KoNKRet - Magazin Humanité
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aria Cantieni* ist keine Analphabetin.<br />
MMit diesem Begriff werden Menschen<br />
bezeichnet, die nie eine Schule besucht haben.<br />
Aber Maria Cantieni hat in Graubünden<br />
alle Schuljahre durchlaufen, und ihre<br />
Schwäche wird als Illettrismus bezeichnet.<br />
Sie war eine schlechte Schülerin, doch darüber<br />
hat sich leider nie jemand Gedanken<br />
gemacht. Die Dreissigjährige hat Mühe, im<br />
Telefonbuch einen Namen zu finden, die<br />
Packungsbeilage eines Medikaments zu lesen<br />
oder einen Bancomaten zu benutzen.<br />
Sie braucht immer jemanden, der ihr hilft.<br />
Illettrismus ist in der<br />
Schweiz häufiger, als man<br />
vermuten würde.<br />
Maria Cantieni hält sich mit unqualifizierten<br />
Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Über<br />
die Jahre hat sie Strategien entwickelt, um<br />
ihr Handicap zu verbergen: Wenn sie lesen<br />
muss, hat sie gerade ihre Brille vergessen.<br />
Wird sie aufgefordert, etwas zu schreiben,<br />
schützt sie einen dringenden Anruf vor.<br />
Doch noch immer verursachen ihr derartige<br />
Situationen Schweissausbrüche. So ergeht<br />
es den meisten der rund 800 000 Erwachsenen,<br />
die in der Schweiz an einer Schreibund<br />
Leseschwäche leiden. Maria Cantieni<br />
hat dieses Versteckspiel bis zu jenem Tag<br />
gespielt, an dem sie eine Familie gründete.<br />
Genauer gesagt, bis sie ihre beiden Töchter<br />
baten, ihnen eine Geschichte vorzulesen.<br />
Als gute Mutter möchte Maria ihnen<br />
diesen Wunsch erfüllen. Daher besucht sie<br />
nun den Kurs Lesen und Schreiben, den das<br />
Rote Kreuz Graubünden im September in<br />
Chur und Sargans lanciert hat.<br />
Valeria Seglias war früher Primarlehrerin und leitet<br />
die Kurse<br />
Valeria Seglias nimmt den Teilnehmenden die Schwellenangst und stärkt deren Selbstvertrauen<br />
Schlaflose Nächte und Herzrasen<br />
Vor der definitiven Anmeldung trifft sich<br />
Valeria Seglias mit den Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern der Kurse. Schon jetzt<br />
sind einige nervös oder haben gar panische<br />
Angst: Einer hat die ganze Nacht<br />
kein Auge zugetan, eine Frau hat nicht einmal<br />
ihren Mann in ihre Pläne eingeweiht.<br />
Das zeigt, wie sehr diese Menschen unter<br />
ihrem Problem leiden. «Viele Leseschwache<br />
haben einen Minderwertigkeitskomplex,<br />
fühlen sich wertlos, manchmal schon<br />
seit ihrer Kindheit», erklärt Valeria Seglias.<br />
Seit September bringt sie zwei Frauen und<br />
drei Männern Lesen und Schreiben bei.<br />
Da deren Kenntnisstand dem von Viertklässlern<br />
entspricht, werden sie mehrere<br />
Monate brauchen, um sich von ihrer Bürde<br />
zu befreien. Doch sie werden es schaffen,<br />
denn sie haben ein klares Ziel: Maria<br />
Urs Chiara, Leiter des Projekts: «Der Kurs kann die<br />
gesamte Lebenssituation verbessern.»<br />
<strong>KoNKRet</strong><br />
möchte ihren Töchtern eine Geschichte<br />
vorlesen, Patrick eine Lehrstelle finden. «Es<br />
ist sehr befriedigend, ihnen zu helfen, sich<br />
das Leben einfacher zu machen», betont<br />
Valeria Seglias, die früher als Primarlehrerin<br />
gearbeitet hat.<br />
Der Kurs «Besser Lesen und Schreiben»<br />
des Roten Kreuzes ist das einzige derartige<br />
Angebot in Graubünden. Er richtet<br />
sich an Personen deutscher Muttersprache<br />
In Graubünden bietet das<br />
Schweizerische Rote Kreuz<br />
Kurse an, in denen diese<br />
Menschen Lesen und Schreiben<br />
lernen und wieder<br />
Vertrauen fassen können.<br />
mit einer Lese- und Schreibschwäche. Das<br />
sind etwa die Hälfte der 20 000 Personen,<br />
die im Kanton von Illettrismus betroffen<br />
sind. Das Rote Kreuz engagiert sich für<br />
sie, weil Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten<br />
in mehrfacher Hinsicht benachteiligt<br />
sind: Sie werden ausgegrenzt<br />
und haben geringere Chancen, einen Arbeitsplatz<br />
zu finden, wie Urs Chiara, Leiter<br />
und Initiant des Projekts, festhält. Daraus<br />
können sich auch gesundheitliche Probleme<br />
ergeben. Für Eltern ist die Situation<br />
noch schwieriger. Da sie ihre Kinder bei<br />
den Schulaufgaben nicht richtig betreuen<br />
können, besteht die Gefahr, dass diese in<br />
den gleichen Teufelskreis geraten.<br />
*Fiktiver Name<br />
➥ srk-gr.ch<br />
<strong>Humanité</strong> 4/2010 19