Die Hebamme - Sonja Still
Die Hebamme - Sonja Still
Die Hebamme - Sonja Still
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Die</strong> <strong>Hebamme</strong><br />
von Obertaufkirchen<br />
96
Gelassen und nach wie vor voller Leidenschaft begleitet die <strong>Hebamme</strong><br />
Paula Gruber Neuankömmlinge auf die Welt.<br />
M it einem festen Händedruck begrüßt Paula Gruber<br />
ihren Besuch. <strong>Die</strong> schlanken Hände greifen kräftig<br />
und doch sanft zu. Es sind <strong>Hebamme</strong>nhände. Fünftausendfünfhundert<br />
Babys hat Paula Gruber mit diesen Händen den<br />
Weg auf die Welt geleitet. „<strong>Die</strong> Paula“, wie sie im Dorf<br />
überall genannt wird, empfängt einen mit einem herzlichen<br />
Lächeln, wenn man sie in ihrer <strong>Hebamme</strong>npraxis in<br />
Obertaufkirchen bei Mühldorf am Inn in Bayern besucht.<br />
Den meisten hier aus dem Dorf hat sie auf die Welt geholfen.<br />
Wer um die 60 Jahre oder jünger ist, ist wahrscheinlich mit<br />
ihrer Hilfe geboren. Oft ist es bereits die dritte Generation in<br />
der Familie, die von Paula ins Leben geholt wird. Und wer<br />
die 65 überschritten hat, der dürfte vermutlich mit Hilfe von<br />
Paulas Mutter das Licht der Welt erblickt haben.<br />
<strong>Hebamme</strong>n seit fünf Generationen<br />
Paula Gruber ist in vierter Generation <strong>Hebamme</strong>. Das Haar<br />
der 78-jährigen ist noch immer dunkel. Ein bisserl müde<br />
schaut sie aus, aber das gehört wohl zu ihrem Beruf, hat sie<br />
doch selten eine Nacht durchgehend schlafen können. Irene,<br />
ihre Tochter, stellt ein Tablett mit frisch gebrühtem Kaffee auf<br />
den Tisch. „Eine Tasse Kaffee“, sagt Paula und gießt kräftigen<br />
schwarzen Kaffee ein, „die habe ich immer gebraucht.“ <strong>Die</strong><br />
Wehende<br />
Strampler und<br />
Hemdchen<br />
empfangen uns auf<br />
dem Bauernhof<br />
Kreck. Dort haben<br />
die <strong>Hebamme</strong>n<br />
Paula und Irene<br />
Gruber der<br />
kleinen Antonia<br />
auf die Welt<br />
geholfen.<br />
Tochter hat nur Zeit für einen schnellen Schluck. Sie ist auf<br />
dem Sprung in die Klinik, denn auch Irene ist <strong>Hebamme</strong><br />
geworden. <strong>Die</strong> fünfte Generation der Obertaufkirchner<br />
<strong>Hebamme</strong>n! Eigentlich hat sie am Mozarteum in Salzburg<br />
Harfe studiert, dann nahm sie ein Medizinstudium auf. Doch<br />
der Wunsch, <strong>Hebamme</strong> zu werden und die Familientradition<br />
zu wahren, wurde immer größer. Im zehnten Semester verließ<br />
Irene die Uni und ging auf die <strong>Hebamme</strong>nschule. „Es hat<br />
einfach so sein müssen“, sagt Paula. „Ich hab ihr gesagt, dass<br />
sie sich damit kein bequemes Leben aussucht.“ Inzwischen<br />
hat sich viel geändert. Obwohl auch Irene als selbstständige<br />
<strong>Hebamme</strong> tätig ist, ist sie deutlich mehr in den Klinikalltag<br />
eingebunden. Stress und nie Ruhe, sagt Irene, das kennt sie<br />
aber von klein auf.<br />
Hektik mag sie nicht<br />
Für Paula ist dieser moderne Alltag manchmal weit weg von<br />
dem, was sie mit dem Beruf verbindet. Es ist nicht die harte<br />
Arbeit, sondern die Hektik, die sie nicht mag. Heute, nach<br />
64 <strong>Die</strong>nstjahren, möchte sich Paula einem Klinikalltag nicht<br />
mehr aussetzen. Sie macht vor allem die Nachsorge und<br />
begleitet ihre Tochter bei Hausgeburten. Wenn sie den Alltag<br />
in den Kliniken von heute vergleicht mit ihren Berufsjahren –<br />
97
Paula hat es schon so oft erlebt und doch ist es nach 64 Berufsjahren immer<br />
noch etwas Besonderes: die Geburt eines kleinen Putzerls.<br />
dann, so sagt sie, hatte sie schon einen großen Luxus: Zeit.<br />
