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Leitsätze der Christlichen Glaubenslehre Friedich Schleiermachers

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Einleitung<br />

§ 1. Diese Einleitung hat keinen an<strong>der</strong>n Zweck, als teils die dem Werke selbst zum<br />

Grunde liegende Erklärung <strong>der</strong> Dogmatik aufzustellen, teils die in demselben befolgte<br />

Methode und Anordnung zu bevorworten.<br />

Zur Erklärung <strong>der</strong> Dogmatik<br />

§ 2. Da die Dogmatik eine theologische Disziplin ist, und also lediglich auf die christliche<br />

Kirche ihre Beziehung hat: so kann auch nur erklärt werden, was sie ist, wenn<br />

man sich über den Begriff <strong>der</strong> christlichen Kirche verständiget hat.<br />

Zum Begriff <strong>der</strong> Kirche, Lehnsätze aus <strong>der</strong> Ethik<br />

§ 3. Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht,<br />

ist rein für sich betrachtet we<strong>der</strong> ein Wissen noch ein Tun, son<strong>der</strong>n eine Bestimmtheit<br />

des Gefühls o<strong>der</strong> des unmittelbaren Selbstbewußtseins.<br />

§ 4. Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen <strong>der</strong> Frömmigkeit, wodurch<br />

diese sich zugleich von allen an<strong>der</strong>n Gefühlen unterscheiden, also das sich<br />

selbst gleiche Wesen <strong>der</strong> Frömmigkeit, ist dieses, daß wir unsrer selbst als schlechthin<br />

abhängig, o<strong>der</strong>, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.<br />

§ 5. Das Beschriebene bildet die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins,<br />

welche jedoch in ihrem wirklichen Vorkommen von <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>en niemals getrennt ist,<br />

und durch die Verbindung mit <strong>der</strong>selben zu einer Einheit des Momentes auch Anteil<br />

bekommt an dem Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen.<br />

§ 6. Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes wesentliche Element <strong>der</strong> menschlichen<br />

Natur in seiner Entwicklung notwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits<br />

ungleichmäßige, fließende, andrerseits bestimmt begrenzte, d.h. Kirche.<br />

§ 7. Die verschiedenen in <strong>der</strong> Geschichte hervortretenden, bestimmt begrenzten<br />

frommen Gemeinschaften verhalten sich zueinan<strong>der</strong> teils als verschiedene Entwicklungsstufen,<br />

teils als verschiedene Arten.<br />

§ 8. Diejenigen Gestaltungen <strong>der</strong> Frömmigkeit, in welchen alle frommen Gemütszustände<br />

die Abhängigkeit alles Endlichen von einem Höchsten und Unendlichen aussprechen,<br />

d.i. die monotheistischen, nehmen die höchste Stufe ein, und alle an<strong>der</strong>en<br />

verhalten sich zu ihnen wie untergeordnete, von welchen den Menschen bestimmt ist,<br />

zu jenen höheren überzugehen.<br />

§ 9. Als verschiedenartig entfernen sich am weitesten voneinan<strong>der</strong> diejenigen Gestaltungen<br />

<strong>der</strong> Frömmigkeit, welche in Bezug auf die frommen Erregungen entgegengesetzt<br />

die einen das Natürliche in den menschlichen Zuständen dem Sittlichen, die an<strong>der</strong>en<br />

das Sittliche dem Natürlichen unterordnen.<br />

§ 10. Jede einzelne Gestaltung gemeinschaftlicher Frömmigkeit ist Eine, teils äußerlich<br />

als ein von einem bestimmten Anfang ausgehendes Geschichtlichstetiges, teils<br />

innerlich als eigentümliche Abän<strong>der</strong>ung alles dessen, was in je<strong>der</strong> ausgebildeten<br />

1


Glaubensweise <strong>der</strong>selben Art und Abstufung auch vorkommt, und aus beiden zusammengenommen<br />

ist das eigentümliche Wesen einer jeden zu ersehen.<br />

Darstellung des Christentums seinem eigentümlichen Wesen nach. Lehnsätze aus <strong>der</strong><br />

Apologetik<br />

§ 11. Das Christentum ist eine <strong>der</strong> teleologischen Richtung <strong>der</strong> Frömmigkeit angehörige<br />

monotheistische Glaubensweise und unterscheidet sich von an<strong>der</strong>n solchen wesentlich<br />

dadurch, daß alles in <strong>der</strong>selben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth<br />

vollbrachte Erlösung.<br />

§ 12. Das Christentum steht zwar in einem beson<strong>der</strong>en geschichtlichen Zusammenhange<br />

mit dem Judentum; was aber sein geschichtliches Dasein und seine Abzwekkung<br />

betrifft, so verhält es sich zu Judentum und Heidentum gleich.<br />

§ 13. Die Erscheinung des Erlösers in <strong>der</strong> Geschichte ist als göttliche Offenbarung<br />

we<strong>der</strong> etwas schlechthin Übernatürliches noch etwas schlechthin Übervernünftiges.<br />

§ 14. Es gibt keine an<strong>der</strong>e Art, an <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaft Anteil zu erhalten,<br />

als durch den Glauben an Jesum als den Erlöser.<br />

Vom Verhältnis <strong>der</strong> Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit<br />

§ 15. Christliche Glaubenssätze sind Auffassungen <strong>der</strong> christlich frommen Gemütszustände<br />

in <strong>der</strong> Rede dargestellt.<br />

§ 16. Dogmatische Sätze sind Glaubenssätze von <strong>der</strong> darstellend belehrenden Art, bei<br />

welchen <strong>der</strong> höchst mögliche Grad <strong>der</strong> Bestimmtheit bezweckt wird.<br />

§ 17. Dogmatische Sätze haben einen zwiefachen Wert, einen kirchlichen und einen<br />

wissenschaftlichen; und durch beide und das Verhältnis bei<strong>der</strong> zueinan<strong>der</strong> wird ihre<br />

Vollkommenheit bestimmt.<br />

§ 18. Die Zusammenstellung dogmatischer Sätze, um sie miteinan<strong>der</strong> zu verknüpfen<br />

und aufeinan<strong>der</strong> zu beziehen, geht von dem nämlichen Bedürfnis aus wie die dogmatische<br />

Satzbildung selbst und ist nur eine natürliche Folge von dieser.<br />

§ 19. Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange <strong>der</strong> in<br />

einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre.<br />

Von <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong> Dogmatik<br />

§ 20. Da jedes System <strong>der</strong> <strong>Glaubenslehre</strong> als Darstellung <strong>der</strong> dogmatischen Theologie<br />

ein in sich abgeschlossenes und genau verbundenes Ganze von dogmatischen Sätzen<br />

ist: so ist in Bezug auf die vorhandene Masse von solchen Sätzen zuerst eine Regel<br />

aufzustellen, wonach die einen aufgenommen werden und die an<strong>der</strong>n ausgeschlossen;<br />

dann aber auch ein Prinzip ihrer Anordnung und Verbindung.<br />

Von <strong>der</strong> Ausson<strong>der</strong>ung des dogmatischen Stoffs<br />

