13.07.2015 Aufrufe

PDF-Dokument

PDF-Dokument

PDF-Dokument

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

DIE ZEIT - Der Verdachthttp://zeus.zeit.de/text/2003/26/NinaSeite 8 von 1026.06.2004einen lärmenden Rollladen hätte hochziehen müssen. Sie erfährt, dass die Familie Müller1998 in das Haus gezogen ist und die Gewächshäuser im Garten erst 1999 abgebautworden sind, dass also mindestens die Dauer der beschriebenen Misshandlungen – fünfJahre – nicht richtig sein kann. Außerdem erfährt sie von Lenas Bruder, dass diese an denWochenenden häufig bei ihm im Zimmer geschlafen habe, aus dem man sie nicht hättegeräuschlos herausholen können.Frau Stanislawski untersucht Lena mit psychologischen Tests und diagnostiziert bei ihreine „leichte Angststörung“ und einen „erhöhten Depressionswert“. Dann führt sie zweilange Explorationen mit dem Kind durch, die sie sorgfältig dokumentiert. Auch sonstentspricht ihre Untersuchung den wissenschaftlichen und gerichtlichen Qualitätsstandards.In den Befragungen schildert Lena erneut die Vorwürfe gegen den Vater, dieBeschreibungen der Misshandlungen allerdings werden in mehreren Variantenvorgetragen, die voneinander abweichen, auch bleiben sie blass und unkonkret. Voneinem Knüppel ist jetzt gar nicht mehr die Rede. Bei kritischen Nachfragen wie zumBeispiel, warum sie nicht „au geschrien“ habe, wenn sie so stark geprügelt worden sei,gerät das sonst wortgewandte, selbstsichere Kind ins Stottern und verstummt. Auch hatLena keine Erklärung dafür, warum sie all die Jahre nichts von Misshandlungen gesagthat. Überdies kann das Kind an sich selbst nicht zeigen, wie sein Vater es unsittlichberührt haben soll.Stattdessen erzählt Lena von ihrer Klassenkameradin Sonja, die sich sehr interessiere für„Kinder, die Probleme haben“. Und von deren Mutter, Frau X., die ihr gleich anvertrauthabe, dass sie selbst auch von ihrem Vater misshandelt und missbraucht worden sei unddie gegen Lenas Willen die Dame vom Kinderschutzbund mit hineingezogen habe. DerSachbearbeiterin vom Jugendamt habe sie, Lena, ihre Geschichte dann gar nicht mehrselbst erzählen müssen, das hätten die Nachbarin und die Frau vom Kinderschutzbundübernommen. Sie, Lena selbst, habe nur noch ja sagen müssen.Zur Frage der Glaubhaftigkeit stellt die Gutachterin Milly Stanislawski fest: Diebelastenden Bekundungen des Kindes seien „aussagepsychologisch als nichterlebnisbasiert zu werten“. Sie seien „mit einer sehr hohen WahrscheinlichkeitFalschaussagen, die mittels suggestiver Aufdeckerarbeit bestätigt und verfestigt wurden“.Das Kind habe sich gegenüber einer Kameradin wohl interessant machen wollen und seivon deren Mutter suggestiv befragt und unter hohen Erwartungsdruck gesetzt worden. Sosei ihr die Geschichte außer Kontrolle geraten, habe sich verselbstständigt und eineLawine ausgelöst. Dies sei auch der Grund dafür, warum das Kind die Aussage jetzt nichtmehr zurücknehmen könne. Das Kind habe, schreibt die Gutachterin, „einerseits diemassive Angst vor einem unvorstellbaren Gesichtsverlust, nämlich vor einem Helferkreisvon vielen wichtigen und wohlmeinenden Erwachsenen als Lügnerin dazustehen,andererseits die massive Angst vor der Konfrontation mit der Familie, insbesondere mitihrem Vater“.Die Gutachterin empfiehlt dem Gericht, dem Kind diese Konfrontation keinesfalls zuersparen und es zu den Seinen zurückzuschicken. So rasch wie möglich. Das werde nichtleicht, denn „die Ursprungsfamilie wurde diskreditiert, Wurzeln des Kindes wurdenabgeschnitten, und dem Kind wurde eine Omnipotenz zugeschrieben, die, wenn sie nichtunterbunden wird, zu einem Zusammenbruch führen wird“. Das Kind bedürfe deshalbprofessioneller therapeutischer Hilfe, es müsse „massive Schuld- und Schamgefühle“abbauen, andernfalls verfestige sich die bereits erkennbare „neurotische Fehlentwicklung“weiter.Zur ZEIT sagt die Gutachterin, Lenas Verhängnis sei gewesen, dass ihr alle gedankenlosgeglaubt hätten. Dadurch sei sie in diese ausweglose Lage geraten. „Lena ist intelligent,sie weiß, dass sie ein Nichts aufgeblasen und dadurch Institutionen bewegt hat.“ Abermuss nicht die Familie krank sein, wenn ein Kind so etwas erzählt? „Nein“, entgegnet FrauStanislawski, „vielleicht hatte Lena gerade eine Wut auf ihren Vater oder fühlte sich nichtgenug beachtet. Aber: Das, was den Müllers widerfahren ist, hätte jeder Familie passierenkönnen. Jeder“.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!