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Europäische Kriminalpolitik „reloaded“: Das Manifest zum ... - ZIS

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<strong>Europäische</strong> <strong>Kriminalpolitik</strong> <strong>„reloaded“</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Manifest</strong> <strong>zum</strong> <strong>Europäische</strong>n StrafverfahrensrechtVon Prof. Dr. Helmut Satzger und Akad. Rat a.Z. Frank Zimmermann, München*I. EinleitungVor fast genau vier Jahren veröffentlichten die Mitglieder derEuropean Criminal Policy Initiative (ECPI), einer mittlerweileaus 16 Europastrafrechtswissenschaftlern aus zehn EU-Mitgliedstaatenbestehenden Forschergruppe, in dieser Zeitschriftdas vielbeachtete <strong>Manifest</strong> zur <strong>Europäische</strong>n <strong>Kriminalpolitik</strong>. 1Vor dem Hintergrund einer seit mehreren Jahren unübersehbarenEuropäisierung auch des Strafrechts mahnte die ECPIdie Entwicklung und Beachtung einer eigenständigen <strong>Kriminalpolitik</strong>auf EU-Ebene an, die an grundlegenden Prinzipien– namentlich dem Erfordernis eines legitimen Schutzzwecks,dem Ultima ratio-Grundsatz, dem Schuld- und dem Gesetzlichkeitsprinzip,dem Subsidiaritätsgrundsatz sowie der Kohärenzwahrungauf Unions- wie auch auf mitgliedstaatlicherEbene – ausgerichtet sein müsse. Der von Seiten der ECPIvorgeschlagene prinzipienbasierte Ansatz für die Entwicklungeiner <strong>Europäische</strong>n <strong>Kriminalpolitik</strong> hat in großem AusmaßZustimmung sowohl bei den für die relevante Gesetzgebungzuständigen EU-Institutionen als auch in der wissenschaftlichenDiskussion erfahren. 2 Gleiches gilt für die von der Forschergruppepublizierten rechtsaktsbezogenen Empfehlungen,die das Ergebnis einer detaillierten, an den Prinzipien des<strong>Manifest</strong>s orientierten Evaluation darstellen. 3Dabei erachtete die ECPI eine prinzipienbasierte Herangehensweisean das materielle Recht zwar für vordringlich,weil „die negativen Auswirkungen unüberlegter Eingriffe indie materiellen Strafrechtsordnungen kaum mehr gut zu machen“4 seien. <strong>Das</strong>s darüber hinaus auch der Bereich des Strafprozess-und Rechtshilferechts ein enorm wichtiges und vorallem weites Anwendungsfeld für eine europäische <strong>Kriminalpolitik</strong>darstellt, für welches es ebenso sinnvoll sein würde,einen Katalog von Forderungen zu erstellen, war der ECPIbereits 2009 bewusst. Auch auf wissenschaftlichen Tagungenwurden die Mitglieder immer wieder bestärkt, die kriminalpolitischenEmpfehlungen in diese Richtung zu erweitern. 5Allerdings erschien die Formulierung eines strafprozessualen<strong>Manifest</strong>s zu diesem Zeitpunkt verfrüht. Zu unklar und komplexgestalteten sich Umfang und Richtung der Rechtsentwicklung.Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an denmittlerweile seit Jahren diskutierten und beratenen Vorschlagfür eine Richtlinie über die <strong>Europäische</strong> Ermittlungsanordnung6 , an die erst jetzt wieder voll entbrannte, aber in dieZeiten des Corpus Juris 7 zurückreichende Diskussion über dieSchaffung und Ausgestaltung einer <strong>Europäische</strong>n Staatsanwaltschaft(siehe unten III. 3.) sowie an die langjährige Debatteum die Stärkung von Beschuldigtenrechten, die erst inletzter Zeit <strong>zum</strong> Erlass mehrerer Richtlinien geführt hat (sieheunten III. 2.).Dementsprechend waren zur Vorbereitung des strafprozessualen<strong>Manifest</strong>s auch umfassendere und komplexere Überlegungenanzustellen. Erst jetzt – nach weiteren vier Jahreneingehender Analyse der Rechtsentwicklung auch und geradeauf Basis des Vertrags von Lissabon, auf der Grundlage vonintensiven Diskussionen mit Praktikern und Wissenschaftlerkollegenund unter Einbeziehung der Erfahrungen mit demersten <strong>Manifest</strong> – erscheint es uns sinnvoll und erfolgversprechend,ein weiteres <strong>Manifest</strong> zu veröffentlichen, das sich inhaltlichden prozessualen Aspekten der europäischen <strong>Kriminalpolitik</strong>zuwendet.