eurasien nach und nach an Bedeutung verliert.<strong>Die</strong> Erweiterung von NATO und EU hätte wohl überdieszur Folge, daß die Europäer sich wieder stärker ihrer Verantwortungfür die Welt bewußt werden, und zugleich, zumNutzen Amerikas wie Europas, die durch die erfolgreiche34 Eine Reihe konstruktiver Vorschläge zu diesem Zweck wurden auf der CISS(Center for International Strategic Studies) Konferenz über Amerika und Europagemacht, die im Februar 1997 in Brüssel stattfand. Sie reichten von gemeinsamenBemühungen um eine Strukturreform zur Reduzierung der Staatsdefizite bis hin zurEntwicklung einer verbesserten europäischen militärisch-industriellen Basis, die dietransatlantische Verteidigungskooperation stärken und eine größere Rolle Europas inder NATO ermöglichen würde. Eine nützliche Liste ähnlicher und anderer Initiativen,die auf eine Stärkung der Rolle Europas abzielen, findet sich in David C. Gompert undE Stephen Larrabee (Hg.) America and Europe: A Partnerchip for a New Era (SantaMonica, CA: RAND, 1997).


286 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Beendigung des Kalten Krieges gewonnenen Vorteile derDemokratie, festigen. Bei dieser Bemühung steht nichts wenigerauf dem Spiel als Amerikas langfristiges Verhältnis zuEuropa. Ein neues Europa muß erst noch Gestalt annehmen,und wenn dieses neue Europa geopolitisch ein Teil des »euroatlantischen«Raums bleiben soll, ist die Ausdehnung der NATOunumgänglich. Aus demselben Grund würde das Scheitern einerNATO-Erweiterung, jetzt, wo man sich darauf festgelegthat, den Plan eines expandierenden Europas zunichte machenund die Mitteleuropäer demoralisieren.Ja, das Scheitern einer von den USA getragenen Bemühung,die NATO auszudehnen, könnte sogar ehrgeizigererussische Wünsche wieder aufleben lassen. Es ist noch keineswegsklar ersichtlich – und steht im krassen Gegensatz zudem, was uns die Geschichte lehrt –‚ ob die politische EliteRußlands Europas Wunsch nach einer starken und dauerhaftenpolitischen und militärischen Präsenz der USA teilt. Währendman also ein zunehmend kooperatives Verhältnis zu Rußlandunbedingt anstreben sollte, ist es wichtig, daß Amerika überseine globalen Prioritäten keinen Zweifel aufkommen läßt.Sollte zwischen einem größeren euroatlantischen System undeiner besseren Beziehung zu Rußland eine Wahl getroffenwerden müssen, hat ersteres für Amerika weitaus höher zurangieren.Aus diesem Grund sollte keine Vereinbarung mit Rußlandüber die Frage einer NATO-Erweiterung darauf hinauslaufen,daß Rußland de facto am Entscheidungsfindungsprozeßdes Bündnisses beteiligt wird und dadurch den spezifischeuroatlantischen Charakter der NATO aufweicht, währendderen neu aufgenommene Mitglieder zu Staaten zweiter Klassedegradiert werden. Damit erhielte nämlich Rußland nicht nurdie Gelegenheit, von neuem zu versuchen, seine Einflußsphärein Mitteleuropa wiederzugewinnen, es könnte auch seine


Schlussfolgerungen 287Präsenz in der NATO dazu mißbrauchen, jede Meinungsverschiedenheitzwischen Amerika und Europa geschickt auszunutzen,um die Rolle der USA in europäischen Angelegenheitenzu schwächen.Sowie Mitteleuropa der NATO beitritt, muß jede neue Sicherheitsgarantie,die Rußland vom Westen in bezug auf dieRegion gewährt wird, wirklich gegenseitig und somit für beideSeiten beruhigend sein. Beschränkungen, die man sich beider Stationierung von NATO - Truppen und Atomwaffen aufdem Boden der neuen Mitglieder auferlegt, können wesentlichdazu beitragen, legitime russische Bedenken zu zerstreuen,aber im Gegenzug müßten die Russen garantieren, daß es zueiner Entmilitarisierung des unter strategischem Aspekt bedrohlichenFrontkeils von Kaliningrad kommt und größereTruppenstationierungen in Grenznähe der künftigen neuenNATO- und EU-Mitglieder unterbleiben. Während alle neuenunabhängigen westlichen Nachbarn Rußlands auf ein stabilesund kooperatives Verhältnis zu Rußland erpicht sind, habensie aus historisch verständlichen Gründen vor Moskau eigentlichimmer noch Angst. Daher würde das Zustandekommeneiner fairen NATO-EU-Vereinbarung mit Rußland von allenEuropäern als ein Signal dafür begrüßt werden, daß Rußlandendlich die gewünschte postimperiale Wahl zugunsten Europastrifft.<strong>Die</strong>se Entscheidung könnte den Weg zu einem umfassenderenBemühen ebnen, Rußlands Status und Ansehen zu verbessern.<strong>Die</strong> förmliche Mitgliedschaft bei den G7-Staaten, die das Landseit Juli 1997 erlangt hat, sowie die Aufwertung des politischenApparates der OSZE (in der ein spezieller Sicherheitsausschuß,bestehend aus Amerika, Rußland und verschiedenen europäischenSchlüsselländern, eingerichtet werden könnte), würdeden Russen Gelegenheit geben, am Aufbau von politischenund Sicherheitsstrukturen in Europa konstruktiv mitzuwirken.


288 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Wenn der Westen außerdem an seiner finanziellen Unterstützungfesthält und zusätzlich ehrgeizigere Pläne entwickelt,Rußland durch neue Autobahnen und Schienennetze engeran Europa zu binden, könnte der Prozeß, eine EntscheidungRußlands für Europa mit Leben zu erfüllen, einen guten Schrittvorankommen. Rußlands langfristige Rolle in Eurasien wirdweitgehend von der historischen Entscheidung abhängen, diees um seines eigenen nationalen Selbstverständnisses willenvielleicht noch in diesem Jahrzehnt fällen muß. Selbst wennEuropa und China den Radius ihrer jeweiligen Einflußsphäreerweitern, wird Rußland dennoch der größte Flächenstaat derErde bleiben. Er umfaßt zehn Zeitzonen und ist flächenmäßigdoppelt so groß wie die Vereinigten Staaten oder Chinaund stellt in dieser Hinsicht sogar ein erweitertes Europa inden Schatten. Gebietseinbußen sind somit nicht RußlandsHauptproblem. Vielmehr muß das riesige Rußland der Tatsacheins Auge sehen, daß Europa und China beide schon heutewirtschaftlich mächtiger sind und China es noch dazu auf demWeg zu einer Modernisierung der Gesellschaft zu überholendroht. Daraus muß Rußland die richtigen Schlußfolgerungenziehen.Unter diesen Umständen sollte sich die politische Führungin Moskau deutlicher darüber bewußt werden, daß Rußlandin erster Linie sich selbst modernisieren muß, anstatt sich aufnutzlose Bemühungen einzulassen, seinen früheren Statusals <strong>Weltmacht</strong> wiederzuerlangen. Angesichts der enormenAusdehnung und Vielfalt des Landes würde wahrscheinlichein dezentralisiertes politisches System auf marktwirtschaftlicherBasis das kreative Potential des russischen Volkes wieder riesigen Bodenschätze des Landes besser zur Entfaltungbringen. Umgekehrt wäre ein dezentralisierteres Rußland wenigeranfällig für imperialistische Propaganda. Einem lockererkonföderierten Rußland – bestehend aus einem europäischen


