Karl Albert: Philosophisches bei Ernst Bertram. - BGV-Wuppertal

Karl Albert: Philosophisches bei Ernst Bertram. - BGV-Wuppertal Karl Albert: Philosophisches bei Ernst Bertram. - BGV-Wuppertal

bgv.wuppertal.de
von bgv.wuppertal.de Mehr von diesem Publisher
13.07.2015 Aufrufe

7 Zu ihnen zählte etwa Wilhelm Stapel, Herausgeberder Monatsschrift „Deutsches Volkstum“und einer der einflussreichsten völkisch-konservativenPublizisten der Weimarer Republik.1930 proklamierte er den publizistischen „Aufstandder Landschaft gegen Berlin“.8 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes.Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.Bd. 2., München 1972, S. S. 684.9 Vgl. zum Bild des Juden als „Intellektueller“und „Urbantyp“ in Julius H. Schoeps/JoachimSchlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile undMythen. München/Zürich 1995, S. 252–260 u.S. 229–241.10 Die Aktion, Jg. 3, (29.1.1913), S. 140.11 Vgl. Michael Okroy: Metamorphosen einer Metapher.Die Vokabel Asphalt in Literatur undKulturpolitik 1900 bis 1933. Magisterarbeit,vorgelegt im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaftender Bergischen Universität GesamthochschuleWuppertal, Wuppertal 1992.12 „Langeweile“, in: Frankfurter Zeitung,16.11.1924. Zitiert nach Siegfried Kracauer:Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.1977, S. 321–325.13 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaftenund Künste. Hg. v. Johann Samuel Ersch undJohann Georg Gruber. Erste Section. Leipzig1842, s.v. „Erdharz“.14 Eine in jeder Hinsicht treffende Analyse der sozio-psychologischenBedingungen der ästhetischenInnovationen jener Jahre gibt die Studiedes Kultursoziologen Georg Simmel: Die Großstädteund das Geistesleben, in: Jahrbuch derGehe-Stiftung, Bd. IX, Dresden 1903, S.185–206.15 Oskar Loerke: Die Gedichte. Hg. v. Peter Suhrkamp,Frankfurt/M. 1958, S. 28f.16 Paul Boldt: Junge Pferde! Junge Pferde! DasGesamtwerk. Hg. v. Wolfgang Minaty, Olten1979, S. 39.17 Johannes R. Becher: An Europa. Neue Gedichte,Leipzig 1916, S. 82ff.18 Karl Kraus: Notizen [Gegen die Neutöner], in:Die Fackel, Jg. 13, Nr. 351–353 (Juni 1912),S. 53f.19 Pro domo et mundo, in: Die Fackel, Jg. 12,Nr. 315/316 (Januar 1911), S. 35.20 Joseph Goebbels: Der Angriff. Aufsätze aus derKampfzeit, München 1935, S. 334.21 Zitiert nach Anton Kaes: Weimarer Republik.Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur1918–1933, Stuttgart 1983, S. 107f.Karl AlbertPhilosophisches bei Ernst BertramIn Ergänzung meines Aufsatzes über„Wuppertal und die Philosophie“ im 10. Jahrgangder Zeitschrift „Geschichte im Wuppertal“1 möchte ich hier noch einiges über denWuppertaler Dichter und LiteraturprofessorErnst Bertram nachtragen, der zwar kein Philosophim Sinne der Zunft war, in dessen Werkjedoch, und besonders in seinem Nietzschebuch,immer wieder Philosophisches zur Sprachegekommen ist.IDer 1884 in Elberfeld als Sohn eines westfälischenFabrikanten geborene Ernst Bertramhat in Bonn Germanistik und Kunstgeschichtestudiert und sein Studium durch die Promotionbei dem bekannten LiteraturwissenschaftlerBerthold Litzmann abgeschlossen. Eine Zeitlanglebt Bertram zunächst als Privatgelehrterin Elberfeld, dann in München und im Umfelddes Lyrikers Stefan George, verfaßt Gedichte,Novellen, Aphorismen und Rezensionen. Mitseinem im Jahre 1918 bei Bondi veröffentlichtenBuch „Nietzsche. Versuch einer Mythologie“habilitiert er sich 1919 in Bonn. ThomasMann, mit dem er bis dahin geradezu freundschaftlichverbunden ist, schätzt das Buch sehrhoch, doch tritt wenige Jahre später durch BertramsInteresse an der nationalsozialistischen„Bewegung“ eine immer stärker werdende Ent-73

