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Harald Welzer: Das gehirn ist ein bio-kulturelles organ - Wissen ...

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<strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong>: "<strong>Das</strong> Gehirn <strong>ist</strong> <strong>ein</strong> <strong>bio</strong>-<strong>kulturelles</strong> Orga... http://www.tagesspiegel.de/wissen/das-<strong>gehirn</strong>-<strong>ist</strong>-<strong>ein</strong>-b...<br />

http://www.tagesspiegel.de/wissen/das-<strong>gehirn</strong>-<strong>ist</strong>-<strong>ein</strong>-<strong>bio</strong>-<strong>kulturelles</strong>-<strong>organ</strong>/3745734.html<br />

27.01.2011 13:34 Uhr |<br />

<strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong><br />

<strong>Das</strong> me<strong>ist</strong>e vergessen, um das Wichtige zu behalten: Der Soziologe und<br />

Sozialpsychologe <strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong> erklärt im Interview, was <strong>ein</strong> gutes<br />

Gedächtnis <strong>ist</strong>.<br />

<strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong> (52) <strong>ist</strong> Soziologe und Sozialpsychologe,<br />

Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre<br />

Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut der<br />

Uni Essen und... - FOTO: KWI ESSEN/VOLKER WICIOK<br />

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Herr <strong>Welzer</strong>, um kaum <strong>ein</strong> Thema<br />

kümmern sich so viele<br />

wissenschaftliche Disziplinen wie<br />

um Gedächtnis und Erinnerung.<br />

Was reizt Sie daran so sehr?<br />

Wenn man sich wie ich in den Humanund<br />

Kulturwissenschaften bewegt, kommt<br />

man um das Gedächtnis gar nicht herum:<br />

Schließlich <strong>ist</strong> die Fähigkeit,<br />

unterschiedliche Zeitformen<br />

unterscheiden zu können, sich an<br />

Vergangenes zu erinnern und für die<br />

Zukunft zu planen, etwas, das Menschen<br />

von anderen Lebewesen unterscheidet.<br />

Tiere haben viele Gedächtnissysteme, die mit denen des Menschen identisch sind, aber<br />

über <strong>ein</strong> episodisches und auto<strong>bio</strong>grafisches Gedächtnis verfügen nur wir.<br />

Haben Meeresschnecken und Bienen also <strong>ein</strong> Gedächtnis, aber k<strong>ein</strong>e<br />

Erinnerung?<br />

So könnte man das sagen. Wir teilen ganz viele Fähigkeiten mit anderen Lebewesen.<br />

Doch unser neuronales Netzwerk <strong>ist</strong> viel komplexer. Nur wir Menschen haben noch <strong>ein</strong>e<br />

Ebene des Bewussts<strong>ein</strong>s darüber. Wir können uns nicht nur erinnern, sondern uns auch<br />

erinnern, dass wir etwas erinnern – können also bewusst auf das Gedächtnis zugreifen.<br />

Was haben Sie als Soziologe und Sozialpsychologe von den anderen<br />

Disziplinen gelernt, zum Beispiel von den Hirnforschern?<br />

Sehr viel: Ich habe früher sehr orthodox sozialwissenschaftlich gedacht und mich dann<br />

zunehmend für Anatomie und Physiologie des Gehirns interessiert. Mich fasziniert, dass<br />

das menschliche Gehirn sich bis zum jungen Erwachsenenalter entwickelt, und zwar<br />

1 von 3 04.02.2011 11:46


<strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong>: "<strong>Das</strong> Gehirn <strong>ist</strong> <strong>ein</strong> <strong>bio</strong>-<strong>kulturelles</strong> Orga... http://www.tagesspiegel.de/wissen/das-<strong>gehirn</strong>-<strong>ist</strong>-<strong>ein</strong>-b...<br />

unter den Bedingungen s<strong>ein</strong>er jeweiligen h<strong>ist</strong>orischen und kulturellen Umgebung. Es<br />

<strong>ist</strong> also in jeder Hinsicht <strong>ein</strong> <strong>bio</strong>-<strong>kulturelles</strong> Organ.<br />

Und was können die Hirnforscher von Ihnen lernen?<br />

<strong>Das</strong>s wir das menschliche Gehirn nicht verstehen, wenn wir es erstens als individuelles<br />

Organ und zweitens r<strong>ein</strong> <strong>bio</strong>logisch betrachten. Menschliche Gehirne entwickeln sich in<br />

Interaktion mit anderen Gehirnen. <strong>Das</strong> Gedächtnis eignet sich deshalb für <strong>ein</strong>e<br />

interdisziplinäre Betrachtung besonders gut, von der Medizin über die<br />

Neurowissenschaften bis hin zur Literaturwissenschaft.<br />

Was haben Sie für Erfahrungen mit der Interdisziplinarität gemacht,<br />

deren Nutzen ja nicht unumstritten <strong>ist</strong>?<br />

An der Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern <strong>ist</strong> für mich spannend, dass wir so<br />

unterschiedliche Methoden anwenden. Und dass unsere Gütekriterien für Studien und<br />

für Texte so verschieden sind. Über die Schwierigkeiten, die das beim gem<strong>ein</strong>samen<br />

Publizieren verursacht, könnte man <strong>ein</strong> eigenes Buch schreiben.<br />

Als Sozialwissenschaftler haben Sie sich auch damit beschäftigt, dass<br />

Erinnerungen k<strong>ein</strong>e verlässlichen h<strong>ist</strong>orischen Dokumente sind. In Ihrer<br />

