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Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenUm Mittel zur Förderung der Disziplin im Klassenzimmer bzw. zur Vermeidungvon Disziplinkonflikten im Hinblick auf die zuletzt genanntenZiele beurteilen und bewerten zu können, ist es vorteilhaft, die Entstehungsbedingungenstörenden bzw. regelkonformen Schülerverhaltens zukennen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass viele Disziplinkonflikteeine gemeinsame Ursache haben, nämlich die Beeinträchtigungoder Bedrohung des Selbstwertgefühls der Schüler.2. Ein Modell der Entstehung störenden und angepasstenSchüler-Verhaltens im Unterricht2.1 Aufrechterhaltung, Verteidigung und Erweiterung des SelbstAusgangspunkt ist die Auseinandersetzung oder Interaktion des Schülersmit einer gegebenen Unterrichtssituation.Der Schüler ist kein unbeschriebenes Blatt. Er verfügt beispielsweiseüber internalisierte Wertvorstellungen und Normen. Er weiß, was man inder Schule von ihm erwartet, was er tun, und was er lassen soll. Er hatauch ein mehr oder weniger differenziertes Wissen über verschiedeneSach- und Lebensbereiche, und er hat seine eigenen Pläne undInteressen. Das Wissen eines Individuums, seine Werte, Pläne undInteressen kann man zusammenfassend als sein Selbst bezeichnen (vgl.KEGAN 1986).Wenn das Selbst als abgegrenzte Erscheinung erlebt wird, dann gewinntes einen "einmaligen Wert, den es zu erhalten und zu erhöhen gilt. DieSteigerung und Intensivierung des Selbstgefühls wird damit einmotivationales Ziel" (BISCHOF-KÖHLER 1985, S. 20). Die Interaktionmit der Umwelt erfolgt unter dem Ziel des Erhalts, der Erweiterung undBestätigung des Selbst (vgl. KELLY 1968).Der Ausdruck "Erhaltung des Selbst" ist ein abkürzender Sprachgebrauch.Er bedeutet die Aufrechterhaltung der Selbsteinschätzungen derPerson. Das sind die Bewertungen einzelner Komponenten des Selbst.Die Gesamtheit der Selbsteinschätzungen wird als Selbstwert bezeichnet.Da er durch das Selbstwertgefühl in konkreten Situationen vom Indivi-5


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenduum ständig überprüft wird, unterliegt er Schwankungen. Bedrohungenoder Herabsetzungen des Selbstwerts werden als unangenehm, Bestätigungenoder Erhöhungen dagegen als angenehm empfunden. Es bestehtein grundlegendes Motiv, das Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten undgegen Bedrohungen zu schützen oder zu verteidigen (vgl. FREY/ BEN-NING 1983).Die Erhaltung des Selbstwerts kann zu einem Teil durch Zugehörigkeitzur Klassengemeinschaft erreicht werden. Eine Voraussetzung dafür istdie Beachtung der Regeln dieser Gruppe. Durch die Reaktionen ihrerMitglieder erfährt der einzelne ständig, welches Verhalten für ihnvorteilhaft oder nachteilig ist, welches Verhalten ihn in die Gruppeeinbindet, oder ihn ihr entfernt und damit sein Selbst bedroht.Die Bindung an die Gruppe spendet nicht immer nur Sicherheit undGeborgenheit, sondern kann das Selbst auch bedrohen. Selbständig istdas Individuum nur, wenn es ihm gelingt, nicht nur Mitglied einerGruppe zu sein, sondern sein Selbst gegenüber den Ansprüchen deranderen zu behaupten. Indem der einzelne eine gewisse Unabhängigkeiterwirbt, wird er in die Lage versetzt, eigenständige Beiträge zu liefern.Wenn diese Beiträge nicht nur ihm selbst, sondern auch seiner Bezugsgruppenützen, erhält er von dieser Anerkennung und Bestätigung (vgl.LEHNER 1991).Das gleichzeitige Streben nach Unabhängigkeit und nach Zugehörigkeiterzeugt ein Spannungsfeld, in dem das Individuum sein Selbst ständigenBedrohungen ausgesetzt sieht. Um seinen Selbstwert aufrechtzuerhalten,muss ihn der einzelne erhöhen, stärken und bestätigen, ihn gegenüberAnsprüchen und Forderungen anderer behaupten, verteidigen undschützen (vgl. auch FREY/ BENNING 1983).Dieses grundlegende Bedürfnis der Erhaltung und Erhöhung des eigenenSelbst hat zur Folge, dass das Individuum Informationen stets auch imHinblick auf sein Selbst beurteilt. Sieht sich der einzelne Ereignissenoder Phänomenen gegenüber, kann er sie zunächst auf dem Hintergrundseines individuellen, selbstbezogenen Wissens entschlüsseln undinterpretieren. Haben die Informationen einen geringen subjektivenBedeutungsgehalt oder Selbstbezug, dann wird das Individuum kaumbereit sein, sich intensiv damit auseinandersetzen. Daher sind für den6


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenzusammenfassend DECI/ RYAN 1991, sowie die schematische Darstellungweiter unten).2.2 Der selbstwertbedrohende Interaktionszirkel als Entstehungsbedingungvon DisziplinkonfliktenDie Deutung des Verhaltens von Individuen ist immer mit Unsicherheitbehaftet und damit eine stete Quelle für Missverständnisse. So kann dasunaufgeforderte Antworten eines Schülers als Bestreben nach Einflussoder Macht dieses Schülers gedeutet werden, als Mittel, um dieAufmerksamkeit des Lehrers und der Mitschüler zu erlangen. Man kanndarin aber auch Interesse am Thema, besondere Zuneigung zum Lehrerusw. sehen. Diese Deutungen können wiederum von verschiedenen Faktorenbeeinflusst sein. Beispielsweise davon, ob der Lehrer denbetreffenden Schüler als "guten" oder "schlechten" Schüler betrachtet, obes ihm auf die Einhaltung eines vorgeplanten Unterrichtsablaufsankommt, ob er von Schülern angeregte Diskussionen schätzt usw. (vgl.z.B. HOFER 1981). Diese Deutungen von Schülerverhaltensweisen sindstets Zuschreibungen, die der Realität nicht entsprechen müssen.Der Schüler, der seinerseits die Lehrerreaktionen deuten muss, brauchteine negative Deutung seines Verhaltens nicht notwendig zu akzeptieren.Vor allem wenn der Schüler über eine hohe Selbstwerteinschätzungverfügt, kann er die Lehrerreaktion relativ leicht als unberechtigt oder alsauf einem Missverständnis beruhend zurückweisen.8


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenAbb.: Konfliktvermindernder und konfliktverstärkenderInteraktionszirkelWird ein Schüler jedoch wiederholt mit negativen selbstbezogenenBewertungen konfrontiert, dann sinkt sein Selbstwert (zusammenfassendhierzu FREY/ BENNING 1983, S. 151 ff.). Da bereits die Wahrnehmungder Bedrohung des Selbstwerts unangenehme Gefühle auslöst, wird derSchüler nach Möglichkeiten suchen, um sich zu schützen. Bei aggressivemTemperament kann er die Konfrontation mit dem Lehrer suchen.Er geht dann in Abwehrstellung, sobald er negative Bewertungen seinesSelbst erwartet. Ohne es zu wollen, bildet sich so ein Interaktionsmuster9