2


§ 21. Um ein Gebäude <strong>der</strong> <strong>Glaubenslehre</strong> zustande zu bringen, muß man aus <strong>der</strong> Gesamtheit<br />

des dogmatischen Stoffes zunächst alles Ketzerische ausscheiden, und nur<br />

das Kirchliche zurückbehalten.<br />

§ 22. Die natürlichen Ketzereien am Christentum sind die doketische und nazoräische,<br />

die manichäische und pelagianische.<br />

§ 23. Eine zu jetziger Zeit innerhalb <strong>der</strong> abendländischen Kirche aufzustellende <strong>Glaubenslehre</strong><br />

kann sich zu dem Gegensatz zwischen dem Römischkatholischen und dem<br />

Protestantischen nicht gleichgültig verhalten, son<strong>der</strong>n muß einem von beiden Glie<strong>der</strong>n<br />

angehören.<br />

§ 24. Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen<br />

Mißbräuchen war, son<strong>der</strong>n eine eigentümliche Gestaltung <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaft<br />

aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus<br />

und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des Einzelnen<br />

zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, <strong>der</strong> letztere aber<br />

umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis<br />

zur Kirche.<br />

§ 25. Je<strong>der</strong> evangelischen Dogmatik gebührt es, Eigentümliches zu enthalten, nur daß<br />

es in <strong>der</strong> einen mehr als in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n, und bald in diesen, bald in jenen Lehrstücken<br />

stärker hervortritt.<br />

§ 26. Wie schon seit langer Zeit in <strong>der</strong> evangelischen Kirche christliche <strong>Glaubenslehre</strong><br />

und christliche Sittenlehre geschieden sind: so scheiden auch wir für unsere Darstellung<br />

aus <strong>der</strong> Gesamtheit des dogmatischen Stoffes diejenigen Glaubenssätze ab,<br />

welche Elemente <strong>der</strong> christlichen Sittenlehre sind.<br />

Von <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Dogmatik<br />

§ 27. Alle Sätze, welche auf einen Ort in einem Inbegriff evangelischer Lehre Anspruch<br />

machen, müssen sich bewähren teils durch Berufung auf evangelische Bekenntnisschriften,<br />

und in Ermangelung <strong>der</strong>en auf die neutestamentischen Schriften,<br />

teils durch Darlegung ihrer Zusammengehörigkeit mit an<strong>der</strong>n schon anerkannten<br />

Lehrsätzen.<br />

§ 28. Der dialektische Charakter <strong>der</strong> Sprache und die systematische Anordnung geben<br />

<strong>der</strong> Dogmatik die ihr wesentliche wissenschaftliche Gestaltung.<br />

§ 29. Wir werden den Umfang <strong>der</strong> christlichen Lehre erschöpfen, wenn wir die Tatsachen<br />

des frommen Selbstbewußtseins betrachten zuerst so, wie <strong>der</strong> in dem Begriff <strong>der</strong><br />

Erlösung ausgedrückte Gegensatz sie schon voraussetzt, dann aber auch so, wie sie<br />

durch denselben bestimmt sind.<br />

§ 30. Alle Sätze, welche die christliche <strong>Glaubenslehre</strong> aufzustellen hat, können gefaßt<br />

werden entwe<strong>der</strong> als Beschreibungen menschlicher Lebenszustände, o<strong>der</strong> als Begriffe<br />

von göttlichen Eigenschaften und Handlungsweisen, o<strong>der</strong> als Aussagen von Beschaffenheiten<br />

<strong>der</strong> Welt; und alle diese drei Formen haben immer nebeneinan<strong>der</strong> bestanden.<br />

3


§ 31. Die oben angegebene Einteilung wird also nach allen diesen drei Formen <strong>der</strong><br />

Reflexion über die frommen Gemütserregungen vollständig durchzuführen sein, und<br />

zwar so, daß überall die unmittelbare Beschreibung <strong>der</strong> Gemütszustände selbst zum<br />

Grunde gelegt wird.<br />

Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins, wie es in je<strong>der</strong> christlich frommen Gemütserregung<br />

immer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer mit enthalten ist<br />

§ 32. In jedem christlich frommen Selbstbewußtsein wird immer schon vorausgesetzt<br />

und ist also auch darin mit enthalten das im unmittelbaren Selbstbewußtsein Sichschlechthin-abhängig-Finden<br />

als die einzige Weise, wie im allgemeinen das eigene<br />

Sein und das unendliche Sein Gottes im Selbstbewußtsein Eines sein kann.<br />

§ 33. Die Anerkennung, daß dieses schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, indem darin<br />

unser Selbstbewußtsein die Endlichkeit des Seins im allgemeinen vertritt (vgl. § 8,2),<br />

nicht etwas Zufälliges ist, noch auch etwas persönlich Verschiedenes, son<strong>der</strong>n ein allgemeines<br />

Lebenselement, ersetzt für die <strong>Glaubenslehre</strong> vollständig alle sogenannten<br />

Beweise für das Dasein Gottes.<br />

§ 34. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ist in je<strong>der</strong> christlich frommen Erregung<br />

mit enthalten, in dem Maß als darin, vermittelst dessen, wodurch sie mit bestimmt<br />

wird, zum Bewußtsein kommt, daß wir in einen allgemeinen Naturzusammenhang<br />

gestellt sind, d. h. in dem Maß, als wir uns darin unsrer selbst als Teil <strong>der</strong> Welt<br />

bewußt sind.<br />

§ 35. Wir werden also nach Maßgabe <strong>der</strong> drei aufgestellten Formen (vgl. § 30) hier zu<br />

beschreiben haben zuerst das in jenem Selbstbewußtsein gesetzte Verhältnis zwischen<br />

dem endlichen Sein <strong>der</strong> Welt und dem unendlichen Sein Gottes; dann im zweiten Abschnitt,<br />

wie geeigenschaftet in jenem Selbstbewußtsein Gott in Beziehung auf die<br />

Welt gesetzt wird; endlich im dritten Abschnitt, wie beschaffen in demselben die Welt<br />

vermöge <strong>der</strong> schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott gesetzt ist.<br />

Beschreibung unseres frommen Selbstbewußtseins, sofern sich darin das Verhältnis<br />

zwischen <strong>der</strong> Welt und Gott ausdrückt<br />

Einleitung<br />

§ 36. Der ursprüngliche Ausdruck dieses Verhältnisses, daß nämlich die Welt nur in<br />

<strong>der</strong> schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott besteht, spaltet sich in <strong>der</strong> kirchlichen<br />

Lehre in die beiden Sätze, daß die Welt von Gott erschaffen ist, und daß Gott die Welt<br />

erhält.<br />

§ 37. Da die evangelische Kirche beide Lehren aufgenommen, aber in ihren Bekenntnisschriften<br />

keine von beiden eigentümlich gestaltet hat: so liegt uns ob, sie so zu behandeln,<br />

daß sie zusammengenommen den ursprünglichen Ausdruck erschöpfen.<br />

§ 38. Aus je<strong>der</strong> von beiden Lehren kann alles entwickelt werden, was in dem ursprünglichen<br />

Ausdruck enthalten ist, wenn nur in beiden Gott ebenso allein bestimmend<br />

gedacht wird wie in jenem.<br />

4


§ 39. Die Lehre von <strong>der</strong> Schöpfung ist vorzüglich in <strong>der</strong> Hinsicht zu entwickeln, daß<br />

Fremdartiges abgewehrt werde, damit nicht aus <strong>der</strong> Art, wie die Frage nach dem Entstehen<br />

an<strong>der</strong>wärts beantwortet wird, etwas in unser Gebiet einschleiche, was mit dem<br />

reinen Ausdruck des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls im Wi<strong>der</strong>spruch steht.<br />

Die Lehre von <strong>der</strong> Erhaltung aber vorzüglich, um daran jenes Grundgefühl selbst<br />

vollkommen darzustellen.<br />

§ 40. Dem hier zum Grunde liegenden frommen Selbstbewußtsein wi<strong>der</strong>spricht jede<br />

Vorstellung von dem Entstehen <strong>der</strong> Welt, durch welche irgendetwas von dem Entstandensein<br />

durch Gott ausgeschlossen, o<strong>der</strong> Gott selbst unter die erst in <strong>der</strong> Welt und<br />

durch die Welt entstandenen Bestimmungen und Gegensätze gestellt wird.<br />

§ 41. Wenn <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Schöpfung weiter entwickelt werden soll, so muß das Entstehen<br />

<strong>der</strong> Welt zwar ganz auf die göttliche Tätigkeit zurückgeführt werden, aber<br />

nicht so, daß diese nach Art <strong>der</strong> menschlichen bestimmt werde; und das Entstehen <strong>der</strong><br />

Welt soll als die allen Wechsel bedingende Zeiterfüllung dargestellt werden, aber<br />

nicht so, daß die göttliche Tätigkeit selbst eine zeitliche würde.<br />

§ 42. Da diese in den alttestamentischen Büchern einheimische Vorstellung auch in<br />

das Neue Testament hinübergekommen ist, und auf <strong>der</strong> einen Seite we<strong>der</strong> etwas Unmögliches<br />

in sich schließt, noch mit <strong>der</strong> Grundlage alles gottgläubigen Bewußtseins<br />

im Wi<strong>der</strong>spruch steht, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite aber nirgends in den Kreis <strong>der</strong> eigentlichen<br />

christlichen Lehre hineingezogen ist: so kann sie auch ferner in <strong>der</strong> christlichen Sprache<br />

vorkommen, ohne jedoch daß wir verpflichtet wären, etwas über ihre Realität<br />

festzustellen.<br />

§ 43. Das Einzige, was als Lehre über die Engel aufgestellt werden kann, ist dieses,<br />

daß ob Engel sind, auf unsere Handlungsweise keinen Einfluß haben darf, und daß<br />