Schlussfolgerungen 289Rußland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichenRepublik – fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungenmit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und demOsten zu pflegen, die wiederum Rußlands eigene Entwicklungbeschleunigten. Jede dieser drei konföderierten Einheiten könntedas kreative Potential vor Ort besser erschließen, das jahrhundertelangdurch die schwerfällige Bürokratie Moskaus ersticktwurde.Eine klare Entscheidung Rußlands für die europäische Optionund gegen die eines großrussischen Reiches wird dann wahrscheinlicher,wenn Amerika erfolgreich die zweite, unbedingterforderliche Linie seiner Strategie gegenüber Rußland verfolgt:nämlich den derzeit herrschenden geopolitischen Pluralismus impostsowjetischen Raum zu stärken, um damit allen imperialenVersuchungen den Boden zu entziehen. Ein postimperiales undauf Europa orientiertes Rußland sollte Bemühungen Amerikasin dieser Richtung als hilfreich für die Festigung regionalerStabilität und die Verringerung von Konfliktmöglichkeitenentlang seiner neuen, potentiell instabilen südlichen Grenzenbegrüßen. Aber die Politik der Konsolidierung eines geopolitischenPluralismus sollte keineswegs von einem gutenVerhältnis zu Rußland abhängig gemacht werden. Sie ist vielmehreine wichtige Versicherung für den umgekehrten Fall, daßsich ein solches gutes Verhältnis nicht entwickelt, da sie demWiederaufleben jeder wirklich bedrohlichen Großmachtpolitikvon seiten Rußlands Hindernisse in den Weg legt.Folgerichtig ist die politische und wirtschaftliche Unterstützungder neuen unabhängigen Schlüsselstaaten ein festerBestandteil einer umfassenderen Strategie für Eurasien. <strong>Die</strong>Konsolidierung einer souveränen Ukraine, die sich inzwischenals mitteleuropäischer Staat versteht und sich an einerengeren Integration mit Mitteleuropa beteiligt, ist eine ganzwesentliche Komponente einer solchen Politik. Dasselbe gilt


290 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>für den Aufbau engerer Beziehungen zu strategischen Achsenstaatenwie Aserbaidschan und Usbekistan, ganz abgesehenvon dem allgemeineren Bemühen, Zentralasien (allenBehinderungen Moskaus zum Trotz) dem Weltmarkt zu öffnen.Großangelegte internationale Investitionen in eine immerbesser zugängliche kaspisch-zentralasiatische Region würdennicht nur zur Konsolidierung dieser neuen Länder beitragen,vielmehr dürfte auch ein postimperiales und demokratischesRußland langfristig davon profitieren. <strong>Die</strong> Erschließung derEnergiequellen und Bodenschätze der Region förderte Wohlstandund würde ein stärkeres Stabilitäts- und Sicherheitsbewußtseinin diesem Gebiet erzeugen; damit ließen sich vielleichtdie Risiken balkanähnlicher Konflikte verringern. <strong>Die</strong> Vorteileeiner dank ausländischer Investitionen beschleunigten regionalenEntwicklung würden auch in die angrenzenden russischenProvinzen ausstrahlen, die wirtschaftlich eher unterentwickeltsind. Wenn die neuen herrschenden Eliten der Region ersteinmal einsähen, daß Rußland sich der Integration der Regionin die Weltwirtschaft fügt, hätten sie weniger Angst vor denpolitischen Konsequenzen enger Wirtschaftsbeziehungen zuRußland. Mit der Zeit könnte ein nicht mehr auf seinen imperialenStatus pochendes Rußland somit Akzeptanz als der führendeWirtschaftspartner der Region gewinnen, auch wenn es nichtmehr der imperiale Herrscher ist.Bei der Förderung eines stabilen und unabhängigen südlichenKaukasus und Zentralasiens muß Amerika darauf achten,daß die Türkei nicht vor den Kopf gestoßen wird, undsollte ausloten, ob sich seine Beziehungen zum Iran verbessernlassen. Eine Türkei, die sich von Europa, dem sie sichanschließen wollte, ausgestoßen fühlt, wird eine islamischereTürkei werden, die aus reinem Trotz ihr Veto gegen dieNATO-Erweiterung einlegen dürfte und weniger bereit sein


Schlussfolgerungen 291wird, in Zusammenarbeit mit dem Westen, ein laizistischesZentralasien zu stabilisieren und in die Weltgemeinschaft zuintegrieren.Demgemäß sollte Amerika seinen Einfluß in Europa füreinen Beitritt der Türkei geltend machen und darauf achten,daß die Türkei als europäischer Staat behandelt wird– immer vorausgesetzt, die türkische Innenpolitik nimmtkeine dramatische Wendung in die islamistische Richtung.Regelmäßige Konsultationen mit Ankara über die Zukunft desKaspischen Beckens und Zentralasiens würden in der Türkeiein Bewußtsein strategischer Partnerschaft mit den VereinigtenStaaten fördern. Auch sollte Amerika den türkischen Wunschnach einer Pipeline von Baku in Aserbaidschan nach Ceyhanan der Mittelmeerküste, das die Türkei als Hauptausfuhrhafenfür die Energiequellen des Kaspischen Beckens ausersehen hat,unterstützen.Ferner liegt es nicht in Amerikas Interesse, die amerikanischiranischeFeindschaft fortzuschreiben. Jede schließlich zustandekommende Aussöhnung sollte auf der Einsicht gründen, daß jedeSeite ein strategisches Interesse an der Stabilisierung des gegenwärtigfür den Iran hochbrisanten regionalen Umfeldes hat. Einesolche Aussöhnung muß natürlich von beiden Seiten betriebenwerden und ist keine Gunst, die die eine der anderen gewährt.Ein starker, und sei es auch stark religiös geprägter, aber nichtfanatisch antiwestlicher Iran ist durchaus im Sinne der USA, undletztendlich begreift dies vielleicht sogar die politische Führungin Teheran. In der Zwischenzeit wäre Amerikas langfristigenInteressen in Eurasien besser gedient, wenn es die bestehendenEinwände gegen eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeitzwischen der Türkei und dem Iran, vor allem gegen den Bauneuer Pipelines, aber ebenso gegen die Errichtung andererVerbindungen zwischen Iran, Aserbaidschan und Turkmenistanaufgeben würde. Eine langfristige amerikanische Beteiligung an