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenheraus, das in ähnlicher Weise immer wieder abläuft. Die anderenSchüler warten dann schon gespannt auf den "Krach". Sie unterstützenauf diese Weise den wiederkehrenden Ablauf dieses Interaktionszirkels.Wenn die Klasse im nächsten Schuljahr von einem anderen Lehrerübernommen wird, wird dieser Lehrer vielleicht von denSchwierigkeiten mit dem erwähnten Schüler erfahren und mit einerentsprechenden Erwartungshaltung in den Unterricht gehen.Schüler mit eher ängstlichem Temperament geraten nach wiederholtenAbwertungen ins Grübeln über sich und ihre Lage, über die Ursachen,die sie teils in ihrer mangelnden Begabung teils in äußeren Gegebenheitensehen, jedenfalls in Dingen, die sie nicht beherrschen können. Wersich so einer unbeeinflussbaren Situation ausgeliefert fühlt, wird letztlichhilflos, weil er sich für unfähig hält, daran etwas zu ändern. Da GrübeleienVerarbeitungskapazität beanspruchen, sinkt dadurch die Leistungsfähigkeitbei Aufgaben. Misserfolge ziehen aber das Selbstwertgefühlnoch mehr in Mitleidenschaft und auch die Erfolgszuversicht sinkt nochweiter (vgl. KUHL 1984). Dennoch kann man auch hier einen Schutzmechanismuserkennen. Der Schüler macht sich klein und hilflos, erbietet sozusagen seine Kehle dar und löst damit bei Angreifern eineHemmung aus.Die Schüler, die sich nicht in sich zurückziehen, können versuchen, ihrenSelbstwert durch Kontakte mit Schulkameraden, durch Clownerien usw.aufrechtzuerhalten. In dem Maße, in dem ihr Interesse und ihre Beteiligungam Unterricht sinken, steigt ihre Neigung, Disziplinkonflikte zuprovozieren (siehe das Schema oben).Aggressive, unbeteiligte oder hilflose Schüler können zur Entstehungeines ungünstigen Unterrichtsklimas beitragen. Unter solchenangespannten Verhältnissen ist es für den Lehrer schwierig, innerlichDistanz zu dem Geschehen zu gewinnen und sein Handeln zu ändern.Zeigt er den Schülern gegenüber dennoch Verständnis, kann es sehrwohl sein, dass die Problemschüler nicht darauf eingehen, sondernzunächst mit weiteren Disziplinverstößen reagieren, um zu testen, wieernst es der Lehrer meint (vgl. ENGLANDER 1987, S. 48 ff.). Je längeralso ein solcher negativer Zirkel von Disziplinverstößen,Selbstwerterniedrigung, erneuten Disziplinverstößen usw. besteht, umsoschwieriger ist er in einen Zirkel mit positivem Vorzeichen umzukehren.10


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenDie Ursachen von Diszplinkonflikten sind also höchstens zum Teil inbestimmten Eigenschaften von Schülern zu suchen. Sie sind vor allemein Ergebnis sozialer Interaktion (vgl. COOPER/ UPTON 1992). Einzufälliges Ereignis oder eine Handlung des Lehrers oder Schülers kanneine Folge von Interaktionen auslösen, durch die sich ein Schüler voneinem Lehrer in seinen Zielen, seinen Fähigkeiten und seinen Persönlichkeitseigenschaftenmissverstanden und dadurch in seinem Selbstwertbedroht glaubt. Dadurch wird ein Konflikt-Zirkel in Gang gesetzt, der,wenn er nicht unterbrochen wird, die Wiederholung von Störungensozusagen vorprogrammiert (vgl. ENGLANDER 1987, S. 57 ff.). Dabeikönnen vor allem die negativen Folgen für den Schüler und seinenweiteren Lebenslauf gravierend sein.2.3 Der selbstwerterhaltende Interaktionszirkel alsEntstehungsbedingung von SelbstkontrolleSind Unterrichtssituationen so beschaffen, dass die Schüler über hinreichendeMöglichkeiten verfügen, ihren Selbstwert aufrechtzuerhaltenoder zu erhöhen, dann sind weniger Disziplinkonflikte zu erwarten. Dasist beispielsweise der Fall, wenn auch die aus der Sicht des Lehrerspotentiell schwierigen Schüler stets mit seiner Unterstützung und Hilferechnen können, wenn keine unangemessenen Leistungsforderungen gestelltwerden, wenn geringer Konkurrenzdruck herrscht und derUnterricht gut strukturiert ist (vgl. auch JERUSALEM/ SCHWARZER1991), wenn die individuellen Interessen und Bedürfnisse der Schülerberücksichtigt werden und sie auch selbst Entscheidungen treffenkönnen. Unter solchen als positiv empfundenen Unterrichtsbedingungentreten weniger Disziplinkonflikte auf als in klimanegativen Klassen.Schüler in klimapositiven Klassen zeigen ferner weit weniger Hilflosigkeit,Angst, Kontrollverlust, ein besseres Selbstwertgefühl und höhereErfolgszuversicht als Schüler in klimanegativen Klassen (vgl. ebenda).Versucht der Lehrer insbesondere bei wiederkehrenden Disziplinkonfliktenselbstwertbedrohende durch selbstwerterhaltende Reaktionsweisen zuersetzen, kann ein Prozess der Selbstwertverbesserung und Zusammenarbeiteingeleitet werden. Die Kontrolle durch den Lehrer geht in einezunehmende Selbstkontrolle der Schüler über. Der Schüler erwirbt11


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenLösungsstrategien, die ihm helfen mit Konflikten besser umzugehen. Ererlebt dadurch Erfolge, wird sich also weniger über seine Lage und ihreUrsachen Gedanken machen, sondern eher seine Handlungsmöglichkeitenprüfen, um seine weiter Situation zu verbessern (zur Handlungsbzw.Lageorientierung vgl. KUHL 1984).Die Stützung der Selbstkontrolle und Selbständigkeit der Schüler fördertferner ihre intrinsische Motivation zur Lösung schulrelevanter Problemeund Aufgaben und stärkt außerdem ihre Bereitschaft, Regeln zuakzeptieren und Aufgaben zu lösen, die sie nicht als interessant odersubjektiv wichtig erachten (vgl. DECI/ VALLERAND/ PELLETIER/RYAN 1991, S. 336 f.).Schließlich trägt eine verstärkte Selbstkontrolle der Schüler zu einempositiveren Unterrichtsklima bei. Auch der Lehrer kann sich durch guteBeziehungen zu seinen Schülern in seinem Selbstwert bestätigt fühlen.Er kann entspannter und gelassener sein, mehr Distanz zum aktuellenGeschehen aufbringen und so sich anbahnenden Konflikten schon imVorfeld die Spitze nehmen und sie in kooperatives Verhalten umlenken.3. Konflikthemmende vs. konfliktvermehrendeUnterrichtsbedingungenWill man Disziplinkonflikte gering halten und wiederkehrendeDisziplinprobleme vermeiden, dann muss der Unterricht dieSelbstdisziplin der Schüler fördern. Die Frage ist also, wie sichdisziplinfördernde von disziplinhinderlichen Unterrichtsbedingungenunterscheiden?3.1 Freiheit und Ordnung vs. Gängelung und UnstrukturiertheitWenn das Verhalten der Schüler soweit als möglich durch unterrichtlicheMaßnahmen wie Anweisungen, Aufgaben, Überprüfung, Korrektur,Noten, Belohnungen, Lob, Tadel usw. gelenkt wird, bestehen für denSchüler wenige Möglichkeiten, Selbstdisziplin zu erwerben. Selbstdisziplinbedeutet ja, dass der Schüler sein Tun und Lassen selber leitet. Das12


