erhören? Ein Stein müsste sich doch erbarmen!“ Und dann stand sie auf undsagte: „Es gibt keinen Gott“, und sie wurde ungläubig. Aber nicht für immer.So vergingen sieben Monate in dem Lager. Gretel betete nie mehr, hatte aberneben ihrem eigenen Leid viel Mitgefühl für die leidenden Menschen um sieherum. Sie vergoss viele Tränen, auch aus Mitgefühl für die Pferde, die krankund elend waren und unbarmherzig behandelt wurden. Im Lager schlief manauf Strohpritschen, in denen es von Läusen und Flöhen wimmelte. Gegessenwurde Grütze und Pferdefleisch.Im Oktober 1945 wurden alle schwangeren und kranken Frauen in Lastwagengepackt, nach Berlin gefahren und auf die Straße gesetzt. Jede bekam einBrot, Mehl und eine Flasche Öl. Sie blieben zwei Tage auf der Straße, dannbrachte das Stadtkommando von Ostberlin sie in ein Lager bei Strelitz, wo siein einem Tanzsaal einquartiert wurden. Dieser war schon überfüllt. Jeden Tagstarben die Menschen vor Hunger und Kälte und viele an Typhus.Gretel war nun hochschwanger. Da lernte sie eine Frau kennen, die ihr einesTages zuflüsterte: „Liebe, gute Frau, Sie tun mir so leid, ich sehe, wie tapferSie trotz allem sind. Ich wohne bei einer Hausfrau im Dienstmädchenzimmer.Heute will ich schwarz in den Westen, die Frau weiß nichts davon. Sie könnenmein Zimmer haben.“ So wurde es gemacht. Gretel überraschte am nächstenMorgen die Hausfrau. Zuerst gab es Ärger und böses Blut, aber die Fraunahm den Tausch dann hin.Die armen Flüchtlinge lebten von Pilzen, selbst die Blätter von den Bäumenwaren ihre Nahrung. Auf Schutthalden wurden Kartoffelschalen gesammeltund auf der Küchenplatte gebraten. Gretel ging auch betteln, aber trotz ihresZustandes wurden ihr die Türen nicht geöffnet. „Wir heven nix, wir geven nix!“So ging Gretel oft nachts aufs Feld und suchte Kartoffeln, die sie sich für denWinter sammelte, um etwas zum Essen zu haben, wenn das Kind da war. Am15. Dezember kam das Kind zur Welt. Unter den Lagerleuten war eine Hebamme,die Gretel half.Der Bürgermeister sorgte endlich dafür, dass den Lagerleuten eine geringeMenge an Lebensmitteln zugeteilt wurde. So wurde pro Kopf ein halbesPfund Zucker und ein Pfund Mehl im Monat ausgegeben!Als Gretel an das Versteck ging, um die Kartoffeln zu holen, auf die sie ihreganze Hoffnung gesetzt hatte, war das Versteck leer. Gretels Entsetzen wargroß. Sie war verzweifelt. Wie sollte sie ihr Kind durchbringen? Es gab keinePilze mehr und keine Blätter. Die Brust war leer, das Kleine weinte vor Hunger,und Gretel weinte vor Trostlosigkeit. Sie nahm das Kind ins Bett, wickeltees fest ein, um es zu ersticken. Sie konnte das Weinen nicht mehr ertragen.Da ging mit einmal die Tür auf, und ein Russe kam herein. „Was machen Sieda?“, fragte er. „Wir wollen sterben“, antwortete Gretel. „Wir haben nichtsmehr zu essen.“ „Und die Wirtin hat?“, sagte der Russe. „Ja“, erwiderte Gretel,„wir sind von den hiesigen Deutschen auf den Friedhof eingeladen.“ DerRusse verließ das Zimmer und brachte nach einer halben Stunde Gretel einenSack Kartoffeln. Die Freude war bei Gretel riesig groß, aber der Hass der Wirtinwar größer.62