292 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>der Finanzierung solcher Projekte wäre durchaus im Interesseder USA. 35Auch auf die mögliche Rolle Indiens muß hier hingewiesenwerden, obgleich es derzeit ein relativ passiver Spieler auf demeurasischen Schachbrett ist. Indien wird geopolitisch durch diechinesischpakistanische Koalition in Schach gehalten, währendihm ein schwaches Rußland nicht die politische Unterstützungbieten kann, die ihm einst von der Sowjetunion zuteil wurde.Das Überleben seiner Demokratie ist jedoch insofern vonBedeutung, als es besser als Bände akademischer Debatten dasVorurteil widerlegt, daß Menschenrechte und Demokratie bloßeine Marotte des Westens sind. Indien beweist, daß antidemokratischeasiatische Werte, die Regierungssprecher von Singapurbis China propagieren, für Asien nicht typisch sein müssen. Ausdemselben Grund wäre Indiens Scheitern ein Schlag gegen dieAussichten für Demokratie und würde eine Macht von der internationalenBühne entfernen, die besonders jetzt, da China zueiner geopolitischen Vormachtstellung aufsteigt, zu einem größerenGleichgewicht auf dem asiatischen Schauplatz beiträgt.Daher ist es an der Zeit, daß sich Indien an Diskussionen überdie künftige regionale Stabilität in Zentralasiens beteiligt, ganzzu schweigen von der Förderung direkterer bilateraler Kontaktezwischen amerikanischen und indischen Verteidigungsgremien.35 Es erscheint mir angebracht, hier den klugen Rat meines Kollegen bei der CSIS,Anthony H. Cordesman (in seiner Studie über „The American Threat to the UnitedStates“ vom Februar 1997, p. 16, als Rede vor dem Army War College delivered) zuzitieren, der vor der in Amerika verbreiteten Neigung, Probleme und sogar Nationenzu dämonisieren, gewarnt hat. Mit seinen Worten: „Der Iran, der Irak und Libyen sindFälle, wo die USA feindliche Regime, die eine wirkliche, aber begrenzte Bedrohungdarstellen, dämonisiert haben, ohne eine taugliche mittel- bis langfristige Strategie zuentwickeln. US-Planer können nicht darauf hoffen, diese Staaten völlig zu isolieren, undes ist wenig sinnvoll, sie als ‘rote‘ oder ‘terroristische‘ Staaten zu behandeln ... <strong>Die</strong> USAleben in einer moralisch grauen Welt und müssen bei dem Versuch scheitern, sie schwarzund weiß zu machen.“


Schlussfolgerungen 293Ohne eine vertiefte strategische Verständigung zwischenAmerika und China wird geopolitischer Pluralismus in Eurasienweder zu erreichen noch stabil sein. Folglich ist eine Politik derEinbindung Chinas in einen ernsthaften strategischen Dialog,schließlich vielleicht in einen Dreierdialog, der Japan mit einschließt,der notwendige erste Schritt, Chinas Interesse an einergütlichen Einigung mit Amerika zu verstärken, in der die beidenLändern gemeinsamen geopolitischen Interessen (besonders inNordostasien und im zentralasiatischen Raum) berücksichtigt werden.Außerdem sollte Amerika alle Zweifel, die über sein Eintretenfür ein China aufgekommen sein mögen, ausräumen, damit sichdas Taiwan-Problem, nachdem China Hongkong geschluckt hat,nicht weiter zuspitzt. Aus demselben Grund muß China daran gelegensein, mit der Integration Hongkongs zu beweisen, daß selbstein Großchina in der Lage ist, vielfältigere Formen innenpolitischerArrangements zu tolerieren und zu schützen.Während – wie in den Kapiteln 4 und 6 ausgeführt – jedechinesisch-russisch-iranische Pseudokoalition gegen Amerikawohl kaum über ein gelegentliches taktisches Muskeln-spielen-Lassen hinauskommen dürfte, sollten die Vereinigten Staatenmit China dennoch in einer Weise verhandeln, die Peking nichtin diese Richtung treibt. In einer jeden derartigen antihegemonialenAllianz wäre China der Eckpfeiler. Es wäre die stärkste, diedynamischste und somit die führende Komponente. Eine derartigeKoalition könnte aber nur ein verdrossenes, frustriertes und feindseligesChina schmieden. Weder Rußland noch der Iran verfügenüber die nötigen Mittel, um für solch eine Koalition der zentraleMagnet zu sein.Daher ist ein amerikanisch-chinesischer Dialog über dieGebiete, in denen keine der beiden Staaten eine andere Hegemonialmachtauftauchen sehen möchte, dringend geboten.Der Dialog sollte aber, damit sich Fortschritte einstellen, anhaltendund ernsthaft geführt werden. Im Zuge eines solchen


294 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Gedankenaustauschs könnten auch strittigere Fragen wie dieum Taiwan und selbst die der Menschenrechte überzeugenderangesprochen werden. Da nur ein demokratischeres und wohlhabenderesChina gewisse Aussichten hat, Taiwan auf friedlicheWeise in seinen Bann zu ziehen, kann durchaus glaubhaftgemacht werden, daß die Frage der inneren Liberalisierungnicht bloß eine innenpolitische Angelegenheit Chinas ist.Jeder Versuch einer gewaltsamen Wiedervereinigung brächtenicht nur das amerikanisch-chinesische Verhältnis in Gefahr,es würde auch ausländische Investoren verprellen und ChinasWirtschaftswachstum drosseln. Pekings Bestrebungen nachregionaler Vorherrschaft und Weltrang blieben dabei auf derStrecke.Obwohl China als eine regional beherrschende Macht auftritt,wird es wahrscheinlich auf lange Sicht keine <strong>Weltmacht</strong>werden (aus Gründen, die in Kapitel 6 dargelegt wurden),und paranoide Ängste vor einer künftigen <strong>Weltmacht</strong> Chinaerzeugen im Land selbst Megalomanie, während sie sich zugleichvielleicht in einer self-fulfilling prophecy zu verschärfterFeindschaft zwischen China und den USA hochschaukeln.Gerade weil China nicht so bald zu einer <strong>Weltmacht</strong> aufsteigenwird – und sich allein deshalb eine Politik der regionalenEindämmung Chinas verböte –‚ ist es ratsam, Peking symbolischals wichtigen global player zu behandeln. Wenn manChina in eine ausgedehntere internationale Zusammenarbeiteinspannt und ihm den Status, nach dem es trachtet, gewährt,nimmt man seinem nationalen Ehrgeiz die Spitze. Ein wirksamerunmittelbarer Schritt in diese Richtung wäre, China beidem jährlichen Gipfel der führenden Nationen der Welt, densogenannten G7, einzubeziehen, so wie es die G7 vor seinerAufnahme im Juli 1997 mit Rußland gehalten hatten.In dem Maße, wie China in das Weltsystem integriert wirdund damit immer weniger willens und in der Lage ist, seine