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenschließt die Freiheit, "schlecht", d.h. nicht im Sinn der Unterrichtsregelnzu handeln, ein. Indem der Schüler sein Tun selber lenkt muss er diesoziale Bedeutung seiner Handlungen selber erkennen und bewerten.Von außen erhält er durch Mitschüler und Lehrer ebenfalls Rückmeldungen,die er in diese Bewertungen mit einbezieht. Auf diese Weisekann er nach und nach sozial angemessene Maßstäbe entwickeln, an dieer sich aus eigenem Bestreben halten wird.Um im Hinblick auf eigene Ziele und schulische Erfordernisse sinnvollentscheiden und handeln zu können, ist es günstig, wenn der Schülereinen Ordnungsrahmen vorfindet, der es ihm erleichtert, eigene Handlungsmöglichkeitenzu finden und zu erproben. Das ist beispielsweiseder Fall, wenn das Lernmaterial mit seinen Aufgaben so vielfältig und soaufbereitet ist, dass die Schüler zum einen die eigenen Interessen verfolgenkönnen und zum andern keinen unüberwindbaren Schwierigkeitenausgesetzt sind. Ferner sollte der Schüler in möglichst störungsfreierWeise arbeiten können. Dazu bedarf es einfacher und einleuchtenderRegeln, auf deren Einhaltung Schüler und Lehrer gemeinsam achten.Alles was nicht stört, sollte jedoch erlaubt sein.Solche Bedingungen sind beispielsweise in Montessori-Kindergärten und-Schulen verwirklicht. Die Schüler finden dort eine altersgerechte, ihrenBedürfnissen und Interessen angemessene Umgebung vor. DieseUmgebung ist in hohem Maße strukturiert. So gibt es eine Fülledidaktischen Materials, das jeweils ganz bestimmten Zwecken dient undnur dazu verwendet werden soll. Alle Dinge im Raum haben ihren Platzund es gibt wenige, aber einfache Verhaltensregeln. Diese Ordnung istvon den Schülern selbst aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seitehaben die Schüler aber viel Freiheit, sie ist sehr viel größer als in anderenSchulen. So brauchen sie nicht zu befürchten, zensiert, mit anderenverglichen und korrigiert zu werden. Der Lehrer bestraft und beurteilt sienicht. Er macht vor, wie man "richtig" handelt. Er ist ein "Modell" fürdie Schüler. So flüstert der Lehrer, wenn er einem Schüler etwas zeigenmöchte, um die anderen nicht zu stören. Es gibt kein Redeverbot, aberjeder soll so reden, dass andere dadurch nicht belästigt werden. DerLehrer zeigt, dass er jeden Schüler achtet. Deshalb kommandiert er denSchüler auch nicht, sondern lädt ihn ein, etwas Interessantes zu tun undzu erkennen. Das geht soweit, dass ein Schüler, der sich weigert, Lesen13


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenund Schreiben zu lernen – was allerdings sehr selten ist –, nicht dazugezwungen wird. Man wartet vielmehr, bis er von sich aus dazu bereitist.Disziplinstörendes Verhalten wird nicht als Vergehen betrachtet, sonderneher als Ungeschicklichkeit, Ungeübtheit oder Unwissen. Nach MontessorisAuffassung sind es Fehler, die das Kind auf der Suche nach Ordnungmacht. Stört ein Schüler die anderen, weist der Lehrer es auf seineeigenen Interessen und seine eigene Arbeit hin, ohne seinenRegelverstoß zu kritisieren oder zu bewerten. Bei schweren wiederholtenStörungen wird der Schüler behandelt, als bedürfe besondererAufmerksamkeit. Notfalls wird er allein an einen Tisch gesetzt, umungestört "gesunden" zu können (vgl. MONTESSORI 1969, S. 55 ff.Zur Kritik dieser Methode als Autoritarismus vgl. PERKINSON 1984, s.115 ff.).Diese Methode scheint äußerst wirkungsvoll zu sein. Beim Besuch einerMontessori-Schule staunt man über das fast völlige Fehlen von Disziplinkonflikten.Die Freiheit der Schüler, die Berücksichtigung ihrerBedürfnisse und Interessen, die Anerkennung und Achtung, die sie durchden Lehrer erfahren, fördert bei den Schülern die Bereitschaft zurÜbernahme der Unterrichtsregeln. Diese Regeln gelten ihnen als sinnvoll,weil sie der Aufrechterhaltung einer als positiv erfahrenen Ordnungdienen.Wenn man also Schülern im Rahmen didaktisch strukturierter Unterrichtssituationendie Möglichkeit einräumt, in gewissem Ausmaß Herrenihres Verhaltens und ihrer Umgebung zu sein, trägt man damit zurErhaltung oder Erhöhung ihres Selbstwerts bei. Das erleichtert den Schülerndie Akzeptierung der Disziplinregeln, weil deren Beachtung ihreeigenen Erfolge erst ermöglicht und fördert. Diszipliniertes Verhaltenerscheint ihnen dann auch subjektiv sinnvoll. Die Schüler sind interessierterund lernen aus eigenem Antrieb (vgl. z.B. DECI/ SCHWARTZu.a. 1981; RYAN/ GROLNICK 1986).Dagegen ist der – zumindest in der Sekundarstufe II – einseitig vorherrschendeFrontalunterricht nur durch ein hohes Ausmaß von Kontrolleaufrechtzuerhalten. Die Schüler lernen eher widerwillig und nur das, wasder Lehrer fordert und überprüft (vgl. CONNELL/ RYAN 1984). Die14


