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Die Hebamme - Sonja Still

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<strong>Die</strong> <strong>Hebamme</strong><br />

von Obertaufkirchen<br />

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Gelassen und nach wie vor voller Leidenschaft begleitet die <strong>Hebamme</strong><br />

Paula Gruber Neuankömmlinge auf die Welt.<br />

M it einem festen Händedruck begrüßt Paula Gruber<br />

ihren Besuch. <strong>Die</strong> schlanken Hände greifen kräftig<br />

und doch sanft zu. Es sind <strong>Hebamme</strong>nhände. Fünftausendfünfhundert<br />

Babys hat Paula Gruber mit diesen Händen den<br />

Weg auf die Welt geleitet. „<strong>Die</strong> Paula“, wie sie im Dorf<br />

überall genannt wird, empfängt einen mit einem herzlichen<br />

Lächeln, wenn man sie in ihrer <strong>Hebamme</strong>npraxis in<br />

Obertaufkirchen bei Mühldorf am Inn in Bayern besucht.<br />

Den meisten hier aus dem Dorf hat sie auf die Welt geholfen.<br />

Wer um die 60 Jahre oder jünger ist, ist wahrscheinlich mit<br />

ihrer Hilfe geboren. Oft ist es bereits die dritte Generation in<br />

der Familie, die von Paula ins Leben geholt wird. Und wer<br />

die 65 überschritten hat, der dürfte vermutlich mit Hilfe von<br />

Paulas Mutter das Licht der Welt erblickt haben.<br />

<strong>Hebamme</strong>n seit fünf Generationen<br />

Paula Gruber ist in vierter Generation <strong>Hebamme</strong>. Das Haar<br />

der 78-jährigen ist noch immer dunkel. Ein bisserl müde<br />

schaut sie aus, aber das gehört wohl zu ihrem Beruf, hat sie<br />

doch selten eine Nacht durchgehend schlafen können. Irene,<br />

ihre Tochter, stellt ein Tablett mit frisch gebrühtem Kaffee auf<br />

den Tisch. „Eine Tasse Kaffee“, sagt Paula und gießt kräftigen<br />

schwarzen Kaffee ein, „die habe ich immer gebraucht.“ <strong>Die</strong><br />

Wehende<br />

Strampler und<br />

Hemdchen<br />

empfangen uns auf<br />

dem Bauernhof<br />

Kreck. Dort haben<br />

die <strong>Hebamme</strong>n<br />

Paula und Irene<br />

Gruber der<br />

kleinen Antonia<br />

auf die Welt<br />

geholfen.<br />

Tochter hat nur Zeit für einen schnellen Schluck. Sie ist auf<br />

dem Sprung in die Klinik, denn auch Irene ist <strong>Hebamme</strong><br />

geworden. <strong>Die</strong> fünfte Generation der Obertaufkirchner<br />

<strong>Hebamme</strong>n! Eigentlich hat sie am Mozarteum in Salzburg<br />

Harfe studiert, dann nahm sie ein Medizinstudium auf. Doch<br />

der Wunsch, <strong>Hebamme</strong> zu werden und die Familientradition<br />

zu wahren, wurde immer größer. Im zehnten Semester verließ<br />

Irene die Uni und ging auf die <strong>Hebamme</strong>nschule. „Es hat<br />

einfach so sein müssen“, sagt Paula. „Ich hab ihr gesagt, dass<br />

sie sich damit kein bequemes Leben aussucht.“ Inzwischen<br />

hat sich viel geändert. Obwohl auch Irene als selbstständige<br />

<strong>Hebamme</strong> tätig ist, ist sie deutlich mehr in den Klinikalltag<br />

eingebunden. Stress und nie Ruhe, sagt Irene, das kennt sie<br />

aber von klein auf.<br />

Hektik mag sie nicht<br />

Für Paula ist dieser moderne Alltag manchmal weit weg von<br />

dem, was sie mit dem Beruf verbindet. Es ist nicht die harte<br />

Arbeit, sondern die Hektik, die sie nicht mag. Heute, nach<br />

64 <strong>Die</strong>nstjahren, möchte sich Paula einem Klinikalltag nicht<br />

mehr aussetzen. Sie macht vor allem die Nachsorge und<br />

begleitet ihre Tochter bei Hausgeburten. Wenn sie den Alltag<br />

in den Kliniken von heute vergleicht mit ihren Berufsjahren –<br />

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Paula hat es schon so oft erlebt und doch ist es nach 64 Berufsjahren immer<br />