„Man muss als <strong>Hebamme</strong> das Kind rausleiten können, man<br />
muss dabei bleiben. Heute ist das Klinikpersonal oft woanders<br />
eingespannt und es wird viel vom Mann erwartet, der in der<br />
Klinik dabei ist.“ Früher waren ein, zwei erfahrene Frauen im<br />
Haus anwesend, die wussten, wie eine Frau sich fühlt und die<br />
<strong>Hebamme</strong> konnte die ganze Zeit bei der Gebärenden bleiben.<br />
So etwas kommt heute nur noch bei Hausgeburten vor. „Zur<br />
Hausgeburt kann man aber nur raten, wenn die Schwangerschaft<br />
komplikationslos verläuft“, sagt Irene. Und Paula fügt<br />
an: „Bei mir ist wohl auch deshalb immer alles gut gegangen,<br />
weil ich früh genug den Arzt eingeschaltet habe, wenn eine<br />
Schwierigkeit abzusehen war.“<br />
Mit dem Koffer auf dem Fahrrad<br />
Paula ist in ihren Beruf hineingewachsen. Eine offizielle<br />
Ausbildung hat sie erst nach dem Krieg gemacht. Da hatte sie<br />
schon vielen Kindern auf die Welt geholfen. Bis ins Jahr 1854<br />
lässt sich die Familiengeschichte zurückverfolgen. Von der<br />
Großmutter hat Paula Gruber noch einen alten <strong>Hebamme</strong>nkoffer.<br />
„Den habe ich noch selbst in Verwendung gehabt“,<br />
sagt sie. „Er ist eigentlich recht unpraktisch, aber ich wollt<br />
ihn am Anfang mitnehmen, er war so ein bisserl mein<br />
Glücksbringer.“ Vorwiegend benutzt hat ihn Paulas Mutter.<br />
Sie hat ihn immer hinten auf dem Gepäckträger eingeklemmt<br />
und ist mit dem Rad zu den Frauen gefahren. Nur wenn der<br />
Schnee recht hoch war, dann war sie zu Fuß unterwegs.<br />
<strong>Die</strong> Wege waren oft lang, denn die <strong>Hebamme</strong> von Obertaufkirchen<br />
hatte einen großen Bezirk auf dem Land zu versorgen.<br />
Manchmal hat ein Bauer sie mit dem Wagen abgeholt,<br />
aber selten. Es kam immer drauf an, das wievielte Kind auf<br />
98<br />
Paulas <strong>Hebamme</strong>nkoffer – mit ihm fuhren schon ihre<br />
Großmutter und ihre Mutter zu den Wöchnerinnen.<br />
„Meine Mutter klemmte den Koffer auf dem Gepäckträger<br />
ein und ist mit dem Fahrrad über Land gefahren.“<br />
einem Hof unterwegs war. War es der Stammhalter oder<br />
schon wieder ein weiteres hungriges Mäulchen, das gefüttert<br />
werden musste?<br />
Ein Leben für die Putzerl<br />
Zeit für ein eigenes Leben hatte Paula kaum. Selbst ihre<br />
Hochzeit und die Geburt ihrer eigenen Tochter klingen wie<br />
dazwischen geschoben, zwischen zwei anderen Babys, die auf<br />
die Welt wollten. Am Tag ihrer Hochzeit hatte Paula in der<br />
Nacht eine Frau entbunden. Am Morgen holte ihr zukünftiger<br />
Mann sie ab, denn sie wollten nach München, in der Stadt<br />
heiraten. Da war es bei einer anderen Frau so weit und Paula<br />
wollte schon ihre Hochzeit absagen. Doch die Mutter schickte<br />
sie los und blieb bei der Schwangeren. Paula fuhr in ihrer<br />
grauen Schwesterntracht nach München, das Brautbouquet<br />
hatte sie daheim vergessen. Am Nachmittag kam sie verheiratet<br />
zurück nach Obertaufkirchen und half der nächsten Frau,<br />
ihr Kind auf die Welt zu bringen. „Das war unsere Hochzeitsreise“,<br />
lacht sie. „Von Obertaufkirchen bis München zur<br />
Hochzeit und retour. Mein Mann hat schon viel ausgehalten.<br />
Zeit hab ich nie gehabt“, sinniert sie. Einmal fuhr die Familie<br />
nach Bozen in den Urlaub. Als sie angekommen waren,<br />
mussten sie nach einer halben Stunde wieder zurückkehren,<br />
weil die Mütter im Entbindungsheim daheim ihre Mutter<br />
„überrannten“. Von Bozen hat sie nur das Telefonhäuschen<br />
gesehen.<br />
Im Entbindungsheim<br />
Das Entbindungsheim, das Paulas Mutter 1965 aufbaute,<br />
beherbergte werdende Mütter aus dem ganzen Bezirk. <strong>Die</strong><br />
meisten Niederkommenden blieben für zehn Tage im Heim.