7 Zu ihnen zählte etwa Wilhelm Stapel, Herausgeberder Monatsschrift „Deutsches Volkstum“und einer der einflussreichsten völkisch-konservativenPublizisten der Weimarer Republik.1930 proklamierte er den publizistischen „Aufstandder Landschaft gegen Berlin“.8 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes.Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.Bd. 2., München 1972, S. S. 684.9 Vgl. zum Bild des Juden als „Intellektueller“und „Urbantyp“ in Julius H. Schoeps/JoachimSchlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile undMythen. München/Zürich 1995, S. 252–260 u.S. 229–241.10 Die Aktion, Jg. 3, (29.1.1913), S. 140.11 Vgl. Michael Okroy: Metamorphosen einer Metapher.Die Vokabel Asphalt in Literatur undKulturpolitik 1900 bis 1933. Magisterar<strong>bei</strong>t,vorgelegt im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaftender Bergischen Universität Gesamthochschule<strong>Wuppertal</strong>, <strong>Wuppertal</strong> 1992.12 „Langeweile“, in: Frankfurter Zeitung,16.11.1924. Zitiert nach Siegfried Kracauer:Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.1977, S. 321–325.13 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaftenund Künste. Hg. v. Johann Samuel Ersch undJohann Georg Gruber. Erste Section. Leipzig1842, s.v. „Erdharz“.14 Eine in jeder Hinsicht treffende Analyse der sozio-psychologischenBedingungen der ästhetischenInnovationen jener Jahre gibt die Studiedes Kultursoziologen Georg Simmel: Die Großstädteund das Geistesleben, in: Jahrbuch derGehe-Stiftung, Bd. IX, Dresden 1903, S.185–206.15 Oskar Loerke: Die Gedichte. Hg. v. Peter Suhrkamp,Frankfurt/M. 1958, S. 28f.16 Paul Boldt: Junge Pferde! Junge Pferde! DasGesamtwerk. Hg. v. Wolfgang Minaty, Olten1979, S. 39.17 Johannes R. Becher: An Europa. Neue Gedichte,Leipzig 1916, S. 82ff.18 <strong>Karl</strong> Kraus: Notizen [Gegen die Neutöner], in:Die Fackel, Jg. 13, Nr. 351–353 (Juni 1912),S. 53f.19 Pro domo et mundo, in: Die Fackel, Jg. 12,Nr. 315/316 (Januar 1911), S. 35.20 Joseph Goebbels: Der Angriff. Aufsätze aus derKampfzeit, München 1935, S. 334.21 Zitiert nach Anton Kaes: Weimarer Republik.Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur1918–1933, Stuttgart 1983, S. 107f.<strong>Karl</strong> <strong>Albert</strong><strong>Philosophisches</strong> <strong>bei</strong> <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>In Ergänzung meines Aufsatzes über„<strong>Wuppertal</strong> und die Philosophie“ im 10. Jahrgangder Zeitschrift „Geschichte im <strong>Wuppertal</strong>“1 möchte ich hier noch einiges über den<strong>Wuppertal</strong>er Dichter und Literaturprofessor<strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong> nachtragen, der zwar kein Philosophim Sinne der Zunft war, in dessen Werkjedoch, und besonders in seinem Nietzschebuch,immer wieder <strong>Philosophisches</strong> zur Sprachegekommen ist.IDer 1884 in Elberfeld als Sohn eines westfälischenFabrikanten geborene <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>hat in Bonn Germanistik und Kunstgeschichtestudiert und sein Studium durch die Promotion<strong>bei</strong> dem bekannten LiteraturwissenschaftlerBerthold Litzmann abgeschlossen. Eine Zeitlanglebt <strong>Bertram</strong> zunächst als Privatgelehrterin Elberfeld, dann in München und im Umfelddes Lyrikers Stefan George, verfaßt Gedichte,Novellen, Aphorismen und Rezensionen. Mitseinem im Jahre 1918 <strong>bei</strong> Bondi veröffentlichtenBuch „Nietzsche. Versuch einer Mythologie“habilitiert er sich 1919 in Bonn. ThomasMann, mit dem er bis dahin geradezu freundschaftlichverbunden ist, schätzt das Buch sehrhoch, doch tritt wenige Jahre später durch <strong>Bertram</strong>sInteresse an der nationalsozialistischen„Bewegung“ eine immer stärker werdende Ent-73


<strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong> (1884–1957). Foto: Stadtarchiv<strong>Wuppertal</strong>fremdung zwischen ihm Thomas Mann ein. ImMärz 1922 wird <strong>Bertram</strong> ordentlicher Professorfür „Neuere deutsche Literaturgeschichte“an der Universität Köln. Dort lehrt er mitgroßem Erfolg bis 1946, in welchem Jahr ihmvon der britischen Besatzungsmacht die Lehrerlaubnisentzogen wird, und zwar unter demfadenscheinigen und dummen Vorwand, erhabe zum Stefan-George-Kreis gehört und einNietzsche-Buch verfaßt (wir werden am Endeunserer Studie auf dieses Thema noch zurückkommen).Erst 1950 wird <strong>Bertram</strong> rehabilitiertund stirbt 1957. Begraben ist er auf seinenWunsch in Weilburg neben seinem schon 1934verstorbenen Freund Dr. <strong>Ernst</strong> Glöckner, demauch das Nietzschebuch gewidmet ist. Wir haltenuns hier allein an dieses Buch, <strong>Bertram</strong>sphilosophischstes Werk. <strong>Bertram</strong> bezeichnet esim Untertitel als „Versuch einer Mythologie“. 2Er will darin „Studien zur einer Mythologie desletzten großen Deutschen bieten; einiges vondem festhalten, was der geschichtliche Augenblickunserer Gegenwart in Nietzsche und alsNietzsche zu sehen scheint“ (7). Es ist zweifellosein bedeutendes Buch, als Habilitationsschriftfreilich recht ungewöhnlich, da es zugleichsowohl Dichtung als auch Literaturwissenschaftdarstellt. In seiner Antrittsvorlesunghat der Frischhabilitierte diese Verbindungnäher begründet. Einen Inhaltsüberblick überdas Buch gibt der <strong>Bertram</strong>-Schüler Hajo Jappein seiner Biographie: „<strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>. Gelehrter,Lehrer und Dichter“. 3 Thomas Mann hatdas Werk sehr geschätzt und noch nach demKrieg von ihm gesagt, es sei „die Schönheit,Musikalität und Unschuld selber“. 4Wir greifen im folgenden aus <strong>Bertram</strong>sNietzschebuch drei durch ihren philosophischenGehalt besonders belangvolle Kapitelheraus: das Kapitel „Das deutsche Werden“(64–90), das Kapitel „Sokrates“ (308–340) unddas Kapitel „Eleusis“ (341–363). Da<strong>bei</strong> werdenwir leider der dichterischen Sprache desgelehrten Literaturhistorikers <strong>Bertram</strong> unddessen Zitaten aus dem nicht weniger poetischenDeutsch Nietzsches, des „Dichterphilosophen“(eine Bezeichnung, mit der für michnichts Negatives verbunden ist), nur die nüchternenund schlichten Worte philosophischerKommentierung an die Seite stellen können.IIIn dem an erster Stelle in den Blick zu nehmendenphilosophischen Kapitel entwickelt<strong>Bertram</strong> Nietzsches „Philosophie des Deutschtums“(90) und verbindet es gleich zu Beginnmit dem Namen des vorsokratischen PhilosophenHeraklit von Ephesos: „Als den ältestenAhnherrn seiner Philosophie ehrt NietzschesDankbedürfnis, durch alle wechselnden Epochenseines Denkens hindurch, den NamenHeraklits. Der große Entdecker und Rechtfertigerdes Werdens war für den Dichter des Zarathustravielleicht das fruchtbarste Ur- und Vorbildseiner selbst; seine dunkle und dunkelüberlieferte Weltkonzeption gewährte ihmfrüh das strenge Rauschglück einer Begegnungmit seinem gesteigerten Selbst, wie es späternur noch die eigene Konzeption des Zarathustraihm gegeben hat, in dessen Gestalt ja vieleZüge des ephesischen Weisen eingegangen74


sind“ (64). Heraklit sei für Nietzsche der Philosophdes Werdens gewesen und deshalb für ihn,der sich selbst als ein sich ständig Wandelnderverstanden habe, Vorbild.Die Heraklitische Philosophie des Werdens(die übrigens ebenso in der zeitgenössischenNietzsche-Interpretation eine viel zu wichtigeRolle gespielt hatte: Nietzsche war ja der Urvaterder Lebensphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts,und zwar nicht zuletzt wegen der Betonungdes Werdegedankens) wird nun von<strong>Bertram</strong> mit dem Gedanken der Wesensart derDeutschen verbunden: „Das immer wieder hervorbrechendeGefühl für das Werden im deutschenWesen, ja die Gleichsetzung von ,Werden‘und ,deutsch sein‘, die <strong>bei</strong> Nietzsche inimmer neuen Masken begegnet, – es spricht fürdas Vorhandensein einer tiefen inneren