Offenbarungen ihres Daseins jetzt nicht mehr zu erwarten sind.<br />

Zweiter Anhang: Vom Teufel<br />

§ 44. Die Vorstellung vom Teufel, wie sie sich unter uns ausgebildet hat, ist so haltungslos,<br />

daß man eine Überzeugung von ihrer Wahrheit niemandem zumuten kann;<br />

aber unsere Kirche hat auch niemals einen doktrinalen Gebrauch davon gemacht.<br />

§ 45. Da nun auch in den neutestamentischen Schriften <strong>der</strong> Teufel zwar häufig vorkommt,<br />

aber doch we<strong>der</strong> Christus noch die Apostel eine neue Lehre über ihn aufstellen,<br />

noch weniger diese Vorstellung irgend in unsre Heilsordnung verflechten: so dürfen<br />

wir über diesen Gegenstand nichts an<strong>der</strong>es für die christliche <strong>Glaubenslehre</strong> festsetzen,<br />

als daß, was auch über den Teufel ausgesagt werde, dadurch bedingt ist, daß<br />

<strong>der</strong> Glaube an ihn auf keine Weise als eine Bedingung des Glaubens an Gott o<strong>der</strong> an<br />

Christum aufgestellt werden darf, und daß von einem Einfluß desselben innerhalb des<br />

Reiches Gottes nicht die Rede sein kann.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> Erhaltung<br />

§ 46. Das fromme Selbstbewußtsein, vermöge dessen wir alles, was uns erregt und auf<br />

uns einwirkt, in die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott stellen, fällt ganz zusam-<br />

5


men mit <strong>der</strong> Einsicht, daß eben dieses alles durch den Naturzusammenhang bedingt<br />

und bestimmt ist.<br />

§ 47. Aus dem Interesse <strong>der</strong> Frömmigkeit kann nie ein Bedürfnis entstehen, eine Tatsache<br />

so aufzufassen, daß durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr Bedingtsein durch<br />

den Naturzusammenhang schlechthin aufgehoben werde.<br />

§ 48. Erregungen des Selbstbewußtseins, welche Lebenshemmungen ausdrücken, sind<br />

vollkommen ebenso in die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott zu stellen, wie diejenigen,<br />

welche eine Lebensför<strong>der</strong>ung ausdrücken.<br />

§ 49. Ob das, was unser Selbstbewußtsein erregt, mithin auf uns einwirkt, auf irgendeinen<br />

Teil des sogenannten Naturmechanismus zurückzuführen ist o<strong>der</strong> auf die Tätigkeit<br />

freier Ursachen: das eine ist vollkommen ebenso wie das an<strong>der</strong>e von Gott geordnet.<br />

Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das fromme Selbstbewußtsein, sofern<br />

es das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und <strong>der</strong> Welt ausdrückt, beziehen<br />

§ 50. Alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, sollen nicht etwas Beson<strong>der</strong>es in<br />

Gott bezeichnen, son<strong>der</strong>n nur etwas Beson<strong>der</strong>es in <strong>der</strong> Art, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl<br />

auf ihn zu beziehen.<br />

§ 51. Die schlechthinnige Ursächlichkeit, auf welche das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl<br />

zurückweiset, kann nur so beschrieben werden, daß sie auf <strong>der</strong> einen Seite<br />

von <strong>der</strong> innerhalb des Naturzusammenhanges enthaltenen unterschieden, ihr also entgegengesetzt,<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite aber dem Umfange nach ihr gleichgesetzt wird.<br />

Erstes Lehrstück: Gott ist ewig<br />

§ 52. Unter <strong>der</strong> Ewigkeit Gottes verstehen wir die mit allem Zeitlichen auch die Zeit<br />

selbst bedingende schlechthin zeitlose Ursächlichkeit Gottes.<br />

Zweites Lehrstück: Gott ist allgegenwärtig<br />

§ 53. Unter <strong>der</strong> Allgegenwart Gottes verstehen wir die mit allem Räumlichen auch<br />

den Raum selbst bedingende schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes.<br />

Drittes Lehrstück: Gott ist allmächtig<br />

§ 54. In dem Begriff <strong>der</strong> göttlichen Allmacht ist so sowohl dieses enthalten, daß <strong>der</strong><br />

gesamte, alle Räume und Zeiten umfassende Naturzusammenhang in <strong>der</strong> göttlichen,<br />

als ewig und allgegenwärtig aller endlichen entgegengesetzten, Ursächlichkeit gegründet<br />

ist, als auch dieses, daß die göttliche Ursächlichkeit, wie unser Abhängigkeitsgefühl<br />

sie aussagt, in <strong>der</strong> Gesamtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt<br />

wird, mithin auch alles wirklich wird und geschieht, wozu es eine Ursächlichkeit in<br />

Gott gibt.<br />

Viertes Lehrstück: Gott ist Allwissend<br />

6


§ 55. Unter <strong>der</strong> göttlichen Allwissenheit ist zu denken die schlechthinnige Geistigkeit<br />

<strong>der</strong> göttlichen Allmacht.<br />

Anhang zum zweiten Abschnitt. Von einigen an<strong>der</strong>n göttlichen Eigenschaften<br />

§ 56. Unter den gewöhnlich angeführten göttlichen Eigenschaften würden als keinen<br />

Bezug habend auf den in den Erregungen des frommen Bewußtseins statthabenden<br />

Gegensatz vornehmlich noch hierher gehören die Einheit, Unendlichkeit und Einfachheit<br />

Gottes; allein diese können nicht in demselben Sinn wie die bisher abgehandelten<br />

als göttliche Eigenschaften angesehen werden.<br />

Von <strong>der</strong> Beschaffenheit <strong>der</strong> Welt, welche in dem frommen Selbstbewußtsein, sofern es<br />

das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und <strong>der</strong> Welt ausdrückt, angedeutet ist<br />

§ 57. Die Allgemeinheit des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls schließt in sich<br />

den Glauben an eine ursprüngliche Vollkommenheit <strong>der</strong> Welt.<br />

§ 58. Der beschriebene Glaube ist darzustellen in zwei Lehrstücken, <strong>der</strong>en eines von<br />

<strong>der</strong> Vollkommenheit <strong>der</strong> übrigen Welt in Beziehung auf den Menschen handelt, das<br />

an<strong>der</strong>e von <strong>der</strong> Vollkommenheit des Menschen selbst.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> ursprünglichen Vollkommenheit <strong>der</strong> Welt<br />

§ 59. Je<strong>der</strong> Moment, in welchem wir uns dem uns äußerlich gegebenen Sein gegenüberstellen,<br />

enthält teils die Voraussetzung, daß die Welt dem menschlichen Geist eine<br />

Fülle von Reizmitteln darbiete zur Entwicklung <strong>der</strong> Zustände, an denen sich das<br />

Gottesbewußtsein verwirklichen kann, teils die, daß sie sich in mannigfaltigen Abstufungen<br />

von ihm behandeln lasse, um ihm als Organ und als Darstellungsmittel zu dienen.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen<br />

§ 60. Die Richtung auf das Gottesbewußtsein schließt als innerer Trieb das Bewußtsein<br />

des Vermögens in sich, mittelst des menschlichen Organismus zu denjenigen<br />

Zuständen des Selbstbewußtseins zu gelangen, an welchen sich das Gottesbewußtsein<br />

verwirklichen kann; und <strong>der</strong> davon unzertrennliche Trieb, das Gottesbewußtsein zu<br />

äußern, schließt ebenso den Zusammenhang des Gattungsbewußtsein mit dem persönlichen<br />