* Prof. Dr. Helmut Satzger ist Inhaber des Lehrstuhls fürDeutsches, <strong>Europäische</strong>s und Internationales Strafrecht undStrafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied der von derEU-Kommission eingesetzten „Expert Group on EuropeanCriminal Policy“. Akad. Rat a.Z. Frank Zimmermann istMitarbeiter an seinem Lehrstuhl. Beide sind Mitglieder derEuropean Criminal Policy Initiative.1 European Criminal Policy Initiative, <strong>ZIS</strong> 2009, 697 ff.2 Siehe nur die Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zueiner europäischen Strafrechtspolitik […]“, KOM (2011) 573endg., die auf S. 4 Fn. 7 sogar ausdrücklich auf das erste<strong>Manifest</strong> der ECPI Bezug nimmt; ferner die inhaltlich sehrstark an die Forderungen des ersten <strong>Manifest</strong>s angelehnteResolution des <strong>Europäische</strong>n Parlaments „An EU approach tocriminal law“, Parlamentsdokument P7_TA(2012)0208. Ausder Wissenschaft siehe etwa Schroeder, FAZ v. 5.3.2010,S. 10; Böse, EuCLR 2011, 35; Klip, in: Klip (Hrsg.), SubstantiveCriminal Law of the European Union, 2011, S. 15 (20);Melander, EuCLR 2013, 45 (48).3 Kaiafa-Gbandi, EuCLR 2012, 319; Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107.4 So im Einführungsaufsatz <strong>zum</strong> ersten <strong>Manifest</strong> Satzger, <strong>ZIS</strong>2009, 691 (693).II. Ausgangslage: Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichenStrafjustizsystemeWarum ist aber gerade der Bereich des Strafprozesses unddes Rechtshilferechts im europäischen Kontext ein besondersproblematischer? Der Grund hierfür liegt vorrangig darin,dass sich die Strafprozesssysteme der Mitgliedstaaten unterschiedlichentwickelt haben und verschieden geregelt sind.Trotz gewisser internationaler Einflüsse (z.B. durch dieEMRK) liegt das Strafprozessrecht nach wie vor maßgeblich5 So von unserem überaus geschätzten und vor kurzem sotragisch verunglückten Kollegen Joachim Vogel auf einerTagung in Modena 2010.6 Zum ursprünglichen Text siehe ABl. EU 2010 Nr. C 165,S. 22; mittlerweile ist <strong>zum</strong>indest der Rat zu einem Kompromissgekommen, vgl. Ratsdokument 18918/11, die Verhandlungenmit den anderen Institutionen, v.a. dem <strong>Europäische</strong>nParlament, dauern aber noch an. Aus der Wissenschaft siehehierzu etwa Bachmaier Winter, <strong>ZIS</strong> 2010, 580; Zimmermann/Glaser/Motz, EuCLR 2011, 56.7 Die Fassung aus dem Jahr 2000 ist abgedruckt in Delmas-Marty/Vervaele (Hrsg.), Implementation of the Corpus Jurisin the Member States, Bd. 1, 2000, S. 187 ff._____________________________________________________________________________________406<strong>ZIS</strong> 11/2013


Helmut Satzger/Frank Zimmermann_____________________________________________________________________________________der Vollstreckungsstaat sozusagen „blind“ den Forderungendes Anordnungsstaats Folge leisten muss. Dies sei ihm auchmöglich und <strong>zum</strong>utbar, weil – so jedenfalls die Sichtweisedes EU-Gesetzgebers – innerhalb der EU als einheitlichemRechtsraum gegenseitiges Vertrauen herrsche, mit der Folge,dass alle Gerichte und Behörden, die eine ausländische justizielleEntscheidung im Zuge der gegenseitigen Anerkennungzu vollziehen haben, auf deren Ordnungsgemäßheit undRechtsstaatlichkeit vertrauen könnten. Grundlage hierfür sollein gemeinsamer Sockel von Überzeugungen sein, der durchdas Eintreten der Mitgliedstaaten für die Grundsätze derFreiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechteund Grundfreiheiten sowie des Rechtsstaates gebildet wird. 14Mit Recht ist bereits häufig in Zweifel gezogen worden, obdieses vielbeschworene Vertrauen tatsächlich existiert und –angesichts der Fakten – überhaupt gerechtfertigt erscheint. 