Diese Kartoffeln retteten Gretel und ihrem Kind das Leben. Aus einer Büchsemachte Gretel ein Reibeisen, aß selber die Schalen und gab das Innere demKind. So verging der Winter, im Frühling halfen junge Brennnesseln weiter,aus denen Gretel Spinat kochte.Im Mai erlaubten die Russen, die erste Post zu schreiben. Gretel meldete sichbei ihren Eltern in <strong>Ostpreußen</strong> und bekam tatsächlich Antwort. Unter demVorwand, mit dem Kind zum Arzt nach Berlin zu müssen, erhielt Gretel vonder Behörde die Erlaubnis zu reisen. Von Berlin aus machte sie sich nach<strong>Ostpreußen</strong> auf. Sie erreichte nach 18 Tagen unter unbeschreiblichen Umständenihre Heimat. Doch ihre Eltern erkannten ihre Tochter schwer, sie warein zerlumptes, verschwollenes Wesen. Dann war wohl die Freude groß; aberdas Russenkind war für sie eine Schande. Das traf die arme Gretel soschwer, dass sie zusammensank und wochenlang darniederlag.Die Mutter wollte das Kleine ins Waisenhaus geben, aber Gott erhörte GretelsGebete. Das Kind wurde nicht aufgenommen. Dafür nahm fürs erste dieSchwester das Kleine zu sich, bis Gretel gesünder wurde und die Pflege selberübernehmen konnte. Die Mutter gewöhnte sich allmählich an das hübsche,kleine Mädchen und gewann es auch lieb.Nach acht Jahren heiratete Gretel und lebt bis heute noch recht zufrieden inAllenstein in der Liebstädter Straße.Nur etwas bedrückt sie schwer: das Schicksal ihres Sohnes Toni. Als Gretelim Lager in Strelitz war, versuchte, sie einige Male in Berlin nach ihrem Sohnzu forschen. Sie erfuhr, dass die Leute, denen sie bei ihrer Verschleppungdas Kind hinterließ, von den Polen nach Berlin vertrieben wurden. Dort hattensie das Kind noch bei sich. Dann verloren sich die Spuren. Viel später erfuhrGretel, dass eine Schwester das Kind ohnmächtig auf einer Bank in Berlin gefundenhatte und mit ins Waisenhaus nahm.Gretel forschte über das Rote Kreuz in Warschau und Berlin und hatte 14lange Jahre keinen Erfolg. Sie betete inbrünstig zu Gott und bat ihn um Hilfe.Und eines Tages kam aus Hamburg vom Roten Kreuz die Nachricht, dass einKind seine Mutter sucht. Gretel erkannte auf dem Foto, dass es ihr Sohn seiund nahm voller Freude Verbindung auf. Doch es dauerte noch 1 ½ Jahre,bis sie die Erlaubnis bekam, zu ihrem Sohn zu fahren. Sie konnte das Wiedersehenkaum erwarten. Wie viele Erlebnisse sollten ausgetauscht werden! Wiemag er heute leben? Wie freute sie sich darauf, ihn in die Arme zu nehmen!Und dann kam eine furchtbare Enttäuschung. Mit ihrer Tochter zusammenfuhr Gretel 36 Stunden mit der Bahn nach Deutschland, bis sie das Ziel erreichte.Von der fremden Frau, die den Sohn aufgenommen hatte, wurde sieeiskalt empfangen. Der Sohn kam mittags. Gretel wollte ihn in die Arme nehmen.Doch er lehnte ab und sagte kalt: „Ich habe gehört, dass Du meine Mutterbist.“ Das war alles. Der Sohn war in einer kalten Atmosphäre groß geworden.Materiell hatte er alles, was er brauchte. Aber Wärme und Liebefehlten ihm. Drei Wochen blieb Gretel dort, aber sie fand keinen Weg zu demHerzen ihres Jungen.63
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