Untersuchung „Opa war k<strong>ein</strong> Nazi“ haben Sie herausgefunden, dass viele<br />

junge Deutsche überzeugt sind, ausgerechnet in ihrer Familie habe es zur<br />

Zeit des Nationalsozialismus nur aufrechte Demokraten und mutige<br />

Menschen gegeben. Ist es verzeihlich, sich die Vergangenheit immer<br />

wieder „passend“ zu machen?<br />

Man muss Erinnerungen von der funktionalen Seite aus betrachten. Sie dienen dazu,<br />

sich auf Vergangenes beziehen zu können, um für die Zukunft zu planen. Insofern <strong>ist</strong> es<br />

egal, woraus jemand s<strong>ein</strong>e Erinnerung schöpft, ob aus Filmen, Büchern oder<br />

Gesprächen. Wird das sozial problematisch, erfolgt ja me<strong>ist</strong> <strong>ein</strong>e Korrektur, bei<br />

politischen Themen ergeben sich daraus üblicherweise öffentliche Debatten.<br />

Wie etwa die Debatten über die Generation der 68er.<br />

Wer sich <strong>ein</strong>er Generation zugehörig fühlt, muss eben auch die entsprechenden<br />

Erinnerungen haben. Denn <strong>ein</strong>e Generation <strong>ist</strong> <strong>ein</strong>e Alterskohorte, die sich auch als<br />

Erinnerungsgem<strong>ein</strong>schaft definiert. Notfalls „erfindet“ sich jemand, der zur<br />

68er-Generation gehört, noch <strong>ein</strong>e „wilde“ Phase dazu, in der er demonstriert oder<br />

randaliert hat.<br />

Nicht gerade die besten Voraussetzungen für exakte<br />

Geschichtsschreibung.<br />

Soziale Wahrheiten entstehen eben im Austausch, im Gespräch, anders als<br />

wissenschaftliche Wahrheiten, für die Daten und deren transparente Verarbeitung<br />

maßgeblich sind. Ich bin dafür, beides gut aus<strong>ein</strong>anderzuhalten.<br />

Was <strong>ist</strong> dann aus Ihrer Sicht <strong>ein</strong> gutes Gedächtnis?<br />

2 von 3 04.02.2011 11:46


<strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong>: "<strong>Das</strong> Gehirn <strong>ist</strong> <strong>ein</strong> <strong>bio</strong>-<strong>kulturelles</strong> Orga... http://www.tagesspiegel.de/wissen/das-<strong>gehirn</strong>-<strong>ist</strong>-<strong>ein</strong>-b...<br />

Sicher nicht der spektakuläre Gedächtniskünstler, der sich alle Details merken, aber<br />

zwischen wichtig und unwichtig oft k<strong>ein</strong>e Unterschiede machen kann. Wir müssen das<br />

me<strong>ist</strong>e vergessen, um das Wichtige zu behalten. Zu sehr auf Erfahrung und Erinnerung<br />

zu pochen, kann bei der Deutung von Gegenwart sogar hinderlich s<strong>ein</strong>. Ein gutes<br />

Gedächtnis wäre <strong>ein</strong>es, das <strong>ein</strong>en sicheren Zugriff auf die Informationen ermöglicht, die<br />

man gerade dringend braucht. Leider machen wir regelmäßig die Erfahrung, von<br />

unserem Gedächtnis im Stich gelassen zu werden. Erst gestern war mir das wieder<br />

p<strong>ein</strong>lich: Der Name des früheren Kollegen, den ich in der Straßenbahn getroffen habe,<br />

<strong>ist</strong> mir immer noch nicht <strong>ein</strong>gefallen!<br />

Gedächtnis, Gewalt, Klimawandel, Veränderung von Lebensstilen: Wo <strong>ist</strong><br />

für Sie der „rote Faden“, der alle Ihre Themen verbindet?<br />

Nur von außen betrachtet sieht das aus wie Kraut und Rüben. Vom Gewalt-Thema führt<br />

<strong>ein</strong> direkter Weg zu den kulturellen Folgen des Klimawandels, sobald man sich fragt,<br />

welche neuen Quellen von Gewalt dort entstehen – durch Wassermangel oder wenn<br />

Menschen zu Umweltflüchtlingen werden. Und das führt unweigerlich zur Frage nach<br />

unserem aktuellen Lebensstil, <strong>ein</strong>er klassischen sozialpsychologischen Frage.<br />

Und die Brücke zur Erinnerung?<br />

Wir brauchen für unsere Identität <strong>ein</strong>e Vorstellung von der eigenen Vergangenheit.<br />

Deshalb hat es durchaus s<strong>ein</strong>en Sinn, wenn wir „erinnerungsintensive“ Lebensalter<br />

haben, wie zum Beispiel die Lebensphase zwischen 17 und 22. In dieser Zeit sind<br />

Hirnreifung und Identitätsbildung noch nicht ganz abgeschlossen, zudem machen die<br />

me<strong>ist</strong>en Menschen dann bestimmte Erfahrungen von hoher Bedeutsamkeit zum ersten<br />

Mal.<br />

„Herzstücke der eigenen Lebensgeschichte“ heißen sie in Ihrem aktuellen<br />

Gedächtnis-Buch.<br />

Ohne solche Bezugspunkte, die mir sagen, wo ich hingehöre und zu wem ich gehöre,<br />

wäre alles extrem schwierig. Dann kann man sich nur dem Universum dessen<br />

anschließen, was zu <strong>ein</strong>em bestimmten Zeitpunkt alle denken. Statt das selber zu tun.<br />

<strong>Das</strong> Gespräch führte Adelheid Müller-Lissner.<br />

Chr<strong>ist</strong>ian Gudehus / Ariane Eichenberg / <strong>Harald</strong> <strong>Welzer</strong> (Hrsg): Gedächtnis und<br />

Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar<br />

2010, 364 S., 49,95 Euro.<br />

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