Schlussfolgerungen 295regionale Vormachtstellung auf politisch kurzsichtige Weiseauszunutzen, wird in den Gebieten, an denen ein historischesInteresse Pekings besteht, eine Art chinesischer Einflußsphäreentstehen, die Teil der in Aussicht genommenen eurasischenStruktur geopolitischer Übereinkunft ist. Ob einwiedervereinigtes Korea einer solchen Sphäre zuneigen wird,hängt sehr davon ab, wie tief die japanisch-koreanische Versöhnunggeht (die Amerika aktiver fördern sollte), allerdingsist die Wiedervereinigung Koreas ohne eine Übereinkunft mitChina unwahrscheinlich.In jedem Fall sollte China aus historischen wie aus geopolitischenGründen Amerika als seinen natürlichen Verbündetenbetrachten. Im Unterschied zu Japan oder Rußland hatAmerika nie irgendwelche territorialen Absichten auf Chinagehabt; und im Gegensatz zu Großbritannien hat es Chinaniemals gedemütigt. Ohne einen brauchbaren strategischenKonsens mit Amerika wird China auf Dauer wohl nicht jeneausländischen Investoren anlocken können, die es braucht,um sein Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten und seineFührungsrolle in der Region zu festigen. Ebensowenig wirdAmerika ohne die Einigung mit China in strategischen Frageneine Geostrategie für das asiatische Festland haben; und ohneeine Geostrategie für das asiatische Festland kann Amerika keineGeostrategie für Eurasien entwickeln. Daher kann Chinasregionale Machtposition, wenn sie in einen größeren Rahmeninternationaler Zusammenarbeit eingebunden ist, für Amerikazu einem überaus wichtigen geostrategischen Aktivposten werden– ebenso wichtig wie Europa und gewichtiger als Japan –‚um die Stabilität Eurasiens zu sichern.Anders als in Europa jedoch wird ein demokratischerBrückenkopf auf dem östlichen Festland wohl noch eineWeile auf sich warten lassen. Um so wichtiger ist es deshalb,daß Amerikas Bemühungen um eine vertiefte strategische


296 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Beziehung zu China auf dem klaren Bekenntnis zu einemdemokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Japan alsAmerikas wichtigstem Partner im pazifischen Raum und weltweitgewichtigen Verbündeten beruht. Obwohl Japan aufgrundder starken Aversionen, die es in der Region auslöst, dort keinebestimmende Macht werden dürfte, kann es auf internationalerEbene zu einer solchen werden. In enger Zusammenarbeitmit den USA im Hinblick auf das, was man die neue Agendaglobaler Belange nennen könnte, kann Tokio, solange es jedenvergeblichen und kontraproduktiven Versuch unterläßt, selbsteine regionale Macht zu werden, eine weltweit einflußreicheRolle erlangen. <strong>Die</strong> Aufgabe der amerikanischen Regierungsollte es daher sein, Japan in diese Richtung zu steuern. Einamerikanisch-japanisches Freihandelsabkommen, das einengemeinsamen Wirtschaftsraum schafft, würde die Verbindungstärken und damit dem Ziel näher kommen.Eine enge politische Zusammenarbeit mit Japan verschafftAmerika die notwendige Rückendeckung, um Chinasregionalen Zielsetzungen Rechnung zu tragen und zugleichetwaigen Auswüchsen seines Machtgebarens entgegenzutreten.Nur auf dieser Grundlage kann eine dreiseitige Einigung– eine, die Amerikas <strong>Weltmacht</strong>, Chinas regionale Vormachtstellungund Japans Führung auf internationaler Ebeneeinbezieht – erzielt werden. Eine unkluge Ausdehnung dermilitärischen Zusammenarbeit zwischen Amerika und Japankönnte diese breite Übereinkunft in geostrategischen Fragenallerdings unterminieren. Japan sollte nicht die Rolle einesunversenkbaren Flugzeugträgers im Fernen Osten besetzen,und ebensowenig sollte es Amerikas wichtigster asiatischerMilitärpartner oder eine potentielle regionale Macht in Asiensein. Fehlgeleitete Bemühungen, die derartigen TendenzenVorschub leisten, würden Amerika vom asiatischen Festlandabkoppeln, die Aussichten eines erreichbaren strategischen


Schlussfolgerungen 297Konsenses mit China verdüstern und damit Amerikas Fähigkeit,einen stabilen geopolitischen Pluralismus in Eurasien festigen,zunichte machen.Ein transeurasisches Sicherheitssystem<strong>Die</strong> mit einem geopolitischen Pluralismus Eurasiens einhergehendeStabilität, die den plötzlichen Aufstieg eines einzelnenStaates zur bestimmenden Macht verhindern soll, gewänneschließlich, vielleicht Anfang des nächsten Jahrhunderts, eingebettetin ein transeurasisches Sicherheitssystem (TESS),an Festigkeit. Ein solches Sicherheitsabkommen sollte nebeneiner erweiterten NATO – die mit Rußland durch eine Kooperations-Chartaverbunden ist – China und Japan (das mitden Vereinigten Staaten immer noch durch den bilateralen Sicherheitspaktverbunden wäre) umfassen. Aber dazu muß dieNATO zuerst erweitert und gleichzeitig Rußland in eine größereStruktur regionaler Sicherheitszusammenarbeit eingebundenwerden. Darüber hinaus müssen Amerikaner und Japaner inenger Absprache und Zusammenarbeit im Fernen Osten einendreiseitigen Dialog über Sicherheitsfragen, an dem auch Chinabeteiligt ist, beginnen. Solche amerikanisch-japanisch-chinesischenKonsultationen könnten schließlich weitere asiatischeStaaten mit einbeziehen und später zu einem Dialog zwischenihnen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeitin Europa (OSZE) führen. <strong>Die</strong>ser wiederum könnte den Weg füreine Reihe von Konferenzen aller europäischen und asiatischenStaaten ebnen und dadurch den Prozeß der Institutionalisierungeines transkontinentalen Sicherheitssystems anstoßen.Mit der Zeit könnte dann eine förmlichere Struktur Gestaltannehmen, woraus schließlich ein transeurasisches Si-


298 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>cherheitssystem erwüchse, das zum ersten Mal in der Geschichteden gesamten Kontinent umfassen würde. <strong>Die</strong>ses System zugestalten – es inhaltlich zu bestimmen und in Institutionen zuverankern – könnte die große Aufgabe des nächsten Jahrzehntswerden, wenn erst einmal, wie oben skizziert, die notwendigenpolitischen Voraussetzungen geschaffen worden sind.Eine derart ausgedehnte transkontinentale Sicherheitsstrukturwäre mit einem ständigen Sicherheitsausschuß gut beraten,der sich aus den wichtigsten eurasischen Staaten zusammensetzt.Damit erhöhte sich die Fähigkeit des TESS, in für dieweltweite Stabilität entscheidenden Fragen eine wirkungsvolleZusammenarbeit zu fördern. Amerika, Europa, China, Japan,eine russische Konföderation, Indien und vielleicht noch einigeLänder könnten gemeinsam den Kern eines solchen stärker gegliedertentranskontinentalen Systems bilden. Käme das TESSalso eines Tages zustande, wäre Amerika nach und nach einigerseiner Lasten ledig, auch wenn es weiterhin als stabilisierendeKraft und als Schiedsrichter in eurasischen Belangen eine maßgeblicheRolle spielen würde.Jenseits der letzten Supermacht<strong>Die</strong> Konzentration hegemonialer Macht in den Händen eines<strong>einzige</strong>n Staates wird, auf Dauer gesehen, immer wenigerin die weltpolitische Landschaft passen. Daher ist Amerikanicht nur die erste und die <strong>einzige</strong> echte Supermacht, sondernwahrscheinlich auch die letzte. Das ist nicht nur so,weil die Grenzen der Nationalstaaten zunehmend durchlässigerwerden, sondern auch weil Wissen als Machtimmer weitere Kreise erfaßt und, nicht mehr durch nationaleGrenzen behindert, Allgemeingut wird. Auch wirt-


