13.07.2015 Aufrufe

Liä Dsi - Glowfish

Liä Dsi - Glowfish

Liä Dsi - Glowfish

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

hier vorliegende Material angewiesen sind, scheintmindestens ein halbes Jahrhundert später als Konfuziusgeboren zu sein. An seiner Existenz zu zweifeln,liegt kein genügender Grund vor. Im übrigen ist dieFrage, ob er wirklich existiert hat oder nicht, keineswegsbrennend, da sein äußeres Leben in solcher zurückgezogenenRuhe sich bewegte, daß es keine dauerndenFurchen im Menschheitsmeer zurückgelassenhat. Was uns an ihm wertvoll ist, sind seine Gedanken,und diese Gedanken sind da, ganz einerlei, ob eres war, der sie der Nachwelt überliefert, oder »ein andererMann gleichen Namens, der zu jener Zeit gelebthat«. Daneben ist es weit weniger interessant, danachzu forschen, womit er seine Schweine gefüttert (s. II,13) und was er seiner Frau für Kummer bereitet hatdurch Ablehnung eines Geschenkes des Ministerpräsidenten(s. VIII, 6). In China hat nur der ein Anrecht,verzeichnet zu werden in den Büchern der Geschichte,der zum mindesten einmal in seinem Leben irgendeinAmt bekleidet hat. Und das hat <strong>Liä</strong> Dsï nicht getan,weder in seiner Heimat Dscheng, wo er, wie NietzschesZarathustra, vierzig Jahre zugebracht, ehe erdaran ging, seine Lehren der Nachwelt zu überliefern(s. I, 1), noch im Staate Tsi (der im späteren Schantunglag), wo ihm diese Gefahr beinahe gedroht hätte,der er sich aber rechtzeitig durch die Flucht entzog (s.II, 14). In seinem Wesen tritt er uns keineswegs als


stenz hat noch niemand gezweifelt. Dazu hat er zutiefe Spuren im chinesischen Geistesleben hinterlassen.Das »Hic niger est, hunc tu, Romane, caveto«,das ihm der eifrige Konfuzianerprediger Menzius inChina für alle Zeiten angeheftet, hat seinen Namen alsden eines Erzketzers unvergeßlich gemacht. Aberdamit sind wir auch so ziemlich am Ende unsererKenntnisse über ihn angelangt. Zum Glück habensich seine Lehren unter dem Namen und Buch des <strong>Liä</strong>Dsï einen Deckmantel geschaffen, der sie vor der Vernichtungbewahrt hat, die sonst wohl ihr sicheres Teilgeworden wäre. Wann Yang Dschu gelebt hat, ist ungewiß.Wir werden wohl am sichersten gehen, wennwir ihn für einen Zeitgenossen des <strong>Liä</strong> Dsï erklären.Nach II, 15, wo übrigens der Text nicht ganz in Ordnungzu sein scheint, könnte man schließen, daß eraus dem Staate Pe im Südwesten des damaligenChina stammte. Dort wird eine sehr hübsche Geschichtevon ihm erzählt, wie er mit Laotse zusammentrafund durch die Selbstzufriedenheit in seinemBlick des Alten Mißfallen erregte, eine Verfehlung,die er nachträglich durch sein Benehmen so sehr wiedergutgemacht hat, daß die Leute in der Herberge,die zuerst dem vornehmen Herrn scheu ausgewichenwaren, ihn hinterher als ihresgleichen betrachtetenund ihm den Platz an der Ofenecke streitig machten.So gut erfunden die Geschichte ist, möchten wir sie


doch nicht gern als historisches Dokument zur Festlegungder Zeit, in der er gelebt hat, verwerten.Sonst erfahren wir noch von ihm, daß er einen jüngerenBruder Yang Bu gehabt hat, mit dem er offenbarauf gutem Fuße stand (s. VII, 8; VIII, 24), sowiegleichgesinnte Freunde (s. IV, 9; VI, 6), die ähnlichwie der fröhliche Amalekiterkönig Agag (1. Sam. 15,32) es verstanden, des Todes Bitterkeit zu vertreiben.Auch Jünger hatte er in großer Zahl, darunter einenSproß eines der Adelsgeschlechter von KonfuziusHeimatstaat Lu, namens Meng Sun Yang. Wie er gelebtund gestorben, darüber ist nichts Näheres bekannt.Sein Wesen hat einen überaus modernen Zug.Das Motto, das Kierkegaard den Papieren des Ästhetikersin seinem Entweder/Oder vorangestellt hat:»Grandeur, savoir, renommée,Amitié, plaisir et bien,Tout n'est que vent, que fumée:Pour mieux dire, tout n'est rien«könnte man ohne weiteres auch auf ihn anwenden.Einer dekadenten Zeit entsprungen, entnimmt er demTaoismus, den er seiner übernatürlichen Elementeentkleidet, einen dämonischen Pessimismus, für denes schließlich überhaupt keine feste Grenze mehr gibt,und der auch noch den ruhigen Eudämonismus eines


Epikur dahinten läßt, indem er der Weisheit letztenSchluß darin findet, sich auszuleben und als uninteressierterBeobachter zu verfolgen, was Leben undTod für Ereignisse bringen. Von Schopenhauers asketischemPessimismus ist er weit entfernt, aber erbesaß Geist, und so vermochte er das Spiel der Verwesungeines ganzen Zeitalters, das in ihm sich entfaltet,mit einem faszinierenden Schimmer zu umgeben,der verführerisch wirkte auf weite Kreise und diechinesische Nation vielleicht ihrer Auflösung entgegengeführthätte, wenn sie sich nicht in dem eben genanntenMenzius auf die gesunden Gesellschaftsinstinktebesonnen hätte, die ihr die Lebensarbeit Kungtse'saus der Vergangenheit herübergerettet hatte.Der dritte große Zeitgenosse, der etwas nüchterneund weitschweifige, aber edle und wohlmeinendePhilanthrop Mo Di, der Verkündiger der »allgemeinenMenschenliebe«, den Menzius mit Yang Dschuzusammen am selben Galgen aufgehängt hat, tauchtmehr nur in schattenhaften Umrissen am Horizonteauf (II, 21; V, 14; VII, 11; VIII, 12). Die Art, wie inunserem Buche von ihm geredet wird, läßt ihn mitKungfutse und den von ihm anerkannten Idealen derVorzeit in derselben Richtung befindlich erscheinen.Kungtse selbst und die Seinen nehmen einen hervorragendenPlatz ein. Der Meister hat noch nicht denoffiziellen Heiligenschein des »ungekrönten Kaisers«


ten war, den Konfuzius als Urheber aller Konfusionbezeichnet (s. III, 9). Aber diese Stellung des Altenist ja auch aus anderen Quellen bekannt. Und andereStellen zeigen ebenso vorurteilslos, was Kungtse vonLaotse und den Seinen denkt, wie z.B. das Gesprächmit jenem Beamten, der durchaus eine Antwort vonihm haben wollte auf die Frage, wer denn heilig sei,wo er zuletzt mit »veränderter Miene« den Mann imWesten erwähnt, der ja wohl heilig sein müsse (IV,3), weil er, ohne zu ordnen, alles in Ordnung bringe:»Ob er in Wahrheit ein Heiliger ist oder ob er inWahrheit kein Heiliger ist, das weiß ich nicht.« Oderdie andere Unterhaltung mit dem Fürsten von Lu, alsihm dieser mit Begeisterung von dem Taoisten erzählt,der die Erkenntnis an sich habe und sehen undhören könne, ohne Augen und Ohren zu gebrauchen,wo es zum Schlusse heißt: »Dschung Ni lächelte underwiderte nichts« (IV, 2). Von den Jüngern des Konfuziuswird außer dem Lieblingsjünger Yän Hui undDsï Hia, der später Lehrer des Fürsten Wen von Wewurde (II, 12) und sich aus einer einigermaßen knifflichenSituation gut herausgeredet hat, nur noch DsïGung ausführlicher genannt. Und zwar spielt er sowohldem Meister gegenüber (I, 6, 7; III, 8; IV, 1) alsauch sonst keine besonders günstige Rolle; ja, seinNachkomme, der es verstand, das von ihm in geschicktgeleiteten Handelsunternehmungen angehäufte


