» Mein <strong>Leben</strong> warschön. Ich habeimmer nach vornegeschaut und vielunternommen.«Ellen BerghausIn Bewegung bleiben:Täglich trainiert Ellen Berghaus ihreMuskulatur – immer auf dem schmalenGrat zwischen Zuviel und Zuwenig.Verbandes. Gut eineinhalb Stunden istdie Seniorin dann mit ihrem Scooterfür den 17 Kilometer langen Weg unterwegs.„Der Austausch mit den anderenist wichtig. Ich muss immer wissen, wasauf mich zukommt.“Es war auch bei einem Vortrag desVerbandes, als sie allmählich erkannte,welche Krankheit hinter ihren Symptomensteckt: das Post-Polio-Syndrom. Daranleiden Menschen, die in ihrer Kindheitoder Jugend an Kinderlähmung erkranktwaren. „Mein Mann hatte damals in derZeitung davon gelesen und bei dem Treffenhaben wir viel gehört, was auch aufmich zutraf“, erinnert sich die ehemaligeMedizinisch-Technische-Assistentin.Ende der 1980er-Jahre merkte sie, dassihre Kräfte langsam nachließen. „Ichkonnte mich nicht mehr so gut bewegenund hatte Beschwerden an der Wirbelsäule.“Ellen Berghaus ging ins Fitnessstudio,um gegen die Schwäche anzutrainieren„und da bin ich zusammengebrochen.“Kraftanstrengung im AlltagDieses Phänomen kennt Dr. Axel Ruetznur zu gut: „Wenn man nicht weiß, welcheKrankheit hinter den Muskel- undGelenkbeschwerden steckt und manzu viel oder falsch trainiert, kommt eszu solch einem Kollaps.“ Der Orthopädebehandelt Ellen Berghaus seit 14Jahren am Polio-Zentrum des KatholischenKlinikums Koblenz · Montabaur.Zweimal im Jahr untersucht der Arztden Körper seiner Patientin. Er streichtüber ihre Handrücken und prüft dieGelenke, fährt mit dem Daumen überdie Wirbelsäule und schaut nach derBeweglichkeit von Schultern und Beinen.„Dass ich einmal im Rollstuhl sitzenwerde, hat mir Dr. Ruetz schon frühprophezeit. Damals habe ich das nichtgeglaubt“, erinnert sich Ellen Berghaus,die selbst mit einem Arzt verheiratet ist.Erst half ihr ein Gehstock, dann brauchtesie Krücken, schließlich einen Roll-28BBT-Magazin 3/2013
Mehr Fotos findenSie auf:www.bbtgruppe.deSammys Stammplatz istimmer bei Frauchen – egal,ob sie mit Rollstuhl oderScooter unterwegs ist.Die Krankheitaus Kindertagenkehrt zurückstuhl, es folgte die Elektro-Variante undheute stützen Polster zusätzlich den Rückenund die Oberschenkel. SelbstverständlicheHandgriffe sind für sie einewahre Kraftanstrengung. „Ich verdurstevor einer Wasserflasche, wenn sie nochfest verschlossen ist.“ Wenn ihr Mannoder die Haushaltshilfe gerade nicht inder Nähe sind, fährt sie kurzerhand indie Küche zum Wasserhahn.Nie hätte Ellen Berghaus damit gerechnet,dass die überstandene Kinderlähmungihr <strong>Leben</strong> noch einmal sobestimmen würde. „Die Polio hatte ichvergessen. Ich war doch gesund.“ Erst mit17 Jahren steckte sie sich an: bei einemPraktikum in der Kinderabteilung einesKrankenhauses – nur wenige Jahre, bevordie Schluckimpfung gegen das Virus1962 in Deutschland eingeführt wurde.Mit eiserner Disziplin trainierte die jungeFrau in einem Sanatorium ihre Beine. DieEltern kamen nur selten zu Besuch. „Undals ich dann endlich nach zwei Jahrenwieder nach Hause durfte, war mein Studienplatzweg. Ich wollte Medizin studieren.