Schlussfolgerungen 299schaftliche Macht dürfte sich allmählich immer breiter zerstreuen.In den nächsten Jahren wird vermutlich kein Staatdas Niveau von etwa 30 Prozent des globalen Bruttosozialproduktserreichen, das Amerika in diesem Jahrhundert langeZeit halten konnte, geschweige denn jene 50-Prozent-Marke,die es im Jahre 1945 erklomm. Einige Schätzungen gehen davonaus, daß die USA bis zum Ende dieses Jahrzehnts immerhinnoch an die 20 Prozent des globalen Bruttosozialproduktsstellen werden und vielleicht um das Jahr 2020 auf ungefähr10 bis 20 Prozent abfallen, wenn andere Mächte –Europa,China, Japan – ihren relativen Anteil auf etwa das amerikanischeNiveau erhöhen. Aber das weltweite wirtschaftlicheÜbergewicht eines einzelnen Staates oder Staatenbundes, vonder Art, wie es die USA im Laufe dieses Jahrhunderts erlangthaben, ist unwahrscheinlich. Und dies hat natürlich weitreichendemilitärische und politische Implikationen.<strong>Die</strong> USA konnten aufgrund ihrer ausgesprochen multinationalenund auch in anderer Hinsicht außergewöhnlichenGesellschaft ihre Hegemonie ausbauen, ohne sie als strengnationale erscheinen zu lassen. Dagegen würde beispielsweiseChinas Streben nach globaler Vorherrschaft von anderenStaaten unweigerlich als der Versuch angesehen werden, einenationale Hegemonie zu errichten. Sehr vereinfacht ausgedrückt:Jeder kann Amerikaner werden, aber Chinese ist mandurch Geburt – ein Umstand, der jedem Versuch, auf der Basiseines Nationalstaates eine globale Hegemonie zu errichten,ein zusätzliches und ganz erhebliches Hindernis in den Weglegt.Amerika wird, wenn seine Führungsrolle verblaßt, wohlkaum Nachahmer finden. Somit lautet die Schlüsselfrage fürdie Zukunft: »Was wird Amerika als bleibendes Vermächtnisseiner Vorrangstellung der Welt hinterlassen?«<strong>Die</strong> Antwort hängt zum Teil davon ab, wie lange diese Vor-


300 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>machtstellung noch währt und wie energisch Amerika denAufbau von Partnerschaftsstrukturen mit Schlüsselmächtenvorantreibt, aus denen sich mit der Zeit feste Institutionen entwickelnkönnen. Amerikas historische Chance, seine <strong>Weltmacht</strong>konstruktiv zu nutzen, könnte sich, sowohl aus innenpolitischenwie auch aus außenpolitischen Gründen als relativ kurz erweisen.Nie zuvor hat eine wirklich im Volk verankerte Demokratiedie internationale Politik dominiert. Machtstreben verträgt sichim Grunde ebensowenig mit demokratischer Gesinnung wie diezu seiner Ausübung notwendigen wirtschaftlichen Kosten undmenschlichen Opfer. Eine demokratische Gesellschaft läßt sichnicht so leicht für imperialistische Zwecke einspannen.Ob Amerika die erste Supermacht sein wird, die ihreMacht nicht mehr ausüben kann oder will, könnte für die Zukunftwirklich entscheidend sein. Laufen die USA womöglichGefahr, eine impotente <strong>Weltmacht</strong> zu werden? Laut öffentlichenMeinungsumfragen tritt nur eine kleine Minderheit (13Prozent) der Amerikaner dafür ein, daß die USA als die einzignoch verbliebene Supermacht bei der Lösung internationalerProbleme auch weiterhin die Führungsrolle bekleiden sollte.Einer überwältigenden Mehrheit (74 Prozent) wäre es lieber,wenn Amerika bei den Bemühungen, internationale Problemezusammen mit anderen Ländern zu lösen, seinen angemessenenBeitrag leistet. 36Da Amerikas Gesellschaft in steigendem Maße multikulturelleZüge annimmt, dürfte, außer in Fällen einer wirklich36 “An Emerging Consensus – A Study of American Public Attitudes on America‘sRole in theWorld” (College Park: Center for International and Security Studies at theUniversity of Maryland, July 1996). Es ist bemerkenswert, steht aber im Einklang mitdem eben Gesagten, daß Erhebungen, die das oben genannte Center Anfang 1997 (unterder Leitung des Meinungsforschers Steven Kuli) durchgeführt hat, auch eine beträchtlicheMehrheit für eine NATO-Erweiterung (62% dafür, darunter 27% sehr dafür, und nur29% dagegen, davon 14% entschieden dagegen) ausweisen.


Schlussfolgerungen 301massiven und unmittelbaren Bedrohung von außen ein Konsensüber außenpolitische Fragen zunehmend schwerer herbeizuführensein. Während des Zweiten Weltkriegs und auchin der Zeit des Kalten Krieges herrschte weitgehend ein solcherKonsens. Er hatte seine Wurzeln jedoch nicht allein in einem gemeinsamenSystem demokratischer Werte, das die Öffentlichkeitbedroht sah, sondern auch in einer kulturellen und ethnischenAffinität zu den vorwiegend europäischen Opfern feindlichertotalitärer Systeme.Da es keine vergleichbare äußere Herausforderung mehrgibt, dürfte es schwerer sein, in der amerikanischen GesellschaftÜbereinstimmung über außenpolitische Aktivitäten zu erzielen,die nicht direkt mit demokratischen Grundüberzeugungen undweithin verbreiteten ethnischkulturellen Sympathien zu tun habenund nicht selten einen anhaltenden und manchmal kostspieligenEinsatz amerikanischer Macht erfordern. Mehr Anklang findenda wohl die Vertreter zweier Sichtweisen, die aus dem Sieg derUSA im Kalten Krieg ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen.Der Ansicht der einen Seite, daß das Ende des Kalten Kriegeseine erhebliche Einschränkung des weltweiten Engagements derUSA rechtfertige, ungeachtet der Konsequenzen, die dies fürdas Ansehen Amerikas in der Welt hat, steht die Erkenntnis deranderen Seite gegenüber, daß die Zeit für einen echten internationalenMultilateralismus gekommen sei, an den Amerika sogaretwas von seiner Souveränität abtreten sollte. Beide Standpunkteerfreuen sich einer treuen Anhängerschaft.Allgemeiner gesprochen, könnte auch ein kulturellerWandel in Amerika ein politisches Klima erzeugen, das einerweiteren Ausübung imperialer Macht abträglich ist. <strong>Die</strong>seAusübung erfordert ein hohes Maß an weltanschaulicherMotivation, intellektuellem Einsatz und patriotischer Begeisterung.Doch das kulturelle Leben steht mehr und mehr imZeichen der Massenunterhaltung, in der persönlicher Hedo-


