Neolithische Trepanationen als Beispiel für Medizin und Kult in der ...

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13.07.2015 Aufrufe

Heudorfer, Neolithische Trepanationen...Abb. 4: A: Schädelrondell aus einem südfranzösischen Dolmen (Cibournios oder Tombeaux des Poulacres).B: Zeichnung eines trepanierten Stirnbeinfragments von Zauschwitz (oben Tabula externa,unten Tabula interna).beinen). An dieser Stelle des Schädels liegt ein Tumor an der Schädelinnenseite (Meningeom)vor,der eine Aufwölbung des Schädeldaches verursacht. Die Trepanation ist vollständigverheilt (Löwen 1996).Abb. 5: Stirnbeinfragment mit Trepanation aus Zauschwitz (rechts Tabula externa, linksTabula interna).14

Bull. Soc. Suisse d’Anthrop. 6(2), 2000, 9-21.3.5. SOM-Kultur (ca. 3500 bis ca. 1800 v. Chr.)Rondelle und trepanierte Schädel aus dem Vallée du Petit-MorinAus mehreren Felskammergräbern der SOM-Kultur im Vallée du Petit-Morin stammen sechstrepanierte Schädel und mehrere Rondelle. Die Trepanationen scheinen in Schneidetechnikdurchgeführt worden zu sein und sind teilweise verheilt. Die Rondelle, alle mit Randglättung,sind teilweise zweifach gelocht (Baye 1877, Dastugue/de Lumley 1976). Eines der Rondelleweist eine pathologische Oberflächenveränderung auf, die nach Dastugue/de Lumley möglicherweisedurch Tuberkulose verursacht wurde (Dastugue/de Lumley 1976).4. Diskussion - Motivation des Eingriffs4.1. Kult oder Medizin – ein Gegensatz?Als erstes wurden die neolithischen Trepanationen aus der Lozère von Broca und Prunière inden 70er Jahren des 19. Jahrhunderts als solche erkannt und beschrieben (Prunière 1876,1878; Broca 1874, 1877). Broca (1877) unterschied dabei bereits zwischen kultischen undmedizinisch induzierten Trepanationen („trépanation posthume“ und „trépanation chirurgical“).Diese Unterscheidung ist anhand der von Broca vorgelegten Befunde, bei denen sichdie bei den überlebten Trepanationen angewandte Schabetechnik und die für die höchstwahrscheinlichpostmortal durchgeführte Schneidetechnik als grundsätzlich verschiedene Handlungenbegreifen lassen, durchaus logisch (Broca 1877). Die meisten Bearbeiter versuchenjedoch bis heute mehr oder weniger diese Unterscheidung in rein medizinisch-therapeutischeEingriffe oder rein kultisch-magische Handlungen auch auf andere Befunde anzuwenden.Zwar hat bereits 1970 Kunter eingewandt, dass sich medizinische Handlung einerseits undkultisches Ritual andererseits nicht ausschliessen müssen, da in früheren Zeiten die Heilkundevielfach von magisch-rituellen Vorstellungen geprägt gewesen sei (Kunter 1970). Zu diesermeines Erachtens durchaus schlüssigen Folgerung kommt Kunter aufgrund der Analyse vonethnologischen und historischen Trepanationspraktiken. Die Sicht, dass sich Medizin undMagie nicht unbedingt ausschliessen müssen, hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Und so findetman auch in der Literatur Bemerkungen wie „Schädelöffnung ... aus rein kultischenGründen“ (Bruchhaus/Holtfreter 1985) oderund ausschliesslich magisch-rituell motiviertenSchädelöffnungen (falls es solche überhaupt gibt?)“ (Wahl et al. 1984). Auch Röhrer-Ertl(1993) versucht im Prinzip noch zwischen rein kultischen und rein medizinischen Trepanationenzu trennen. Hierin kommt immer noch die westlich moderne Auffassung von der striktenTrennung Medizin und Kult zum Ausdruck. Eine solche Trennung, die für uns heute selbstverständlichist, konnte sich jedoch nur in unserem Kulturkreis mit seinem sehr eigenen Verhältnisvon monotheistischer Religion und Medizin/Naturwissenschaften andererseitsentwic??keln. Nur vor diesem Hintergrund konnte die Emanzipation der Naturwissenschaftenund Medizin von Religion bzw. Kult stattfinden.Im Gegensatz dazu zeigen rezente ethnologische Vergleiche, dass diese moderne Sichtweisenicht automatisch auf andere Kulturen übertragen werden kann. Im Gegenteil greifen im kulturellenVerständnis anderer Gesellschaften Kult und (empirische) Medizin in ihrer WirkungHand in Hand. So steht beispielsweise in dem „Illustrierten Lexikon der Medizingeschichte”aus dem Jahr 1979 wörtlich zur traditionell afrikanischen Medizin: „Die Unfähigkeit derAfrikaner, in den gewöhnlichen Handlungen des Lebens das Natürliche vom Übernatürlichen15