Selbstbewußtsein in sich, und beides zusammen ist die ursprüngliche Vollkommenheit<br />

des Menschen.<br />

§ 61. Wie sich vermöge dieser ursprünglichen Vollkommenheit <strong>der</strong> menschlichen Natur<br />

ein jedes vermittelst <strong>der</strong> Erzeugung ans Licht tretende menschliche Leben entwikkelt,<br />

das gibt die Fülle <strong>der</strong> Erfahrung im Gebiete des Glaubens: wie aber unter <strong>der</strong>selben<br />

Voraussetzung die ersten Menschen sich entwickelt haben, davon fehlt uns die<br />

Geschichte; und die darüber vorhandenen Andeutungen können keine Glaubenssatz<br />

bilden in unserm Sinne des Wortes.<br />

Einleitung<br />

7


Entwicklung <strong>der</strong> Tatsachen des frommen Selbstbewußtseins, wie sie durch den Gegensatz<br />

bestimmt sind<br />

§ 62. Das bisher beschriebene Gottesbewußtsein kommt als wirkliche Erfüllung eines<br />

Momentes nur vor unter <strong>der</strong> allgemeinen Form des Selbstbewußtseins, nämlich dem<br />

Gegensatz von Lust und Unlust.<br />

§ 63. Wenn wir nun im allgemeinen die Art, wie sich das Gottesbewußtsein an und<br />

mit dem erregten Selbstbewußtsein gestaltet, nur auf die Tat des Einzelnen zurückführen<br />

können: so besteht das Eigentümliche <strong>der</strong> christlichen Frömmigkeit darin, daß wir<br />

uns dessen, was in unsern Zuständen Abwendung von Gott ist, als unserer ursprünglichen<br />

Tat bewußt sind, welche wir Sünde nennen, dessen aber, was darin Gemeinschaft<br />

mit Gott ist, als auf einer Mitteilung des Erlösers beruhend, welche wir Gnade<br />

nennen.<br />

§ 64. Unsere Darstellung erfor<strong>der</strong>t, beides zu trennen, so daß wir zuerst von <strong>der</strong> Sünde<br />

und hernach von <strong>der</strong> Gnade handeln, beides nach allen drei Formen dogmatischer<br />

Sätze.<br />

Des Gegensatzes erste Seite<br />

Entwicklung des Bewußtseins <strong>der</strong> Sünde<br />

§ 65. Alle hier aufzustellenden Sätze müssen mit denen gleicher Form des ersten Teils<br />

zusammenstimmen und sich auf sie beziehen, ebenso aber müssen sie auf die Sätze<br />

<strong>der</strong> zweiten Seite, welche das Bewußtsein <strong>der</strong> Gnade entwickeln, hinsehen, und diese<br />

dabei vorbehalten bleiben.<br />

Die Sünde als Zustand des Menschen<br />

§ 66. Wir haben das Bewußtsein <strong>der</strong> Sünde, sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte<br />

o<strong>der</strong> irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust<br />

bestimmt, und begreifen deshalb die Sünde als einen positiven Wi<strong>der</strong>streit; des<br />

Fleisches gegen den Geist.<br />

§ 67. Wir sind uns <strong>der</strong> Sünde bewußt als <strong>der</strong> Kraft und des Werkes einer Zeit, in welcher<br />

die Richtung auf das Gottesbewußtsein noch nicht in uns hervorgetreten war.<br />

§ 68. Wir können die Sünde, wiewohl sie aus <strong>der</strong> ungleichmäßigen Entwicklung <strong>der</strong><br />

Einsicht und <strong>der</strong> Willenskraft so zu begreifen ist, daß durch ihr Vorhandensein <strong>der</strong><br />

Begriff <strong>der</strong> ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen nicht aufgehoben wird,<br />

doch nur als eine Störung <strong>der</strong> Natur auffassen.<br />

§ 69. Wir sind uns <strong>der</strong> Sünde bewußt, teils als in uns selbst gegründet, teils als ihren<br />

Grund jenseit unseres eignen Daseins habend.<br />

Erstes Lehrstück : Von <strong>der</strong> Erbsünde<br />

§ 70. Die vor je<strong>der</strong> Tat eines Einzelnen in ihm vorhandene und jenseits seines eignen<br />

Daseins begründete Sündhaftigkeit ist in jedem eine nur durch den Einfluß <strong>der</strong> Erlösung<br />

wie<strong>der</strong> aufzuhebende vollkommne Unfähigkeit zum Guten.<br />

8


§ 71. Die Erbsünde ist aber zugleich so sehr die eigene Schuld eines jeden, <strong>der</strong> daran<br />

Teil hat, daß sie am besten als die Gesamttat und Gesamtschuld des menschlichen Geschlechtes<br />

vorgestellt wird, und daß ihre Anerkennung zugleich die <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Erlösungsbedürftigkeit ist.<br />

§ 72. Wenn wir die bisher entwickelte Vorstellung auch nicht geradeso auf die ersten<br />

Menschen übertragen können: so ist doch kein Grund vorhanden, die allgemeine<br />

Sündhaftigkeit aus einer in ihrer Person durch die erste Sünde mit <strong>der</strong> menschlichen<br />

Natur vorgegangenen Verän<strong>der</strong>ung zu erklären.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> wirklichen Sünde<br />

§ 73. Aus <strong>der</strong> Erbsünde geht in allen Menschen immer die wirkliche Sünde hervor.<br />

§ 74. Es besteht in Bezug auf die Sünde kein Wertunterschied unter den Menschen,<br />

abgesehen davon, daß sie nicht in allen in demselben Verhältnis zur Erlösung steht.<br />

Von <strong>der</strong> Beschaffenheit <strong>der</strong> Welt in Beziehung auf die Sünde<br />

§ 75. Ist die Sünde in dem Menschen gesetzt: so findet er auch in <strong>der</strong> Welt als seinem<br />

Ort beharrlich wirkende Ursachen von Lebenshemmungen, d.h. Übel; und dieser Abschnitt<br />

bildet daher das Lehrstück vom Übel.<br />

§ 76. Alles Übel ist als Strafe <strong>der</strong> Sünde anzusehen, unmittelbar jedoch nur das gesellige,<br />

das natürliche hingegen nur mittelbar.<br />

§ 77. Erfahrungsmäßig läßt sich aber die Abhängigkeit des Übels von <strong>der</strong> Sünde nur<br />

nachweisen, wenn man ein gemeinsames Leben in seiner Vollständigkeit ins Auge<br />

faßt; keinesweges aber darf man des Einzelnen Übel auf seine Sünde als auf ihre Ursache<br />

beziehn.<br />

Zusatz zu diesem Lehrstück<br />

§ 78. Das Bewußtsein dieses Zusammenhanges for<strong>der</strong>t we<strong>der</strong> ein leidentliches Erdulden<br />

des Übels um <strong>der</strong> Sünde willen; noch folgt aber daraus auch we<strong>der</strong> ein Bestreben,<br />

Übel um <strong>der</strong> Sünde willen hervorzurufen, noch das entgegengesetzte, das Übel an und<br />

für sich aufzuheben.<br />

Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das Bewußtsein <strong>der</strong> Sünde beziehen<br />

§ 79. Göttliche Eigenschaften, welche sich auf das Bewußtsein <strong>der</strong> Sünde, wenn auch<br />

nur so, wie durch dieselbe die Erlösung bedingt ist, beziehen, können nur aufgestellt<br />

werden, sofern Gott zugleich als Urheber <strong>der</strong> Sünde betrachtet wird.<br />

§ 80. Sofern Sünde und Gnade in unserm Selbstbewußtsein entgegengesetzt sind,<br />

kann Gott nicht auf dieselbe Weise als Urheber <strong>der</strong> Sünde gedacht werden, wie er Urheber<br />

<strong>der</strong> Erlösung ist. Sofern wir aber nie ein Bewußtsein <strong>der</strong> Gnade haben ohne<br />

9


Bewußtsein <strong>der</strong> Sünde, müssen wir auch behaupten, daß uns das Sein <strong>der</strong> Sünde mit<br />

und neben <strong>der</strong> Gnade von Gott geordnet ist.<br />

§ 81. Wenn die kirchliche Lehre diesen Wi<strong>der</strong>spruch auszugleichen sucht durch den<br />