302 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>nismus und gesellschaftlicher Eskapismus die Themen bestimmen.Aus all diesen Gründen wird es immer schwieriger,den notwendigen politischen Konsens über eine andauerndeund gelegentlich auch kostspielige Führungsrolle der USA imAusland herzustellen. Tonangebend in der Meinungsbildungsind die Massenmedien, die auf jeden noch so vorsichtigenEinsatz von Gewalt, selbst wenn er mit geringen Verlustenverbunden ist, mit Abscheu und Empörung reagieren.Zudem haben sowohl Amerika wie auch Westeuropa Mühe,mit den kulturellen Folgen des gesellschaftlichen Hedonismusund dem dramatischen Werteverfall in der Gesellschaft fertigzu werden. (In dieser Hinsicht gibt es auffallende Parallelenzum Niedergang der Weltreiche, von denen in Kapitel 1 dieRede war.) <strong>Die</strong> daraus resultierende kulturelle Krise ist durchdie Verbreitung von Drogen und, vor allem in den USA, dieVerknüpfung mit der Rassenproblematik noch verschärft worden.Und schließlich kann die ökonomische Wachstumsratenicht mehr mit den von einer ganz auf den Konsum abstellendenKultur angeregten wachsenden materiellen AnsprüchenSchritt halten. Ohne zu übertreiben, kann man sagen, daß sichin den einsichtigeren Kreisen der westlichen Gesellschaft einegewisse Zukunftsangst, vielleicht auch Pessimismus breitmacht.Vor fast einem halben Jahrhundert äußerte der bekannteHistoriker Hans Kohn, der die tragische Erfahrung der beidenWeltkriege und die lähmenden Folgen der totalitären Bedrohungerlebt hatte, besorgt, daß der Westen erschöpft undverbraucht sei. Ja, er fürchtete, daß »der Mensch des 20. Jahrhundertsnicht mehr die Zuversicht hat, die seine Vorfahren im19. Jahrhundert hatten. Er hat mit eigenen Augen die finsterenMächte der Geschichte erlebt. Dinge, die der Vergangenheitanzugehören schienen, sind wieder aufgetaucht: religiöserFanatismus, unfehlbare Führer, Sklaverei und Massa-


Schlussfolgerungen 303ker, die Entwurzelung ganzer Völker, gnadenlose Härte undBarbarei.« 37<strong>Die</strong>ser Mangel an Zuversicht ist durch die weitverbreiteteEnttäuschung über den Ausgang des Kalten Krieges nochverstärkt worden. Statt einer auf Konsens und Harmonie gegründeten»neuen Weltordnung« sind ganz plötzlich Dinge,die der Vergangenheit anzugehören schienen, zur Zukunftgeworden. Wenn auch ethnisch-nationale Konflikte nichtmehr die Gefahr eines Weltkrieges bergen mögen, bedrohensie doch den Frieden in erheblichen Teilen der Erde. Somit istnicht davon auszugehen, daß Kriege in der nächsten Zukunftüberholt sein werden. Während die technologischen Kapazitätenzur Selbstzerstörung und ausgeprägter Eigennutz in denwohlhabenderen Nationen für eine gewisse Hemmschwellesorgen, könnte der Krieg zu einem »Luxus« geworden sein,den sich nur die armen Völker dieser Welt leisten können.Jene zwei Drittel der Menschheit, die in Armut leben, werdensich wohl auf absehbare Zeit nicht von der Zurückhaltung derPrivilegierten leiten lassen. Bemerkenswert ist auch, daß es beiinternationalen Konflikten und Akten von Terrorismus bishernicht zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen gekommenist. Wie lange diese Selbstbeschränkung noch anhält, läßt sichnatürlich nicht vorhersagen, aber da Kriegsgerät mit enormerZerstörungskraft – etwa Atom- oder bakteriologische Waffen–nicht nur für Staaten, sondern auch für organisierte Gruppen,immer leichter zugänglich ist, nimmt die Wahrscheinlichkeit,daß solche Waffen eingesetzt werden, unweigerlich zu.Kurzum, Amerika als die führende <strong>Weltmacht</strong> hat nur einekurze historische Chance. Der relative Frieden, der derzeitauf der Welt herrscht, könnte kurzlebig sein. <strong>Die</strong>se Aussichtunterstreicht, wie dringend notwendig es ist, daß sich Ameri-37 Hans Kohn, The Twentieth Century (New York: 1949), p. 53.


304 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>ka weltweit für eine Stärkung der internationalen geopolitischenStabilität einsetzt und den verlorengegangenen Optimismusdes Westens wiederbelebt. <strong>Die</strong>ser wird sich erst dannwieder einstellen, wenn die Staatengemeinschaft bewiesen hat,daß sie in der Lage ist, mit den sozialen Problemen im Innernund den geopolitischen Herausforderungen, die von außen ansie herantreten, gleichzeitig fertig zu werden.Ob der Westen seinen Optimismus wiederfindet und obdie westlichen Werte international Allgemeingut werden,hängt jedoch nicht allein von Amerika und Europa ab. Japanund Indien führen vor, daß auch in Asien, sowohl in hochentwickeltenStaaten als auch in solchen, die immer nochals Entwicklungsländer gelten müssen, die MenschenrechteAchtung genießen und demokratische Experimente einezentrale Rolle spielen können. Daher kann demokratischeKontinuität in Japan und Indien als eine zuversichtlicherePerspektive für die zukünftige politische Gestalt der Welt garnicht hoch genug bewertet werden. Tatsächlich legen die Erfahrungendieser beiden Staaten sowie Südkoreas und Taiwansnahe, daß Chinas anhaltendes Wirtschaftswachstum vielleichtauch eine fortschreitende Demokratisierung des politischenSystems mit sich bringen könnte, sobald das Land stärker in dieinternationale Staatengemeinschaft eingebunden ist und vondaher gedrängt wird, einen Wandel herbeizuführen.Sich diesen Herausforderungen zu stellen ist AmerikasBürde und auch seine besondere Verantwortung. Damiteine wirksame Antwort darauf gefunden werden kann, mußangesichts des Zustands, in dem sich die amerikanischeDemokratie derzeit befindet, zunächst in der ÖffentlichkeitEinvernehmen darüber erzielt werden, daß sich die USA an derSchaffung eines sich erweiternden Rahmens stabiler geopolitischenZusammenarbeit weiterhin betei-ligen müssen, einesRahmens, der weltweite Anarchie verhindert und die Gefahr


