04.12.2012 Aufrufe

Horizonte 06 - Rudolf Steiner Schule Mayenfels

Horizonte 06 - Rudolf Steiner Schule Mayenfels

Horizonte 06 - Rudolf Steiner Schule Mayenfels

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Glosse<br />

Zeugnis mit Hindernissen<br />

Diese verfluchten Zeugnisse. Wie schön haben<br />

es da die Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen <strong>Schule</strong>n: Sie<br />

rechnen die Noten aus, geben den Schnitt dem Rektorat und<br />

studieren dann die Reiseprospekte. Aber ich quäle mich mit<br />

diesen Texten herum, die höchst liebevoll und phänomenolo-<br />

gisch charakterisierend die unangenehme Differenz zwischen<br />

dem unerschöpflichen Entwicklungspotenzial zu den nackten<br />

Ergebnissen verschleiern…<br />

Ueli hat sich in diesem Schuljahr sehr Mühe<br />

gegeben. Der arme Kerl, er hat Mühe, warum sage ich nicht<br />

einfach, er kann das und das und das nicht? Habe ich Angst,<br />

ihn zu verletzen? Also nochmals: Ueli hat in diesem Schuljahr<br />

sein Bestes gegeben. Was soll denn das? Und wenn sein Bes-<br />

tes bei anderen das Schlechteste ist, was sie jemals gegeben<br />

haben? Ueli hat in diesem Schuljahr immer wieder schöne<br />

Resultate erzielt. Immer wieder wohlgemerkt, nicht immer<br />

und auch nicht wieder und wieder, sondern immer wieder, es<br />

kam manchmal vor, weiss Gott warum. Und schöne Resultate<br />

bei dieser Sauschrift? Was für eine schiefe Ästhetik ziehe ich<br />

da an den Haaren herbei? Ueli hat in diesem Schuljahr alle<br />

Arbeiten erledigt. Oho, jetzt setze ich den Level aber tief an,<br />

damit er einigermassen gut dasteht, er hat überhaupt was<br />

getan, ist das nicht wunderbar? Jetzt reichts, Klartext her: Ueli<br />

hat in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Schon besser,<br />

aber welche? Und was habe ich getan, um diese Schwierig-<br />

keiten anzugehen, wie gedenke ich, damit umzugehen, bin<br />

ich nicht erst jetzt als Pädagoge gefragt? Ueli hat in diesem<br />

Fach so seine Schwierigkeiten. Seine Texte sind oft sehr kurz<br />

und nicht fehlerfrei. Aha, jetzt haben wirs. Wie lang sollen<br />

denn die Texte sein, habe ich das nicht klar vorgeschrieben?<br />

Warum habe ich seine eingereichten Texte nicht zurückgege-<br />

ben und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie länger<br />

sein müssten? Warum habe ich nicht eine Verbesserung<br />

angefordert, die ich dann auch Wort für Wort korrigiert habe,<br />

um vielleicht sogar eine zweite Verbesserung anzufordern?<br />

Wie anders soll sich der arme Kerl denn verbessern? Also weg<br />

mit den Fehlern. Was ich auch schreibe, es richtet sich gegen<br />

mich und das darf nicht sein, niemals! Ueli hat in diesem Fach<br />

so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern, hätte er sich<br />

etwas mehr anstrengen sollen. Da hast dus, jetzt ist der Speer<br />

umgedreht, das Problem liegt bei dir, mein Lieber, nicht bei<br />

mir, du hast Probleme, nicht ich. Ueli hat in diesem Fach so<br />

seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern, hätte er sich<br />

etwas mehr anstrengen sollen. Er war nicht bereit, seine Texte<br />

im geforderten Umfang zu verfassen. Nicht bereit? Kann ich<br />

eigentlich nicht sagen, er war nicht in der Lage. Also: Ueli hat<br />

in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbes-<br />

sern, hätte er sich etwas mehr anstrengen sollen. Er war nicht<br />

in der Lage, seine Texte im geforderten Umfang zu verfassen.<br />

Jetzt habe ich ein Durcheinander gemacht: Ich werfe ihm vor,<br />

dass er sich zu wenig angestrengt hat – okay – und dann im<br />

gleichen Atemzug, dass er nicht in der Lage dazu war. Kann<br />

