22.07.2015 Aufrufe

Albmagazin - Ausgabe Heidengraben 2/2015

Regionales Albmagazin auf der Schwäbischen Alb für die Region Heidengraben, Grabenstetten, Hülben, Erkenbrechtsweiler, Hochwang und Böhringen

Regionales Albmagazin auf der Schwäbischen Alb für die Region Heidengraben, Grabenstetten, Hülben, Erkenbrechtsweiler, Hochwang und Böhringen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Das Milchhäusle in Erkenbrechtsweiler<br />

Alb-Magazin <strong>Ausgabe</strong> 2/<strong>2015</strong><br />

Ein Sinnbild für den Wandel des Dorfs<br />

Wie viele ländliche Gemeinden besaß auch Erkenbrechtsweiler früher ein Milchhäusle. Dort lieferten die Bauern ihre<br />

Milch zur Weiterverarbeitung ab. Doch die Molke hatte auch eine wichtige soziale Funktion, war Jugendtreff genauso<br />

wie der zentrale Ort für dörflichen Klatsch und Austausch. Mit dem Strukturwandel des ländlichen Raums verlor die<br />

Molke ihre Bedeutung. Sie wurde geschlossen und schließlich abgerissen.<br />

Das Milchhäusle mit der charakteristischen Rampe stand bis in die 1970er-Jahre<br />

Der Strukturwandel auf den Dörfern in den<br />

vergangenen Jahrzehnten verlief schleichend<br />

und beinahe unmerklich. Doch er<br />

lässt sich am Verschwinden von Einrichtungen<br />

festmachen, die von zentraler<br />

wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung<br />

waren. Dazu gehören die Milchhäusle. Ab<br />

dem Jahr 1933 war die bäuerliche Direktvermarktung<br />

von Milch verboten, Milch<br />

unterlag der Zwangsbewirtschaftung. Dafür<br />

wurden in den Dörfern Sammelstellen<br />

eingerichtet. Das Prinzip der zentralen Vermarktung<br />

wurde nach dem Ende des Nationalsozialismus<br />

beibehalten und durch<br />

bäuerliche Genossenschaften organisiert.<br />

Auch Erkenbrechtsweiler behielt sein<br />

Milchhäusle an der Unteren Straße. Zweimal<br />

täglich lieferten die Bauern die Milch<br />

dort ab, die Lieferung wurde gewogen und<br />

die Menge auf Karteikarten notiert. Dies<br />

war für die Berechnung ihres Erzeugerlohns<br />

von Bedeutung. Zudem wurde auch<br />

die Menge an Butter für den Eigenbedarf<br />

und an Magermilch für die Jungviehfütterung<br />

angerechnet, die die Bauern für ihre<br />

Einlieferung erhielten. Einiges an Milch<br />

ging auch in den freien Verkauf, und so<br />

wurden am Abend die Kinder mit einer kleinen<br />

Milchkanne aus Aluminium oder Blech<br />

zur Molke zum Milchholen für die Familie<br />

geschickt.<br />

Viel harte Arbeit<br />

Dahinter steckte freilich viel schwere Arbeit,<br />

erinnert sich der 86-jährige Gerhard<br />

Vielhauer aus Erkenbrechtsweiler. Er war<br />

ab den 1950er-Jahren dafür verantwortlich,<br />

dass die im Dorf gesammelte Milch<br />

nach Reutlingen in die Molkerei kam und<br />

brachte von dort Butter und Magermilch<br />

zurück. 25 Jahre lang klapperte er jeden<br />

Morgen mit einem Laster mit offener Pritsche<br />

die Milchhäusle in Erkenbrechtsweiler,<br />

Grabenstetten und Hülben ab, fuhr<br />

dann hinab in das Ermstal und steuerte<br />

die Sammelstellen in Dettingen, Neuhausen<br />

und Glems an. Überall mussten die<br />

großen Kannen mit jeweils 30 bis 40 Litern<br />

Milch auf die Ladefläche gewuchtet und in<br />

Reutlingen wieder abgeladen werden. „Ein<br />

Saug’schäft“, das überdies sehr verantwortungsvoll<br />

war, denn er musste täglich<br />

fahren, auch bei hohem Schnee auf der<br />

Steige. Auf dem Rückweg legte neben den<br />

Milchprodukten aus Reutlingen auch so<br />

mancher Bewohner der Albdörfer seinen<br />

Heimweg auf der Ladefläche zurück. „Der<br />

Omnibusverkehr war damals noch nicht so<br />

ausgebaut, und ich konnte die Leute doch<br />

nicht stehen lassen“, erzählt Vielhauer.<br />

Wichtige soziale Funktion<br />

Die Molke hatte auch eine wichtige soziale<br />

Funktion. Da sie mitten im Dorf lag<br />

und viele Bewohner dort täglich zu tun<br />

hatten, war sie Jugendtreff genauso wie<br />

der zentrale Ort für dörflichen Klatsch<br />

und Austausch. „Da sind am Abend alle<br />

zusammen gekommen. Die Alten haben<br />

ein Schwätzle gehalten, und da hat sich<br />

die Jugend getroffen“, erinnert sich Gerhard<br />

Vielhauer. Und trotz sozialer Kontrolle<br />

und wachsamer Erwachsenenaugen seien<br />

wohl so manche engeren Bekanntschaften<br />

zwischen Jungs und Mädchen entstanden.<br />

Am früheren Standort der Molke findet man die Bushaltestelle Untere Straße<br />

Doch der Strukturwandel des ländlichen<br />

Raums ging auch an Erkenbrechtsweiler<br />

nicht vorbei. Die Zahl der Landwirte nahm<br />

ab, immer weniger Höfe produzierten<br />

Milch in nennenswertem Umfang, und<br />

auch die Hygienevorschriften wurden verschärft.<br />

Die Milch wurde schließlich mit<br />

Tankwagen auf den Höfen abgeholt und<br />

in Stuttgart weiter verarbeitet, die Molke<br />

verlor ihre Bedeutung, wurde geschlossen<br />

und schließlich abgerissen. „Aber das ist<br />

der Lauf der Zeit. Das Dorf ist heute mit<br />

damals nicht mehr vergleichbar“, sagt Gerhard<br />

Vielhauer.<br />

Text: Peter Stotz<br />

Fotografie: Peter Stotz (1), Archiv (1)<br />

32<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!