Telefon g<strong>in</strong>g noch. Da ich an diesemMorgen nicht dazu gekommen war,für die K<strong>in</strong>der Milch zu besorgen,überließ ich die beiden me<strong>in</strong>er Wirt<strong>in</strong>,nahm die Milchkanne und lief dieSoldauer Straße <strong>in</strong> Richtung Stadth<strong>in</strong>unter. Ich war noch nicht bei derBushaltestelle, da hörte ich über dieBäume des Evangelischen Friedhofse<strong>in</strong>en Tiefflieger h<strong>in</strong>wegbrausen.Obwohl es ke<strong>in</strong>en erneuten Alarmgegeben hatte, spürte ich <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv,dass dies e<strong>in</strong> sowjetisches Flugzeugwar. Ich lief und erreichte geradenoch den nächsten Hausflur, als ichDetonationen hörte. Dort, wo ichwenige Sekunden vorher gestandenhatte, sah ich E<strong>in</strong>schlaglöcher leichterBomben. Unvorstellbar, was ausme<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern gewordenwäre, wenn ich von diesem Gangnicht wiedergekehrt wäre!Was nun geschah, kam wie e<strong>in</strong>eLaw<strong>in</strong>e auf uns zu, der wir alle nichtmehr ausweichen konnten. Die Stadtwar <strong>in</strong> Aufruhr. Die uns<strong>in</strong>nigsten Gerüchteg<strong>in</strong>gen von Mund zu Mund,von Haus zu Haus, von Straße zuStraße. Die meisten packten <strong>in</strong> fieberhafterEile die Koffer und g<strong>in</strong>genzum Bahnhof. Es sollten dort schonTausende stehen und auf Züge warten.Niemand wusste, ob man nochüber Mohrungen – Marienburg weiterkam;<strong>in</strong> Richtung Königsberg,hieß es, würden noch Züge fahren.Von da aus stand der Weg nach Pillauund von dort der Seeweg offen.Später erschien es mir wie e<strong>in</strong> Wunder,dass es mir noch am selbenAbend gelang, me<strong>in</strong>e Mutter telefonischzu erreichen. Sie trieb mit Mühee<strong>in</strong> Fuhrwerk auf, das uns noch <strong>in</strong>derselben Nacht heim nach Spiegelbergbrachte.Auch das Dorf hatte Tiefflieger erlebt,auch hier waren leichte Bombengefallen, ohne jedoch Schadenanzurichten oder gar Todesopfer zufordern. Die Menschen des Dorfeswarteten von Stunde zu Stunde aufden Räumungsbefehl. In dieser Nachtvon Sonnabend zum Sonntag schliefenwir noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>ige Stundendaheim, <strong>in</strong> eigenen Betten.Der Sonntag brach grau und kalt an.Me<strong>in</strong> Vater, der zum Volkssturm e<strong>in</strong>gezogenwar, brachte uns am Morgendie Nachricht, dass sich die Dorfleute<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stunde vor dem Gasthofe<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den sollten. Wo die sowjetischenTruppen zur Zeit standen,wussten wir nicht genau. Es hieß, sieseien schon dicht vor Allenste<strong>in</strong>.Die meisten Bauern hatten sich ihreTreckwagen schon Tage vorher gerichtet.Aber immer noch hatten siegehofft, sie würden die Heimat nichtzu verlassen brauchen. Die Treckwagenwaren schwer beladen. Me<strong>in</strong>eMutter, die K<strong>in</strong>der und ich solltenuns dem Treck anschließen. Mutterbeschloss, ihr Fahrrad mitzunehmen.Es war ungewiss, ob sich für uns allee<strong>in</strong> Platz auf e<strong>in</strong>em der Treckwagenf<strong>in</strong>den würde. Wir packten die wenigenKoffer, die wir mitnehmen konnten,auf den Rodelschlitten, setztenme<strong>in</strong>en dreijährigen Sohn darauf. Ichverpackte me<strong>in</strong>e kaum e<strong>in</strong>jährigeTochter warm im K<strong>in</strong>derwagen. Sozogen wir <strong>in</strong> das Dorf. Heute nochist es mir nicht möglich, <strong>in</strong> Wortenauszudrücken, was uns bewegte,als wir uns von allem trennen mussten,was uns lieb und vertraut war.Alle<strong>in</strong> der Abschied von me<strong>in</strong>em Vaterwar bitter genug. Wir wusstennicht, ob es e<strong>in</strong> Wiedersehen gebenwürde. Nur wenige Leute blieben im12
Dorf zurück; ältere und kranke Menschen,aber auch e<strong>in</strong>ige wenige Familien,die Haus und Hof nicht verlassenwollten, komme, was wolle.Sie ahnten nicht, was für e<strong>in</strong> furchtbaresGeschehen über dieses Dorfhere<strong>in</strong>brechen sollte!aus Allenste<strong>in</strong>er Brief Nr. 5 (1981)Wagen an WagenUm Allerseelen<strong>in</strong> der dunklen Nacht,wenn vor uns stehen,die immer neu unserem Herzen fehlen, –Er<strong>in</strong>nerung erwachtan die alten Kirchen, die Hügel im Feld,wo sie schlafen, Vätern und Nachbarn gesellt,<strong>in</strong> verlorener Heimat über der See, –und an alle, die hilflos und e<strong>in</strong>sam starben,an alle, die s<strong>in</strong>kend im Eis verdarben,die ke<strong>in</strong>er begrub, nur Wasser und Schnee,auf dem Weg unserer Flucht – dem Weg ohne Gnade!Und wir ziehen im Traum verwehte PfadeWagen an Wagen, endloser Zug,der e<strong>in</strong> Volk von der Heimat trug!Von Norden, von Osten kamen wir,über Heide und Ströme zogen wir,nach Westen wandernd, Greis, Frau und K<strong>in</strong>d.Wir kamen gegangen, wir kamen gefahren,mit Schlitten und Bündel, mit Hund und Karren,gepeitscht vom W<strong>in</strong>d, vom Schneelicht bl<strong>in</strong>d, –und Wagen an Wagen.Zuckend wie Nordlicht am Himmel standverlassner Dörfer und Städte Brandund um uns heulte und pfiff der Todauf glühendem Ball durch die Luft getragenund der Schnee wurde rotund es sanken wie Garben die hilflos starbenund wir zogen weiter,Wagen an Wagen, - -13