Schlussfolgerungen 305eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich hinausschiebt.<strong>Die</strong>se beiden Ziele – weltweite Anarchie zu verhindernund das Emporkommen eines Rivalen um die Macht zuvereiteln – sind untrennbar mit der längerfristigen Zielsetzungverbunden, die dem weltweiten Engagement Amerikas zugrundeliegt: nämlich, ein dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischerZusammenarbeit zu schmieden.Leider waren alle bisherigen Versuche, eine neue zentraleund globale Zielsetzung der Vereinigten Staaten nach demEnde des Kalten Krieges aufzuzeigen, eindimensional. Sieversäumten es, die notwendige Verbesserung der menschlichenLebensbedingungen mit dem Gebot, die zentrale Rolleder USA in der Weltpolitik zu bewahren, zu verknüpfen.Beispiele für derartige Bemühungen aus jüngster Zeit gibt esgenug. Der »selbstbewußte Multilateralismus« für den die Clinton-Administrationin den ersten beiden Jahren ihrer Amtszeiteintrat, zog die Realitäten derzeitigen Macht nicht genügendin Betracht. <strong>Die</strong> anschließend vertretene alternative Position,Amerika solle das Augenmerk auf eine weltweite »demokratischeErweiterung« richten, ließ außer acht, daß die USA auch inZukunft die weltweite Stabilität erhalten oder sich sogar für einigezweckdienliche (aber bedauerlicherweise nicht »demokratische«)zwischenstaatliche Beziehungen, wie etwa zu China,einsetzen müsse. Noch unbefriedigender verliefen Appelle, beidenen es um konkretere Fragen ging wie zum Beispiel um dieBeseitigung der ungerechten Güterverteilung auf der Welt, denAufbau einer besonderen »strategischen Partnerschaft« mitRußland oder die Begrenzung der Waffenexporte. Auch andereAlternativen – daß Amerika sich auf den Schutz der Umweltkonzentrieren oder, noch konkreter, auf die Bekämpfung lokalerKriege konzentrieren sollte – verloren gern die für eine<strong>Weltmacht</strong> grundlegenden Fakten aus dem Auge. Folglich istkeine der oben angeführten Losungen der Notwendigkeit ge-


306 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>recht geworden, weltweit eine Mindestmaß an geopolitischenStabilität herzustellen, welche die unabdingbare Voraussetzungdafür ist, daß die amerikanische Hegemonie noch eine Weile erhaltenund die Gefahr internationaler Anarchie gebannt bleibt.Kurz, die Politik der USA muß unverdrossen und ohneWenn und Aber ein doppeltes Ziel verfolgen: die beherrschendeStellung Amerikas für noch mindestens eine Generation undvorzugsweise länger zu bewahren und einen geopolitischenRahmen zu schaffen, der die mit sozialen und politischenVeränderungen unvermeidlich einhergehenden Erschütterungenund Belastungen dämpfen und sich zum geopolitischen Zentrumgemeinsamer Verantwortung für eine friedliche Weltherrschaftentwickeln kann. Eine von Amerika sowohl angeregte alsauch vermittelte längere Phase allmählich sich ausdehnenderKooperation mit wichtigen eurasischen Partnern kann außerdemhelfen, die Voraussetzungen für eine Aufwertung der bestehendenund zunehmend veralteten UN-Strukturen zu verbessern.Eine Neuverteilung von Verantwortung und Privilegien kanndann den veränderten Realitäten von <strong>Weltmacht</strong> Rechnungtragen, die sich von jenen des Jahres 1945 so drastisch unterscheiden.<strong>Die</strong>se Bemühungen wenden den zusätzlichen historischenVorteil haben, von dem neuen Netz globaler Verbindungenzu profitieren, das außerhalb des traditionelleren Systems derNationalstaaten exponentiell wächst. <strong>Die</strong>ses von multinationalenKorporationen, Organisationen (regierungsunabhängigund oft transnationalen Charakters) geknüpfte Netz schafftbereits ein informelles Weltsystem, das an sich schon einerinstitutionalisierteren und engeren globalen Zusammenarbeitentgegenkommt.Im Laufe der nächsten Jahrzehnte könnte somit eine funktionierendeStruktur weltweiter Zusammenarbeit, die auf dengeopolitischen Gegebenheiten gründet, entstehen und all-


Schlussfolgerungen 307mählich die Insignien des derzeitigen Herrschers der Welt annehmen,der vorerst noch die Last der Verantwortung für dieStabilität und den Frieden in der Welt trägt. Ein geostrategischerErfolg in dieser Zielsetzung wäre dann die durchausangemessene Erbschaft, die Amerika als erste, <strong>einzige</strong> undletzte echte Supermacht der Nachwelt hinterlassen würde.


Sach- und PersonenregisterAfghanistan 22, 135, 184, 189, 192f., 199f., 200, 202, 206, 211, 217, 269Algerien 97, 119Ambartsumow, J. 157APEC (Gruppe für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatischpazifischen Raum) 49f., 222Arabisch-Israelischer Konflikt 85ARF (Asiatisches Regionalforum) 222Armenien 25, 132, 138, 158, 179, 184, 186, 188, 204, 207, 209, 217ASEAN (Vereinigung der südostasiatischen Nationen) 222, 241Aserbaidschan 25, 67, 7Sf., 82, 138, 167, 177, 179, 184, 186, 188, 193, 196f., 200, 202f., 207ff.,216ff., 290f.Atatürk, Kemal 169, 195Äthiopien 36Australien 73, 225, 243, 270Bagdad 33Baltische Republiken (Estland, Lettland, Litauen) 105ff., 122, 125ff., 131, 136f.,151f.Bangladesch 237Berliner Blockade 22, 45, 95Birma (heute: Myanmar) 20, 30, 237f., 245Blair, Tony 47Bolingbroke, Lord 108Bosnien 92, 108Browning, Robert 66Brunei 262BulgarienBündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen 112Byzantinisches Reich, Byzanz 123Center for Strategic and International Studies (CSIS) 285Charette, Hervé de 101China 11ff., 21ff., 29ff., 39, 43, 67, 72ff., 77f., 85ff., 131, 140, 148, 168ff., 200ff., 209,211, 215ff.,227ff., 249ff., 265ff., 278, 280, 284, 288, 292ff., 304f.Christlich Demokratische Union (CDU) 112Clinton, Bill 10, 278, 305Combined Joint Task Forces 117Comecon 147Commonwealth 70de Gaulle, Charles 94Demangeon, Paul 64Demirel, Suleyman 214Deng Xiaoping 237, 244Denman, Roy 69Deutschland 12, 20, 24, 39, 44f., 61, 64, 67ff., 71, 79, 88, 94ff., 127, 148, 154, 164, 172, 197,24S, 248, 252ff., 274, 278, 280, 284f.Dschingis Khan 34ff., 131, 162


Sach und Personenregister 309Erster Weltkrieg 1 8f., 64, 92, 134, 197Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung 100Europäische Kommission 115Europäische Union (EU) 11f., 68ff., 80ff., 93f., 100, 103ff., 108, 112ff., 119ff., 136,147, 156, 164,172f., 177, 222, 280, 284ff.Europäischer Rat 12Sf., 174Finnland 117, 127Frankreich 12, 38ff., 67ff., 71, 79, 88, 94ff., 127, 172, 197, 208, 237, 253, 274, 278, 280, 284f.G-7 Staaten 12, 267Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 131, 137, 148, 151, 154ff., 189, 202.206ff.Georgien 25, 138, 167, 179, 184, 188f., 202, 204, 207, 209f., 213, 217Gibraltar 61Griechenland 125Golfkrieg 99Gumilew, Lew 162Han-Reich 29f.Hashimoto, Ryutaro 47Haushofer, Karl 64Havel, Vaclav 122Hawaii 17Holland 38, 40Hongkong 230, 237, 240f., 247, 270, 272, 293Indien 11, 13, 20, 67, 74, 84, 198, 202, 219, 224, 237f., 243, 245f., 269,280,284,292,298,304Indochina 30Indonesien 62, 67, 73, 224f., 241ff., 253, 262, 270Internationaler Gerichtshof 51Internationaler Währungsfond IWF 49f.Internet 46Irak 49, 79, 199, 292Iran 67f., 7Sf., 79, 83f., 87, 138f., 169ff., 184, 188, 192, 194ff., 206, 208ff., 267, 280, 290f., 294Islam 25, 35, 78, 85, 119, 132f., 139, 170, 188f., 194ff., 199f., 206, 209f., 228, 290f.Israel 79, 199Ito, Masayoshi 256Iwan der Schreckliche, Zar von Rußland 132Jalta-Konferenz 129Japan 13, 19f., 24, 32, 43ff., 61ff., 72ff., 85ff., 91, 148, 211, 219ff., 229f., 237ff., 241,243ff.,249ff., 265ff., 272ff., 280, 293, 295ff., 304Jelzin, Boris 43, 143, 146, 149ff., 158, 166, 169f., 176Jiang Zemin 239Jupp~, Alain 95Kalter Krieg 9, 22f., 43, 45, 51, 60, 94ff., 104, 123, 149, 172, 248, 25Sf., 260, 286,301, 303, 305Kanada 265Karthago 28f.Kasachstan 30, 77, 135, 138f., 160, 163, 166f., 184, 189ff, 200f., 204, 207ff., 237, 239, 243, 280Kasenow, Umirserik 211Kennedy, John E 46, 78Kirgistan 156, 160, 184, 191f., 209, 239Kohl, Helmut 112, 166