Riesenvermögen mit großer Grazie durchzubringen,wird von dem Miziusjünger Kin Gu Li, wie dieser alspraktischer Philanthrop ja auch nicht anders konnte,verurteilt (VII, 9), während er von taoistischer Seiteüber seinen geschäftskundigen Ahn gestellt wird.Dennoch kann man auch nicht sagen, daß das Buchden Jüngern des Konfuzius feindselig gegenüberstehe.Die Stelle IV, 4, die uns Kung im Gespräch mit DsïHia vorführt, ist charakteristisch dafür. Die guten Eigenschaftender berühmtesten unter seinen Jüngernwerden unbefangen anerkannt, zugleich aber wird mitgroßer Treffsicherheit der Punkt herausgehoben, derden Meister so hoch über seine Schüler stellte: die innereAusgeglichenheit gegenüber ihren Einseitigkeiten.Es würde zu weit führen, alle die großen und kleinenHelden jener Zeit, die in dem Buch versammeltsind und uns ihre Weisheit und Lebenserfahungen anbieten,einzeln aufzuführen. Ein schier unerschöpflicherReichtum tut sich vor unseren Augen auf. Heiligeund Spötter, weltabgeschiedene Weise und Lebemänner,Philosophen im Kreise ihrer Jüngerscharen undredegewandte Sophisten vor Fürstenthronen treffenwir hier. Auch naive Bäuerlein, Weiber und Kinder,Bettler und Gaukler bis herunter zum »Pferdedoktorund Tierbändiger«: sie alle kommen uns entgegen undteilen uns bewußt oder unbewußt die Weisheit mit,


die sie uns zu schenken haben. Bunt schillernde Mythender grauen Vorzeit, die uns einen Einblick gewährenin die überaus lebendige Gestaltungskraft desalten China, wechseln in mannigfaltigem Zuge mit berühmtenTageshelden der damaligen Zeit; auch dieStaatsmänner fehlen nicht. Es sei hier zunächst abgesehenvon den Herrschern der Vorzeit, auf die in derBesprechung der Quellen noch etwas eingegangenwerden soll. Von älteren und jüngeren Zeitgenossenunter den Politikern werden ausführlicher erwähnt:der berühmte Staatsmann und Kanzler von Tsi, GuanDschung, der bekanntlich ein Meister der Realpolitikwar, als den ihn auch Kungtse wiederholt anerkannthat (vgl. Lun Yü XIV, 10, 18), weshalb ihn KuHung-Ming den Bismarck seiner Zeit nennt. Die Ausführungen,die uns hier von ihm vorliegen, zeigen ihnals einen verstandesklaren und moralisch skrupellosenMann (VI, 3; VII, 7), was mit seinem historischenBilde in gutem Einklang steht. Auch Yän PingDschung, der etwa hundert Jahre nach ihm den Kanzlerpostenin Tsi innehatte, und der der persönlicheGegner Kungtse's war, wird gelegentlich erwähnt (VI,12). Aus <strong>Liä</strong> Dsï's Heimatstaat begegnen wir demKanzler Dsï Tschan, der mit Kungtse persönlich befreundetwar. Wenn die Geschichte, die in VII, 8 vonihm erzählt wird, auf Wahrheit beruht, so ist es ihmweit weniger gut gelungen, in seiner Familie Ordnung


zu halten als in seinem Staate, und wie es so zu gehenpflegt: wer den Schaden hat, darf für den Spott nichtsorgen. Ein ironischer Jurist namens Deng Si hatdafür gesorgt. Dieser Deng Si, der durch ein auf Bambustafelnaufgezeichnetes Gesetzbuch, das späterhinin seinem Heimatstaate mit Erfolg eingeführt wurde,sich einen Namen gemacht hat, scheint im persönlichenLeben eine ziemlich böse Zunge gehabt zuhaben. Nicht immer scheint er in dem Bestreben, anderelächerlich zu machen, von Erfolg begleitet gewesenzu sein. Es wird eine Geschichte von ihm erzählt(IV, 11), in der er den Versuch macht, die anarchistischen,außerhalb der Gesellschaft stehenden Anachoreten,die ihm einmal auf der Straße begegneten,durch die Idee der Bedürfnisbefriedigung als Grundlagedes Staates ad absurdum zu führen. Er ging in seinenFolgerungen jedoch zu weit und mußte eine Antworterleben über die Beamten als bloße Diener desStaates, auf die hin er es vorzog mit einem Blick aufseine Schüler sich zurückzuziehen. Später hat ihn einVorgesetzter, bei dem er sich mißliebig machte, hinrichtenlassen.Es braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden, daßunser Werk, so wie es vorliegt, nicht aus der Handdes <strong>Liä</strong> Dsï hervorging. Das wird schon endgültig widerlegtdurch die Bezeichnung des <strong>Liä</strong> Yü Kou als


»der Meister«. Zudem ist im ganzen Buch auch nirgendseine Andeutung davon enthalten, daß es von<strong>Liä</strong> Dsï stamme. Es ist ein Werk seiner Schule, dasdie Lehre, wie er und andere Meister der Vergangenheitsie verkündigt, in freier Weise aufgezeichnet hat.Die von chinesischer und europäischer Seite aufgestellteVermutung, daß es eine späte Fälschung sei,hat nicht genügende Begründung in den Tatsachen.Gewiß finden sich eine Reihe von Abschnitten, dieauch in den Schriften, die unter dem Namen des PhilosophenDschuang Dsï (um 330 v. Chr.) gehen, sichmehr oder weniger wörtlich wiederfinden, ebenso wiemanche Stücke auch in den Werken des Huai Nan Dsï(gest. 122 v. Chr.), sowie in den Frühlings- undHerbstannalen, die unter der Ägide des Lü Bu We(gest. 237 v. Chr.) gesammelt wurden (Lü SchïTschun Tsiu), wieder vorkommen. In den Erklärungensind die betreffenden Parallelen jeweils beigefügt.Huai Nan Dsï kann hier außer Betracht bleiben, ebensomachen die Frühlings- und Herbstannalen des LüBu We keine Schwierigkeiten, da diese beiden Werkeeingestandenermaßen Kompilationen überliefertenStoffes sind. Und eine Vergleichung des Textes ergibt,daß <strong>Liä</strong> Dsï in Fällen der Verschiedenheit sicherdie ursprüngliche Fassung hat. Dasselbe ist aber auchDschuang Dsï gegenüber der Fall. Stilistische Härtensind dort überall geglättet, und der Zusammenhang,