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenGängelung wird zudem als selbstwertbedrohend erfahren und begünstigtAbwehr und aggressives Verhalten (vgl. PATTERSON 1977; RUTTERu.a. 1980, S. 218).Ähnlich ungünstig wirkt sich unstrukturierter Unterricht aus. Wenn eskeine klaren, überschaubaren Regeln gibt, keine strukturierten und denFähigkeiten angemessenen Aufgaben oder Probleme, dann ist esschwierig für die Schüler, sich zurechtzufinden. Unter solchen frustrierendenUmständen ist ihre intrinsische Motivation niedrig und die Wahrscheinlichkeitvon Disziplinproblemen relativ groß (vgl. CONNELL/RYAN 1984).3.2 Unterstützung und Förderung vs. Leistungs- undKonkurrenzdruckLeistungsdruck bedeutet, dass die Schüler die an sie gestellten Anforderungenals unangemessen hoch erleben. Dabei wird Erfolg dann auf guteBefähigung oder Begabung und Misserfolg auf Dummheit odermangelnde Begabung zurückgeführt. Also kommt es darauf an, besser zusein, andere zu übertreffen, sie zu "schlagen" (vgl. NICHOLLS 1990, s.38). So wird Leistungsdruck zur Ursache für Konkurrenzdruck. AndereNebenwirkungen bestehen darin, dass jeder vor allem den eigenenVorteil im Auge hat und die Bereitschaft zur Kooperation abnimmt. Esentstehen Neid auf die Leistungen der Besseren und Abschätzigkeitgegenüber schwächeren Schülern.Hoher Leistungs- und Konkurrenzdruck stellen daher insbesondere fürdie schlechteren Schüler eine Bedrohung ihres Selbstwerts dar. Schließlichkönnen nie alle gleich gut sein. Einige werden notgedrungen verlieren.Diese Schüler haben das Gefühl, durch eigene Anstrengung nichtsbewirken zu können und von den Umständen bestimmt zu werden. ImUnterricht sind sie kaum motiviert. Sie werden leicht zu Problemfällenund tragen zu einem negativen Unterrichtsklima bei (vgl. JERUSALEM/SCHWARZER 1991, S. 121 ff.). Disziplinkonflikte häufen sich, weil –wie VIERLINGER (1990, S. 53 f.) es ausdrückt – das "Lernklima derSchüler ... vergiftet" wird.15


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenLeistungs- und Konkurrenzdruck stärken vor allem die Ich-Orientierungder Schüler gegenüber der Aufgaben-Orientierung (NICHOLLS 1990, S.37 f.). Entweder ist der einzelne überlegen oder er ist unterlegen.Konkurrenzkämpfe werden selten fair oder regelkonform ausgetragen –das gilt nicht nur für die Schule. Insbesondere zur Misserfolgsvermeidungwählen Schüler oft Strategien, die als Disziplinverstöße eingestuftwerden, wie Mogeln, den Unterricht schwänzen, Unwilligkeit zur Mitarbeit,Schulunlust, ständige Unaufmerksamkeit, Tagträumen usw. (zusammenfassenddazu COVINGTON 1984, S. 82 ff.).Wenn Erzieher auf dieses Verhalten nicht helfend, sondern kontrollierendoder ermahnend reagieren ("Wenn du dich nicht beteiligst, wirstdu dich nie verbessern und nächstes Mal wieder nur eine Vier oder Fünfschreiben"), verstärkt er damit beim Schüler den Eindruck derBedrohung seines Selbstwerts. Es ist nicht zu erwarten, dass dadurch dieArbeitsdisziplin des Schülers verbessert wird. Schließlich wird ihm jadeutlich gemacht, dass er eben nicht zu den Erfolgreichen gehört, dass erdeshalb auf Anerkennung verzichten muss und mit ständigen Kontrollen,Korrekturen und negativen Bewertungen zu rechnen hat, die seineWürde und seinen Selbstwert noch mehr untergraben. Es ist nichtverwunderlich, wenn ein solcher Schüler "schwierig" ist und gegen dieDisziplinregeln verstößt, die ihm ohnehin nichts einbringen, sonderneher sein Unglück verursacht zu haben scheinen.Ein Unterricht, der die Unterstützung und Förderung des einzelnen zumZiel hat, kann nicht den Lehrplan, an dessen Erfüllung die Fähigkeitendes einzelnen gemessen werden, in den Mittelpunkt stellen. Es kommtvielmehr auf eine stärkere Berücksichtigung individueller Interessen undNeigungen an. Denn wie sollte man den einzelnen fördern, wenn manihn nicht in den ihm eigenen Eigenschaften, Befähigungen, Ideen undTugenden unterstützt und anregt, sondern ihn nach schematischen Vorstellungen"zurechthämmern" möchte. Die Anpassung des Schülers anein Prokrustesbett führt nicht nur zu Konflikten mit dem Erzieher, siebringt auch nur zweit- oder drittrangige Leistungen hervor. Die Konkurrenzum die beste Normanpassung ist nicht sehr produktiv. Sie unterminiertaußerdem die intrinsische Motivation (DECI/ RYAN 1985) unddie Kreativität (AMABILE 1979) der Schüler, also zentrale Voraussetzungenihrer Leistungsfähigkeit.16


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenEin Beispiel für die disziplinfördernde Wirkung interessengeleitetenLernens ist ein Modellversuch einer Neusser Hauptschule. Die wesentlicheMaßnahme bestand in der Berücksichtigung der Bedürfnisse undInteressen der Schüler. Statt vorwiegend theoretisches Wissen zupauken, wurden in den Wahlpflichtfächern praktische, alltagsbezogeneKurse angeboten. Viele Schüler strengten sich an und konnten durchgute Leistungen in diesen Kursen ihre Noten und damit auch ihrenSelbstwert verbessern (zum Zusammenhang von Noten und Selbstwertvgl. COVINGTON 1984). Die Fähigkeitsverbesserung aufgrund von Anstrengungendürfte ihnen die Möglichkeit, sich auch in anderen Fächernzu verbessern, verdeutlicht haben (zum Phänomen der Erfolgsdynamikvgl. ebenda). Gingen vor dem Modellversuch 31% der Schüler ohneAbschlusszeugnis ab, waren es danach nur noch 14%. Als Folge derErhöhung des Selbstwerts durch Bestätigung der eigenen Fähigkeitenverbesserte sich auch die Disziplin. Vor dem Schulversuch fuhr dreimalpro Woche der Krankenwagen vor, um bei Raufereien verletzte Schülerabzuholen. Nach dem Versuch kam er nur noch einmal im Monat.Vorher waren 20.000.-- DM jährlich notwendig, um Zerstörungen zureparieren, danach reichten 2.000,-- DM und es handelte sich dabei nichtum Zerstörungen, sondern um normale Verschleißreparaturen (vgl. DerSPIEGEL 3/1983, S. 66 f).Die Orientierung an Aufgaben, die für den einzelnen interessant sind,zeigt den Lernenden, dass Erfolg nicht nur von den Fähigkeiten deseinzelnen, sondern von seiner Anstrengung, seinem Interesse, seinenVersuchen, die Zusammenhänge zu erkennen und von der Zusammenarbeitmit anderen, die etwas dazu beitragen können,zusammenhängt (NICHOLLS 1990, S. 38). Dadurch wird dieHandlungsorientierung der Schüler gestärkt, also die Auffassung, dasssie durch eigenes Tun ihre Situation ändern können. Auf diese Weisefindet auch der Lehrer leichter Ansatzpunkte, um "schwierigen" Schülernzu helfen.Wenn Schüler durch interessengeleitetes Lernen ihre Leistungsfähigkeitin bestimmten Bereichen entdecken und steigern können, dann steigertsich dadurch ihr Selbstwertgefühl. Wenn sie erfahren, dass ihnengeholfen wird, und dass sie unterstützt werden, sind sie eher bereit, auchsolche Aufgaben zu erledigen und Regeln zu beachten, die nicht ihren17