Bull. Soc. Suisse d’Anthrop. 6(2), 2000, 9-21.3.5. SOM-<strong>Kult</strong>ur (ca. 3500 bis ca. 1800 v. Chr.)Rondelle <strong>und</strong> trepanierte Schädel aus dem Vallée du Petit-Mor<strong>in</strong>Aus mehreren Felskammergräbern <strong>der</strong> SOM-<strong>Kult</strong>ur im Vallée du Petit-Mor<strong>in</strong> stammen sechstrepanierte Schädel <strong>und</strong> mehrere Rondelle. Die <strong>Trepanationen</strong> sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Schneidetechnikdurchgeführt worden zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d teilweise verheilt. Die Rondelle, alle mit Randglättung,s<strong>in</strong>d teilweise zweifach gelocht (Baye 1877, Dastugue/de Lumley 1976). E<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Rondelleweist e<strong>in</strong>e pathologische Oberflächenverän<strong>der</strong>ung auf, die nach Dastugue/de Lumley möglicherweisedurch Tuberkulose verursacht wurde (Dastugue/de Lumley 1976).4. Diskussion - Motivation des E<strong>in</strong>griffs4.1. <strong>Kult</strong> o<strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> – e<strong>in</strong> Gegensatz?Als erstes wurden die neolithischen <strong>Trepanationen</strong> aus <strong>der</strong> Lozère von Broca <strong>und</strong> Prunière <strong>in</strong>den 70er Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>als</strong> solche erkannt <strong>und</strong> beschrieben (Prunière 1876,1878; Broca 1874, 1877). Broca (1877) unterschied dabei bereits zwischen kultischen <strong>und</strong>mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>duzierten <strong>Trepanationen</strong> („trépanation posthume“ <strong>und</strong> „trépanation chirurgical“).Diese Unterscheidung ist anhand <strong>der</strong> von Broca vorgelegten Bef<strong>und</strong>e, bei denen sichdie bei den überlebten <strong>Trepanationen</strong> angewandte Schabetechnik <strong>und</strong> die <strong>für</strong> die höchstwahrsche<strong>in</strong>lichpostmortal durchgeführte Schneidetechnik <strong>als</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich verschiedene Handlungenbegreifen lassen, durchaus logisch (Broca 1877). Die meisten Bearbeiter versuchenjedoch bis heute mehr o<strong>der</strong> weniger diese Unterscheidung <strong>in</strong> re<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>isch-therapeutischeE<strong>in</strong>griffe o<strong>der</strong> re<strong>in</strong> kultisch-magische Handlungen auch auf an<strong>der</strong>e Bef<strong>und</strong>e anzuwenden.Zwar hat bereits 1970 Kunter e<strong>in</strong>gewandt, dass sich mediz<strong>in</strong>ische Handlung e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong>kultisches Ritual an<strong>der</strong>erseits nicht ausschliessen müssen, da <strong>in</strong> früheren Zeiten die Heilk<strong>und</strong>evielfach von magisch-rituellen Vorstellungen geprägt gewesen sei (Kunter 1970). Zu dieserme<strong>in</strong>es Erachtens durchaus schlüssigen Folgerung kommt Kunter aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Analyse vonethnologischen <strong>und</strong> historischen Trepanationspraktiken. Die Sicht, dass sich <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong>Magie nicht unbed<strong>in</strong>gt ausschliessen müssen, hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Und so f<strong>in</strong>detman auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur Bemerkungen wie „Schädelöffnung ... aus re<strong>in</strong> kultischenGründen“ (Bruchhaus/Holtfreter 1985) o<strong>der</strong> „<strong>und</strong> ausschliesslich magisch-rituell motiviertenSchädelöffnungen (falls es solche überhaupt gibt?)“ (Wahl et al. 1984). Auch Röhrer-Ertl(1993) versucht im Pr<strong>in</strong>zip noch zwischen re<strong>in</strong> kultischen <strong>und</strong> re<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischen <strong>Trepanationen</strong>zu trennen. Hier<strong>in</strong> kommt immer noch die westlich mo<strong>der</strong>ne Auffassung von <strong>der</strong> striktenTrennung <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Kult</strong> zum Ausdruck. E<strong>in</strong>e solche Trennung, die <strong>für</strong> uns heute selbstverständlichist, konnte sich jedoch nur <strong>in</strong> unserem <strong>Kult</strong>urkreis mit se<strong>in</strong>em sehr eigenen Verhältnisvon monotheistischer Religion <strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>/Naturwissenschaften an<strong>der</strong>erseitsentwic??keln. Nur vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> konnte die Emanzipation <strong>der</strong> Naturwissenschaften<strong>und</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> von Religion bzw. <strong>Kult</strong> stattf<strong>in</strong>den.Im Gegensatz dazu zeigen rezente ethnologische Vergleiche, dass diese mo<strong>der</strong>ne Sichtweisenicht automatisch auf an<strong>der</strong>e <strong>Kult</strong>uren übertragen werden kann. Im Gegenteil greifen im kulturellenVerständnis an<strong>der</strong>er Gesellschaften <strong>Kult</strong> <strong>und</strong> (empirische) <strong>Mediz<strong>in</strong></strong> <strong>in</strong> ihrer WirkungHand <strong>in</strong> Hand. So steht beispielsweise <strong>in</strong> dem „Illustrierten Lexikon <strong>der</strong> <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>geschichte”aus dem Jahr 1979 wörtlich zur traditionell afrikanischen <strong>Mediz<strong>in</strong></strong>: „Die Unfähigkeit <strong>der</strong>Afrikaner, <strong>in</strong> den gewöhnlichen Handlungen des Lebens das Natürliche vom Übernatürlichen15

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