15Man wird wohl eher von einem „fingierten gegenseitigenVertrauen“ sprechen müssen, bei dem der Wunsch Vater desGedankens ist. Unabhängig davon ist augenscheinlich, dasssich die Erleichterung der Zusammenarbeit in Strafsachendurch gegenseitige Anerkennung in aller Regel zu Lasten desBürgers auswirkt: Er wird unter Umständen selbst dann mitaus dem EU-Ausland angeordneten Zwangsmaßnahmen (bishin zu seiner Festnahme oder einer Durchsuchung) konfrontiert,wenn er Grund hatte, von der Straflosigkeit seines Verhaltensim Heimat- oder Tatortstaat auszugehen. Überdieskann er sich gegen eine im Ausland angeordnete Zwangsmaßnahme– mangels fremdsprachlicher und fremdrechtlicherKenntnisse – nur schwer wehren. Allerdings bringt dieMethode der gegenseitigen Anerkennung nicht stets nur Nachteilefür den Einzelnen mit sich. Ausnahmsweise, nämlich imHinblick auf den unionsweiten Strafklageverbrauch, besagendie ne bis in idem-Vorschriften in Art. 54 SDÜ und Art. 50GRC letztlich, dass jede in einem Mitgliedstaat ergangenerechtskräftige Aburteilung in der ganzen Union anerkanntwerden muss. Ein Freispruch in einem Staat verhindert somitdie Strafverfolgung wegen derselben Tat in allen anderenMitgliedstaaten. Jedoch bleibt die grundsätzliche Problematikbestehen, dass das Prinzip der gegenseitigen AnerkennungEingriffe in Grundrechte ermöglicht, ohne dass die Behördendes Ausführungsstaates ihre Rechtmäßigkeit prüfen können –selbst wenn sie sich dadurch zu ihrer eigenen Werteordnungin Widerspruch setzen müssen. Von daher ist es wenig überraschend,dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung14 Vgl. nur Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzesder gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungenin Strafsachen, ABl. EG 2001 Nr. C 12, S. 10; ErwägungsgrundNr. 10 <strong>zum</strong> Rahmenbeschluss 2002/584/JI überden <strong>Europäische</strong>n Haftbefehl, ABl. EG 2002 Nr. L 190, S. 1;Erwägungsgrund Nr. 8 <strong>zum</strong> Rahmenbeschluss 2008/978/JIüber die <strong>Europäische</strong> Beweisanordnung, ABl. EU 2008 Nr. L350, S. 72.15 Siehe etwa Suominen, The Principle of Mutual Recognitionin Cooperation in Criminal Matters, 2011, S. 47 ff.; Pohl,Vorbehalt und Anerkennung, 2009, S. 65 f.; Zimmermann(Fn. 9), Teil 1 A. II. 3. a).heftige Diskussionen provoziert hat, 16 die in mehreren Mitgliedstaatender Union – auch in Deutschland – in Entscheidungender jeweiligen Verfassungsgerichte gipfelten. 172. Harmonisierung des mitgliedstaatlichen StrafprozessrechtsDie vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass eine unbegrenztegegenseitige Anerkennung allenfalls dann akzeptabelerschiene, wenn zwischen den beteiligten Strafrechtsordnungengleichzeitig ein Mindestmaß an Einheitlichkeit bestünde.Nur dann erhielte die Figur des „gegenseitigen Vertrauens“in die Rechtsordnungen der jeweils anderen Mitgliedstaatenüberhaupt eine belastbare Basis und wäre dahermehr als eine bloße Fiktion. Ganz in diesem Sinne setzten aufeuropäischer Ebene vor einigen Jahren – allerdings recht zaghaft– Bemühungen ein, bestimmte Mindestrechte für Einzelneim Strafverfahren festzuschreiben. Unter Geltung des Vertragsvon Amsterdam gelang indes nur eine Verständigung aufeinen Rahmenbeschluss zu Opferrechten. 18 Eine Einigung aufdie – viel dringender notwendige – Stärkung auch der Beschuldigtenrechtekam dagegen nicht zustande; ein dahingehenderVorschlag der Kommission 19 scheiterte kläglich. UmZweifeln an der Kompetenz der Union in diesem Bereich denBoden zu entziehen, wurde mit der Vertragsreform von Lissabonausdrücklich eine Zuständigkeit der Union zur Harmonisierungausgewählter Bereiche des nationalen Strafverfahrensrechtsin Art. 82 Abs. 2 AEUV begründet. Diese ist seitherbereits wiederholt als Rechtsgrundlage herangezogen worden,um europäische Mindeststandards bei ausgewählten Rechtendes Beschuldigten – es handelt sich um die Richtlinien überdas Recht auf Übersetzung und Dolmetschleistungen, 20 dasRecht