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenunmittelbaren Interessen, Bedürfnissen oder Wünschen entsprechen (vgl.DECI/ VALLERAND u.a. 1991, S. 335 f.).Es macht auch viel aus, wenn Schüler sich im Unterricht gegenseitighelfen können. So verringern sich bei kooperativem Lernen in Gruppenim Vergleich zum Frontalunterricht die Disziplinkonflikte drastisch(LAZAROWITZ/ SCHACHAR 1990). Bei gleichen Unterrichtszielenkönnen Schüler beim kooperativen Erarbeiten in heterogenen Kleingruppenweit mehr selbstwertstabilisierende Erfahrungen machen als imlehrergeleiteten Frontalunterricht. Dabei sind die Leistungen beimkooperativen Lernen zumindest genauso hoch wie beim lehrergeleitetenund -kontrollierten Unterricht (SLAVIN 1983, S. 31 ff.). Zudem werdenneben kognitiven wichtige soziale Fähigkeiten erworben. Ferner sind dieSchüler auch stärker intrinsisch motiviert; sie "verbeißen" sich eher indie Probleme und mit zunehmendem Verständnis schrauben sie ihre Anforderungenselber immer höher (vgl. WELLS/ CHANG/ MAHER 1990;SLAVIN 1983, S. 53 ff.). Außerdem brauchen vor allem die schwächerenSchüler weniger Verarbeitungskapazität für lageorientierte Reflexionenund es gibt deutlich weniger Reibungsverluste durch Disziplinkonflikte.3.3 Persönliche, achtungsvolle Beziehung vs. AnonymitätFreiheit ist am fruchtbarsten für alle, wenn jeder dem anderen hilft undihn unterstützt. Gegenseitige Unterstützung setzt ihrerseits persönliche,achtungsvolle Beziehungen der Individuen voraus. Wenn man möglichsteffektives Lernen in der Schule bei einem Minimum an Disziplinkonfliktenwünscht, ist die gegenseitige Achtung von Lehrern und Schülerneine grundlegende Bedingung.Einen Menschen achten bedeutet, ihn so zu akzeptieren, wie er ist, undan seinen Ideen, Wünschen, Hoffnungen Anteil zu nehmen. Wenn manbestimmte Auffassungen, Einstellungen und Handlungen einesMenschen nicht teilt, zeichnet sich eine achtungsvolle Beziehungdadurch aus, dass man ohne weitere Bewertung die eigene Auffassungeinfach nur dagegenstellt. Ob der andere sich daraufhin ändert odernicht, muss dann ihm überlassen bleiben. Würde man ihn zu ändern18


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikensuchen, hieße das, seinen Wert und seine Eigenständigkeit als Person inFrage zu stellen. Nicht die „Erziehung“ des anderen, sondernSelbsterziehung ist letztlich die einzig mögliche Erziehung. Da sie sehrviel schwieriger ist, ist sie auch nur selten anzutreffen.Nun zu den Befunden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern,Lehrern und Schülern wird als umso besser erfahren, je stärker dieErwachsenen die Eigenständigkeit der Schüler unterstützen und fördernund an ihren Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen Anteil nehmen.Kinder sind dann am ehesten bereit, sich Auffassungen, Wertungen undSollensforderungen ihrer Umwelt zu eigen zu machen (RYAN/POWELSON 1991, S. 60 ff.). Eine achtungsvolle Beziehung trägt dazubei, dass Schüler sich in höherem Maße in erwünschter Weise im Unterrichtverhalten. Sie arbeiten aktiver mit, beteiligen sich eher aus eigenemEntschluss und zeigen erhöhtes Selbstvertrauen (ebenda, S. 61).Die Bedeutung einer achtungsvollen Beziehung der Erzieher zu denSchülern verdeutlicht auch das amerikanische "Modello HomesteadGardens Program" mit sehr stark gefährdeten Jugendlichen in einemGebiet mit sehr hohen drop-out Raten an Schulen, hoher Kriminalität,Drogenmissbrauch usw. Zu Beginn wollte kaum jemand ohne Polizeischutzin diesem Projekt mitarbeiten.Zentrale These des Programms war, dass jedes Individuum über ein vonäußeren Bedingungen unabhängiges "höheres Selbst" (higher self)verfügt. Dieses höhere Selbst ermöglicht dem einzelnen, wenn er"Zugang" dazu hat, unter jeglichen Umständen eine verantwortliche undmoralisch gute Lebensführung. Das Fehlverhalten der Schüler wurde vonden Lehrern im Projekt nicht als persönlicher Angriff verstanden,sondern als Unsicherheit. Sie begegneten den Schülern mit Achtung vorderen "höherem Selbst", d.h. sie setzten unbegrenztes Vertrauen in dashöhere Selbst der Schüler und zeigten sich überzeugt, dass die Schülervon sich aus "richtig", also im Sinne der schulischen und anderer sozialerRegeln zu handeln verstünden. Auch die Eltern wurden in diesesProgramm einbezogen. Die Schüler reagierten in einem erstaunlichenAusmaß positiv. Im ersten Jahr sank die Zahl der Verweise wegenDiszipinkonflikten um 75 % und wegen delinquenten Verhaltens um80%. Auch die Beziehungen in den Familien verbesserten sich. Alsunerwartete Nebenwirkung zeigte sich nach drei Jahren ein Rückgang19


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikender Teenager-Schwangerschaften um 80% in den junior high schoolGruppen (MILLS 1991, S. 77 ff.).Eine auf Achtung beruhende Beziehung des Lehrers zu den Schülernverringert die Wahrscheinlichkeit von Vorverurteilungen aufgrund derBeobachtung störenden Verhaltens. Beim momentanen "Störer" wirdpotentiell auch das gegenteilige Verhalten als möglich betrachtet. Durchdie Typisierung störender Schüler und ihre Etikettierung als "widerspenstig","faul", "dumm", "feindselig", "hinterhältig" usw. schreibt derLehrer ihnen eine abweichende Identität zu. Die Schüler können diese,ihren Selbstwert bedrohenden Typisierungen und Etikettierungen bei derReflexion über ihre Lage als Erklärung heranziehen. Sie werten sichselbst ab, indem sie glauben, sie befänden sich in dieser misslichen Lage,eben weil sie faul oder widerspenstig seien. Das störende Verhalten wirddadurch allerdings eher verschärft (vgl. HARGREAVES u.a. 1981, S.243).Eine auf Respekt beruhende Beziehung des Lehrers zu seinen Schülernist ferner im Gegensatz zu einer in erster Linie an Verhaltensnormenoder Erziehungszielen orientierten Beziehung zu sehen. Wenn man deneinzelnen Schüler als Person im Auge hat, dürfte leichter zu erkennenund einzusehen sein, dass eine Erziehungsnorm, die völlig unabhängigvon bestimmten Schülern gesetzt wurde, nicht in jeder Situation und fürjeden sinnvoll sein kann. Nachträglich erscheinen uns abgeschaffteSchulregeln meist überhaupt als unsinnig. Dabei hatte man sie bei ihrerEinführung für unbedingt erforderlich gehalten, um einem Kulturverfallvorzubeugen. "In England ist das Durchsetzen der Schulregel gegenlanges Haar bei Jungen ein solcher Fall. Letztendlich mussten diemeisten Schulen diese Regelung aufgeben oder abändern. DieseAbänderung wurde jedoch oft erst vollzogen, nachdem das Durchsetzendieser Regel die Lehrer-Schüler-Beziehungen außerordentlichbeeinträchtigt hatte" (HARGREAVES u.a. 1981, S. 239).Eine Methode, die auf der Achtung vor der Person und ihrer Fähigkeitrational zu handeln, gründet, ist das "Positive Peer Culture Program"(VORRATH/ BRENDTIO 1973). Es erinnert an die JugenderziehungMAKARENKOs. In der Klasse werden Gruppen von 9 bis 15 Mitgliederngegründet. Die jeweiligen Gruppen diskutieren neben Disziplinschwierigkeitenauch andere Probleme von Schülern wie schlechte20