wo es not tat, straffer organisiert. Eine sorgfältigeVergleichung ergibt, daß der Text bei Dschuang Dsïsich ohne weiteres aus <strong>Liä</strong> Dsï ableiten läßt, nichtaber umgekehrt. Dieser Sachverhalt tut Dschuang Dsïdurchaus keinen Eintrag, denn er selbst sagt von seinenWerken (XXVII, 1): »Von meinen Sätzen sindneun unter zehn allegorisch, von meinen Gleichnissenstammen sieben unter zehn von geschätzten Vorgängern«.Es ist gar nicht abzusehen, warum <strong>Liä</strong> Dsïnicht auch zu diesen Vorgängern gehören soll.Die inneren Anzeichen weisen in dieselbe Richtung;die Sprache ist altertümlich, wie Grube überzeugendnachgewiesen hat; die historischen Persönlichkeiten,die in dem Buche erwähnt werden, führen,abgesehen von einer Stelle, nicht unter das Jahr 390herab. Wir werden daher nicht fehlgehen, wenn wirdie Zeit um 350 als Abfassungszeit annehmen, wobeizugegeben werden muß, das spätere Erweiterungensich eingeschlichen haben, wie denn auch der Text anverschiedenen Stellen keineswegs intakt ist.<strong>Liä</strong> Dsï wurde wenig kommentiert. Der erste Kommentarstammt von Dschang Dschan aus der <strong>Dsi</strong>n-Dynastie 265-420 n. Chr. Erst in der Tangzeit begannman ihn zu schätzen, und unter dem Kaiser HüanDsung 713-756 wird ihm der Titel »Tschung HüDschen Ging« (Wahres Buch vom quellenden Urgrund)beigelegt, dem dann später noch der Zusatz


Dschï De (höchstes LEBEN) zugefügt wurde. Ausjener Zeit stammt auch der Kommentar des LuDschung Yüan, der lange Zeit verloren war und erst1804 teilweise in einem Taoistenkloster in Nankingwieder aufgefunden und neu herausgegeben wurde.Der vorliegenden Übersetzung liegt ein hervorragendschöner Faksimiledruck nach einem Exemplar aus derSung-Dynastie sowie die eben genannte Ausgabe vonLu Dschung Yüan aus dem Jahre 1804 zugrunde, diein einem Buchladen in Peking aufzutreiben mir gelang.Außerdem benutzte ich noch eine sehr gute neueAusgabe aus dem Jahr 1877.Im Unterschied vom Taoteking, in dem kein einzigerName erwähnt ist, ist <strong>Liä</strong> Dsï voll von historischenAnspielungen. Weise der Vorzeit werden zitiert undzum Teil wörtlich angeführt. So finden sich verschiedenemehr oder weniger getreue Zitate aus dem Taoteking.Aber auch weiter hinauf reichen die angeführtenQuellen des Buches. Über den sagenumwobenenKönig Mu von Dschou bringt es ausführliche Nachrichten,die mit einem Buch über ihn, das lange Zeitverloren war und erst Jahrhunderte später wieder auftauchte1,ziemlich genau übereinstimmen. Weiterhinfinden sich verschiedene Zitate von Yü Hiung, der angeblichder Lehrer des Begründers der Dschou-Dynastie,des Königs Wen, um 1200 v. Chr., gewesen sein


soll. Mehrere Abschnitte werden als Äußerungeneines Weisen noch älterer Zeit, des Gi von Hia, derzur Zeit des Königs Tang, des Begründers derSchang-Dynastie, um 1750 v. Chr. gelebt haben soll,angeführt. Auch über die Helden der konfuzianischenLegende: Yau, Schun und Yü finden sich Nachrichten,die eine selbständige Überlieferung voraussetzen.Vor allen aber wird der Herr der gelben Erde (HuangDi) häufig erwähnt, den wir, falls wir überhaupt nochZeitangaben machen wollen, ins Jahr 2700 v. Chr.verlegen müssen. Ja noch weiter hinauf wird uns derBlick geöffnet in die graue Vorzeit der Göttersagen,da der schlangenschwänzige Fu Hi, Nü Wa und dergöttliche Landmann Schen Nung auf Erden weilten.Da nun die Quellen fehlen, ist es uns versagt, irgendetwas darüber auszumachen, wie hoch die Traditionenhinaufgehen, die <strong>Liä</strong> Dsï zur Verfügung standen. EineÄußerung, die er dem Herrn der gelben Erde zuschreibt,steht im Taoteking. Anderes wiederum suchenwir vergeblich. Doch sind wir immerhin in derLage, uns eine ungefähre Vorstellung davon zu machen,welcher Art das Material war, das <strong>Liä</strong> Dsï zuGebote stand. Ein Teil dieser alten Überlieferungenist in den klassischen Büchern der konfuzianischenSchule, dem Buch der Wandlungen und dem Buch derUrkunden, enthalten. Einen anderen Teil haben wir imTaoteking vor uns. Noch eine andere Spruchsamm-


lung gibt es, die in taoistischen Kreisen überliefertwird und der ein sehr hohes Alter zugeschrieben wird:der Yin Fu Ging, das Buch der geheimen Ergänzungen.Aus welcher Zeit es stammt, läßt sich nichtsagen, doch ist es höchst wahrscheinlich, ja beinahesicher, daß es dem Verfasser des vorliegenden Werkeszur Verfügung gestanden hat. Es enthält im ganzen444 Zeichen und ist eine Sammlung von Aphorismenim dunklen Stil des Altertums, wohl noch älter als derTaoteking. Sein Titel will besagen, daß es denSchlüssel gibt zum Verständnis des sichtbaren Weltgeschehens,indem es die verborgenen Ergänzungenaufzeigt, die zur sichtbaren Welt hinzugenommenwerden müssen, um ihr den rechten Sinn abzugewinnen.Es sind für jene alten Zeiten zum Teil Gedankenvon unerhörter Kühnheit darin enthalten, die es begreiflichmachen, wie sowohl ein <strong>Liä</strong> Dsï als auch einYang Dschu ihre Lehren auf diesen Voraussetzungenaufbauen konnten. Die Übersetzung dieser Spruchsammlungnach einem handschriftlichen Exemplar,das in meinem Besitz ist, lautet folgendermaßen:1.Des Himmels SINN erschauen,Des Himmels Wandel ergreifenIst das Höchste.


2.Der Himmel hat fünf Gewalttäter2;Wer sie erblickt, wird blühen.Die fünf Gewalttäter sind im Ich3;Wer sie wirken läßt im Himmel,Bekommt das Weltall in die Hand,Und die Natur wird aus dem Ich geboren.3.Des Himmels innerstes Wesen ist der Mensch;Des Menschen Herz ist das Triebwerk.Des Himmels SINN wird festgestelltDurch die Bestimmung des Menschen.4.Bringt der Himmel das Triebwerk des Tötens inGang,Bewegen sich die Sterne, und die Himmelsbilderwandeln sich;Bringt die Erde das Triebwerk des Tötens in Gang,Kommen Drachen und Schlangen aufs trockneLand;Bringt der Mensch das Triebwerk des Tötens in


Gang,Wird Himmel und Erde verkehrt und umgestürzt;Wirken Himmel und Mensch zusammen,Werden der ganzen Natur Grundlagen bestimmt.5.Das innere Leben hat Klugheit und Torheit,Man kann sie ducken und bergen.Der neun Körperöffnungen SündenBeruhen auf den drei wichtigsten4;Man kann sie erregen und stillen.6.Feuer entsteht im Holz:Das Wehe, in Gang gebracht, wird sicherüberwältigen.Falschheit entsteht im Staat:Die Zeit, in Aufruhr gekommen, wird sicherzerstören.Wer das erkennt, wer das in Ordnung bringt,Der heißt: der Berufene.7.Der Himmel belebt, der Himmel tötet:


Das ist das Gesetz des SINNS.8.Himmel und Erde sind Räuber an der Natur,Die Natur ist Räuber am Menschen,Der Mensch ist Räuber an der Natur5.Sind die drei Räuber im rechten Verhältnis,So sind die drei Mächte6 im Frieden.Darum heißt es:Iß der Zeit entsprechend, so kommt der Leib inOrdnung;Bewege das Triebwerk entsprechend, so kommendieWandlungen zur Ruhe.9.Der Mensch erkennt seinen Geist als Geist,Aber er erkennt nicht, wodurch sein Geist Geist ist.10.Sonne und Mond haben ihre Zahl,Großes und Kleines hat sein Gesetz.Wenn des Berufenen Werk entsteht,Tritt die Klarheit der Götter hervor.