auf Belehrung 21 sowie (noch nicht in Kraft getreten)dasjenige auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und Kontaktaufnahmebei der Festnahme 22 – und des Opfers 23 zu schaffen.16 Siehe exemplarisch etwa Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf<strong>Europäische</strong> Strafverfolgung, 2004; ders. (Hrsg.), EinGesamtkonzept für die <strong>Europäische</strong> Strafrechtspflege, 2006;Suominen (Fn. 15); Braum, GA 2005, 681; Peers, CommonMarket Law Review 2004, 5; Satzger, JECL 2006, 27.17 BVerfGE 113, 273. Zur Problematik in Polen siehe Nalewajko,<strong>ZIS</strong> 2007, 113; eine englische Entscheidung des zyprischenVerfassungsgerichts v. 7.11.2005 ist in RatsdokumentNr. 14281/05 zu finden; eine Entscheidung des tschechischenVerfassungsgerichts v. 3.5.2006 ist abrufbar unterhttp://www.asser.nl/default.aspx?site_id=8unter Country info/Czech Republic/Case law (5.11.2013).18 Rahmenbeschluss 2001/220/JI, ABl. EG 2001 Nr. L 82, S. 1;mittlerweile ersetzt durch Richtlinie 2012/29/EU, ABl. EU2012 Nr. L 315, S. 57.19 KOM (2004) 328 endg.20 Richtlinie 2010/64/EU, ABl. EU 2010 Nr. L 280, S. 1.21 Richtlinie 2012/13/EU, ABl. EU 2012 Nr. L 142, S. 1.22 Der von Parlament und Rat gefundene Kompromisstextfindet sich in Ratsdokument Nr. 12899/13, <strong>zum</strong> ursprünglichenVorschlag siehe KOM (2011) 326 endg.23 Richtlinie 2012/29/EU, ABl. EU 2012 Nr. L 315, S. 57._____________________________________________________________________________________408<strong>ZIS</strong> 11/2013


Helmut Satzger/Frank Zimmermann_____________________________________________________________________________________ordnung des Vollstreckungsstaates ausgelöst wird. Ein Beispielhierfür liefert die von einem anderen Mitgliedstaat ausgesprocheneAufforderung zur Überstellung eines Staatsbürgerswegen einer Tat, die in der eigenen Rechtsordnung ausverfassungsrechtlichen Überlegungen heraus nicht strafbar ist. 31V. <strong>Das</strong> <strong>Manifest</strong> als kriminalpolitische Leitlinie und ÜberprüfungsmaßstabVor diesem Hintergrund und in dem Bestreben, das Ziel einervernünftigen und zukunftsträchtigen <strong>Kriminalpolitik</strong> auch imHinblick auf das Strafverfahren zu erreichen, legt die ECPImit diesem <strong>Manifest</strong> einen Katalog an Forderungen vor, diean den EU-Gesetzgeber gerichtet sind. Strukturell folgt esdem Aufbau des ersten <strong>Manifest</strong>s. Es enthält deshalb zunächsteinen abstrakten Teil, in dem wesentliche Forderungen anden europäischen Gesetzgeber gestellt werden, gefolgt voneinem sehr konkreten Teil, in dem anhand aktueller BeispieleSchwächen und Stärken bisheriger und in Planung befindlicherRechtsakte aufgezeigt werden, um so – basierend aufeiner rationalen kriminalpolitischen Grundlage – Empfehlungenfür die künftige Gesetzgebung auf EU-Ebene zu formulieren.Die Forderungen sind dabei so abstrakt wie nötig formuliert,um der komplexen Spannungslage für jeden Fall gerechtwerden zu können; gleichzeitig sind sie so konkret wie möglichabgefasst, um – wie auch beim materiell-rechtlichen<strong>Manifest</strong> – jeden Rechtsakt(svorschlag) anhand dieser Forderungenevaluieren und ggf. auf Verbesserungen gerichteteEmpfehlungen formulieren zu können. Der Konkretisierungund besseren Verständlichkeit der Forderungen dient nichtzuletzt auch die Exemplifizierung anhand verschiedener aktuellerRechtsakte im zweiten Teil des <strong>Manifest</strong>s.Folgende Forderungen stellen die Basis des <strong>Manifest</strong>sdar, wobei diese teilweise miteinander verquickt und untereinanderverbunden sind, so dass erst die Gesamtheit der Forderungenein stimmiges Bild kriminalpolitisch überzeugenderGesetzgebung zeichnet: Limitierung der gegenseitigen Anerkennung: Der Grundsatzder gegenseitigen Anerkennung darf nicht absolut gesetztwerden, sondern bedarf der Begrenzung. Grenzenfinden sich – nach Maßgabe des Prinzips der