Handwerkszeug von früher: Tinkturen, Thermometer und Hörrohr.<br />
Betreut wurde es abwechselnd von drei Ärzten. Es gab sechs<br />
Doppelzimmer, ein Säuglingszimmer sowie ein Entbindungszimmer.<br />
Mit den Hausgeburten hat Paula erst in den 1980ern begonnen.<br />
Ihre Mutter war gestorben, alleine konnte sie das<br />
Entbindungsheim nicht mehr betreiben. Und dann kam<br />
eine Frau auf sie zu und wollte, dass sie sie bei ihrer Niederkunft<br />
zu Hause begleitete. „Damit begann meine wildeste<br />
Zeit.“ Ihre Augen glänzen, wenn sie davon erzählt. „Ich hatte<br />
einen orangefarbenen R4 und mit dem bin ich dann über<br />
Land zu den Frauen gefahren, die ihre Kinder auf natürliche<br />
Weise, ohne Arzt und Krankenhaus, kriegen wollten.“ Es war<br />
die Zeit, als die jungen Leute in alte Bauernhöfe zogen und<br />
das ursprüngliche Leben suchten. Manchmal waren alle, die<br />
am Hof lebten, mit dabei, spielten Gitarre oder sangen. Oft<br />
schon hat sich die Paula gewundert, wie sie es geschafft hat,<br />
da einem Kind auf die Welt zu helfen. Und dass es immer gut<br />
gegangen ist.<br />
Paula sagt den werdenden Müttern, dass die Geburt weh tun<br />
wird. „Es tut weh“, bestätigt sie. Doch mit der richtigen<br />
Atemtechnik fällt es leichter, und die kann man lernen.<br />
Zu viel sollten sich die werdenden Mütter aber nicht informieren,<br />
meint die 78-Jährige. „Vielleicht liegt es an unserer<br />
Zeit, dass es die Frauen heute besonders perfekt und gut<br />
machen wollen. Manchmal sind sie dadurch aber nur verunsichert.“,<br />
gibt die erfahrene <strong>Hebamme</strong> zu bedenken. In der<br />
100<br />
In guten Händen: Paula hat bereits Christine und nun auch deren Tochter Antonia auf die Welt begleitet.<br />
„Über Land zu den Frauen, die ihre Kinder<br />
zu Hause kriegen wollten.“<br />
Zeit, als Paula mit ihrer Mutter das Entbindungsheim zu<br />
Hause führte, gehörte das Kinderkriegen einfach dazu.<br />
Ein Mäderl traut sich auf die Welt<br />
Christine Kreck wohnt ein paar Orte weiter, in Oberbergkirchen.<br />
Sie erwartet ihr drittes Kind und hat sich diesmal zu<br />
einer Hausgeburt entschlossen. Paula hat bereits Christine<br />
selbst auf die Welt geholt und auch ihre ersten beiden Kinder.<br />
Bei Hannah, heute acht Jahre alt, und Lukas, sechs, war<br />
Christine noch in einem Geburtshaus. Jetzt, beim Dritten,<br />
will sie ihr Kind zu Hause bekommen. Sie hat ihr eigenes Bad,<br />
ihre eigene Toilette, ihr eigenes Bett. „Ich war mir von<br />
vornherein sicher, dass das der richtige Weg für mich ist“,<br />
erzählt sie. Natürlich hat sie alles vorher genau medizinisch<br />
abklären lassen. „Man muss sich ganz sicher sein, denn sonst<br />
würde man mit sich hadern, wenn etwas schiefginge.“ Und<br />
wenn sich Komplikationen abzeichneten – Paula und Irene<br />
würden mit Christine sofort ins Krankenhaus wechseln und<br />
sie dort betreuen. Auch das gibt Christine Sicherheit.<br />
Der Arzt hat einen Geburtstermin ausgerechnet. Doch über<br />
den ist Christine schon hinweg. Also bittet Irene ihre Mutter,<br />
doch noch mal mitzukommen. Und für Paula ist bei einem<br />
Blick auf den Bauch schnell klar, dass Christine noch Zeit hat.<br />
„Du brauchst no a paar Tagerl“, sagt sie am <strong>Die</strong>nstag, „ich tät<br />
schätzen, es wird doch bis Montag gehen.“
