Horizonte 06 - Rudolf Steiner Schule Mayenfels
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Glosse<br />
Zeugnis mit Hindernissen<br />
Diese verfluchten Zeugnisse. Wie schön haben<br />
es da die Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen <strong>Schule</strong>n: Sie<br />
rechnen die Noten aus, geben den Schnitt dem Rektorat und<br />
studieren dann die Reiseprospekte. Aber ich quäle mich mit<br />
diesen Texten herum, die höchst liebevoll und phänomenolo-<br />
gisch charakterisierend die unangenehme Differenz zwischen<br />
dem unerschöpflichen Entwicklungspotenzial zu den nackten<br />
Ergebnissen verschleiern…<br />
Ueli hat sich in diesem Schuljahr sehr Mühe<br />
gegeben. Der arme Kerl, er hat Mühe, warum sage ich nicht<br />
einfach, er kann das und das und das nicht? Habe ich Angst,<br />
ihn zu verletzen? Also nochmals: Ueli hat in diesem Schuljahr<br />
sein Bestes gegeben. Was soll denn das? Und wenn sein Bes-<br />
tes bei anderen das Schlechteste ist, was sie jemals gegeben<br />
haben? Ueli hat in diesem Schuljahr immer wieder schöne<br />
Resultate erzielt. Immer wieder wohlgemerkt, nicht immer<br />
und auch nicht wieder und wieder, sondern immer wieder, es<br />
kam manchmal vor, weiss Gott warum. Und schöne Resultate<br />
bei dieser Sauschrift? Was für eine schiefe Ästhetik ziehe ich<br />
da an den Haaren herbei? Ueli hat in diesem Schuljahr alle<br />
Arbeiten erledigt. Oho, jetzt setze ich den Level aber tief an,<br />
damit er einigermassen gut dasteht, er hat überhaupt was<br />
getan, ist das nicht wunderbar? Jetzt reichts, Klartext her: Ueli<br />
hat in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Schon besser,<br />
aber welche? Und was habe ich getan, um diese Schwierig-<br />
keiten anzugehen, wie gedenke ich, damit umzugehen, bin<br />
ich nicht erst jetzt als Pädagoge gefragt? Ueli hat in diesem<br />
Fach so seine Schwierigkeiten. Seine Texte sind oft sehr kurz<br />
und nicht fehlerfrei. Aha, jetzt haben wirs. Wie lang sollen<br />
denn die Texte sein, habe ich das nicht klar vorgeschrieben?<br />
Warum habe ich seine eingereichten Texte nicht zurückgege-<br />
ben und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie länger<br />
sein müssten? Warum habe ich nicht eine Verbesserung<br />
angefordert, die ich dann auch Wort für Wort korrigiert habe,<br />
um vielleicht sogar eine zweite Verbesserung anzufordern?<br />
Wie anders soll sich der arme Kerl denn verbessern? Also weg<br />
mit den Fehlern. Was ich auch schreibe, es richtet sich gegen<br />
mich und das darf nicht sein, niemals! Ueli hat in diesem Fach<br />
so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern, hätte er sich<br />
etwas mehr anstrengen sollen. Da hast dus, jetzt ist der Speer<br />
umgedreht, das Problem liegt bei dir, mein Lieber, nicht bei<br />
mir, du hast Probleme, nicht ich. Ueli hat in diesem Fach so<br />
seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern, hätte er sich<br />
etwas mehr anstrengen sollen. Er war nicht bereit, seine Texte<br />
im geforderten Umfang zu verfassen. Nicht bereit? Kann ich<br />
eigentlich nicht sagen, er war nicht in der Lage. Also: Ueli hat<br />
in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbes-<br />
sern, hätte er sich etwas mehr anstrengen sollen. Er war nicht<br />
in der Lage, seine Texte im geforderten Umfang zu verfassen.<br />
Jetzt habe ich ein Durcheinander gemacht: Ich werfe ihm vor,<br />
dass er sich zu wenig angestrengt hat – okay – und dann im<br />
gleichen Atemzug, dass er nicht in der Lage dazu war. Kann<br />