Verhältnismäßigkeit– in den Individualrechten des Beschuldigten,des Opfers und sonstiger Dritter sowie in der nationalenIdentität bzw. dem ordre public des die Anordnung vollziehendenStaates. Ausgewogenheit des europäischen Strafverfahrens: Eindurch supranationale Elemente und Institutionen angereichertesStrafverfahren bedarf einer neuen Ausbalancierungder Kräfte. Achtung des Gesetzlichkeitsprinzips und der Justizförmigkeitdes Strafverfahrens: Zumindest die Entscheidung überdas anwendbare Recht und strafprozessuale Maßnahmen,die in Individualrechte eingreifen, müssen nach demGrundsatz des Gesetzesvorbehalts auf eine klare gesetzli-31 Siehe hierzu schon Schünemann, GA 2002, 501 (507 f.);Braum, GA 2005, 681 (692).che Regelung gestützt werden. Die betroffene Person musszudem die Möglichkeit haben, die Prüfung ihrer Rechtmäßigkeitdurch ein Gericht zu veranlassen. Kohärenzwahrung: <strong>Das</strong> – nationale wie europäische –Strafprozesssystem muss frei von inneren Widersprüchensein; zudem muss das Strafverfahrensrecht kohärent mitden Vorschriften des materiellen Strafrechts sein, die esdurchsetzen soll. Subsidiarität: Um eine möglichst große Nähe der Bürgerzu der Entscheidungsfindung im Bereich des Strafverfahrensrechtszu gewährleisten, muss für alle Rechtsakte imBereich der Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen denMitgliedstaaten, der Harmonisierung des nationalen Strafverfahrensrechtsund der Schaffung supranationaler europäischerInstitutionen das allgemeine Subsidiaritätsprinzipbeachtet werden. Kompensation: Durch Schutzmaßnahmen innerhalb einesRechtsakts oder ggf. durch den Erlass begleitender Maßnahmenmuss der Gesetzgeber sicherstellen, dass die vorgenanntenForderungen erfüllt werden. Insbesondere ist erauch aufgerufen, Abhilfe für solche Umstände zu schaffen,die rein faktisch eine Schlechterstellung des Beschuldigtenbegründen (wie etwa Verständigungsschwierigkeiten unddie Auswahl eines geeigneten Verteidigers im Verfahrensstaat).VI. AusblickAuch mit unserem zweiten <strong>Manifest</strong> möchten wir das Augenmerkaller an der für das Strafprozessrecht relevanten GesetzgebungBeteiligten auf die typischen und strukturellen Problemeder Europäisierung richten. Gerade angesichts der Diskussionum die Einführung bedeutsamer Rechtsakte, die dieEntwicklung des Strafprozess- und Rechtshilferechts nachhaltigverändern werden (insbes. die Schaffung einer <strong>Europäische</strong>nStaatsanwaltschaft), ist es unser Bestreben, die Diskussionweg von den Details einzelner Rechtsakte und hin aufdie strukturellen, größeren Probleme des gesamten Rechtsbereichszu richten, die Zusammenhänge zu identifizieren undauf adäquate Lösungen auf Basis einer überzeugenden rechtspolitischenLinie zu drängen.Den Verantwortlichen der <strong>ZIS</strong>, insbesondere dem Schriftleiterund Mitherausgeber Thomas Rotsch, sind wir zu großemDank verpflichtet, dass sie es uns extrem kurzfristigermöglicht haben, das zweite <strong>Manifest</strong> – wie bereits seinenmateriell-rechtlichen Vorläufer – in dieser leicht zugänglichenund weit verbreiteten Zeitschrift zu publizieren. Aufunserer großen Abschlusskonferenz am 12.11.2013 in Brüsselhaben wir die endgültige Fassung des <strong>Manifest</strong>s erstmalsder interessierten Fachöffentlichkeit präsentiert und zur Diskussiongestellt. In ergänzenden Publikationen und Tagungenwerden wir weiter versuchen, einen Gedankenaustausch zufördern, und zwar mit dem Ziel, unsere kriminalpolitischenLeitlinien weiter zu verbessern und zu verfeinern. Hinsichtlichder Ergebnisse der Diskussion verweisen wir auf dieHomepage der Arbeitsgruppe (http://www.crimpol.eu), einePlattform, über die wir gerne auch Rückmeldungen und Anregungender Leser entgegennehmen._____________________________________________________________________________________410<strong>ZIS</strong> 11/2013

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