Selbstgleichsetzungmit dem deutschen Wesen, demdoch niemand so vernichtende ,Wahrheiten‘,so leidenschaftliche Verneinungen entgegengebrachthat wie eben Nietzsche“ (66). Und nachdem Zitat aus der „Fröhlichen Wissenschaft“,dem gemäß wir Deutsche insofern Hegelianerseien, als wir dem Werden einen tieferen Sinnzubilligten als dem Sein, fügt <strong>Bertram</strong> hinzu:„Das ist ganz jene heraklitische radikale Ablehnungdes Begriffs ,Sein‘“ und erinnert kurzdarauf daran, daß dem deutschen Wort für dasSeiende, nämlich „Wirklichkeit“, nicht einSein, sondern ein Wirken sprachlich zugrundeliege(67). Dementsprechend fühlt die lateinischeGeistigkeit „ihre Welt, eine Welt derSeinsgläubigkeit, verneint und vernichtetdurch diesen hegelischen Protestantismus desWerdens“ (76). In der deutschen Seele aberliege ein Selbstwiderspruch, weil es in ihr zugleichein „Heimweh nach allem Sein, nachendlichem, späten und dankbaren Ausruhen inSein und Gegenwart“ gebe. Und: „Die unauslöschliche,mit dem Bildungstrieb so eng vermählteSehnsucht nach dem römischen und romanischenSüden, das so nur dem Deutscheneigene Südweh hat die tiefste Wurzel eben indiesem Zauber des Zuständlichen, des schonGewordenen, des Seins“ (78).Offenbar denkt Nietzsche und mit ihm<strong>Bertram</strong> im Blick auf das Sein nur an etwassehnsüchtig Erstrebtes, nicht Erreichbares, nur„faustisch“ Gesuchtes. Dennoch deutet sich <strong>bei</strong><strong>Bertram</strong> gerade in diesem Punkt vorsichtigeKritik an, wenn es von Nietzsche heißt: „Seineeigene Vorliebe für die frühe Werdezeit des hellenischenGeistes ist auch in diesem Zusammenhangenicht ohne Bedeutung – niemandhat so entschieden wie er die sogenannte klassischeEpoche des griechischen Wesens, seinenMoment des ,Seins‘ so sehr, so bewußt vernachlässigt,<strong>bei</strong>nah ungerecht verkleinert zugunstender Epoche des griechischen Werdens,wie sie sich in den Gestalten der vorsokratischenPhilosophie versinnbildlicht“ (86). Manmüßte sogar hinzufügen, was <strong>bei</strong> <strong>Bertram</strong> allerdingsnicht näher zum Ausdruck kommt,daß gerade in der Philosophie der Vorsokratiker,der Seinsgedanke eindrucksvoll <strong>bei</strong> Parmenidesin Erscheinung tritt. Dieser ist es, <strong>bei</strong>dem, wie der Schweizer PhilosophiehistorikerOlof Gigon einmal bemerkt hat, „zuerst derjenigeBegriff erscheint, den alle seine Vorgängergemeint haben und ohne den nach ihm niemandmehr philosophieren kann, der Begriffdes Seins“. 5 Das Sein aber erscheint schon <strong>bei</strong>Parmenides nicht nur als Begriff, sondern alsErfahrung, gewissermaßen sogar als Er-Fahrungim ursprünglichen Wortsinn, denn derParmenideische „wissende Mann“ fährt ja ineinem Wagen zu einer Gottheit auf, die ihm dieWahrheit über das Sein verkündet. Und nichtnur Platon und die Platoniker aller Epochen,wie Plotin, Augustinus, Meister Eckhart, Descartes,Lavelle und eine Zeitlang ebenso dersonst mehr von Aristoteles bestimmte Heidegger,reden von der Erfahrung des Seins. 6 DieserAspekt der abendländischen Philosophiegeschichtekommt also unter dem Einfluß Heraklits<strong>bei</strong> Nietzsche und damit auch <strong>bei</strong> <strong>Bertram</strong>trotz der erwähnten Nachbemerkung zu kurz.IIIDas Sokrates-Kapitel ist eines der längsten<strong>bei</strong> <strong>Bertram</strong> und wohl auch das philosophischgehaltvollste. Zu Sokrates habe Nietzsche inständigem Kampf und in einem Zustand vonHaßliebe gestanden: „Man kann, wenn manwill, Nietzsches geistige Entwicklung gera-75