Satz, daß Gott nicht Urheber <strong>der</strong> Sünde, son<strong>der</strong>n diese in <strong>der</strong> Freiheit des Menschen<br />

gegründet ist: so bedarf dieser doch <strong>der</strong> Ergänzung, Gott habe geordnet, daß die jedesmal<br />

noch nicht gewordene Herrschaft des Geistes uns Sünde werde.<br />

§ 82. Dasselbe, was von <strong>der</strong> göttlichen Ursächlichkeit in Bezug auf die Sünde gesagt<br />

ist, gilt auch in Bezug auf das Übel vermöge seines Zusammenhanges mit <strong>der</strong> Sünde.<br />

Erstes Lehrstück: Gott ist heilig<br />

§ 83. Unter <strong>der</strong> Heiligkeit Gottes verstehen wir diejenige göttliche Ursächlichkeit,<br />

kraft <strong>der</strong>en in jedem menschlichen Gesamtleben mit dem Zustande <strong>der</strong> Erlösungsbedürftigkeit<br />

zugleich das Gewissen gesetzt ist.<br />

Zweites Lehrstück: Gott ist gerecht<br />

§ 84. Die Gerechtigkeit Gottes ist diejenige göttliche Ursächlichkeit, kraft <strong>der</strong>en in<br />

dem Zustand <strong>der</strong> gemeinsamen Sündhaftigkeit ein Zusammenhang des Übels mit <strong>der</strong><br />

wirklichen Sünde geordnet ist.<br />

Anhang: von <strong>der</strong> Barmherzigkeit Gottes<br />

§ 85. Gott Barmherzigkeit zuzuschreiben, eignet sich mehr für das homiletische und<br />

dichterische Sprachgebiet als für das dogmatische.<br />

Des Gegensatzes an<strong>der</strong>e Seite<br />

Entwicklung des Bewußtseins <strong>der</strong> Gnade<br />

Einleitung<br />

§ 86. Je bestimmter wir uns bewußt sind, daß die mit dem natürlichen Zustand verbundene<br />

Unseligkeit we<strong>der</strong> durch die Anerkennung, die Sünde sei unvermeidlich,<br />

noch durch die Voraussetzung, sie sei von selbst im Abnehmen, beseitigt werden<br />

kann, um desto höher steigt <strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Erlösung.<br />

§ 87. Wir sind uns aller im christlichen Leben vorkommenden Annäherungen an den<br />

Zustand <strong>der</strong> Seligkeit bewußt als begründet in einem neuen göttlich gewirkten Gesamtleben,<br />

welches dem Gesamtleben <strong>der</strong> Sünde und <strong>der</strong> darin entwickelten Unseligkeit<br />

entgegenwirkt.<br />

§ 88. In diesem auf die Wirksamkeit Jesu zurückgehenden Gesamtleben wird die Erlösung<br />

durch ihn bewirkt vermöge <strong>der</strong> Mitteilung seiner unsündlichen Vollkommenheit.<br />

§ 89. Da in dem Sinn, in welchem man sagen kann, daß die Sünde nicht von Gott geordnet<br />

und für ihn nicht sei, (vgl. §81) auch für diese neue Mitteilung eines kräftigen<br />

Gottesbewußtseins <strong>der</strong> Ausdruck Erlösung nicht angemessen wäre: so würde von je-<br />

10


nem Gesichtspunkt aus die Erscheinung Christi und die Stiftung dieses neuen Gesamtlebens<br />

als die nun erst vollendete Schöpfung <strong>der</strong> menschlichen Natur zu betrachten<br />

sein.<br />

§ 90. Die Lehrsätze, welche den hier dargelegten Gehalt des Bewußtseins <strong>der</strong> Gnade<br />

nach den drei § 30 aufgestellten Gesichtspunkten entwickeln, vollenden zugleich die<br />

christliche <strong>Glaubenslehre</strong> in den ihr hier gesteckten Grenzen.<br />

Von dem Zustande des Christen, sofern er sich <strong>der</strong> göttlichen Gnade bewußt ist<br />

§ 91. Wir haben die Gemeinschaft mit Gott (vgl. § 63) nur in einer solchen Lebensgemeinschaft<br />

mit dem Erlöser, worin seine schlechthin unsündliche Vollkommenheit<br />

und Seligkeit die freie aus sich herausgehende Tätigkeit darstellt, die Erlösungsbedürftigkeit<br />

des Begnadigten aber die freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit.<br />

Erstes Hauptstück: von Christo<br />

§ 92. Die eigentümliche Tätigkeit und die ausschließliche Würde des Erlösers weisen<br />

aufeinan<strong>der</strong> zurück und sind im Selbstbewußtsein <strong>der</strong> Gläubigen unzertrennlich eines.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> Person Christi<br />

§ 93. Soll die Selbsttätigkeit des neuen Gesamtlebens ursprünglich in dem Erlöser<br />

sein und von ihm allein ausgehen: so mußte er als geschichtliches Einzelwesen zugleich<br />

urbildlich sein, d. h. das Urbildliche mußte in ihm vollkommen geschichtlich<br />

werden, und je<strong>der</strong> geschichtliche Moment desselben zugleich das Urbildliche in sich<br />

tragen.<br />

§ 94. Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich vermöge <strong>der</strong> Selbigkeit <strong>der</strong><br />

menschlichen Natur, von allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines<br />

Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war.<br />

§ 95. Die kirchlichen Formeln von <strong>der</strong> Person Christi bedürfen einer fortgesetzten kritischen<br />

Behandlung.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 96. In Jesu Christo waren die göttliche Natur und die menschliche Natur zu e i n e r<br />

Person verknüpft.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 97. Bei <strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong> göttlichen Natur mit <strong>der</strong> menschlichen war die göttliche<br />

allein tätig o<strong>der</strong> sich mitteilend, und die menschliche allein leidend o<strong>der</strong> aufgenommen<br />

werdend; während des Vereintseins bei<strong>der</strong> aber war auch jede Tätigkeit eine beiden<br />

gemeinschaftliche.<br />

Dritter Lehrsatz<br />

11


§ 98. Christus war von allen an<strong>der</strong>n Menschen unterschieden durch seine wesentliche<br />

Unsündichkeit und seine schlechthinnige Vollkommenheit.<br />

§ 99. Die Tatsachen <strong>der</strong> Auferstehung und <strong>der</strong> Himmelfahrt Christi, sowie die Vorhersagung<br />

von seiner Wie<strong>der</strong>kunft zum Gericht können nicht als eigentliche Bestandteile<br />

<strong>der</strong> Lehre von seiner Person aufgestellt werden.<br />

Zweites Lehrstück: Von dem Geschäft Christi<br />

§ 100. Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins<br />

auf (vgl. § 88), und dies ist seine erlösende Tätigkeit.<br />

§ 101. Der Erlöser nimmt die Gläubigen auf in die Gemeinschaft seiner ungetrübten<br />

Seligkeit, und dies ist seine versöhnende Tätigkeit.<br />

§ 102. Die kirchliche Lehre verteilt die Gesamttätigkeit Christi in drei Ämter desselben,<br />

das prophetische, hohepriesterliche und königliche.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 103. Das prophetische Amt Christi besteht im Lehren, Weissagen und Wun<strong>der</strong>tun.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 104. Das hohepriesterliche Amt Christi schließt in sich seine vollkommene Gesetzerfüllung<br />

o<strong>der</strong> seinen tätigen Gehorsam, seinen versöhnenden Tod o<strong>der</strong> seinen leidenden<br />

Gehorsam und die Vertretung <strong>der</strong> Gläubigen beim Vater.<br />

Dritter Lehrsatz<br />

§ 105. Das königliche Amt Christi besteht darin, daß alles, was die Gemeinschaft <strong>der</strong><br />

Gläubigen zu ihrem Wohlsein erfor<strong>der</strong>t, immerwährend von ihm ausgeht.<br />

Zweites Hauptstück: von <strong>der</strong> Art, wie sich die Gemeinschaft mit <strong>der</strong> Vollkommenheit<br />

und Seligkeit des Erlösers in <strong>der</strong> einzelnen Seele ausdrückt<br />

§ 106. Das dem in die Lebensgemeinschaft Christi Aufgenommenen eigentümliche<br />

Selbstbewußtsein wird dargestellt unter den beiden Begriffen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt und<br />

