<strong>KoNKRet</strong> Leerer? Illettrismus Das belastende Geheimnis Wie schreibt man das Wort «Lehrer»? Maria Cantieni weiss es nicht. Obschon sie die Schule besucht hat, kann sie kaum richtig lesen und schreiben. Sie verheimlichte diese Schwäche. So wie viele Betroffene, deren tägliches Leben geprägt ist durch Scham, Isolation und Vertuschung. TExT: CHRISTINE RÜFENACHT 18 <strong>Humanité</strong> 4/2010 Lehrer? Lerer? © www.beham.li
aria Cantieni* ist keine Analphabetin. MMit diesem Begriff werden Menschen bezeichnet, die nie eine Schule besucht haben. Aber Maria Cantieni hat in Graubünden alle Schuljahre durchlaufen, und ihre Schwäche wird als Illettrismus bezeichnet. Sie war eine schlechte Schülerin, doch darüber hat sich leider nie jemand Gedanken gemacht. Die Dreissigjährige hat Mühe, im Telefonbuch einen Namen zu finden, die Packungsbeilage eines Medikaments zu lesen oder einen Bancomaten zu benutzen. Sie braucht immer jemanden, der ihr hilft. Illettrismus ist in der Schweiz häufiger, als man vermuten würde. Maria Cantieni hält sich mit unqualifizierten Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Über die Jahre hat sie Strategien entwickelt, um ihr Handicap zu verbergen: Wenn sie lesen muss, hat sie gerade ihre Brille vergessen. Wird sie aufgefordert, etwas zu schreiben, schützt sie einen dringenden Anruf vor. Doch noch immer verursachen ihr derartige Situationen Schweissausbrüche. So ergeht es den meisten der rund 800 000 Erwachsenen, die in der Schweiz an einer Schreibund Leseschwäche leiden. Maria Cantieni hat dieses Versteckspiel bis zu jenem Tag gespielt, an dem sie eine Familie gründete. Genauer gesagt, bis sie ihre beiden Töchter baten, ihnen eine Geschichte vorzulesen. Als gute Mutter möchte Maria ihnen diesen Wunsch erfüllen. Daher besucht sie nun den Kurs Lesen und Schreiben, den das Rote Kreuz Graubünden im September in Chur und Sargans lanciert hat. Valeria Seglias war früher Primarlehrerin und leitet die Kurse Valeria Seglias nimmt den Teilnehmenden die Schwellenangst und stärkt deren Selbstvertrauen Schlaflose Nächte und Herzrasen Vor der definitiven Anmeldung trifft sich Valeria Seglias mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kurse. Schon jetzt sind einige nervös oder haben gar panische Angst: Einer hat die ganze Nacht kein Auge zugetan, eine Frau hat nicht einmal ihren Mann in ihre Pläne eingeweiht. Das zeigt, wie sehr diese Menschen unter ihrem Problem leiden. «Viele Leseschwache haben einen Minderwertigkeitskomplex, fühlen sich wertlos, manchmal schon seit ihrer Kindheit», erklärt Valeria Seglias. Seit September bringt sie zwei Frauen und drei Männern Lesen und Schreiben bei. Da deren Kenntnisstand dem von Viertklässlern entspricht, werden sie mehrere Monate brauchen, um sich von ihrer Bürde zu befreien. Doch sie werden es schaffen, denn sie haben ein klares Ziel: Maria Urs Chiara, Leiter des Projekts: «Der Kurs kann die gesamte Lebenssituation verbessern.» <strong>KoNKRet</strong> möchte ihren Töchtern eine Geschichte vorlesen, Patrick eine Lehrstelle finden. «Es ist sehr befriedigend, ihnen zu helfen, sich das Leben einfacher zu machen», betont Valeria Seglias, die früher als Primarlehrerin gearbeitet hat. Der Kurs «Besser Lesen und Schreiben» des Roten Kreuzes ist das einzige derartige Angebot in Graubünden. Er richtet sich an Personen deutscher Muttersprache In Graubünden bietet das Schweizerische Rote Kreuz Kurse an, in denen diese Menschen Lesen und Schreiben lernen und wieder Vertrauen fassen können. mit einer Lese- und Schreibschwäche. Das sind etwa die Hälfte der 20 000 Personen, die im Kanton von Illettrismus betroffen sind. Das Rote Kreuz engagiert sich für sie, weil Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten in mehrfacher Hinsicht benachteiligt sind: Sie werden ausgegrenzt und haben geringere Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, wie Urs Chiara, Leiter und Initiant des Projekts, festhält. Daraus können sich auch gesundheitliche Probleme ergeben. Für Eltern ist die Situation noch schwieriger. Da sie ihre Kinder bei den Schulaufgaben nicht richtig betreuen können, besteht die Gefahr, dass diese in den gleichen Teufelskreis geraten. *Fiktiver Name ➥ srk-gr.ch <strong>Humanité</strong> 4/2010 19