11.Wie es zugeht bei jenem Rauben7,Kann niemand auf Erden erblicken,Kann niemand erkennen;Trifft es den Edlen, so bleibt er fest im Unglück,Trifft es den Gemeinen, so verachtet er dasGeschick.12.Die Blinden hören gut,Die Tauben sehen gut.Tu' ab eine Quelle des Gewinns,Und du wirst Helfer finden zehnfach!Dreimalige Umkehr8 bei Tag und NachtBringt Helfer zehntausendfach.13.Das Bewußtsein wird erzeugt durch die AußenweltUnd stirbt mit der Außenwelt;Das Triebwerk ist im Auge.14.


Der Himmel hat keine Gnade.Eben darin zeigt er die größte Gnade.Plötzlicher Donner und WirbelwindKommt immer nur blindlings9.15.Höchste Freude: des Wesens Überfluß,Höchste Stille: des Wesens Bescheiden.Des Himmels Aller-EigenstesIst in seiner Wirkung das Aller-Allgemeinste;Es in die Hand zu bekommenWird ermöglicht durch die Seelenkraft.16.Das Leben ist die Wurzel des Todes,Der Tod ist die Wurzel des Lebens;Segen entsteht im Unheil,Unheil entsteht im Segen.17.Die Toren suchen OffenbarungenDurch Erforschung der Zeichen in Himmel undErde10.Ich suche Weisheit


Durch Erforschung der Zeichen in Zeit und Welt.18.Die Menschen halten törichte Sorgen fürHeiligkeit,Ich halte das Meiden törichter Sorgen fürHeiligkeit.Die Menschen halten das Wunderbare fürHeiligkeit,Ich halte das Nichtwunderbare für Heiligkeit:Wer ins Wasser sich stürzt, ins Feuer geht,Zieht selber seinen Untergang herbei.19.Der SINN des auf sich selbst Beruhenden ist Stille:So entstehen Himmel, Erde und die ganze Natur.Der SINN Himmels und der ErdeDurchtränkt das All:So siegen Trübes und Lichtes übereinander.Und während Trübes und Lichtes sich ablösen,Gehen Änderung und Wandlung ihren Weg.20.Der Berufene hat erkannt,


Daß dem SINN des auf sich selbst BeruhendenNichts widerstehen kann;Deshalb leitet er die DingeDurch den SINN der höchsten Stille.21.Was Gesetze und Regeln nicht befassen können,Ursprünglich ist es, ein Wunderding.Das erzeugt alle Bilder:Die Figuren des Seins11 und die Zeichen der Zeit,Das Wirken12 der GötterUnd die Verborgenheit der Geister,Das Geheimnis, wie das Trübe und Lichte einanderbesiegen,Leuchtend klar steht es da,Das Höchste: die Idee.Neben diesen philosophischen Quellen sind in unseremBuch aber auch noch Quellen ganz anderer Artverwendet, die ihm den eigenartigen Wert eines kulturgeschichtlichenDokuments verleihen: der reicheBorn der Volkssagen und Mythen der alten Zeit.Während Kungtse, der sein System auf die Geschichtebegründete, naturgemäß bestrebt sein mußte, das üppigeRankenwerk unzuverlässiger Überlieferungen zubeschneiden, existieren für den Taoisten keine solchen


Schranken. Für ihn ist alles Vergängliche nur einGleichnis. Deshalb legt er keinen Wert auf die historischeTatsache als solche. Wo ihm eine Überlieferungentgegentritt, die geeignet ist, den großen Sinn desWeltgeschehens bildartig zu erläutern, da ist sie willkommen.So ist in unserm Buch keine der alten Sagennur um ihrer selbst willen übernommen; alle sind siein einen Zusammenhang gestellt, daß das, was das unbewußteDichten der Volksseele an Wahrheitsgehaltin ihnen niedergelegt hat, geschliffen und gestaltethervorblitzt. Aber durch die neue Fassung hindurchwird uns der Blick eröffnet in jene alten Vorstellungskreisehinein. Und was wir da wahrnehmen, ist geeignet,unser Urteil über die chinesische Mythologie wesentlichumzugestalten13.Unter dem Einfluß des Konfuzianismus hat sich dieganze chinesische Götterwelt sozusagen humanisiert.Die Götterposten wurden einfach Ämter, die ganzähnlich wie die irdischen Ämter nach Verdienst undWürdigkeit verliehen werden, nur statt an Lebende anVerstorbene. So berührt es denn auch ganz merkwürdig,wenn wir z.B. vom Kriegsgott Geschlechts- undVornamen hören und seine ganze Lebensgeschichteals tapferer und pflichttreuer Beamter und Generalunter dem nachmaligen Kaiser Liu Be der späterenHan-Dynastie. Wir vermissen das Naturhafte an dieserGottheit, das uns im griechischen Ares oder im


germanischen Ziu so gewaltig entgegentritt. Und sogeht es mit allen anderen Göttern; selbst Berg- undFlußgötter sind nicht Naturgewalten, sondern verstorbeneBeamte oder andere Leute, die von irgendeinemKaiser mit diesem Posten belehnt wurden. Ja, derhöchste Gott Himmels und der Erde in der taoistischenReligion: Yü Huang, der Nephritherr, ist einfrüherer Magier, der von einem Kaiser zu diesemRang erhoben wurde. So ist denn das chinesischePantheon im allgemeinen ein sehr geordneter, nuretwas allzu nüchterner Beamtenstaat, in dem keineExtravaganzen vorkommen, da auch Götter, wenn siesich nicht ordentlich halten oder ihre geistige Wirksamkeiterlischt, abgesetzt und durch andere vertretenwerden können. Daß es nicht von Anfang an so inChina ausgesehen hat, dafür ist <strong>Liä</strong> Dsï ein Zeuge.Man kann sich nichts Bunteres und Naturhafteres vorstellenals die blühende Mythenwelt, in die er uns einführt.Jene Vermenschlichung der Götter in China isteine Folge des Ahnendienstes. Im Altertum schiedman deutlich zwischen himmlischen Mächten: Sehen,Erd-und Naturgeistern: Dschï, und den Manen derAbgeschiedenen: Gui. Allmählich haben diese Manendie anderen göttlichen Wesen sich assimiliert undsind dann schließlich allein auf dem Plan geblieben,als Zeichen, wie auch in der Religion durch die Kraftdes Konfuzianismus alles rationalisiert und ver-