<strong>der</strong> Heiligung.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt<br />

§ 107. Das Aufgenommenwerden in die Lebensgemeinschaft mit Christo ist als verän<strong>der</strong>tes<br />

Verhältnis des Menschen zu Gott betrachtet seine Rechtfertigung, als verän<strong>der</strong>te<br />

Lebensform betrachtet seine Bekehrung.<br />

Erster Lehrsatz: Von <strong>der</strong> Bekehrung<br />

§ 108. Die Bekehrung, als <strong>der</strong> Anfang des neuen Lebens in <strong>der</strong> Gemeinschaft mit<br />

Christo, bekundet sich in jedem Einzelnen durch die Buße, welche besteht in <strong>der</strong> Ver-<br />

12


knüpfung von Reue und Sinnesän<strong>der</strong>ung und durch den Glauben, welcher besteht in<br />

<strong>der</strong> Aneignung <strong>der</strong> Vollkommenheit und Seligkeit Christi.<br />

Zweiter Lehrsatz: Von <strong>der</strong> Rechtfertigung<br />

§ 109. Daß Gott den sich Bekehrenden rechtfertigt, schließt in sich, daß er ihm die<br />

Sünden vergibt und ihn als ein Kind Gottes anerkennt. Diese Umän<strong>der</strong>ung seines<br />

Verhältnisses zu Gott erfolgt aber nur, sofern <strong>der</strong> Mensch den wahren Glauben an den<br />

Erlöser hat.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> Heiligung<br />

§ 110. In <strong>der</strong> Lebensgemeinschaft mit Christo werden die natürlichen Kräfte <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gebornen<br />

ihm zum Gebrauch angeeignet, woraus sich ein seiner Vollkommenheit<br />

und Seligkeit verwandtes Leben bildet, welches <strong>der</strong> Stand <strong>der</strong> Heiligung heißt.<br />

Erster Lehrsatz: Von den Sünden <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gebornen<br />

§ 111. Die Sünden <strong>der</strong>er im Stande <strong>der</strong> Heiligung bringen ihre Vergebung immer<br />

schon mit sich und vermögen nicht die göttliche Gnade in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt aufzuheben,<br />

weil sie schon immer bekämpft werden.<br />

Zweiter Lehrsatz: Von den guten Werken <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gebornen<br />

§ 112. Die guten Werke <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gebornen sind natürliche Wirkungen des Glaubens<br />

und als solche Gegenstände des göttlichen Wohlgefallens.<br />

Von <strong>der</strong> Beschaffenheit <strong>der</strong> Welt bezüglich auf die Erlösung<br />

§ 113. Alles, was durch die Erlösung in <strong>der</strong> Welt gesetzt wird, ist zusammengefaßt in<br />

<strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Gläubigen, in welcher sich alle Wie<strong>der</strong>geborne immer schon<br />

finden; und dieser Abschnitt enthält also die Lehre von <strong>der</strong> christlichen Kirche.<br />

§ 114. Wenn wir alle Aussagen unseres christlichen Selbstbewußtseins über die Gemeinschaft<br />

<strong>der</strong> Gläubigen zusammenfassen wollen: so müssen wir zuerst handeln von<br />

dem Entstehen <strong>der</strong> Kirche o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Art und Weise, wie sie sich aus <strong>der</strong> Welt bildet,<br />

demnächst von <strong>der</strong> Art und Weise <strong>der</strong> Kirche, im Gegensatz gegen die Welt zu bestehen,<br />

und zuletzt von <strong>der</strong> Aufhebung dieses Gegensatzes o<strong>der</strong> von den Aussichten auf<br />

die Vollendung <strong>der</strong> Kirche.<br />

Erstes Hauptstück: Von dem Entstehen <strong>der</strong> Kirche<br />

§ 115. Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten <strong>der</strong> einzelnen<br />

Wie<strong>der</strong>gebornen zu einem geordneten Aufeinan<strong>der</strong>wirken und Miteinan<strong>der</strong>wirken.<br />

§ 116. Das Entstehen <strong>der</strong> Kirche wird deutlich durch die beiden Lehren von <strong>der</strong> Erwählung<br />

und von <strong>der</strong> Mitteilung des heiligen Geistes.<br />

Erstes Lehrstück : Von <strong>der</strong> Erwählung<br />

13


§ 117. In das von Christo gestiftete Reich Gottes können zufolge <strong>der</strong> Gesetze <strong>der</strong> göttlichen<br />

Weltregierung, solange das Menschengeschlecht auf Erden besteht, niemals alle<br />

gleichzeitig Lebende gleichmäßig aufgenommen sein.<br />

§ 118. Wenn sich das christliche Mitgefühl über die frühere und spätere Aufnahme<br />

<strong>der</strong> einen und an<strong>der</strong>n in die Gemeinschaft <strong>der</strong> Erlösung beruhigt: so bleibt dagegen<br />

ein unauflöslicher Mißklang zurück, wenn wir uns unter Voraussetzung einer Fortdauer<br />

nach dem Tode einen Teil des menschlichen Geschlechtes von dieser Gemeinschaft<br />

gänzlich ausgeschlossen denken sollen.<br />

Erster Lehrsatz: Von <strong>der</strong> Vorherbestimmung<br />

§ 119. Die Erwählung <strong>der</strong>er, die gerechtfertigt werden, ist eine göttliche Vorherbestimmung<br />

zur Seligkeit in Christo.<br />

Zweiter Lehrsatz: Von den Bestimmungsgründen <strong>der</strong> Erwählung<br />

§ 120. Die Erwählung, so betrachtet, wie sie auf die göttliche Weltregierung einwirkt,<br />

ist begründet in dem vorhergesehenen Glauben <strong>der</strong> Erwählten; so aber betrachtet, wie<br />

sie auf <strong>der</strong> göttlichen Weltregierung beruht, ist sie lediglich bestimmt durch das göttliche<br />

Wohlgefallen.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> Mitteilung des Heiligen Geistes<br />

Alle im Stande <strong>der</strong> Heiligung Lebenden sind sich eines innern Antriebes, im gemeinsamen<br />

Mit- und gegenseitigen Aufeinan<strong>der</strong>wirken immer mehr Eines zu werden, als<br />

des Gemeingeistes des von Christo gestifteten neuen Gesamtlebens bewußt.<br />

§ 122. Der Heilige Geist konnte als dieser Gemeingeist erst nach <strong>der</strong> Entfernung Christi<br />

von <strong>der</strong> Erde vollständig mitgeteilt und aufgenommen werden.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 123. Der Heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit <strong>der</strong> menschlichen<br />

Natur in <strong>der</strong> Form des das Gesamtleben <strong>der</strong> Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 124. Je<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geborne ist des Heiligen Geistes teilhaftig, so daß es keine Lebensgemeinschaft<br />

mit Christo gibt ohne Einwohnung des Heiligen Geistes und umgekehrt.<br />

Dritter Lehrsatz<br />

§ 125. Die von dem Heiligen Geist beseelte christliche Kirche ist in ihrer Reinheit und<br />

Vollständigkeit das vollkommne Abbild des Erlösers, und je<strong>der</strong> einzelne Wie<strong>der</strong>geborne<br />

ist ein ergänzen<strong>der</strong> Bestandteil dieser Gemeinschaft.<br />

14


Zweites Hauptstück.<br />

Von dem Bestehen <strong>der</strong> Kirche in ihrem Zusammensein mit <strong>der</strong> Welt<br />

§ 126. Die von dem heiligen Geist beseelte Gemeinschaft <strong>der</strong> Gläubigen bleibt in ihrem<br />

Verhalten zu Christo und zu diesem Geist immer sich selbst gleich, in ihrem Verhältnis<br />

zur Welt aber ist sie dem Wechsel und <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung unterworfen.<br />

Erste Hälfte<br />

Die wesentlichen und unverän<strong>der</strong>lichen Grundzüge <strong>der</strong> Kirche<br />

§ 127. Die christliche Gemeinschaft ist ohnerachtet des von ihrem Zusammenbestehen<br />

mit <strong>der</strong> Welt unzertrennlichen Wandelbaren doch immer und überall sich selbst<br />

gleich, insofern erstlich das Zeugnis von Christo in ihr immer dasselbige ist, und dies<br />

findet sich in <strong>der</strong> Heiligen Schrift und im Dienst am göttlichen Wort; zweitens insofern<br />

die Anknüpfung und Erhaltung <strong>der</strong> Lebensgemeinschaft mit Christo auf denselben<br />