dezu um sein Verhältnis zu Sokrates herumschwingendsehen, nicht anders wie die ,Geburtder Tragödie‘ um Sokrates den Mörder derTragödie herum komponiert ist, wie die ,Götzendämmerung‘um den Kern von Haß herumlagert,der ,das Problem des Sokrates‘ genanntist. Nicht nur das aufklärerische ,Menschliche‘sieht ,die Straßen der verschiedensten philosophischenLebensweisen zu Sokrates zurückführen‘,dem ,einfachsten und unvergänglichstenMittler-Weisen‘“ (309). <strong>Bertram</strong> verstehtdie Haßliebe gegenüber Sokrates von NietzschesSelbstverständnis her: „In NietzschesLiebeshaß für Sokrates begegnen sich Selbsthaßund Selbstverklärung zu sonderbarer Einheit“(309). In Sokrates haßt Nietzsche zugleichsich selbst, „den theoretischen Menschen,der dazu bestimmt ist, den Mythos aufzulösenund ein Wissen um Gut und Böse andie Stelle der Götter zu setzen. Er haßt in Sokratesden Vergifter des wahren Griechentums,jenes vorsokratischen Hellenentums aus Mythosund Orphik, welches für ihn das eigentlicheHellenentum war und blieb. Er haßt denLogiker in ihm, den Aufklärer, den Nicht-Mystiker,den Optimisten“ (309f.). Und nach einerReihe entsprechender Zitate aus Nietzschekommt <strong>Bertram</strong> zu dem Ergebnis: „Kein Zweifel,in allem dem zeichnet Nietzsche, mit denschärfsten, ja karikaturistischen Strichen desHasses, das Bild des aufklärerischen Rationalisten,den Logikers aus décadence, als den ersich selber haßt“ (312).Aber auch mit einer anderen, der geliebtenSeite des Sokrates verbindet sich das SelbstgefühlNietzsches: einerseits mit dem Bericht desDialogs „Phaidon“ vom musiktreibenden Sokrates,der sein Philosophieren als die „höchsteMusenkunst“ auffaßte, anderseits mit Sokratesals dem Lehrer. Von diesem Lehrertum heißt es<strong>bei</strong> <strong>Bertram</strong>: „Nietzsche hat das Bild dieses Sokratesgeflissentlich nur als Ahnung und Schattenvor sich und uns aufsteigen lassen. Aber gewißist, daß nie der Haß gegen den amusischenLogiker Sokrates in ihm so unverlöschlich gewordenwäre, wenn nicht der große musischeLehrer Sokrates immer ein geheimes Liebesbildgeworden wäre ... Der große Lehrer Sokrateswar es, den Nietzsches verzerrende Polemikvon denjenigen Zügen reinigen wollte, die eran sich selber als Einwand gegen das eigneLehrertum erlebte und haßte“ (314).Hier stehen wir, wie <strong>Bertram</strong> anmerkt,schon mitten im sokratischen Mythos der Erziehung(316). Der junge Mensch will ja nichtnur Leser, Hörer und Schüler eines von ihmverehrten Lehrers sein, sondern gewissermaßenein Sohn und Zögling: „So war es dergroße Mensch, den Nietzsche suchte, nicht diegroße Lehre, der Philosoph, nicht die Philosophie,der lebendige Mund, nicht das starre Testament.Nicht der verehrungswürdige Tote,sondern der vorlebende Zeitlose“ (320). Allerdings,wie <strong>Bertram</strong> hinzufügt, „war Nietzsche,in und trotz all seiner stolzen und schauerlichenEinsamkeit, wirklich dieser sokratischePhilosoph des ,Willens zur Macht‘, der Philosophals geborner großer Erzieher, so war er esmit der ebenso eingeborenen Tragik, vermögeseiner zwiespältigen nordisch hellenischen Naturnicht jene persönlichen Schüler finden zukönnen, festhalten zu dürfen, nach denen er einganzes Leben hindurch mit solcher Sehnsuchtausspähte“ (330). Freilich findet Nietzsche erstnach dem Tode Richard Wagners im Jahre1883, in welchem Jahr auch das erste Buch des„Zarathustra“ erscheint, Anhänger und Jünger.Allerdings: „Die persönliche Meisterschaftvon Mensch zu Mensch blieb ihm versagt; ausden nämlichen Gründen vielleicht, aus denensein Erlebnis der eignen Jüngerschaft zu Wagnersich nicht hatte vollenden können: aus einerinnersten Unschmelzbarkeit, einem protestantischenTrotz des Individuums, einem nordischenStolz und Willen zur siebenten Einsamkeitdes Ich“ (336). <strong>Bertram</strong> erinnert daran, daßdie Antwort auf Sokrates in Platon bestand.Nietzsche jedoch hatte keinen Platon alsNachfolger (338).IVDas zwanzigste und letzte Kapitel in <strong>Bertram</strong>sNietzschebuch ist „Eleusis“ überschrieben.Es geht aus von den berühmten Mysterienkultenin dieser nahe <strong>bei</strong> Athen gelegenenStadt. Wir wissen heute immer noch nur wenig76