menschlicht wurde. Für den geschärften Blick siehtaber unter der modernen Menschenmaske doch da unddort die alte Naturgottheit noch durch. Wenn z.B. inSchantung fast auf allen hervorragenden Hügeln Tempeldes genannten Nephritherrschers stehen, so habenwir in ihnen nichts anderes zu sehen als Überbleibselvon Höhenkultplätzen ursprünglicher Himmelsverehrung,und erst nachdem der Dienst des höchsten GottesMonopol des Kaisers geworden war, der alljährlicham Himmelsaltar bei der Hauptstadt opfert, hatman dem Bedürfnis des Volkes nach Verehrung desHimmels auf diese Weise ein Surrogat gegeben.Um die verschiedenen Aussprüche des Buches, die inihren Konsequenzen zum Teil sehr stark auseinandergehen, einigermaßen übersichtlich anordnen zu können,muß man die Lehren, die auf <strong>Liä</strong> Dsï zurückgehen,von denen Yang Dschu's trennen. Es steht zwarnicht so, daß sie keinerlei Verbindungspunkte hätten,vielmehr ist in der Taolehre ein breiter Boden gegeben,der die gemeinsame Grundlage für ihre beidenGedankenentwicklungen abgibt. Die Tiefe des Taotekingist den realen Vorgängen des Lebens gegenüberso neutral, daß sehr viel auf den Standpunkt ankommtbzw. auf das Temperament, mit dem man an jene Intuitionenherangeht. Noch mehr ist das beim Yin FuGing der Fall, der alles Ethische ganz beiseite läßt


und gewisse Formen uralter Magie mit seiner Weisheitvermischt.Im ganzen Buche ist die dynamisch-monistischeWelterklärung jener alten Weisen vorausgesetzt. DerStandpunkt des freien Denkens ist erreicht, vor demsich die festen Gegebenheiten, die dem naiven Beobachterin der Welt entgegentreten, aufzulösen beginnenin ein Spiel unsicheren Scheins (III, 2). DieserWelt des Scheins nun gehören nicht nur die äußerenDinge an, sondern auch das Bewußtsein des Menschenist in diesen Kreislauf geschlossen. ErkenntnistheoretischeProbleme sind daher in den Mittelpunktder Betrachtung gerückt, denn die Welt der Erscheinungenhat doch zu feste Umrisse, so daß sie alsbloße Ausströmung des eignen Ichs erfaßt werdenkönnte. So wird ganz deutlich hingewiesen auf denGegensatz zwischen der – festen Kausalgesetzen unterliegendenund darum notwendig dem Wechsel undder Vergänglichkeit verfallenen – Welt der Erscheinungen,und dem sie bedingenden, in Freiheit wirkendenDing an sich, dessen Unerkennbarkeit behauptetwird (I, 1). Diese Welt der Erscheinungen geht durcheine Art von Emanationsprozeß aus dem ewig jenseitigenUrsein hervor (vgl. I, 2) und faltet sich, in derEndlichkeit angelangt, in die Welt der sich bedingendenund bekämpfenden Gegensätze auseinander. Zudieser Welt gehören sowohl die unsichtbaren, geisti-


gen Gebiete, die man Himmel nennt, als die grobstofflichsichtbaren Gebiete, die mit dem Namen Erdebezeichnet werden, als auch der Vermittlungspunktzwischen beiden: Der Mensch. Man muß daran festhalten,daß die Ausdrücke Himmel und Erde geradebei <strong>Liä</strong> Dsï, wie übrigens auch sonst im chinesischenDenken, keine individuellen Begriffe sind, sondernModi des Seins, die man ebensowohl als Geist undMaterie, wie auch als Denken und Ausdehnung bezeichnenkönnte, wodurch klar wird, inwiefern diegeistleibliche Daseinsform, die Mensch genannt wird,ebenfalls zu den kosmischen Potenzen gerechnet werdenkann.Die erkenntnistheoretische Arbeit, die in unseremBuch geleistet wird, ist nicht gering anzuschlagen. Sosind die Antinomien der reinen Vernunft in einer Fassung,die der Kantischen recht nahekommt, aufgestellt(V. 1, 2). Auch ihre Unlösbarkeit ist im Prinzip ausgesprochen,wenngleich die Neigung besteht, in allenFällen die Kantische Antithese zu betonen. Dies zeigteinen einheitlichen Zug der Gedankenentwicklung,der aus dem dynamischen Relativismus, der dieGrundanschauung bildet, sich ungezwungen erklärenläßt. In doppelter Weise ist der Mensch in den Weltzusammenhangnotwendig verstrickt. Einmal, soferner Erscheinung ist, ist er das Produkt einer besonderenKonstellation der Elmente, die den Metamorphosen


des Lebensverlaufs in der Welt zugrunde liegen. Ertaucht auf aus diesem Triebwerk und kehrt zurück indieses Triebwerk. Geburt und Tod bedingen sich gegenseitigund schließen den Kreis (vgl. I, 4 und folgende).Das Leben des Individuums ist bloß eine zufälligeErscheinung ohne Dauer, nur abhängig davon,wie gerade jene Elemente zusammentreten. Es kannWesen geben, die zwar dem Leibe nach Menschengleichen, im Innern aber Tiere sind, ebenso wie derumgekehrte Fall eintreten kann. Auf diese Weiseüberbrückt sich für unser Werk die schroffe Kluftzwischen Mensch und Tier (II, 18). Zum Verständnisdieser Auffassung lohnt es sich, das Gespräch, dasGoethe mit Falk an Wielands Begräbnistag über dieMonaden geführt hat, zu vergleichen. Die andere Artder Abhängigkeit des Menschen besteht darin, daß dieganze Erfahrungswelt, die er besitzt, ihm von außenaufgezwungen wird. Gewiß liegen im Menschenwesennotwendige Formen (Kategorien), in die sich alleErlebnisse einordnen (III, 4); aber diese Kategoriensind bloße Möglichkeiten. Ihre Erfüllung hängt vonder Außenwelt ab. Diesen äußeren Einflüssen istebensowohl der Körper als der Geist des Menschenzugänglich. Die Erfahrungen, die durch körperlicheEinwirkungen gemacht werden, konstituieren daswache Leben. Die Erfahrungen, die sich nur auf diePsyche erstrecken, nennt man Traum. Ein objektives


Kriterium für die Wertung von Wachen und Traumexistiert nicht (III, 5 ff), ebensowenig wie für die Bestimmungdessen, was geistig normal und abnorm ist(III, 9). Die übliche Wertung ist nur eine Sache derKonvention.Es verdient bemerkt zu werden, daß neben demdurchgängigen Kausalzusammenhang, der mit gesetzmäßigerNotwendigkeit alles Geschehen bestimmt,ein Platz für die freie Betätigung des Menschen nichtmehr übrig ist (VI, 1). Konsequenterweise wird derDeterminismus auf das Innenleben ganz ebenso angewandtwie auf das äußere Geschehen (VI, 10). DerSchein der Freiheit entsteht nur aus der Stetigkeit derÜbergänge. Ebenso wie der Wandel in der Zeit so allmählichist, daß er sich immer erst in größeren Abschnittenerkennen läßt (I, 10), sind auch die Unterschiededer Schicksale in ihren Anfangspunkten sogering, daß sie verwechselt werden (VI, 2. 11). Obwohldann jedes seinen ganz bestimmten Verlaufnimmt, entsteht auf diese Weise doch der Schein, alskönnten aus denselben Bedingungen sich ganz verschiedeneErgebnisse entwickeln, zumal da jederMensch unmittelbar nur seine eigne psychische Strukturkennt und sie zum Maßstab nimmt für die Beurteilungder anderen (vgl. VI, 10).Außer diesem durchgehenden Kausalzusammenhang,dessen Erkenntnis für den »Berufenen«, der


sein Urgesetz, den SINN, durchschaut, wenigstensprinzipiell möglich ist, werden aber auch noch besondereKomplexe angenommen, die auf sich selbst beruhenund ihren eigenen Gesetzen folgen (V, 5. 6; VI, 5.7. 9). Diese Zusammenhänge, die gewissermaßen fürsich bestehende Inseln des Zufalls oder der Freiheitinnerhalb des großen Weltgeschehens bilden, erinnernin manchem an das, was Goethe das »Dämonische«genannt hat. Vgl. Dichtung und Wahrheit, Band XX:»Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten,der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdekken,das sich nur in Widersprüchen manifestierte unddeshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unterein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich,denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, dennes hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es warwohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreudemerken. Es glich dem Zufall, denn es bewieskeine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deuteteauf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt,schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit dennotwendigen Elementen unseres Daseins willkürlichzu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte denRaum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallenund das Mögliche mit Verachtung von sich zustoßen.«Soweit ungefähr dürfte die Grundlage gehen, die