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenLeistungen und suchen nach Lösungsmöglichkeiten. Diese Diskussionensind streng vertraulich. Erwachsenen ist es nicht erlaubt, in diesenGruppenprozess einzugreifen. Es werden erstaunliche Erfolge berichtet.So sei das Schuleschwänzen um 40% zurückgegangen, Diebereien um78% und die meisten anderen Disziplinprobleme um fast 60% (vgl.ENGLANDER 1987, S. 300).Wertschätzung für Schüler kann auch dadurch zum Ausdruck gebrachtwerden, dass man ihnen Verantwortung überträgt. Wenn siemitverantwortlich sind und selbst einen gewissen Einfluss ausübenkönnen, dann sind sie vermutlich eher geneigt, die Wichtigkeitbestimmter Ziele und Regeln anzuerkennen und als Leitlinie für ihreigenes Verhalten zu übernehmen (vgl. REYNOLDS/ MORGATROYD1977; AINSWORTH/ BATTEN 1974). Die Regeln werden ihnen dannnicht von außen aufgezwungen, sondern ergeben sich aus Sachzwängen.Der Schüler akzeptiert diese Zwänge, weil ihm ein höheres Maß anRespekt und Anerkennung zuteil wird, wenn er eine solcheVerpflichtung auf sich nimmt.3.4 Bestätigen statt TadelnAuch die klassischen Mittel der Disziplinierung, Lob und Tadel, zeigeneine nachhaltigere Wirkung, wenn der Schüler sich bei ihrer Anwendungals Person geachtet glaubt. Das setzt voraus, dass der Selbstwert nichtoder nur in einem vom Schüler tolerierbaren Maß bedroht wird oderdurch geeignetes Verhalten leicht wiederhergestellt werden kann. DerSchüler muss also wissen oder erfahren, wie er seine ihm wichtigen Zielein sozial akzeptierter Weise erreichen kann.Solange ein Lehrer im Wesentlichen am unerwünschten Schülerverhaltenherumnörgelt und so seine Kontrolle über diese Schüler verstärkt, führtdas eher zur Konfrontation. Durch Widerspenstigkeit versucht derSchüler sein Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Dabei verbraucht erKapazität für Überlegungen, warum der Lehrer ihn nicht leiden kann.Die Folge ist eine Schwächung seiner Lernmotivation, was weitereErmahnungen und Kontrollen durch den Lehrer provoziert. DerZusammenhang von häufigem Tadel bzw. Ermahnung oder Bestrafung21


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenund erhöhten Disziplinschwierigkeiten bzw. geringererUnterrichtsbeteiligung ist vielfach nachgewiesen worden (z.B.THOMAS/ BECKER/ ARMSTRONG 1968; O'LEARY/ BECKER1967; RUTTER u.a. 1980; WINTER 1990). Dennoch sind Tadel undErmahnung die am häufigsten angewandten Maßnahmen (vgl.WHELDALL 1991, S. 105; WHELDALL/ HOUGHTON/ MERRETT1989).Durchbricht der Lehrer diesen negativen Interaktionszirkel, indem er vorallem dem erwünschten Verhalten des Schülers Anerkennung undAufmerksamkeit widmet und die diszplinwidrigen Verhaltensweisen inhöherem Ausmaß ignoriert, so kann das einen starken und nachhaltigenEffekt haben. Wenn der Schüler Anerkennung und Aufmerksamkeit alsBestätigung seines Selbstwerts auffasst, nimmt das erwünschteVerhalten, durch das diese Bestätigung erfahren wird, in hohem Maße zu(vgl. HARRIS u.a. 1964 BECKER u.a. 1967). Wird die Aufmerksamkeitdes Lehrers dagegen als kontrollierend wahrgenommen, wodurch ja derSelbstwert des Schülers bedroht ist, dann tritt der gegenteilige Effekt ein.Deshalb trägt häufiges Tadeln und Strafen zur Erhöhung störenden Verhaltensbei. Es wird verringert, wenn der Lehrer sich zurückhält (vgl.HARRIS u.a. 1964; MADSEN u.a. 1968; THOMAS/ BECKER/ ARM-STRONG 1968; im Überblick MADSEN/ MADSEN 1874). Bei dieserDarstellung handelt es sich freilich um eine kognitivistische Interpretationvon Ergebnissen, die auf der Basis eines behavioristischen Ansatzesgewonnen wurden (vgl. zu dieser Frage auch SPIELBERGER/DeNIKE 1966).Im Übrigen ist eine achtungsvolle Beziehung auch dadurch gekennzeichnet,dass persönliche oder den Kern einer Person berührende Dingein einer eher vertraulichen Weise behandelt werden. Das gilt gerade auchfür Lob und Tadel oder Ermahnung (vgl. HOUGHTON/ MERRETT/WHELDALL 1988). So führte eine Kombination von seltenem privatemTadel und häufiger privater Bestätigung zu einer erheblichen Verbesserungder Mitarbeit im Unterricht (vgl. HOUGHTON u.a. 1990). Privatheitwurde dadurch erreicht, dass der Lehrer sehr nahe beim betreffendenSchüler stand und sehr leise sprach. Beim Tadeln suchte erAugenkontakt mit dem Schüler und teilte ihm leise, aber entschieden undgenau mit, welches Verhalten er nicht billigen konnte. Die Schüler22


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikensollten dadurch nicht vor ihren Kameraden bloßgestellt werden. DieBedrohung des Selbstwerts, die von einem solchen Tadel ausgehen kann,dürfte wegen der Vertraulichkeit und der engen Bezugnahme aufbestimmte Verhaltensweisen eher zu ertragen sein. Außerdem wurdendie Schüler nur sehr selten getadelt. Die Lehrer waren angehalten,weitaus häufiger, wenn auch nicht im Übermaß, private Bestätigungenauszusprechen.Letztlich dürfte der häufige Gebrauch von Lob und Tadel aber nicht unproblematischsein. So konnte nachgewiesen werden, dass Lob ebensowie Strafe die intrinsische Motivation verminderte. Das gilt insbesonderedann, wenn Lob nicht als einfache Anerkennung für Leistungen ausgesprochenwird, sondern in der Absicht erfolgt, den Schüler zu konditionieren."Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt", wie Goethesagte. Wurden Bestätigungen (Anerkennung, Aufmerksamkeit) dagegenin einer nicht-kontrollierenden Weise gegeben, dann trugen sie zurSteigerung der intrinsischen Motivation bei. Sie förderten außerdem dieBereitschaft zur Übernahme von Verhaltensregeln und deren selbstbestimmteBefolgung (DECI/VALLERAND/PELLETIER/RYAN 1991,S. 336 f.)MONTESSORI ist schon sehr früh (vor 1918) gegen die Kontrolle desVerhaltens durch Lob und Tadel eingetreten, nachdem sie festgestellthatte, dass Lob und Tadel die intrinsische Motivation schwächen. DieSchüler lernen dann nämlich, um einerseits dem Lehrer zu gefallen undum andererseits Tadel zu vermeiden. Das Entstehen einer ruhigen,konzentrierten Arbeitsatmosphäre wird sehr erschwert. Sie verzichtetedeshalb vollständig auf Lob und Tadel und versuchte die Einhaltung derDisziplin – wie bereits dargestellt – indirekt durch eine schülergerechtgeordnete Umgebung zu erreichen, in der die Kinder in möglichst großerFreiheit und Selbstbestimmung lernen können (vgl. MONTESSORI1969, S. 332 ff.).23


