BOGART 24 (BeOurGuestARTist)
Das Gießener Mitmachmagazin für Creative - Aktuelles und Zeitloses aus Kunst, Kultur und Comic
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GIESSENER<br />
MUSIKANTEN-ADEL II<br />
Nachdem sich <strong>BOGART</strong> in der Nr. 19 der<br />
musikalischen Reise von Styopa a.k.a.<br />
Stephan Pussel – einst durch die Balkanband<br />
Turbo Sapienowa von seinem<br />
Sklavendienst als Trommelmeister auf<br />
einer Galeere freigekauft – ausführlich<br />
widmete, berichtet jetzt mit rotweingelöster<br />
Zunge "augenzwinkernd" sein<br />
Tourbusnachbar Iwan Ladan über seinen<br />
wendungsreichen Lebensweg, bei<br />
dem auch die Musik eine gewisse Rolle<br />
spielt... Harascho!<br />
Iwan Ladan, geboren in Petrograd, gehörte<br />
einer klassischen Oligarchenfamilie an. Er liebte die Lektüre von<br />
Dostojewski und sinnierte über Kant und Voltaire, während er<br />
seine Fechtübungen absolvierte oder mit seiner Laute Liebeslieder<br />
an seine Mutter sang. Nachdem sein Clan an Einfl uss und Zusammenhalt<br />
verlor und Iwan die Wahl zwischen Guillotine und Landesfl<br />
ucht hatte, entschied er sich im letzten Moment doch lieber für das<br />
Exil. Er fl oh in die benachbarten Vereinigten Staaten von Amerika,<br />
wo er sich im beschaulichen Provinznest Las Vegas niederließ. Die<br />
Sehnsucht nach den himmlischen Sphären europäischer Hochkultur<br />
und die durch gelegentliche Spielhallenbesuche merklich dezimierte<br />
Heritage bewegten ihn schließlich zu einem weiteren Umzug.<br />
Nach einem Zwischenhalt bei seiner emigrierten Familie in<br />
Paris gelangte er schließlich nach Bordeaux, wo er ein Studium<br />
des Universalgelehrtenthums mit Spezialisierung in Philosophie,<br />
Physik, Musikwissenschaften und Mathematik aufnahm.<br />
Außerhalb der Universität konnte er sich über seine entrückt philosophischen<br />
Themen lediglich mit einigen sogenannten Clochards<br />
in den vornehmen Banlieus unterhalten und entwickelte so eine<br />
Vorliebe für besonders preiswerten Rotwein. Doch auch hier währte<br />
das Vermögen trotz Iwans Einnahmen aus der allmorgendlichen<br />
Seitengassen-Vorführung seiner wundervollen Lautenkünste nicht<br />
lange und er musste andere Wege fi nden, um seiner neuen Vorliebe<br />
weiter nachzugehen.<br />
So versuchte er es mit der öffentlichen Vorführung immer<br />
weiterer musikalischer Kunststücke, die er sich autodidaktisch<br />
beibrachte: Flügel, Kontrabass, Schallplattenspieler, Gesang<br />
und Sprechgesang baute er bald in seine Performances ein und<br />
konnte so die Zeit bis zu seinem Abschluss fi nanziell überbrücken.<br />
Aufgrund von Ladans guter Herkunft und vom Rotweingenuss ungetrübter<br />
akademischer Leistungen, wurde ihm schließlich angeboten,<br />
eine nach Moldawien outgesourcte Kelterei zu übernehmen und<br />
dort die Produktion voranzutreiben. Iwan nahm nach sehr kurzen<br />
Überlegungen an. Binnen einer Woche wurde die Kelterei geschlossen<br />
und Iwan fl üchtete in die Steppe der Walachei. Dort stieß er auf<br />
ein Kloster und traf in dessen Weinkeller unter Umständen, an die<br />
er sich nicht mehr genau erinnern kann, auf Ina Gasolina und Sergej<br />
Swainanken. Das Balkankollektiv Turbo Sapienowa war geboren<br />
und beschloss, von Sergejs Wahlheimat Gießen aus die Welt mit<br />
guter Laune zu erobern.<br />
Getragen von den Erfolgen des neuen Kollektivs und den Restwirkungen<br />
moldawischen Klosterweins geriet Iwan regelrecht<br />
in einen Gründungsrausch. Er gründete sogleich die Jazz-<br />
Band Ächt Jäzzt, das Live-Elektro-Musikprojekt Colectivo Mamalyga,<br />
einen Veranstaltungsservice, mehrere politische Parteien, eine<br />
Beteiligungsgesellschaft, ein Internet-Startup und die Vereinigung<br />
Gießen Jams zur Förderung improvisierter Musik in der Region.<br />
„Die vielseitigen Engagements mögen aus der Entfernung betrachtet<br />