noch etwas Besonderes: die Geburt eines kleinen Putzerls.<br />

dann, so sagt sie, hatte sie schon einen großen Luxus: Zeit.<br />

„Man muss als <strong>Hebamme</strong> das Kind rausleiten können, man<br />

muss dabei bleiben. Heute ist das Klinikpersonal oft woanders<br />

eingespannt und es wird viel vom Mann erwartet, der in der<br />

Klinik dabei ist.“ Früher waren ein, zwei erfahrene Frauen im<br />

Haus anwesend, die wussten, wie eine Frau sich fühlt und die<br />

<strong>Hebamme</strong> konnte die ganze Zeit bei der Gebärenden bleiben.<br />

So etwas kommt heute nur noch bei Hausgeburten vor. „Zur<br />

Hausgeburt kann man aber nur raten, wenn die Schwangerschaft<br />

komplikationslos verläuft“, sagt Irene. Und Paula fügt<br />

an: „Bei mir ist wohl auch deshalb immer alles gut gegangen,<br />

weil ich früh genug den Arzt eingeschaltet habe, wenn eine<br />

Schwierigkeit abzusehen war.“<br />

Mit dem Koffer auf dem Fahrrad<br />

Paula ist in ihren Beruf hineingewachsen. Eine offizielle<br />

Ausbildung hat sie erst nach dem Krieg gemacht. Da hatte sie<br />

schon vielen Kindern auf die Welt geholfen. Bis ins Jahr 1854<br />

lässt sich die Familiengeschichte zurückverfolgen. Von der<br />

Großmutter hat Paula Gruber noch einen alten <strong>Hebamme</strong>nkoffer.<br />

„Den habe ich noch selbst in Verwendung gehabt“,<br />

sagt sie. „Er ist eigentlich recht unpraktisch, aber ich wollt<br />

ihn am Anfang mitnehmen, er war so ein bisserl mein<br />

Glücksbringer.“ Vorwiegend benutzt hat ihn Paulas Mutter.<br />

Sie hat ihn immer hinten auf dem Gepäckträger eingeklemmt<br />

und ist mit dem Rad zu den Frauen gefahren. Nur wenn der<br />

Schnee recht hoch war, dann war sie zu Fuß unterwegs.<br />

<strong>Die</strong> Wege waren oft lang, denn die <strong>Hebamme</strong> von Obertaufkirchen<br />

hatte einen großen Bezirk auf dem Land zu versorgen.<br />

Manchmal hat ein Bauer sie mit dem Wagen abgeholt,<br />

aber selten. Es kam immer drauf an, das wievielte Kind auf<br />

98<br />

Paulas <strong>Hebamme</strong>nkoffer – mit ihm fuhren schon ihre<br />

Großmutter und ihre Mutter zu den Wöchnerinnen.<br />

„Meine Mutter klemmte den Koffer auf dem Gepäckträger<br />

ein und ist mit dem Fahrrad über Land gefahren.“<br />

einem Hof unterwegs war. War es der Stammhalter oder<br />

schon wieder ein weiteres hungriges Mäulchen, das gefüttert<br />

werden musste?<br />

Ein Leben für die Putzerl<br />

Zeit für ein eigenes Leben hatte Paula kaum. Selbst ihre<br />

Hochzeit und die Geburt ihrer eigenen Tochter klingen wie<br />

dazwischen geschoben, zwischen zwei anderen Babys, die auf<br />

die Welt wollten. Am Tag ihrer Hochzeit hatte Paula in der<br />

Nacht eine Frau entbunden. Am Morgen holte ihr zukünftiger<br />

Mann sie ab, denn sie wollten nach München, in der Stadt<br />

heiraten. Da war es bei einer anderen Frau so weit und Paula<br />

wollte schon ihre Hochzeit absagen. Doch die Mutter schickte<br />

sie los und blieb bei der Schwangeren. Paula fuhr in ihrer<br />

grauen Schwesterntracht nach München, das Brautbouquet<br />

hatte sie daheim vergessen. Am Nachmittag kam sie verheiratet<br />

zurück nach Obertaufkirchen und half der nächsten Frau,<br />

ihr Kind auf die Welt zu bringen. „Das war unsere Hochzeitsreise“,<br />

lacht sie. „Von Obertaufkirchen bis München zur<br />

Hochzeit und retour. Mein Mann hat schon viel ausgehalten.<br />

Zeit hab ich nie gehabt“, sinniert sie. Einmal fuhr die Familie<br />

nach Bozen in den Urlaub. Als sie angekommen waren,<br />

mussten sie nach einer halben Stunde wieder zurückkehren,<br />

weil die Mütter im Entbindungsheim daheim ihre Mutter<br />

„überrannten“. Von Bozen hat sie nur das Telefonhäuschen<br />

gesehen.<br />

Im Entbindungsheim<br />

Das Entbindungsheim, das Paulas Mutter 1965 aufbaute,<br />

beherbergte werdende Mütter aus dem ganzen Bezirk. <strong>Die</strong><br />

meisten Niederkommenden blieben für zehn Tage im Heim.