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonfliken4. Techniken zur Lösung wiederkehrender Disziplinkonflikte4.1. Die Umdeutung der Motive störenden VerhaltensWiederkehrenden Disziplinkonflikten liegt ein sich immer neuvollziehender Interaktionszirkel zugrunde. Eine Hilfe bei der Lösungsolcher Disziplinprobleme ist es, sich zu überlegen, wie die Beteiligtendas in Frage stehende Verhalten wahrnehmen, um nach Möglichkeiteneiner positiven Interpretation dieses Verhaltens zu suchen. Deutet derLehrer das Schülerverhalten nämlich in positiver Weise um, dann wirdauch der Schüler in der Regel sein Verhalten ändern. Sein Selbstwert istdann ja nicht mehr bedroht (vgl. MOLNAR/ LINDQUIST 1990, S. 63ff.).Dazu ein einfaches Beispiel: Eine Lehrerin beurteilt das wiederholteunaufgeforderte Antworten einer Schülern während des Unterrichts alsungehörigen Versuch, Aufmerksamkeit zu erlangen, und ignoriert siedeshalb. Die Schülerin ihrerseits hält es für notwendig, mit den Antwortenherauszuplatzen, weil sie meint, die Lehrerin ignoriere sie häufig.Lehrerin und Schülerin sehen beide ihre Sichtweise bestätigt.Eine wirksame Umdeutung dieses Verhaltens muss, wenn dasSelbstwertgefühl gesteigert werden soll, positiv sein. Sie muss ferner aufdie Situation passen und, dem Lehrer sowie auch der Schülerin und denMitschülern plausibel erscheinen, um akzeptiert werden zu können. Imgeschilderten Fall kann man das Herausplatzen der Schülerin ganzeinfach und einleuchtend als Anteilnahme und Interesse an den Stundender Lehrerin interpretieren (vgl. MOLNAR/ LINDQUIST 1990, S. 63 f.).Die Hypothese über das Motiv der Schülerin wird also durch eine andereHypothese ersetzt.Die Umdeutung kann durch die Suche nach positiv bewerteten Funktionendes in Frage stehenden Verhaltens erleichtert werden. So könntedem Herausplatzen der Schülerin ja auch die Funktion zugeschriebenwerden, "anderen Schülern helfen zu lernen, Ablenkungen zu ertragen".Im Gegensatz zu der Funktion, andere Schüler abzulenken, wäre dies imRahmen der Schule als positive Funktion zu verstehen. Weiter könnteeine positive Funktion darin gesehen werden, dass das Verhalten der24


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenSchülerin, den Lehrer ermutigt, "eine Vielzahl verschiedener Fragetechnikenauszuprobieren" oder anderen Schülern Zeit verschafft "nachzudenkenund mögliche falsche Antworten zu verwerfen" (ebenda, S. 102).4.2 Die Symptomverschreibung: Ermutigung des störendenVerhaltensManchmal ist es aber beim besten Willen nicht möglich, irgendetwasPositives am Störverhalten eines Schülers zu finden. In einem solchenFall gibt es andere selbstwerterhaltende und -fördernde Techniken, diegeeignet sind, beim Schüler die Bereitschaft zu wecken oder zu stärken,sein Verhalten an bestehende Regeln anzupassen. Eine dieser Technikenist die so genannte Symptomverschreibung. Bei dieser Technik soll derSchüler sein als störend klassifiziertes Verhalten beibehalten, aber auseinem anderen zugeschriebenen Grund, oder zu einem anderen Zeitpunkt,jedenfalls aber nach einer einschränkenden, aber nicht verhinderndenBedingung oder Regel.Bei dem Beispiel der vorlauten Schülerin könnte man folgende Möglichkeitenin Erwägung ziehen (vgl. MOLNAR/LINDQUIST 1990, S. 120ff.): Der Lehrer könnte der Schülerin sagen, dass er ihre Schnelligkeitschätze, allerdings kämen ihre Antworten oft zum unpassenden Zeitpunkt.Zu Anfang jeder Stunde, wenn er einige einführende Hinweisegegeben habe und beginne Fragen zu stellen, werde er ihr ein Zeichenmachen. Dann könne sie mit ihren Antworten herausplatzen. NachBeendigung dieser Phase solle sie sich dann aber zurückhalten. Wenn esihr trotzdem mal passiere, sei das ganz normal. Er werde sie dann an ihreVereinbarung erinnern.Wenn diese Technik das problematische Schülerverhalten in der erwünschtenRichtung ändert, dann dürfte dies verschiedene Ursachenhaben. Die wichtigste ist vermutlich, dass das Verhalten nur in seinergegenwärtigen Form als störend empfunden, grundsätzlich aber akzeptiertwird. Die Schülerin fühlt sich respektiert und das stärkt ihren Selbstwertund ihre Selbstsicherheit. Unter dieser Bedingung stellt die Regelungihres Verhaltens, die sie ja selbst leisten muss, eine gewisse Herausforderungdar. Der Lehrer erwartet nicht Perfektion von Anfang an,sondern rechnet mit der Spontaneität der Schülerin, er lässt ihr also einen25