Yang Dschu und <strong>Liä</strong> Yü Kou gemeinsam ist. In allemWeiteren divergieren sie. Yang Dschu scheitert an derZusammenfassung der Gegensätze, die darin liegen,daß einerseits die strikteste Notwendigkeit herrscht,die sowohl die Handlungen der Einzelnen als auchihre Schicksale zwingend gestaltet, anderseits dieseNotwendigkeit als blindes Fatum waltet, in dem keinvernünftiger Sinn zu entdecken ist. In der Klage überdie Eitelkeit der Welt findet er Töne, die ihn dem»Prediger Salomo« verwandt erscheinen lassen. Dasein Blick ausschließlich auf das diesseitige Lebengerichtet ist, das mit dem Tode notwendig in Moderund Fäulnis übergeht, so kann er natürlich auch keineidealen Güter anerkennen. Alle die Ziele, die dieMenschen sich stecken, von der Erlangung des Nachruhmsab bis zum Streben nach einer moralischen Gestaltungdes Lebens unter der Herrschaft fester Maximen,sind für ihn eitel Lug und Trug: Tyrannen, dieden Menschen ketten, und ihn um das einzige was erhat, sein Leben, betrügen, während sie keinerlei Ersatzfür das Verlorene zu bieten vermögen (vgl. BuchVI und VII): Es sind alles nur leere Ansichten, dieden Menschen in seinem Streben nach Leben in dieIrre führen wie ein verlorenes Schaf (VIII, 23). Damitbricht naturgemäß auch der ganze Bau der Kultur innichts zusammen, und alle gesellschaftlichen Beziehungenverlieren ihre wesentliche Bedeutung. Höch-


stens als zweckmäßige Konventionen, sich gegenseitigdas Leben erträglich zu gestalten, kommen sie inBetracht (VII, 6). Die Ethik des Yang Dschu entsprichtdiesen Prinzipien. Menzius hat ihm den Vorwurfdes Egoismus gemacht und ihn deswegen, weiles keinen Fürsten für ihn gebe, unter die Tiere gerechnet.Man muß zugeben, daß Menzius instinktiv dieunüberbrückbare Kluft herausgefunden hat, durch dieer von Yang Dschu getrennt ist. Aber dennoch ist derVorwurf des banalen Egoismus unberechtigt. Das Individuumals solches hat für Yang Dschu wenig Interesse,höchstens ist es die Menschheit im allgemeinen,die die individuellen Schicksale der Einzelnenmit all ihren Gegensätzen, all ihrem Leid und ihrerFreude gleichzeitig durchlebt (VII, 3). Für den Einzelnenhandelt es sich demgemäß darum, daß er sicheinfach auslebt (VII, 7), daß er sich all den Regungen,die in seiner Natur begründet sind, rückhaltlos überläßt,unbekümmert darum, zu welchen Folgen es führt(VII, 8). Denn trotz des Lebens Unverstand lohnt essich nicht, gewaltsam dem Leben ein Ende zu machen,weil auch dazu kein zureichender Grund vorliegt(VII, 10). Vielmehr ist für ihn der einzig möglicheStandpunkt der, sich treiben zu lassen und zuzusehen,was daraus wird; sich dem Leben zu überlassenmit seinen Trieben und zuzusehen, wohin sie führen;und kommt der Tod heran, sich der Auflösung


und Verwesung zu überlassen und zuzusehen, wasdaraus wird.Der Standpunkt Yang Dschu's ist durchaus konsequent,und er hat auch die unerfreulichen Folgerungendaraus gezogen, ohne durch irgendwelche Phrasen eszu beschönigen oder abzumildern. Höchstens eine Inkonsequenzkönnte man ihm vorwerfen, nämlich die,daß er gegen die Moral und ihre »Unersättlichkeit«polemisiert hat (VII, 4. 18). Das darf ein Prophet desÜbermenschentums tun, der neue Werte an die Stelleder alten zu setzen sich berufen fühlt; in YangDschu's Prinzipien liegt keine Veranlassung dazu vor.Gerade indem er selbst das Recht für sich in Anspruchnimmt, sich auszuleben, muß er auch den anderen,deren Wesen durch sittliche Grundsätze bestimmtwird, dieses Recht einräumen.Ganz anders sind die Folgerungen, die <strong>Liä</strong> Yü Kouaus den gemeinsamen Prämissen zieht. Gewiß, auchfür ihn verliert das empirische Dasein mit der Zweideutigkeitseines Sinns den wesentlichen Ernst. Erkann wohl einmal seiner Frau in der Haushaltung helfenoder ihre beweglichen Klagen lächelnd über sichergehen lassen (II, 13; VIII, 6); er kann wohl sich imBogenschießen üben (II, 5); und er kann selbst – aufdem Wind nach Hause fahren (II, 3): das Leben, daser sucht, ist anderswo; denn er zieht das »Jenseits« inBetracht (IV, 15), das Jenseits nicht im Sinne einer


Fortsetzung des individuellen Daseins unter ähnlichenBedingungen wie jetzt (dieser vergröberte Unsterblichkeitsgedankefand doch recht spät erst in ChinaAufnahme); das Jenseits, das <strong>Liä</strong> Dsï wichtig nimmt,ist von dem Diesseits nicht räumlich oder zeitlich geschieden;es ist eine wesentlich andere Daseinsform.Ehe der Becher auf dem Tische leer wird, kann manjahrzehntelang Erlebnisse jenseitiger Art sich zueignen,ohne daß man sich darum vom Platze bewegenmüßte (III, 1), denn das Wandern im Höchsten ist wesentlichverschieden von der äußeren Ortsveränderung(IV, 7). Dieses Jenseits wird erreicht, indem man sichunabhängig macht von den drängenden Einwirkungender Außenwelt. Und das hinwiederum geschieht,indem man es aufgibt, nach außen hin seinen individuellenWillen durchsetzen zu wollen, und sich anpaßtan das große Urgesetz: den SINN, wie der Schattensich anpaßt an die Bewegungen des Leibes (VIII,1; IV, 15). In dieser Harmonie mit dem Unendlichen,wo die Unterschiede zwischen Ich und Nicht-Ich aufhören(II, 3), findet man die große Einheit, das Sein,das weit erhaben ist über allen Wechsel der Erscheinung,über Leben und Tod. (Vgl. die Unterhaltungüber das Totengebein am Wege I, 2).In dieser Einheit bekommt man dann die Gesetzedes Naturverlaufs souverän in die Hand14. NichtsÄußeres ist mehr imstande, den frei gewordenen Geist


zu hindern. Wenn schon die Konzentrierung der Seelenkräfte,die Macht des Glaubens (II, 6; V, 3) oderdas Hingenommensein vom Rausch (II, 4) oder fixenIdeen Wunder zu wirken vermag; wenn die ganzeWelt, wie sie für uns ist, im wesentlichen davon abhängt,Huang Di, der Herr der gelben Erde


