unterwerfung &wahnsinnvon roland barthesLösungsideen1. Idee des Selbstmordes; Idee derTrennung; Idee des Rückzuges; Idee derReise; Idee des Opfers usw.; ich kann mirverschiedene Lösungen der Liebeskriseausmalen und höre nicht auf, das zu tun …2. Die Lösungsidee ist immer eine pathetischeSzene, die ich mir ausmale unddie mich bewegt; kurz, ein Theater. Undeben dieses theatralische Wesen der Ideemache ich mir zunutze: dieses Theaterdes stoischen Genres hebt mich, verleihtmir Größe. Indem ich mir eine extreme(das heißt definitive, das heißt überdiesdefinierte) Lösung ausmale, bringe icheine Fiktion hervor, werde ich zum Künstler,male ich ein Buch, stelle ich meinenAusbruch dar; die Idee wird sichtbar wieder „prägende“ (mit großer Bedeutungausgestattete, erwählte) Vorfall desbürgerlichen Trauerspiels: bald ist das eineAbschiedsszene, bald ein feierlicher Brief,bald, wenn auch viel später, ein würdevollesWiedersehen. Die Kunst der Katastrophebeschwichtigt mich.3. Alle Lösungen, die ich mir ausmale,liegen innerhalb des Systems der Liebeselbst: Rückzug, Reise, Selbstmord – immerist es der Liebende, der sich zurückzieht,davonmacht oder stirbt; aber wenner sich auch zurückgezogen, verschwundenoder tot sieht, so ist, was er sieht,doch noch immer ein Liebender: ich erlegemir auf, Liebender zu sein und es nichtmehr zu sein. Eben diese Art der Identitätvon Problem und Lösung definiert die Falle:ich sitze in der Falle, weil es außerhalbmeiner Reichweite liegt, das System zu ändern:ich stecke doppelt „fest“: im Innernmeines eigenen Systems, und weil ich esdurch kein anderes ersetzen kann. DieserDoppelknoten definiert anscheinend aucheinen bestimmten Typus von Wahnsinn …um mich „aus der Affäre zu ziehen“ müssteich aus dem System heraustreten.34
„Ich bin verrückt“1. Ich bin verrückt, weil ich verliebt bin, ichbin es nicht, weil ich es aussprechen kann,mein Bild verdoppelt sich: in meinen eigenenAugen wahnwitzig (ich kenne meinenWahn), lediglich unvernünftig in denen desAnderen, dem ich meine Verrücktheit sehreinsichtig gestehe: mir diese Verrücktheitbewußt, sie in Sprache bannend …2. Jeder Liebende ist verrückt, glaubt man.Vermag man sich aber auch einen liebendenVerrückten vorstellen? …3. Seit hundert Jahren glaubt man der(literarische) Wahn bestünde in der Formel„Ich ist ein anderer“, der Wahn sei eineDepersonalisierungserfahrung. Für michals liebendes Subjekt ist er genau dasGegenteil: es ist das Subjektwerden, dasSich-nicht-enthalten-Können, Subjekt zusein, was mich verrückt macht. Ich bin keinanderer: eben das nehme ich mit Entsetzenwahr …4. Verrückt ist, wer über keinerlei Machtverfügt. – Was, der Liebende kennt keinerleiMachtstreben? Gleichwohl ist meineSache die der Unterwerfung: unterworfen,als Unterwerfungslüsterner, erlebe ich aufmeine Weise die Lust an der Macht, die libidodominandi, die Herrschsucht: verfügeich nicht in gleicher Weise wie politischeSysteme über einen ordentlichen Diskurs,der stark ist, wendig, deutlich artikuliert?Und doch liegt gerade darin meine Besonderheit,meine Libido ist völlig umzingelt:ich bewohne keinen anderen Raum als dender dualen Beziehung der Liebenden: keinAtom von draussen, also auch kein Herdenmenschatom:ich bin verrückt: nicht,dass ich originell wäre, sondern weil ichvon jeder Sozialität abgeschnitten bin.Verzückung1. Die Sprache (das Vokabular) hat seitlangem die Gleichwertigkeit von Liebe undKrieg herausgestellt: in beiden Fällen handeltes sich darum, zu erobern, zu rauben,gefangenzunehmen usw. Immer wenn einSubjekt in Liebe ver-„fällt“, lässt es etwasvon der archaischen Zeit wiederaufleben,in der die Männer die Frauen entführenmussten (um die Exogamie zu gewährleisten):jeder Liebende, den der Blitzschlagder Liebe trifft, hat etwas von einer Sabinerin(oder einer beliebigen anderen derberühmten Entführten) an sich …Das „Subjekt“ ist für uns (seit dem Christentum?)derjenige, der leidet: wo es eineWunde gibt, gibt es auch ein Subjekt: DieWunde! Die Wunde! sagt Parsifal, derdadurch „er selbst“ wird; und je weiter dieWunde im Zentrum des Körpers („innerlichim Herzen“) aufklafft, desto mehr wird dasSubjekt zum Subjekt: denn das Subjektist die Innerlichkeit … „Eben das ist dieWunde der Liebe: ein „gierendes Klaffen“(bis zu den „Wurzeln“ des Seins), dem esnicht gelingt, sich zu schließen, und demdas Subjekt entströmt und sich in diesemAusströmen erst eigentlich konstituiert …Es gibt eine Illusion der Zeit-„Spanne“ derLiebe (diese Illusion heißt Liebesroman).Ich glaube (wie alle Welt), daß der Zustandder Verliebtheit eine „Episode“ ist, ausgestattetmit einem Anfang (dem ersten Blick)und einem Ende (Selbstmord, Verlassen,Abkühlung, Rückzug, Kloster, Reise usw.).Gleichwohl tue ich nichts anderes als dieAnfangsszene, die mich gefangengenommenhat, wiederherzustellen: eine Form vonNachträglichkeit … „Ich sah ihn, ich errötete,verblaßte / Bei seinem Anblick; meinenGeist ergriff / Unendliche Verwirrung.”35