ich ihm ein Unvermögen vorwerfen? Bitte etwas genauer.<br />
Ueli hat in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich<br />
zu verbessern, hätte er sich etwas mehr anstrengen sollen.<br />
Vielleicht wäre er dann eher in der Lage gewesen, seine Texte<br />
im geforderten Umfang zu verfassen. Voilà, das sitzt. Das<br />
Kerlchen soll bitte seine Grenzen überschreiten. Aber diese<br />
Konjunktive, sie sind immer so erzmoralisch. Ueli hat in<br />
diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern,<br />
sollte er sich etwas mehr anstrengen. Dann wird es ihm eher<br />
möglich sein, seine Texte im geforderten Umfang zu verfassen.<br />
Fantastisch: Wer sich anstrengt, erreicht mehr. Welch bahn-<br />
brechende Erkenntnis. Ich habe schon lange nicht mehr so<br />
einen banalen Bockmist geschrieben. Und jetzt ist es 23.30<br />
Uhr. Meine Frau schläft schon. Sie weiss, es ist Zeugniszeit<br />
und spielt Witwe. Uelis Zeugnis ist das fünfte von dreihun-<br />
dertfünfzig. Mit der Zeit geht es routinierter. Ich werden dann<br />
bei Ueli Nr. 158 schreiben, dass er gerne mitgemacht hat,<br />
manchmal an seine Grenzen kam, aber sich mit dem nötigem<br />
Einsatz schon verbessern wird. Aber dieses eine Ueli-Zeugnis<br />
muss ich noch fertig machen, sonst macht es mich fertig. Und<br />
während ich sekundenweise in den Schlaf falle, es ist 0.55<br />
Uhr, und wieder aufschrecke, schreibe ich in einer Schrift, die<br />
der von Ueli nicht unähnlich ist: Ich bin froh, dass ich Ueli<br />
kennengelernt habe. Ich spüre, dass er ein reiches Leben vor<br />
sich hat und hoffe, dass ich an einem Ort dieses Lebens stehe,<br />
den er später in seinen Erinnerungen gerne wieder aufsucht.<br />
Wie ich ins Bett kam, weiss ich nicht mehr. Aber am nächsten<br />
Morgen bin ich gut aufgewacht, als hätte ein Engel für mich<br />
zwei Stündchen mehr Schlaf ergaunert.<br />
Daniel Baumgartner<br />
19 <strong>Horizonte</strong> 20<strong>06</strong>/7<br />
Buchtipp<br />
Monika Kiel-Hinrchsen:<br />
Warum Kinder nicht zuhören.<br />
Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende.<br />
Urachhaus, Stuttgart 2005, 198 Seiten,<br />
Fr. 22.70.<br />
»Mein Kind hört einfach nicht auf das, was ich sage!« Liegt<br />
der Grund dafür vielleicht gar nicht beim Kind? Wie muss<br />
ich meine »Botschaft« ausdrücken, damit sie das Kind<br />
erreichen kann? Die Art und Weise, wie wir miteinander<br />
sprechen, ist der Kern jeder menschlichen Beziehung.<br />
Kinder reagieren oft noch viel sensibler als Erwachsene<br />
auf die Signale, die wir mit<br />
unserer Körpersprache, dem<br />
Tonfall und der Art unserer<br />
Formulierungen »zwischen den<br />
Zeilen« aussenden. Deshalb ist<br />
es für die Erziehung von entscheidender<br />
Bedeutung, welche Botschaften<br />
wir jenseits unserer Worte<br />
vermitteln. Wie muss ich mit meinem<br />
Kind in den einzelnen Altersstufen sprechen?<br />
Welche Wirkungen gehen vom<br />
Klang meiner Stimme und von meinen<br />
Gebärden aus? Wie beeinflussen die Situation,<br />
in der sich das Kind befindet, und meine<br />
eigene Befindlichkeit die Verständigung? Wie<br />
schaffe ich es, mir all diese Aspekte so bewusst<br />
zu machen, dass ich sie im Alltag umsetzen<br />
kann? Monika Kiel-Hinrichsen möchte Eltern und<br />
Erziehende mit dem »Handwerkszeug« ausrüsten,<br />
das über eine gelungene Kommunikation die Basis<br />
für eine sinnvolle Erziehungsarbeit bilden kann.<br />
Dieses Buch ist erhältlich in der<br />
Buchhandlung Buchinsel,<br />
Zeughausgasse 31, 4410 Liestal.<br />
Bitte beachten Sie das Inserat auf Seite 24.