Anordnungen Christi beruht, und diese sind die Taufe und das Abendmahl; endlich<br />

insofern <strong>der</strong> gegenseitige Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen und <strong>der</strong> Einzelnen<br />

auf das Ganze immer gleich geordnet ist, und dieser zeigt sich im Amt <strong>der</strong><br />

Schlüssel und im Gebet im Namen Jesu.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> Heiligen Schrift<br />

§ 128. Das Ansehen <strong>der</strong> Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen,<br />

vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um <strong>der</strong> heiligen Schrift<br />

ein beson<strong>der</strong>es Ansehen einzuräumen.<br />

§ 129. Die heiligen Schriften des neuen Bundes sind auf <strong>der</strong> einen Seite das erste<br />

Glied in <strong>der</strong> seitdem fortlaufenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens;<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite sind sie die Norm für alle folgenden Darstellungen.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 130. Die einzelnen Bücher des Neuen Testamentes sind von dem H. Geist eingegeben,<br />

und die Sammlung <strong>der</strong>selben ist unter Leitung des H. Geistes entstanden.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 131. Die neutestamentischen Schriften sind ihrem Ursprung nach authentisch und<br />

als Norm für die christliche Lehre zureichend.<br />

Zusatz zu diesem Lehrstück<br />

§ 132. Die alttestamtentischen Schriften verdanken ihre Stelle in unserer Bibel teils<br />

den Berufungen <strong>der</strong> neutestamentischen auf sie, teils dem geschichtlichen Zusammenhang<br />

des christlichen Gottesdienstes mit <strong>der</strong> jüdischen Synagoge, ohne daß sie<br />

deshalb die normale Dignität o<strong>der</strong> die Eingebung <strong>der</strong> neutestamentischen teilen.<br />

Zweites Lehrstück: Vom Dienst am göttlichen Wort<br />

15


§ 133. Diejenigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaft, welche sich überwiegend<br />

selbsttätig verhalten, verrichten durch Selbstmitteilung den Dienst am göttlichen Wort<br />

bei denen, die sich überwiegend empfänglich verhalten; welcher Dienst teils ein unbestimmter<br />

und zufälliger ist, teils ein förmlicher und geordneter.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 134. Es gibt in <strong>der</strong> Kirche einen öffentlichen Dienst am Wort als eine unter bestimmten<br />

Formen übertragene Geschäftsführung; und von diesem geht auch alle Glie<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Kirche aus.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 135. Der öffentliche Dienst in <strong>der</strong> Kirche ist in allen Stücken an das göttliche Wort<br />

gebunden.<br />

Drittes Lehrstück: Von <strong>der</strong> Taufe<br />

§ 136. Die Taufe als Handlung <strong>der</strong> Kirche bezeichnet nur den Willensakt, vermittelst<br />

dessen diese den Einzelnen in ihre Gemeinschaft aufnimmt; insofern aber auf <strong>der</strong>selben<br />

die wirksame Verheißung Christi ruht, ist sie zugleich <strong>der</strong> Leiter für die rechtfertigende<br />

göttliche Tätigkeit, wodurch <strong>der</strong> Einzelne in die Lebensgemeinschaft Christi<br />

aufgenommen wird.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 137. Die nach <strong>der</strong> Einsetzung Christi erteilte Taufe verleiht mit dem Bürgerrecht in<br />

<strong>der</strong> christlichen Kirche zugleich die Seligkeit in Bezug auf die göttliche Gnade in <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>geburt.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 138. Die Kin<strong>der</strong>taufe ist nur eine vollständige Taufe, wenn man das nach vollendetem<br />

Unterricht hinzukommende Glaubensbekenntnis als den letzten dazu noch gehörigen<br />

Akt ansieht.<br />

Viertes Lehrstück: Vom Abendmahl<br />

§ 139. Die Christen erfahren bei dem Genuß des Abendmahls eine eigentümliche<br />

Stärkung des geistigen Lebens, indem ihnen darin nach <strong>der</strong> Einsetzung Christi sein<br />

Leib und sein Blut dargereicht wird.<br />

§ 140. In Absicht auf den Zusammenhang zwischen dem Brot und Wein und Leib und<br />

Blut Christi im Abendmahl stellt sich die evangelische Kirche auf <strong>der</strong> einen Seite nur<br />

denen bestimmt entgegen, welche diesen Zusammenhang für unabhängig ansehen von<br />

<strong>der</strong> Handlung des Genusses, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite denen, welche auch ohnerachtet dieses<br />

Zusammenhanges keine Verbindung zugestehen wollen zwischen dem Genuß des<br />

Brotes und Weines und dem geistigen Genuß des Fleisches und Blutes Christi.<br />

Erster Lehrsatz<br />

16


§ 141. Der Genuß des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl gereicht allen Gläubigen<br />

zur Befestigung ihrer Gemeinschaft mit Christo.<br />

§ 142. Der unwürdige Genuß des Abendmahls gereicht dem Genießenden zum Gericht.<br />

Anhang zu den letzten beiden Lehrstücken: Von dem Namen Sakrament<br />

§ 143. Die evangelische Kirche gebraucht den Namen Sakrament nur für diese beiden<br />

von Christo selbst eingesetzten und seine hohepriesterliche Tätigkeit repräsentierenden<br />

Institutionen Taufe und Abendmahl.<br />

Fünftes Lehrstück: Vom Amt <strong>der</strong> Schlüssel<br />

§ 144. Wegen ihres Zusammenseins mit <strong>der</strong> Welt besteht in <strong>der</strong> Kirche eine gesetzgebende<br />

und eine verwaltende Macht, welche ein wesentlicher Ausfluß ist aus dem königlichen<br />

Amt Christi.<br />

Lehrsatz<br />

§ 145. Das Amt <strong>der</strong> Schlüssel ist die Macht, vermöge <strong>der</strong>en die Kirche bestimmt, was<br />

zum christlichen Leben gehört, und über jeden Einzelnen nach Maßgabe seiner Angemessenheit<br />

zu diesen Bestimmungen verfügt.<br />

Sechstes Lehrstück: Vom Gebet im Namen Jesu<br />

§ 146. Das richtige Vorgefühl, welches <strong>der</strong> christlichen Kirche zu haben gebührt von<br />

dem, was ihr in ihrem Zusammensein heilsam ist, wird natürlich zum Gebet.<br />

Lehrsatz<br />

§ 147. Jedes Gebet im Namen Jesu hat die Verheißung Christi, daß es erhört wird,<br />

aber auch nur ein solches.<br />

Zweite Hälfte<br />

Das Wandelbare, was <strong>der</strong> Kirche zukommt vermöge ihres Zusammenseins mit <strong>der</strong><br />

Welt.<br />

§ 148. Dadurch, daß die Kirche sich aus <strong>der</strong> Welt nicht bilden kann, ohne daß auch<br />

die Welt einen Einfluß auf die Kirche ausübt, begründet sich für die Kirche selbst <strong>der</strong><br />

Gegensatz zwischen <strong>der</strong> sichtbaren und unsichtbaren Kirche.<br />

§ 149. Der Gegensatz zwischen <strong>der</strong> sichtbaren und unsichtbaren Kirche läßt sich in<br />

den beiden Sätzen zusammenfassen, daß die erste eine geteilte ist, die an<strong>der</strong>e aber ungeteilt<br />

Eine, und daß die erste immer dem Irrtum unterworfen ist, die andre aber<br />

untrüglich.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> sichtbaren Kirche in bezug auf die Einheit<br />

<strong>der</strong> unsichtbaren<br />

17


§ 150. So oft sich in <strong>der</strong> christlichen Kirche Trennungen wirklich hervortun, kann<br />

auch das Bestreben, das Getrennte zu vereinigen, niemals fehlen.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 151. Die gänzliche Aufhebung <strong>der</strong> Gemeinschaft zwischen verschiedenen Teilen<br />

<strong>der</strong> sichtbaren Kirche ist unchristlich.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 152. Alle Trennungen in <strong>der</strong> christlichen Kirche bestehen nur als vorübergehende.<br />