ich ihm ein Unvermögen vorwerfen? Bitte etwas genauer.<br />

Ueli hat in diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich<br />

zu verbessern, hätte er sich etwas mehr anstrengen sollen.<br />

Vielleicht wäre er dann eher in der Lage gewesen, seine Texte<br />

im geforderten Umfang zu verfassen. Voilà, das sitzt. Das<br />

Kerlchen soll bitte seine Grenzen überschreiten. Aber diese<br />

Konjunktive, sie sind immer so erzmoralisch. Ueli hat in<br />

diesem Fach so seine Schwierigkeiten. Um sich zu verbessern,<br />

sollte er sich etwas mehr anstrengen. Dann wird es ihm eher<br />

möglich sein, seine Texte im geforderten Umfang zu verfassen.<br />

Fantastisch: Wer sich anstrengt, erreicht mehr. Welch bahn-<br />

brechende Erkenntnis. Ich habe schon lange nicht mehr so<br />

einen banalen Bockmist geschrieben. Und jetzt ist es 23.30<br />

Uhr. Meine Frau schläft schon. Sie weiss, es ist Zeugniszeit<br />

und spielt Witwe. Uelis Zeugnis ist das fünfte von dreihun-<br />

dertfünfzig. Mit der Zeit geht es routinierter. Ich werden dann<br />

bei Ueli Nr. 158 schreiben, dass er gerne mitgemacht hat,<br />

manchmal an seine Grenzen kam, aber sich mit dem nötigem<br />

Einsatz schon verbessern wird. Aber dieses eine Ueli-Zeugnis<br />

muss ich noch fertig machen, sonst macht es mich fertig. Und<br />

während ich sekundenweise in den Schlaf falle, es ist 0.55<br />

Uhr, und wieder aufschrecke, schreibe ich in einer Schrift, die<br />

der von Ueli nicht unähnlich ist: Ich bin froh, dass ich Ueli<br />

kennengelernt habe. Ich spüre, dass er ein reiches Leben vor<br />

sich hat und hoffe, dass ich an einem Ort dieses Lebens stehe,<br />

den er später in seinen Erinnerungen gerne wieder aufsucht.<br />

Wie ich ins Bett kam, weiss ich nicht mehr. Aber am nächsten<br />

Morgen bin ich gut aufgewacht, als hätte ein Engel für mich<br />

zwei Stündchen mehr Schlaf ergaunert.<br />

Daniel Baumgartner<br />

19 <strong>Horizonte</strong> 20<strong>06</strong>/7<br />

Buchtipp<br />

Monika Kiel-Hinrchsen:<br />

Warum Kinder nicht zuhören.<br />

Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende.<br />

Urachhaus, Stuttgart 2005, 198 Seiten,<br />

Fr. 22.70.<br />

»Mein Kind hört einfach nicht auf das, was ich sage!« Liegt<br />

der Grund dafür vielleicht gar nicht beim Kind? Wie muss<br />

ich meine »Botschaft« ausdrücken, damit sie das Kind<br />

erreichen kann? Die Art und Weise, wie wir miteinander<br />

sprechen, ist der Kern jeder menschlichen Beziehung.<br />

Kinder reagieren oft noch viel sensibler als Erwachsene<br />

auf die Signale, die wir mit<br />

unserer Körpersprache, dem<br />

Tonfall und der Art unserer<br />

Formulierungen »zwischen den<br />

Zeilen« aussenden. Deshalb ist<br />

es für die Erziehung von entscheidender<br />

Bedeutung, welche Botschaften<br />

wir jenseits unserer Worte<br />

vermitteln. Wie muss ich mit meinem<br />

Kind in den einzelnen Altersstufen sprechen?<br />

Welche Wirkungen gehen vom<br />

Klang meiner Stimme und von meinen<br />

Gebärden aus? Wie beeinflussen die Situation,<br />

in der sich das Kind befindet, und meine<br />

eigene Befindlichkeit die Verständigung? Wie<br />

schaffe ich es, mir all diese Aspekte so bewusst<br />

zu machen, dass ich sie im Alltag umsetzen<br />

kann? Monika Kiel-Hinrichsen möchte Eltern und<br />

Erziehende mit dem »Handwerkszeug« ausrüsten,<br />

das über eine gelungene Kommunikation die Basis<br />

für eine sinnvolle Erziehungsarbeit bilden kann.<br />

Dieses Buch ist erhältlich in der<br />

Buchhandlung Buchinsel,<br />

Zeughausgasse 31, 4410 Liestal.<br />

Bitte beachten Sie das Inserat auf Seite 24.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!