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenFreiraum, in dem Regelverstöße als tolerierbar gelten, solange dasBemühen um Veränderung anhält. Außerdem wird die Aufmerksamkeitder Schülerin auf die Einhaltung von Regeln gelenkt. Die Erfolge, die siedurch Regeleinhaltung erzielt, bestätigen und motivieren sie möglicherweisezur Übernahme anderer Regeln. Außerdem wird das Interaktionsgeschehenzwischen Lehrer und Schülerin positiv geprägt. DurchBeobachtung können andere Schüler in der Klasse Strategien zur Lösungvon Verhaltensproblemen lernen. Sie werden vielleicht ihrerseits versuchen,den Lehrer positiv zu beeinflussen und tragen dadurch zurVerbesserung des Unterrichtsklimas bei.4.3. Hervorhebung positiver EigenschaftenEine weitere Technik zum Umgang mit Problemverhalten, die auchangewandt werden kann, wenn das fragliche Verhalten keine positiveDeutung zulässt, besteht in der Äußerung von Anerkennung. Gegenstandder Anerkennung können Dinge, Eigenschaften oder Handlungen desSchülers sein, die mit dem Unterricht gar nichts zu tun haben,beispielsweise ein schönes Kleid, eine neue Frisur. Der Lehrer kann mitdem Schüler über dessen Hobby reden, über das Motorrad oder Fahrrad,über eine Musikgruppe, von der der Schüler begeistert ist usw. (vgl.MOLNAR/ LINDQUIST 1990, S. 139 ff.).Es geht darum, eine positive Beziehung zwischen Lehrer und Schüleraufzubauen. Eine solche Beziehung ist durch die Wertschätzung gekennzeichnet,die der Lehrer dem Schüler gegenüber zum Ausdruck bringt.Diese Wertschätzung kann das Selbstwertgefühl des Schülers positivbeeinflussen und erzeugt daher angenehme Emotionen. In einer solchenVerfassung nimmt auch die Bereitwilligkeit des Schülers zu, sich inerwünschter Weise zu verhalten, zumal sich dadurch die Wertschätzungdes Lehrers für ihn noch erhöht.Der Lehrer kann aber auch Stärken des Schülers hervorheben, alsoFähigkeiten und Eigenschaften, die im Unterricht positiv auffallen undgenutzt werden können (vgl. MOLNAR/ LINDQUIST 1990, S. 151 ff.).Beispielsweise ist es möglich, dass ein Schüler, der sonst kaum zurMitarbeit bereit ist, immer sehr eifrig wird, sobald es um Tiere (Musik,26


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikenhandwerkliche Tätigkeiten usw.) geht. Man sucht also nach Ausnahmen,in deren Rahmen das störende Verhalten des Schülers nicht auftritt.Allein die Tatsache, dass der Lehrer den Schüler nicht mehr einfach alsfaul, sondern als "einseitig interessiert" wahrnimmt, ändert seine Beziehungzu ihm. Der Schüler wird sich nach einer Weile vom Lehrer inhöherem Maße geschätzt fühlen. Wenn der Schüler sich nach und nachals Experte für bestimmte Fragen betrachtet, dürfte er eher bereit sein,sich auch für andere Aufgaben zu engagieren und sich allmählich zuverbessern. Sein geringeres Wissen auf einigen Gebieten kann er durchsein "Expertentum" kompensieren. Außerdem dürfte sein Vertrauen inseine Fähigkeit, neue Probleme zu lösen, gewachsen sein.4.4 Ein Beispiel aus der PraxisAbschließend noch ein Beispiel zur Lösung wiederkehrender Disziplinkonflikte,das dem Buch von MOLNAR und LINDQUIST (1990) entnommenist. Es geht um einen sehr problematischen Schüler der siebtenKlasse. Es war äußerst schwierig mit ihm zu reden. Nach Bestrafungenbesserte sich sein Verhalten immer nur kurzfristig. Danach fiel er stetswieder in seine alten Gewohnheiten zurück. Er war u.a. wegenDrogenmissbrauch aufgefallen; seine Leistungen und seine Mitarbeitließen sehr zu wünschen übrig; er kam häufig zu spät, erledigte seineSchulaufgaben nicht, schwänzte die Schule usw.Bei der langen Liste ausschließlich negativer Verhaltensweisen hielt esder Berater anfangs für unmöglich, "irgendetwas Positives zu finden".Ein Anlass für die positive Deutung einer Verhaltensweise ergab sich, alsder Schüler sich weigerte, an der freiwilligen Einzel-Nachhilfe einerLehrerin teilzunehmen. Statt einfach nachzugeben und dem Schülerseinen Willen zu lassen, sollte er ein Gespräch mit dem Berater führen.Lehrerin und Berater zeigten dadurch, dass man ihn nicht fallenlassenwollte, sondern an ihm interessiert war. Im Gespräch reagierte derSchüler sehr ablehnend. Schließlich sagte der Berater, er freue sich, dassder Schüler seine Zeit mit der Lehrerin zur Verfügung stellen wolle,damit sie anderen Schülern zugute komme. Der Berater versuchte ganzernsthaft, etwas Positives am Verhalten des Schülers zu finden und27


Helmut LehnerUmgang mit Disziplinkonflikendieses Positive durch einen unbewussten Altruismus des Schülers zubegründen.Der Schüler reagierte eher trotzig: "Die anderen Kinder sind mir egal".Der Berater ging nicht darauf ein, sondern stellte einfach nur dar, dassdie Weigerung des Schülers dazu führe, dass die Lehrerin mehr Zeit fürandere Schüler habe. Der Berater ging also nicht mehr auf das Motiv desSchülers ein, sondern hielt sich an die Tatsachen, die er aber sodarstellte, dass sie in Bezug auf die Weigerung des Schülers positivinterpretiert werden konnten. Dem Schüler blieb dadurch genügendFreiraum, sich mit der Deutung des Lehrers auseinanderzusetzen und sieanzunehmen oder abzulehnen. Er konnte sich als selbständige Personakzeptiert fühlen. Freilich dürfte es für ihn noch fraglich gewesen sein,ob diese Akzeptanz verlässlich sein oder bei eigenwilligenEntscheidungen und Handlungen zurückgenommen würde.Nachdem der Berater dem Schüler noch einmal die Freiwilligkeit seinerTeilnahme am Nachhilfeunterricht der Lehrerin versichert hatte, bat erihn, noch einmal über seine Entscheidung nachzudenken. Aber derSchüler sagte: "Ich weiß, ich will nicht mehr an dem Kurs teilnehmen",und verließ das Büro. Der Berater akzeptierte diese Entscheidung. DassLehrerin und Berater sich um ihn bemühten und ihn nicht fallen ließen,ohne ihn zu zwingen oder zu überreden, verdeutlichte dem Schüler, dasses nicht (nur) darum ging, Macht über ihn auszuüben, sondern dass(auch) ein Interesse an ihm als Person bzw. als Mitglied derSchulgemeinde bestand. Jedenfalls konnte er den Eindruck gewinnen,dass man ihn nicht als völlig hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatte."Am nächsten Tag stand" der Schüler vor Unterrichtsbeginn vor der Türder Lehrerin "und fragte, ob er sie sprechen könnte. Er ließ durchblicken,dass er tatsächlich ihre Hilfe brauchte und fragte, ob er beim Kurs weitermitmachen könnte. Seit diesem Tag hat er besser bei ihr gearbeitet undmehr als früher erreicht".Die Beziehung des Schülers zu seiner Lehrerin aber auch zum Beraterverbesserte sich. Er kam in der Folgezeit aus eigenem Antrieb beiProblemen zu ihnen und zeigte eine sich verstärkende Bereitschaft überseine Schwierigkeiten zu sprechen (MOLNAR/ LINDQUIST 1990, S.106-109).28


Helmut LehnerUmgang mit DisziplinkonflikenAn solchen Beispielen kann man sehen, dass es auch in schwierigenFällen lohnend ist, die Bemühungen um einen Schüler nicht aufzugeben.Die Erfolgsaussichten dürften in dem Maße steigen, als man Schülernmit wirklicher Wertschätzung begegnet. Allerdings dürften die in diesemKapitel genannten Methoden nicht weniger problematisch und moralischfragwürdig sein als das Lob, denn es dürfte schwierig sein, in ihrerAnwendung nicht zur Manipulation verführt zu werden.29


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