Zweites Lehrstück:<br />

Von <strong>der</strong> Irrtumsfähigkeit <strong>der</strong> sichtbaren Kirche in bezug auf die Untrüglichkeit <strong>der</strong><br />

unsichtbaren<br />

§ 153. Wie in jedem Teil <strong>der</strong> sichtbaren Kirche <strong>der</strong> Irrtum möglich, mithin auch irgendwie<br />

wirklich ist: so fehlt es auch in keinem an <strong>der</strong> berichtigenden Kraft <strong>der</strong><br />

Wahrheit.<br />

Erster Lehrsatz<br />

§ 154. Keine von <strong>der</strong> sichtbaren Kirche ausgehende Darstellung christlicher Frömmigkeit<br />

trägt lautere und vollkommne Wahrheit in sich.<br />

Zweiter Lehrsatz<br />

§ 155. Alle Irrtümer, welche sich in <strong>der</strong> sichtbaren Kirche erzeugen, werden durch die<br />

in <strong>der</strong>selben immer fortwirkende Wahrheit aufgehoben.<br />

Zusatz zu beiden Lehrstücken<br />

§ 156. Die Behauptung, daß die wahre Kirche mit dem Anfang des menschlichen Geschlechtes<br />

begonnen habe, und bis ans Ende desselben auch eine und dieselbe bleibe,<br />

darf nicht so verstanden werden, als ob die eigentlich so zu nennende christliche Kirche<br />

selbst nur Teil eines größeren Ganzen sei.<br />

Drittes Hauptstück: Von <strong>der</strong> Vollendung <strong>der</strong> Kirche<br />

§ 157. Da die Kirche in dem Verlauf des menschlichen Erdenlebens nicht zur Vollendung<br />

gelangen kann: so hat die Darstellung ihres vollendeten Zustandes unmittelbar<br />

nur den Nutzen eines Vorbildes, welchem wir uns nähern sollen.<br />

§ 158. Wie in dem Glauben an die Unverän<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> Vereinigung des göttlichen<br />

Wesens mit <strong>der</strong> menschlichen Natur in <strong>der</strong> Person Christi auch <strong>der</strong> Glaube an das<br />

Fortbestehen <strong>der</strong> menschlichen Persönlichkeit schon mit enthalten ist: so entsteht<br />

hieraus dem Christen die Tendenz, den Zustand nach dem Tode vorzustellen.<br />

18


§ 159. Die Lösung bei<strong>der</strong> Aufgaben, die Kirche in ihrer Vollendung und den Zustand<br />

<strong>der</strong> Seelen im künftigen Leben darzustellen, wird versucht in den kirchlichen Lehren<br />

von den letzten Dingen, denen jedoch <strong>der</strong> gleiche Wert wie den bisher behandelten<br />

Lehren nicht kann beigelegt werden.<br />

Erstes prophetisches Lehrstück: Von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kunft Christi<br />

§ 160. Da die Jünger Christi die tröstlichen Verheißungen seiner Wie<strong>der</strong>kehr nicht<br />

konnten durch die Tage seiner Auferstehung für erfüllt halten, so erwarteten sie diese<br />

Erfüllung am Ende <strong>der</strong> irdischen menschlichen Dinge. Da sich nun an dieses zugleich<br />

die Scheidung <strong>der</strong> Guten und Bösen knüpft: so lehren wir eine Wie<strong>der</strong>kunft Christi<br />

zum Gericht.<br />

Zweites prophetisches Lehrstück: Von <strong>der</strong> Auferstehung des Fleisches<br />

§ 161. Christus hat nicht nur die unter seinem Volk herrschende Vorstellung von Auferstehung<br />

<strong>der</strong> Toten teils in bildlichen Reden, teils auch lehrend sanktioniert, son<strong>der</strong>n<br />

er schreibt auch in seinen Reden sich selbst diese Auferweckung zu; und nur dies ist<br />

eine wiewohl ganz natürliche und aus verwandten Reden hergenommene weitere<br />

Ausbildung dieser seiner Lehre, daß die allgemeine Totenerweckung den gewöhnlichen<br />

Fortgang des menschlichen Erdenlebens auf eine plötzliche Weise unterbricht.<br />

Drittes prophetisches Lehrstück: Vom jüngsten Gericht<br />

§ 162. Die Vorstellung vom jüngsten Gericht, wozu die Elemente sich ebenfalls in<br />

den Reden Christi vorfinden, will die gänzliche Scheidung <strong>der</strong> Kirche von <strong>der</strong> Welt<br />

darstellen, sofern die Vollendung <strong>der</strong> ersten alle Einwirkungen <strong>der</strong> letzteren ausschließt.<br />

Viertes prophetisches Lehrstück: Von <strong>der</strong> ewigen Seligkeit<br />

§ 163. Von <strong>der</strong> Auferstehung <strong>der</strong> Toten an werden sich diejenigen, welche in <strong>der</strong> Gemeinschaft<br />

mit Christo gestorben sind, durch das Anschauen Gottes in einem Zustand<br />

unverän<strong>der</strong>licher und ungetrübter Seligkeit befinden.<br />

Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf die Erlösung beziehen<br />

§ 164. Wenn wir unser Bewußtsein von <strong>der</strong> durch die Wirksamkeit <strong>der</strong> Erlösung wie<strong>der</strong>hergestellten<br />

Gemeinschaft mit Gott auf die göttliche Ursächlichkeit zurückzuführen:<br />

so setzen wir die Pflanzung und Verbreitung <strong>der</strong> christlichen Kirche als Gegenstand<br />

<strong>der</strong> göttlichen Weltregierung.<br />

§ 165. Die göttliche Ursächlichkeit stellt sich uns in <strong>der</strong> Weltregierung dar als Liebe<br />

und als Weisheit.<br />

Erstes Lehrstück: Von <strong>der</strong> göttlichen Liebe<br />

§ 166. Die göttliche Liebe als die Eigenschaft, vermöge <strong>der</strong>en das göttliche Wesen<br />

sich mitteilt, wird in dem Werk <strong>der</strong> Erlösung erkannt.<br />

19


Lehrsatz<br />

§ 167. Gott ist die Liebe.<br />

Zweites Lehrstück: Von <strong>der</strong> göttlichen Weisheit<br />

§ 168. Die göttliche Weisheit ist das die Welt für die in <strong>der</strong> Erlösung sich betätigende<br />

göttliche Selbstmitteilung ordnende und bestimmende Prinzip.<br />

Lehrsatz<br />

§ 169. Die göttliche Weisheit ist <strong>der</strong> Grund, vermöge dessen die Welt als Schauplatz<br />

<strong>der</strong> Erlösung auch die schlechthinnige Offenbarung des höchsten Wesens ist, mithin<br />

gut.<br />

Von <strong>der</strong> göttlichen Dreiheit<br />

§ 170. Alles Wesentliche in dieser an<strong>der</strong>n Seite des zweiten Teils unserer Darstellung<br />

ist auch in dem Wesentlichen <strong>der</strong> Trinitätslehre gesetzt; diese Lehre selbst aber in ihrer<br />

kirchlichen Fassung ist nicht eine unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein,<br />

son<strong>der</strong>n nur eine Verknüpfung mehrerer solcher.<br />

§ 171. Die kirchliche Dreieinigkeitslehre for<strong>der</strong>t, daß wir jede <strong>der</strong> drei Personen sollen<br />

dem göttlichen Wesen gleich denken und umgekehrt, und jede <strong>der</strong> drei Personen<br />

den an<strong>der</strong>en gleich; wir vermögen aber we<strong>der</strong> das eine noch das an<strong>der</strong>e, son<strong>der</strong>n wir<br />

können die Personen nur in einer Abstufung vorstellen, und ebenso die Einheit des<br />

Wesens entwe<strong>der</strong> geringer als die drei Personen o<strong>der</strong> umgekehrt.<br />

§ 172. Da wir diese Lehre umso weniger für abgeschlossen halten können, als sie bei<br />

<strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong> evangelischen Kirche keine neue Bearbeitung erfahren hat: so<br />

muß ihr noch eine auf ihre ersten Anfänge zurückgehende Umgestaltung bevorstehen.<br />

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