Erst ein paar Tage alt, aber putzmunter! Antonia reckt den <strong>Hebamme</strong>n ihr Köpfchen entgegen. Auch Paulas Tochter Irene setzt die Familientradition fort.<br />
Es ist so weit<br />
Am späten Montagnachmittag ist es dann für Christine Kreck<br />
tatsächlich so weit. Paula hat recht gehabt. Mal wieder<br />
machen sich Mutter und Tochter gemeinsam auf den Weg.<br />
Heute fährt Irene, die Tochter.<br />
Nur Christine und ihr Mann sind zu Hause. Hannah und<br />
Lukas sind bei ihrer Großmutter untergebracht. Im Haus der<br />
Familie Kreck angekommen, beginnt das Warten, bis sich<br />
richtig was tut. Es folgt das Abwarten, was sich denn tut. Das<br />
Tun und das Warten steigern sich über die Stunden. Während<br />
der Wehen sind alle ganz still, in den Pausen zwischen den<br />
Schüben unterhalten sich die <strong>Hebamme</strong>n schon mal mit den<br />
werdenden Eltern. Christine kann sich stärken, darf auch<br />
etwas essen. Ihr hilft die Ruhe, die Paula und Irene ausstrahlen.<br />
Das Kind darf nach seinem eigenen Rhythmus kommen.<br />
Und Christine genießt trotz aller Wehen die familiäre, intime<br />
Atmosphäre. Es ist weit nach Mitternacht, fast viertel vor<br />
zwei, als es endlich so weit ist. Ein Mäderl traut sich auf die<br />
Welt. Antonia wird sie heißen, sie ist 53 cm lang und 3 870 g<br />
schwer. <strong>Die</strong> <strong>Hebamme</strong>n legen den Winzling seiner Mutter auf<br />
den Bauch. Leise fängt die Kleine an, selbst zu atmen. <strong>Die</strong><br />
Nabelschnur pulsiert sich aus.<br />
BUCHTIPP Das Buch der Obertaufkirchener <strong>Hebamme</strong>n<br />
Noch zwei Stunden bleiben Paula und ihre Tochter, und am<br />
nächsten Morgen steht Irene wieder an Christines Bett und<br />
versorgt Mutter und Kind. In den Wochen danach kommt<br />
Paula regelmäßig zur Nachsorge zu Christine. Auch wenn sie<br />
bereits zum dritten Mal Mutter geworden ist, so gibt es doch<br />
immer wieder Ratschläge für die Rückbildung und Tipps zum<br />
<strong>Still</strong>en, die sie gerne noch erfährt.<br />
Viele Ratschläge kennt Paula aus ihrer langen Erfahrung,<br />
andere findet sie aber auch in den alten <strong>Hebamme</strong>nbüchern<br />
ihrer Vorfahrinnen, die ihre Erfahrungen über Generationen<br />
festgehalten haben. Ein Fundus, auf den auch Irene gern<br />
zurückgreift. Und was die Zukunft der <strong>Hebamme</strong>n von<br />
Taufkirchen anbetrifft, ist Paula zuversichtlich: Ihre kleine,<br />
fünfjährige Enkelin Diana hat letzthin ihren kleinen rosa<br />
Puppenkoffer gepackt und <strong>Hebamme</strong> gespielt. Mal sehen,<br />
vielleicht wird sie ja in der sechsten Generation die <strong>Hebamme</strong><br />
von Obertaufkirchen.<br />
KONTAKT<br />
Paula und Irene Gruber, <strong>Hebamme</strong>npraxis, Haager Str. 20,<br />
84419 Obertaufkirchen, Tel.: 0 80 82/18 66<br />
Damit nicht nur die Frauen in Obertaufkirchen vom Generationenwissen von Mutter und Tochter<br />
profitieren, haben sie einen Ratgeber für werdende Mütter herausgegeben. Der Leser erfährt<br />
mehr über ihre persönliche Geschichte, über die Entwicklung des Ungeborenen sowie über<br />
Geburtsvorbereitung, Geburt und die Zeit danach. Paula und Irene Gruber: Unser <strong>Hebamme</strong>nrat,<br />
Südwest-Verlag 2006, ISBN-10: 3517082090, 19,95 €<br />
■ Text: <strong>Sonja</strong> <strong>Still</strong><br />
Fotos: <strong>Sonja</strong> <strong>Still</strong> (5),<br />
Gerhard Nixdorf (4)<br />
101