von den geheimnisvollen religiösen Zeremonien,die in den Eleusinischen Mysterien vollzogenwurden, da die in diese Mysterien Eingeweihten,die Mysten, zum Schweigen verpflichtetwaren. Sicher ist jedenfalls, daß imMittelpunkt der religiösen Handlungen der Demeter-Kore-Mythosstand. 7<strong>Bertram</strong> beginnt das Kapitel über dieseMysterienkulte mit dem verhältnismäßig spätenBericht des Historikers Zosimos aus demfünften Jahrhundert über den Glauben derGriechen, die Eleusinischen Mysterien hieltendas Menschengeschlecht zusammen, hättenalso nicht nur Bedeutung für die Griechen gehabt,sondern auch für die Barbaren: „Vielleichtist niemals die schauende Ahnung, diereligiöse Gewißheit von der innersten Bedeutungdes Mysteriums, als eines weltbindenden,weltbewahrenden Geheimnisses, so großartigstill ausgesprochen worden wie in dieserschlichten Überlieferung über den griechischenEleusinienglauben“ (341). <strong>Bertram</strong> verbindetdaher mit diesem Mysterienglauben denGedanken der Verantwortung (342). Aufgrundsolchen Verantwortungsgefühls sei gerade inEleusis die Schweigepflicht über die geheimenRituale so streng eingehalten worden: „Daherdie ungeheure Seelenmacht der eleusinischenScheu, die, als bloßes Verschweigen, freilichauch anderen antiken Geheimkulten geschuldetund gegeben wurde, die aber als einzige inunserer Überlieferung dies Verantwortungsgefühlfür die Welt einschließt“ (343).Zur Mysterienfrömmigkeit gehört fernerder Gemeinschaftsgedanke. Denn „für den einzelnen,für das insolierte Ich des Intellekts undder erkenntnislüsternen Scheidungen [...] gibtes kein Mysterium“ (344). Nietzsche, „seinesbetonten, protestantischen und äußersten Individualismusungeachtet, ersehnte und wähnte,sich als ,innere Mehrzahl‘ zu empfinden, alsGlied einer unwirklichen Gemeinschaft, alsMyste“ (346). Als solcher aber lehre Nietzsche,der Prediger, der Diener am Wort, der Liebhaberdes Wortes, daß man aus Worten nur daslerne, was einem vom Erlebnis her zugänglichsei. In diesem Zusammenhang erinnert <strong>Bertram</strong>an das Wort des Aristoteles über dasSchauen in den Eleusinischen Mysterien, daßdieses Schauen als ein Erleben, ein pathein,nicht als ein Erlernen, ein mathein, aufgefaßtwerden müsse, d.h. als ein wortloses Erkennen,nicht ein durch Worte ausdrückbares Erkennen(354). Das „augenschließende Anschauen“aber sei „die innerste Bedeutung des Wortes,Mystik‘“ (361).<strong>Bertram</strong>s Eleusiskapitel scheint, anders alsdie Kapitel über Heraklit und Sokrates, demThema des Philosophischen weniger nahegekommenzu sein. Dennoch ist die Philosophieauch im Mysterienkapitel nicht weit. Es fehlennur wenige Schritte. Einerseits ist da, wo Nietzschevon Mystik spricht, nicht selten die Verbindungzur Philosophie mitgedacht. So hatder junge Nietzsche den Satz von der Einheitalles Seienden, der allem philosophischenDenken zugrundeliege, auf eine „mystische Intuition“zurückgeführt. 8 Und in einer Notiz ausder Zeit der Niederschrift des „Zarathustra“heißt es: „Eigentlicher Zweck alles Philosophierensdie intuitio mystica“. 9 Andererseitshat die neuere Forschung gerade im Blick aufdie Philosophie Platons auf die Bedeutung derMysterienreligionen hingewiesen. So benutztPlaton immer wieder in seinen Dialogen dieMysteriensprache, so daß Gerhard Krüger (derim übrigen jedoch auf dem Unterschied vonPhilosophie und Mysterium besteht) davonspricht, daß Platon „in der Form der alten, versinkendenReligion die Welt- und Selbsterkenntniseiner neuen Religion“ ausdrücke. 10Ferner vergleicht der Heideggerschüler EugenFink das Platonische „Höhlengleichnis“ mitder Einweihung in ein Mysterium. 11 Denn PlatonsGleichnis „versinnbildet den Stufengangder Weihen, die schrittweise Enthüllung eineswesentlichen Geheimnisses“. 12 In den letztenJahren ist die Burkert-Schülerin ChristinaSchefer noch einen Schritt weitergegangen mitder These, daß Platon nicht nur die Terminologieder Mysterienkulte verwende, sondernletztlich von einer Art Mysterienerfahrung ausgehe,wo<strong>bei</strong> die Platonische Philosophie imGrunde als Apollonmysterium zu verstehensei. 13 Was <strong>Bertram</strong> als Dichter und Literaturwissenschaftlerim Jahre 1918 noch nicht aussprechenkonnte, so nah er diesem auch gekommenzu sein scheint, ist nun von der an die77