310 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Kommunismus 23, 131, 133ff., 233ff.Korea (siehe auch: Nordkorea und Südkorea) 30, 45, 227, 238f., 243, 247, 253, 259,261, 264,269, 272ff., 295Kosyrew, Andrej 145, 157, 169Kuba Krise 95Kurden 1 96f.Kurilen-Inseln 158, 224, 254Kuwait 182Laos 30Lebed, Alexander 176Li Peng 170Libanon 199Lukun, Wladimir 140Lybien 292Macao 230Mackinder, Harold 63f.Mahathir, Datuk 246Malaysia 225, 241, 246, 253Mandela, Nelson 39Mandschurei 62, 240Mao Tse-tung 131Marokko 119 “Mitbestimmung~ 47Miyazawa, Kiichi 259Moldawien 158, 167Mongolei 30, 237, 240Mongolisches Reich 21, 33ff., 40Monroe Doktrin 18Morita, Akio 262Münchner Abkommen 108Muslims (siehe Islam)NAFTA (North American Free Trade Agreement) 50Nagorny-Karabach 186Nakasone, Yasuhiro 260Napoleon Bonaparte 38, 61NATO 10f., 13, 47ff., 71, 76, 79ff., 91, 94f., 101f., 112, 116ff., 124ff., 129, 136, 138, 147, 172,178f., 222,248, 252f., 285NATO (Partnerschaft für den Frieden) 117, 179NATO-Osterweiterung 102ff., 119ff, 149ff., 168, 170, 173, 178, 245, 284ff., 290,297Nazarbajew, Nursultan 163, 212ff.Nepal 30, 237Nordkorea (siehe auch: Korea) 223, 233, 272f.Opiumkrieg 32Osmanisches Reich 36, 197f., 204Österreich 108, 117, 197OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 287, 297


Sach und Personenregister 311Ozawa Ausschuß 260Pakistan 74, 77, 84, 139, 198, 202,211,213,217,238,243,245, 267, 269, 292Paracel Inseln 223Pearl Harbor 45Persien (siehe: Iran)Persischer Golf 23, 41, 49, 76, 85, 181, 268Philippinen 17, 225,242,253, 262Polen 33, 71, 75, 104, 107, 118, 123f., 127, 136f., 149, 153, 165, 178, 253, 274Portugal 38Primakow, Jewgenij 169Punische Kriege 29Republik Tschechien 171ff., 182, 197, 202Römisches Reich 26ff., 33f., 39Rumänien 12Sf., 165Russisch Orthodoxe Kirche 123, 162Rußland 11ff., 19, 36, 43, 45, 62, 67ff., 74ff., 81ff., 87f., 91, 100, 102, 195f., 110, 112, 120ff.,127ff., 139ff., 188ff., 193f., 197ff., 224, 227, 229f., 237, 239ff., 253f., 264, 267ff. 278, 280, 284,286ff., 292, 294, 297, 305Rutskoj, Alexander 163Saragossa, Vertrag von 38Saudi Arabien 139, 194Schäuble, Wolfgang 1 12f.Schewardnadse, Eduard 213Schiiten 189, 196Schweden 117, 127Seidenstraße 210Senkaku-Inseln 223Singapur 61, 226, 238, 240f., 246, 292Sjuganow, Gennadij 163Slowakei 125Slowenien 123, 125Solschenyzin, Alexander 167Sony 262Sowjetunion (UDSSR) 12, 15, 20ff., 51, 60, 71f., 96, 104, 131, 132, 138, 158ff., 186,196, 198,203,205,209,222,224,232, 240, 249, 292Spanien 38, 40Spanisch-Amerikanischer Krieg 17Spratly-Inseln 223Stalin, Joseph 16, 135, 151, 229Südkorea (sieh auch: Korea) 67, 76f., 86, 247, 260, 272, 304Suez-Kanal 61Sun Tsu 244,247Syrien 199Tadschikistan 133, 139, 158, 168, 184, 189, 191f., 199f., 202, 207, 209, 239Taiwan 72, 77, 220, 223f., 230, 237f., 240ff., 260, 262ff., 269ff., 280, 293f., 304Tamerlan 190Thailand 30, 77, 225, 241Tito, Josip Broz 131


312 <strong>Die</strong> <strong>einzige</strong> <strong>Weltmacht</strong>Tordesilla, Vertrag von 38Trans-Eurasischer Sicherheitssystem (TESS) 297f.Trubetzkoi, Prinz N.S. 161Tschetschenien 62, 133, 136ff., 143, 146, 168, 194, 196, 198, 204, 206Tunesien 119Türkei 68f., 7Sf., 83f., 125, 132, 138f., 167, 174, 184, 188f., 194ff., 206, 208ff., 280, 290f.Turkmenistan 138f., 167, 184, l9lf., 199f., 202, 204, 208ff., 217f., 242, 291Ukraine 25, 62, 67, 74f., 81ff., 91, 10Sf., 110, 125, 127f., 131f., 135ff., 143, 146, 152f., 156,165ff., 175ff., 198, 202, 213, 216, 280, 289Ungarn 33Usbekistan 77, 139, 166f., 177, 184, 189ff., 199, 202, 204, 208ff., 216f., 242, 280, 290Vietnam 30, 97, 224, 243, 246Warschauer Pakt 147Weimarer Dreieck 118Weißrußland 91, 10Sf., 131, 136, 156, 160, 165, 167f.Weltbank 49f., 100Welthandelsorganisation (WTO) 50WEU (Westeuropäische Union) 80, 117Wilson, Woodrow 19Wirtschafts- und Währungsunion 70, 115Yongchaiudh, Chavalit 241Yoshida, Shigeru 256Zentralasiatische Wirtschaftsunion 212Zweiter Weltkrieg 19f., 41,45, 92, 94, 104, 106, 134f., 220, 251, 253f., 301


Sach und Personenregister 313

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