Der Große Yü, der Ordner des WassersSchen Nung, der göttliche Landmann


Herrscher Yauwie wir sie mit unseren Augen sehen (VIII, 31. 32):wieviel mehr wird der, der die Einheit erlangt hat, indem SINN ein freier Herr seines Schicksals sein! Istdoch das Schicksal nichts weiter als nur das Echo undSpiegelbild unserer Gesinnung und Taten (VIII, 1). Jasoweit reicht die Macht des Adepten, daß er selbstkosmische Zustände der grauen Vorzeit in seinem Ichnachzubilden vermag (II, 13) und ebenso die Zukunfterkennt aus ihren in der Gegenwart schon vorhandenenBedingungen. Aber der Weise, der diese Kräfteder Magie besitzt, wird sie nicht verwenden zu müßigenSpielereien, vielmehr weiß er sie geschickt zuverbergen, daß ihre Wirkungen sich dem natürlichen


Verlauf der Dinge anpassen und in diesem schlichtenGewande sich den Augen der Neugierigen, die ihmsonst seine Ruhe nehmen würden, entziehen (III, 3; II,14).Es bleibt in der Schwebe, inwieweit die magischenKräfte, von denen <strong>Liä</strong> Dsï redet, einfach als Gleichnisinnerer Geisteszustände in Betracht kommen. Dieüberwiegende Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daßsie so aufzufassen sind, denn nichts liegt ihm fernerals die Sucht nach Wunderlichkeiten, wie sie späterim Taoismus sich entwickelt hat. Immerhin werdenwir gut tun, derartige Gedanken in der schwebendenStimmung zu belassen, in der sie auftreten, eingedenkdessen, daß die orientalische Psyche von der nüchternerenwestlichen recht wesentlich verschieden ist.<strong>Liä</strong> Dsïs Gedanken von Staat und Gesellschaft sindvon denen Yang Dschus ziemlich abweichend. Aucher steht freilich dem praktischen Staatsleben seinerZeit ferne und vermeidet es ängstlich, seine Fähigkeitenim Staatsdienst zu verwenden (II, 14). Wohl aberist für ihn die menschliche Gesellschaft eine wesentlicheGröße (VIII, 2). Ihre Organisation sucht er inderselben Richtung, wie Laotse es tat. Die anziehendenUtopien, die er an verschiedenen Stellen gibt,sowie die Erzählungen von den Herrschern der Urzeit(II, 1. 2; III, 1; V, 2) sind ein Beleg dafür. Den brutalenKampf ums Dasein,


Der Tyrann Giä aus der Hia DynastieDer Herrscher Schungda nur der Stärkste Sieger bleibt, hat er als einesEdlen unwürdig bezeichnet.


So finden wir in <strong>Liä</strong> Dsï eine im ganzen durchausadäquate Ausführung und Weiterbildung der Geistesrichtung,die uns im Taoteking vorliegt. Was dort indunkeln Aphorismen stammelnd ausgesprochen ist,ist hier Poesie geworden und in stilistisch fein geschliffenenGleichnissen zur bildlichen Darstellunggebracht. In Dschuang Dsï fand dann diese Richtungihren Höhepunkt und Abschluß.


Fußnoten1 Die Verfasser des großen Kataloges der KaiserlichenBibliothek machen darauf aufmerksam, daß, dadieses Buch über den König Mu erst in der <strong>Dsi</strong>n-Dynastiewieder aufgefunden worden sei, ein Fälscheraus der Zeit der Han-Dynastie unmöglich diesenStoff, der in <strong>Liä</strong> Dsï doch enthalten ist, hätte bringenkönnen, so daß auch hierin ein Indizium zugunstender Echtheit des Buches liegt.2 Wörtlich: Diebe, Schädiger. Gemeint sind wohl diefünf atmosphärischen Einflüsse: Regen, der dem Elementdes Holzes entspricht; Klarheit, die dem ElementMetall entspricht; Hitze, die dem Element Feuerentspricht; Kälte, die dem Element Wasser entspricht;Wind, der dem Element Erde entspricht. Gewalttäterheißen diese Einflüsse, weil jeder auf Kosten der anderensich durchsetzt. Auch die fünf Planeten könnendamit gemeint sein.3 Durch die fünf Sinne: Gehör, Gesicht, Geruch, Geschmack,Gefühl, die den fünf Eingeweiden: Herz,Leber, Magen, Lungen, Nieren entsprechen, hat derMensch als Mikrokosmos Teil an den kosmischen Potenzen.


4 Nämlich: Augen, Ohren und Mund.5 Weil jedes von den andern lebt.6 Nämlich: Himmel, Erde und Mensch.7 Wörtlich: Ihr Rauben geschieht mechanisch, d.h.durch das Triebwerk.8 Nach dem Kommentar ist die erste Umkehr die ausder Fülle der Zerstreutheit zur Einheit der Lebensenergie(Same), die zweite Umkehr von da zur psychischenKraft, die dritte Umkehr von da zum geistigenDasein.9 D.h. nach blinden Naturgesetzen, nicht aus besonderenAbsichten der Götter.10 D.h. durch Astrologie und Mantik.11 Nämlich die 8 Diagramme, in denen das Geheimnisder bestehenden Welt ausgedrückt ist, und die 60zyklischen Zeichen (Gisa Dsï), durch die die Zeit geordnetwird.12 Wörtlich: Triebwerk.13 Vgl. Grube, Religion und Kultus der Chinesen,Leipzig 1910, pag. 81.14 Dies ist ein Gedanke, der auch sonst in der Mystiksich häufig findet.


Buch IOffenbarungen der unsichtbaren Welt»Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis / DasUnzulängliche / Hier wird's Ereignis.«1. Vom Ding an sichMeister <strong>Liä</strong> Dsï wohnte in einem Garten zu Dschengvierzig Jahre lang, und niemand kannte ihn. Vor denAugen des Landesfürsten und der hohen Würdenträgerwar er wie einer aus der Menge des Volkes. Esentstand aber Mangel im Lande, und er machte sichauf, aus seiner Heimat nach We zu ziehen. Da sprachenseine Schüler: »Meister, du gehst, und deineRückkehr ist unbestimmt, darum wagen wir Schülerum etwas zu bitten, worüber uns du, Meister, belehrenmögest: Hast du, Meister, nicht die Reden des HuKiu Dsï Lin gehört?«Meister <strong>Liä</strong> Dsï lächelte und sprach: »Ja, was hatdenn Meister Hu gesagt? Immerhin; der Meister unterhieltsich oft mit Be Hun Wu Jen, und was ich gehört,wenn ich daneben stand, will ich versuchen,euch zu sagen. Seine Reden lauteten also: Es ist einZeugendes, das nicht erzeugt ist; es ist ein Wandeln-