beliebig erscheinen“, so Ladan, „doch für mich gibt es mit der<br />
Improvisation ein verbindendes Element – die Suche nach dem<br />
Moment in dem das Unwahrscheinliche auf das Außergewöhnliche<br />
trifft und zu Schicksal wird. Wenn man spontan<br />
zusammenkommt, um unmittelbar und sich gegenseitig<br />
ergänzend etwas Neues zu schaffen –<br />
ob im Zusammenspiel auf der Jam Session, dem<br />
gemeinsamen Arrangement einer Eigenkomposition<br />
oder bei der Gestaltung eines neuen Produkts<br />
im Startup – in solchen Momenten fühle ich mich<br />
frei und mit meinen Mitmenschen auf magische<br />
Weise verbunden zugleich. Dieses Gefühl möchte<br />
ich teilen und setze mich daher für die Förderung<br />
improvisierter Musik ein.“<br />
Überwältigt von den horrenden Anfangsinvestitionen<br />
der Projekte sah er sich bald<br />
– und zum ersten mal in seinem Leben<br />
- gezwungen, für Geld auch noch eine Leistung nach den Vorstellungen<br />
von jemandem anderen erbringen zu müssen. Schweren<br />
Herzens trat er den Frondienst bei einer schottisch-amerikanischen<br />
Strategieberatung an.<br />
Doch schon bald fi ngen die Gründungen an, Früchte zu tragen<br />
und er konnte schrittweise zu seinem gewohnten oligarchischen<br />
Lebensstil zurückkehren. So pendelt er nun seit<br />
geraumer Zeit zwischen den Parlamenten der Region, den Bühnen<br />
Deutschlands und dem Gründermekka Berlin hin und her. „Mit den<br />
aktuellen Studio-Aufnahmen von Coletivo Mamalyga“, so Ladan zu<br />
seinem aktuellen künstlerischen Schwerpunkt, „versuchen wir das<br />
Unmögliche, nämlich die spontane Energie ost-europäischer Musik<br />
mit der Eindringlichkeit west-europäischer elektronischer Musik zu<br />
vereinen.“ Ladan hat allerdings auch schon neue Projekte im Auge:<br />
„Kürzlich durfte ich bei einer Musiktheaterproduktion am Stadttheater<br />
mitwirken, die u.a. das Thema ost-europäische Identität beleuchtet<br />
hat. Der ungewohnte Blickwinkel auf die eigene Musik und die<br />
für mich neue dramatische Dimension der Performance, haben mich<br />
inspiriert und für eine Fortsetzung motiviert. Außerdem versuche ich<br />
auf meinen vielen Reisen, die weltweite Szene improvisierter Musik<br />
zu vernetzen. Ich arbeite schon länger daran, einen technischen und<br />
rechtlichen Rahmen zu schaffen, der dies nachhaltig unterstützt.“<br />
© Alla Poppersoni<br />
Ladans Projekte in Gießen und Umgebung:<br />
12.6. Colectivo Mamalyga bei Bessarabia<br />
Swing Club (Cafe Amelie)<br />
12.6. Gießen Jams (Lokal International)<br />
13.6. Ächt Jäzzt (Bruchstraßenfest)<br />
08.8. Turbo Sapienowa<br />
(Folk Festival Grünberg)<br />
WORLDMUSIC AUS GIESSEN<br />
Die Band um die stimmgewaltige Moldawierin Ina Gasolina und<br />
den quirrlig-chaotischen Multiinstrumentalisten Sergej Swainenaken<br />
besticht mit perfekt abgestimmten Arrangements und begibt sich auf<br />
eine höchst abwechslungsreiche Reise durch die osteuropäischen<br />
Musikwelten von Russen-Ska und Gypsy-Punk über Balkan-Beats hin<br />
zu türkischer Polka – Kreation eigener Genres nicht ausgeschlossen.<br />
Hauptsache es geht in die Beine.<br />
Das alles gibt es immer mit einem Schmunzeln auf den Lippen, denn<br />
die Sorge hier könnte sich jemand zu ernst nehmen, braucht keiner<br />
zu haben. Die überwiegend russischen Texte handeln von Kühen in<br />
Flugzeugen, den Reisegewohnheiten eines Papageis, dem Wunsch<br />
eine rosarote Prinzessin zu sein und der Einsicht, der einzig erstrebenswerte<br />
Beruf sei der eines Ska-Musikers.<br />
Wollte man die Musik von Turbo Sapienowa mit einem Wort zusammenfassen,<br />
so wäre es: PARTY!<br />
Vl.n.r.: Styopa (Percussion), Brat Danilo (Gitarre), Ulai (Geige), Artur<br />
Shakur (Kontrabass), Iwan Ladan (Gitarre, Bass, Klavier, Balalaika),<br />
Fantomasz (Schlagzeug), Ina Gasolina (Gesang), Sergej Swainenaken<br />
(Akkordeon, Trompete, Saxophon, Gesang)<br />
© Alla Poppersoni<br />
für Creative<br />
Bogart 13