Handwerkszeug von früher: Tinkturen, Thermometer und Hörrohr.<br />

Betreut wurde es abwechselnd von drei Ärzten. Es gab sechs<br />

Doppelzimmer, ein Säuglingszimmer sowie ein Entbindungszimmer.<br />

Mit den Hausgeburten hat Paula erst in den 1980ern begonnen.<br />

Ihre Mutter war gestorben, alleine konnte sie das<br />

Entbindungsheim nicht mehr betreiben. Und dann kam<br />

eine Frau auf sie zu und wollte, dass sie sie bei ihrer Niederkunft<br />

zu Hause begleitete. „Damit begann meine wildeste<br />

Zeit.“ Ihre Augen glänzen, wenn sie davon erzählt. „Ich hatte<br />

einen orangefarbenen R4 und mit dem bin ich dann über<br />

Land zu den Frauen gefahren, die ihre Kinder auf natürliche<br />

Weise, ohne Arzt und Krankenhaus, kriegen wollten.“ Es war<br />

die Zeit, als die jungen Leute in alte Bauernhöfe zogen und<br />

das ursprüngliche Leben suchten. Manchmal waren alle, die<br />

am Hof lebten, mit dabei, spielten Gitarre oder sangen. Oft<br />

schon hat sich die Paula gewundert, wie sie es geschafft hat,<br />

da einem Kind auf die Welt zu helfen. Und dass es immer gut<br />

gegangen ist.<br />

Paula sagt den werdenden Müttern, dass die Geburt weh tun<br />

wird. „Es tut weh“, bestätigt sie. Doch mit der richtigen<br />

Atemtechnik fällt es leichter, und die kann man lernen.<br />

Zu viel sollten sich die werdenden Mütter aber nicht informieren,<br />

meint die 78-Jährige. „Vielleicht liegt es an unserer<br />

Zeit, dass es die Frauen heute besonders perfekt und gut<br />

machen wollen. Manchmal sind sie dadurch aber nur verunsichert.“,<br />

gibt die erfahrene <strong>Hebamme</strong> zu bedenken. In der<br />

100<br />

In guten Händen: Paula hat bereits Christine und nun auch deren Tochter Antonia auf die Welt begleitet.<br />

„Über Land zu den Frauen, die ihre Kinder<br />

zu Hause kriegen wollten.“<br />

Zeit, als Paula mit ihrer Mutter das Entbindungsheim zu<br />

Hause führte, gehörte das Kinderkriegen einfach dazu.<br />

Ein Mäderl traut sich auf die Welt<br />

Christine Kreck wohnt ein paar Orte weiter, in Oberbergkirchen.<br />

Sie erwartet ihr drittes Kind und hat sich diesmal zu<br />

einer Hausgeburt entschlossen. Paula hat bereits Christine<br />

selbst auf die Welt geholt und auch ihre ersten beiden Kinder.<br />

Bei Hannah, heute acht Jahre alt, und Lukas, sechs, war<br />

Christine noch in einem Geburtshaus. Jetzt, beim Dritten,<br />

will sie ihr Kind zu Hause bekommen. Sie hat ihr eigenes Bad,<br />

ihre eigene Toilette, ihr eigenes Bett. „Ich war mir von<br />

vornherein sicher, dass das der richtige Weg für mich ist“,<br />

erzählt sie. Natürlich hat sie alles vorher genau medizinisch<br />

abklären lassen. „Man muss sich ganz sicher sein, denn sonst<br />

würde man mit sich hadern, wenn etwas schiefginge.“ Und<br />

wenn sich Komplikationen abzeichneten – Paula und Irene<br />

würden mit Christine sofort ins Krankenhaus wechseln und<br />

sie dort betreuen. Auch das gibt Christine Sicherheit.<br />

Der Arzt hat einen Geburtstermin ausgerechnet. Doch über<br />

den ist Christine schon hinweg. Also bittet Irene ihre Mutter,<br />

doch noch mal mitzukommen. Und für Paula ist bei einem<br />

Blick auf den Bauch schnell klar, dass Christine noch Zeit hat.<br />

„Du brauchst no a paar Tagerl“, sagt sie am <strong>Die</strong>nstag, „ich tät<br />

schätzen, es wird doch bis Montag gehen.“


Erst ein paar Tage alt, aber putzmunter! Antonia reckt den <strong>Hebamme</strong>n ihr Köpfchen entgegen. Auch Paulas Tochter Irene setzt die Familientradition fort.<br />