“Ellen Berghaus schaut in die Ferne,ihr Blick wird wehmütig. Aber nur füreinen kurzen Moment, dann sagt sie mitEllen Berghaus ist eine vongut 3.000 Patienten, dieDr. Axel Ruetz im Post-Polio-Zentrum behandelt. Seit 14Jahren bereits begleitet derOrthopäde seine Patientin.fester Stimme: „Mein <strong>Leben</strong> war schön.Ich habe immer nach vorne geschautund viel unternommen.“ Mit Anfang 30wurde sie eine begeisterte Skiläuferin,lernte tanzen. Wie viele Menschen, diein ihrer Kindheit und Jugend gegen dieFolgen der Virus-Infektion kämpften, hatsie früh gelernt: Ich kann etwas erreichen,wenn ich nur immer wieder übe. DieseWillenskraft hilft ihr auch heute noch,mit den Spätfolgen zu leben.Yorkshire-Mischling Sammy springtunter die Beine seines Frauchens. Er liebtes, mit ihr Scooter zu fahren. „Wir könntenheute Nachmittag noch einen Ausflugmachen, wenn es trocken bleibt.“ Nunlenkt Ellen Berghaus das Elektromobilerst einmal wieder zurück in die Garage.Es ist kurz nach zwölf und eben hat dieHaushaltshilfe das Gulasch zum Mittagessengebracht. Die Muskeln und Gelenke schmerzen, Kraft undAusdauer lassen nach, dauernde Müdigkeit –dies sind nur einige Symptome des Post-Polio-Syndroms. Es können auch Schluck- und Atemproblemeauftreten. In Deutschland leiden etwa70.000 Menschen an den Spätfolgen einerKinderlähmung. „Viele Ärzte kennen dieseKrankheit nicht“, erklärt Dr. Axel Ruetz, Leiterdes Polio-Zentrums am Katholischen KlinikumKoblenz-Montabaur. Als einzige Spezialabteilungan einem deutschen Krankenhaus kümmert ersich gemeinsam mit einem Team aus Orthopäden,Neurologen, Anästhesisten, Schmerztherapeuten,Ärzten für Lungenkeilkunde sowie Physiotherapeutenum circa 3.000 Patienten im Jahr.Bis Januar 2014 wird das Zentrum in Koblenznoch erweitert. „Wir haben Wartelisten bis insnächste Jahr“, erzählt Orthopäde Ruetz. Wie dasunheilbare Post-Polio-Syndrom voranschreitet,hat der Mediziner bei seinem Vater miterlebt:„Steh auf und kämpfe – mit einer großenkörperlichen und psychischen Energie sinddiese Menschen nach der Infektion in ihr <strong>Leben</strong>zurückgekehrt.“ Nach einer stabilen Phase von20 oder sogar 50 Jahren treten die Lähmungenwieder auf. Nur dann greift die Strategie ausKindertagen nicht mehr. Außer Schmerzmitteln,gibt es keine Medikamente, die helfen. DiePatienten trainieren mit einem Physiotherapeuten,je nachdem auch Ergotherapeuten undLogopäden. „Dabei bewegen wir uns auf einemschmalen Grat zwischen zu viel und zu wenigBewegung“, sagt Ruetz. Die Folge wäre eineweitere Muskelschwäche. Nach der Polio-Infektionübernimmt eine überlebende Nervenzelledie Arbeit der zerstörten Nachbarzellen. NachJahrzehnten einer viel zu hohen Belastung stirbtauch diese ab und es treten neue Schmerzenund Lähmungen auf. Weltweit ist Polio nochnicht ausgerottet. In Afghanistan, Pakistan undNigeria kommt es immer wieder zu Infektionen;auch in Moskau traten im vergangenen Jahreinige Fälle auf.BBT-Magazin 3/201329