Eleusinischen Mysterien anknüpfenden philosophiegeschichtlichenForschung ergänzt undnachgetragen worden.VAls das Nietzschebuch geschrieben und gedrucktwurde, gab es noch keinen Nationalsozialismus.Dennoch bezogen sich nach demKrieg die Versuche, <strong>Bertram</strong> als Nationalsozialistenzu deuten, nicht selten ausgerechnet aufdieses Buch.Schon der englische UniversitätsoffizierDr. Beckhoff hatte als Begründung für die Entlassungdes Gelehrten angegeben, dieser habedem Georgekreis angehört, einen Elitegedankenvertreten und ein Buch über Nietzsche verfaßt.14Aber auch von deutscher Seite wurdensolch völlig haltlose Vorwürfe erhoben, um<strong>Bertram</strong> aufgrund seines Nietzschebuches zumNationalsozialisten zu stempeln. Ein Beispieldafür findet sich in dem einschlägigen Artikelder „Deutschen Bibliographischen Enzyklopädie“(Bd. 1, S. 488) über <strong>Bertram</strong>: „Mit seinemBuch ,Nietzsche. Versuch einer Mythologie‘schuf er eine ideologische Komponente der nationalsozialistischenRassenideologie, indemer Nietzsches Philosophie auf die Theorie desHerrenmenschentums reduzierte“. Aber leidergibt es dafür in <strong>Bertram</strong>s Buch nicht dengeringsten Beleg. Unbestreitbar, wenngleichschwer verstehbar, ist allerdings, daß <strong>Bertram</strong>,nicht zuletzt auch unter dem Einfluß seinesFreundes Glöckner, schon früh von der nationalsozialistischen„Bewegung“ die „Erneuerungder Kultur, die Reinigung, Erhebung, Verherrlichungdes Vaterlandes“ erwartete. 15Die Herausgeberin der Briefe ThomasManns an <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>, Inge Jens, schreibt inihrem Nachwort über <strong>Bertram</strong>s Ablehnung einesRufes an die Münchener Universität imJahre 1927: „<strong>Bertram</strong> blieb also im besetztenKöln, und damit war der Kurs nationalsozialistischerKurzsichtigkeit festgelegt, der ihn übereinen zum Rassenwahn ausartenden Judenhaßzu einer Verabsolutierung des Nordens, von einemnationalen Chauvinismus zur Begrüßungder ,völkischen Erneuerung‘, im Zeichen desNationalsozialismus, führte“. 16 Hier ist dieTendenz klar. Im Sinne der „re-education“ wirdman „politisch korrekt“: Vaterlandsliebe istChauvinismus, Schwärmerei für den NordenRassenwahn, Antisemitismus Judenhaß. IngeJens stellt abschließend immerhin auch fest:„<strong>Bertram</strong> gehörte zu jenem Teil der deutschenakademischen Intelligenz, der dem Glauben andie völkische Erhebung längst vor der Machtergreifungverfiel, und erst sehr spät, vollReue, bemerkte, daß die geistlose Brutalitätder als Reinkarnation der platonischen Akademiegefeierten Partei den ästhetischen Träumenvon Reich, Macht und Freiheit in keiner Weiseentsprachen“. 17In ähnlicher Weise hebt der zuletzt in Kölnlehrende Neugermanist K. O. Conrady <strong>Bertram</strong>sverspätete Kritik am Nationalsozialismushervor, doch sei darüber ein „unerbittliches ,Zuspät‘ verhängt“. 18Durch betonten „Antifaschismus“ und Entlarvungdes „Nationalsozialismus“ hofft manheute vielerorts, sich aus der Masse der übrigenzur Buße bestimmten Deutschen befreienzu können. Man tut da<strong>bei</strong> <strong>Bertram</strong> Unrecht, indemman vergißt, daß seine freilich allzu langeZustimmung zu den Ideen der nationalsozialistischen„Bewegung“ getragen war von demAnliegen der Wiederherstellung eines nationalenSelbstwertgefühls nach den Demütigungenvon Versailles. Als Germanist, Protestant unddeutscher Dichter fühlte sich <strong>Bertram</strong> wohl inbesonderer Weise verpflichtet, patriotisch zudenken.Anmerkungen:1 In: Geschichte im <strong>Wuppertal</strong> 10. Jg. 2001, S.13–25.2 Wir zitieren das Nietzschebuch ohne weitereAngaben nur mit den Seitenziffern.3 Bonn 1969.4 Thomas Mann an <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>. Briefe aus denJahren 1910–1955. Hrsg. von Inge Jens, Pfullingen1960, S.197.5 Der Ursprung der griechischen Philosophie. VonHesiod bis Parmenides, 2.Aufl. Basel 1968, S.10.78