Es ist so weit<br />

Am späten Montagnachmittag ist es dann für Christine Kreck<br />

tatsächlich so weit. Paula hat recht gehabt. Mal wieder<br />

machen sich Mutter und Tochter gemeinsam auf den Weg.<br />

Heute fährt Irene, die Tochter.<br />

Nur Christine und ihr Mann sind zu Hause. Hannah und<br />

Lukas sind bei ihrer Großmutter untergebracht. Im Haus der<br />

Familie Kreck angekommen, beginnt das Warten, bis sich<br />

richtig was tut. Es folgt das Abwarten, was sich denn tut. Das<br />

Tun und das Warten steigern sich über die Stunden. Während<br />

der Wehen sind alle ganz still, in den Pausen zwischen den<br />

Schüben unterhalten sich die <strong>Hebamme</strong>n schon mal mit den<br />

werdenden Eltern. Christine kann sich stärken, darf auch<br />

etwas essen. Ihr hilft die Ruhe, die Paula und Irene ausstrahlen.<br />

Das Kind darf nach seinem eigenen Rhythmus kommen.<br />

Und Christine genießt trotz aller Wehen die familiäre, intime<br />

Atmosphäre. Es ist weit nach Mitternacht, fast viertel vor<br />

zwei, als es endlich so weit ist. Ein Mäderl traut sich auf die<br />

Welt. Antonia wird sie heißen, sie ist 53 cm lang und 3 870 g<br />

schwer. <strong>Die</strong> <strong>Hebamme</strong>n legen den Winzling seiner Mutter auf<br />

den Bauch. Leise fängt die Kleine an, selbst zu atmen. <strong>Die</strong><br />

Nabelschnur pulsiert sich aus.<br />

BUCHTIPP Das Buch der Obertaufkirchener <strong>Hebamme</strong>n<br />

Noch zwei Stunden bleiben Paula und ihre Tochter, und am<br />

nächsten Morgen steht Irene wieder an Christines Bett und<br />

versorgt Mutter und Kind. In den Wochen danach kommt<br />

Paula regelmäßig zur Nachsorge zu Christine. Auch wenn sie<br />

bereits zum dritten Mal Mutter geworden ist, so gibt es doch<br />

immer wieder Ratschläge für die Rückbildung und Tipps zum<br />

<strong>Still</strong>en, die sie gerne noch erfährt.<br />

Viele Ratschläge kennt Paula aus ihrer langen Erfahrung,<br />

andere findet sie aber auch in den alten <strong>Hebamme</strong>nbüchern<br />

ihrer Vorfahrinnen, die ihre Erfahrungen über Generationen<br />

festgehalten haben. Ein Fundus, auf den auch Irene gern<br />

zurückgreift. Und was die Zukunft der <strong>Hebamme</strong>n von<br />

Taufkirchen anbetrifft, ist Paula zuversichtlich: Ihre kleine,<br />

fünfjährige Enkelin Diana hat letzthin ihren kleinen rosa<br />

Puppenkoffer gepackt und <strong>Hebamme</strong> gespielt. Mal sehen,<br />

vielleicht wird sie ja in der sechsten Generation die <strong>Hebamme</strong><br />

von Obertaufkirchen.<br />

KONTAKT<br />

Paula und Irene Gruber, <strong>Hebamme</strong>npraxis, Haager Str. 20,<br />

84419 Obertaufkirchen, Tel.: 0 80 82/18 66<br />

Damit nicht nur die Frauen in Obertaufkirchen vom Generationenwissen von Mutter und Tochter<br />

profitieren, haben sie einen Ratgeber für werdende Mütter herausgegeben. Der Leser erfährt<br />

mehr über ihre persönliche Geschichte, über die Entwicklung des Ungeborenen sowie über<br />

Geburtsvorbereitung, Geburt und die Zeit danach. Paula und Irene Gruber: Unser <strong>Hebamme</strong>nrat,<br />

Südwest-Verlag 2006, ISBN-10: 3517082090, 19,95 €<br />

■ Text: <strong>Sonja</strong> <strong>Still</strong><br />

Fotos: <strong>Sonja</strong> <strong>Still</strong> (5),<br />

Gerhard Nixdorf (4)<br />

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