6 Vgl. dazu meine Abhandlung „Die ontologischeErfahrung“ und die dort angegebene Literatur(zuerst Ratingen 1974, jetzt in: Philosophie derPhilosophie, St.Augustin 1988, S. 7–207).7 Vgl. dazu u.a. K.Kerényi: Die Mysterien vonEleusis, Zürich 1962. Ferner das Kapitel „Mysterion“in meinem Buch: Griechische Religionund Platonische Philosophie, Hamburg 1980, S.96–104.8 Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe[KSA], 1, S. 813.9 KSA 11, S. 232.10 Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des PlatonischenDenkens, Frankfurt a.M. 1939, S. 60.11 Metaphysik der Erziehung im Weltverständnisvon Plato und Aristoteles, Frankfurt a.M. 1970,S. 54.12 A.a.O., S. 55.13 Platon und Apollon. Vom Logos zurück zumMythos, Sankt Augustin 1996; Platons unsagbareErfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon,Basel 2001; Bild und Geheimnis. Von Platon zuden Mysterien von Eleusis. In: Sein und Werdenim Lichte Platons. FS für <strong>Karl</strong> <strong>Albert</strong>. Hg. vonE. Jain und St. Grätzel, Freiburg-München2001, S. 273–295.14 Vgl. dazu Jappe, S. 242 und 337 ff.15 Thomas Mann an <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>. Pfullingen1960, S. 195.16 A.a.O. S. 298. Vgl. dazu N. Oellers: <strong>Ernst</strong> <strong>Bertram</strong>– mit dem Strom und gegen ihn. In: Moderneund Nationalsozialismus im Rheinland.Hg. von D.Breuer und G.Cepl-Kaufmann, Paderborn1997, S. 213–227.17 A.a.O., S. 299.18 Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eineunfestliche Erinnerung, Schernfeld 1990, S. 45.Dirk KrügerPeter Kast (eigtl. <strong>Karl</strong> Preissner).Schriftsteller, Journalist, Widerstandskämpfer – Eine ErinnerungIn dem seinem Freund Martin AndersenNexö zugedachten Gedicht „Die Literatur wirddurchforscht werden“ reimt Bert Brecht:„Ja, es wird eine Zeit geben, woDiese Klugen und FreundlichenZornigen und HoffnungsvollenDie auf dem nackten Boden saßen, zuschreibenDie umringt waren von Niedrigen undKämpfernÖffentlich gepriesen werden.“Es soll in diesem Beitrag nicht gepriesen,sondern erinnert werden an einen Klugen undFreundlichen, Zornigen und Hoffnungsvollen,an einen, der auch auf dem nackten Boden saß,umringt von Niedrigen und Kämpfern, an denin <strong>Wuppertal</strong> (Elberfeld) geborenen Journalisten,Schriftsteller und WiderstandskämpferPeter Kast, dessen eigentlicher Name <strong>Karl</strong>Preissner war.Eine autobiographische Skizze zu Beginnder 50er Jahre hat er überschrieben „Wie ichzum Denken und Schreiben kam“. Diese Überschriftist für Peter Kast typisch. Ihm war dasSchreiben gleichbedeutend mit dem Denken.Und Denken hieß <strong>bei</strong> ihm auch stets – Handeln.Peter Kast wurde Journalist, Schriftstellerund Widerstandskämpfer, indem er zum bewußtenKämpfer für die Ziele der Ar<strong>bei</strong>terbewegungwurde.Kindheit und JugendSein Leben begann am 1. August 1894 in<strong>Wuppertal</strong> (Elberfeld) als Sohn eines Küfersund Gewerkschaftsfunktionärs. Über seinenVater bemerkte er einmal: „Ihm bedeutete derTarif alles, das sozialistische Ziel wenig, dieKunst nichts.“ Das ist nur eine der harmloseren,zahlreichen sarkastischen Bemerkungenüber seinen Vater. Seine Mutter war das ältesteKind einer neunköpfigen Bergar<strong>bei</strong>terfamilieaus dem Ruhrpott. Das hat er später immer79

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!