des, das sich nicht wandelt. Das Unerzeugte hat Freiheit,Zeugendes zu zeugen, das Unwandelbare hatFreiheit, Wandelndes zu wandeln. Das Erzeugte mußaber notwendig weiter zeugen, das Wandelbare mußnotwendig sich weiter wandeln. Darum ist es immerim Zeugen und Wandeln begriffen. Das immer imZeugen und Wandeln Begriffene hört niemals auf, zuzeugen und sich zu wandeln; so verhält es sich mitLicht und Finsternis, so verhält es sich mit den vierJahreszeiten.Das Unerzeugte ist vermutlich einzig. Das Unwandelbarewallt im unendlichen Raum hin und her, ohnedaß es in seinem Pfade an eine Grenze käme. Im Buchdes Herrn der gelben Erde steht:Der Geist der Tiefe stirbt nicht.Er ist das Ewig Weibliche.Beim Ausgang des Ewig WeiblichenLiegt die Wurzel von Himmel und Erde.Endlos drängt sich's und ist doch wie beharrend.Der es wirkt, bleibt ohne Mühe.Darum ist das, was alle Wesen erzeugt, unerzeugt;was alle Wesen wandelt, unwandelbar. Von ihm gehtin Freiheit alles Zeugen aus, von ihm alle Wandlung,von ihm alle Form, von ihm alle Farbe, von ihm alleErkenntnis, von ihm alle Stärke, von ihm alle Abnah-


me, von ihm alle Ruhe. Wollte man es aber als Zeugen,Wandlung, Form, Farbe, Erkenntnis, Stärke, Abnahme,Ruhe bezeichnen, so wäre das falsch.«


2. WeltentstehungMeister <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Die alten Weisen nahmendas Lichte und das Finstere als Grundursache derWelt. Aber alles Körperliche entsteht aus Unkörperlichem;so muß doch auch die Welt einen solchen Ursprunghaben. Darum sage ich: Es gibt eine Urwandlung,einen Uranfang, ein Urentstehen, eine Urschöpfung.Die Urwandlung ist der Zustand, da die Kraft nochnicht sich äußert. Der Uranfang ist der Zustand, dadie Kraft entsteht. Die Urentstehung ist der Zustand,da die Form entsteht. Die Urschöpfung ist der Zustand,da der Stoff entsteht. Den Zustand, da Kraft,Form und Stoff noch ungetrennt durcheinander sind,nennt man Dasein. Dasein bedeutet den Zustand, dadie Dinge miteinander und durcheinander sind undnoch kein gesondertes Fürsichsein haben.›Schaut man darauf, so sieht man nichts, horchtman danach, so hört man nichts, verfolgt man es, soerhält man nichts; darum heißt es das Wandelbare.‹Als das Wandelbare hat es keine Schranke der Form.Dieses Wandelbare wechselt und wird zur Eins.Die Eins wechselt und wird zur Sieben. Die Siebenwechselt und wird zur Neun. Die Neun ist der Endpunktdieses Wechsels. Aber sie wechselt noch ein-


mal und wird wieder zur Eins. Diese Eins ist die Entstehungder wechselnden Formenwelt. Das Reine undLeichte steigt empor und wird (zur unsichtbarenWelt) zum Himmel. Das Trübe und Schwere senktsich herab und wird (zur sichtbaren Welt) zur Erde.Das, wovon die einigende Kraft ausstrahlt, wird zumMenschen. Darum enthalten Himmel und Erde denSamen, aus dem alle Dinge durch Wandlung erzeugtwerden.«


3. Das Ewige im EndlichenMeister <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Himmel und Erde sind nichtvollkommen, der berufene Mensch ist nicht allmächtig,und die Geschöpfe sind nicht durchaus verwendbar.Denn des Himmels Funktion ist, zu zeugen undzu schirmen, der Erde Funktion ist, zu gestalten undzu tragen, des Berufenen Funktion ist, zu lehren undumzugestalten, der Geschöpfe Funktion ist, ihrer Artzu entsprechen. Nun aber gibt es Beziehungen, woder Himmel der Erde gegenüber im Rückstand ist,und der Berufene den Geschöpfen gegenüber begrenztist. Wie kommt das? Das Zeugend-Schirmende vermagnicht gestaltend zu tragen, das Gestaltend-Tragendevermag nicht belehrend umzugestalten. Der Belehrend-Umgestaltendevermag nichts wider die Naturder Dinge. Das Naturgesetzlich-Bestimmte verläßtnicht seine Stellung. Darum ist der Lauf der Welt beschränktauf den Wechsel von Licht und Finsternis,die Lehre des Berufenen beschränkt auf Liebe undPflicht, die Art der Geschöpfe beschränkt auf Weichheitund Härte. Jedes folgt seiner Art und kann überseine Stellung nicht hinaus.Nun aber gibt es außer dem Vorgang des Zeugensnoch etwas, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird;außer dem Vorgang des Gestaltens noch etwas, wo-


durch das Gestalten zum Gestalten wird; außer demVorgang des Tönens noch etwas, wodurch das Tönenzum Tönen wird; außer dem Vorgang der Farbenentstehungnoch etwas, wodurch die Farbe zur Farbewird; außer dem Vorgang der Geschmackserzeugungnoch etwas, wodurch der Geschmack zum Geschmackwird.Was durch das Zeugen erzeugt wird, ist der Tod;aber das, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, istnoch nie zu Ende gekommen. Was durch das Gestaltengestaltet wird, ist die Masse; aber das, wodurchdas Gestalten zum Gestalten wird, ist noch nie insDasein getreten. Was durch das Tönen erzeugt wird,sind die Gehörsempfindungen; aber das, wodurch dasTönen zum Tönen wird, ist noch nie herausgekommen.Was durch die Farben erzeugt wird, sind bunteGesichtseindrücke; aber das, wodurch die Farbe zurFarbe wird, ist noch nie sichtbar geworden. Wasdurch das Schmecken geschmeckt wird, sind Geschmacksempfindungen;aber das, wodurch dasSchmecken zum Schmecken wird, hat sich noch niemalsdargeboten.Das alles sind die Wirkungen des Nichtseienden.Es vermag in sich die Gegensätze zu vereinen: dasTrübe und Lichte, das Weiche und Harte, das Kurzeund Lange, das Runde und Eckige, das Leben und denTod, Hitze und Kälte, Schwimmen und Untersinken,


Grundton und Sekunde, Erscheinen und Verschwinden,Dunkles und Gelbes, Süßes und Bitteres, Übelriechenund Duften: Es hat kein Wissen und keinKönnen und ist doch allwissend und allmächtig.«


4. Die TotengebeineKreislauf des LebensDer Meister <strong>Liä</strong> Dsï ging nach We. Er aß unterwegs.Seine Jünger sahen hundertjähriges Totengebein. Siebogen das Gestrüpp zurück und zeigten es ihm. Erwandte sich und sprach zu seinem Jünger Be Feng:»Ich und dieser da: wir beide haben erkannt, daß esetwas gibt, das noch nie gezeugt und noch nie gestorbenist: das ist jenseits von aller Nahrung, jenseitsvon aller Freude.«Der Lebenskeim (das Plasma) hat Metamorphosen.Er wandelt sich in Pflanzen und Tiere, je nach denBedingungen, die er vorfindet. Auch der Mensch erscheintim Lauf dieser Metamorphosen und kehrt wiederin diesen Kreislauf zurück. Alle Geschöpfe kommenaus diesem Kreislauf hervor und gehen wieder indiesen Kreislauf zurück.Im Buche des Herrn der gelben Erde steht: »Wirktdie Form, so entsteht nicht Form, sondern Schatten;wirkt der Ton, so entsteht nicht Ton, sondern Echo;wirkt das Nichtsein, so entsteht nicht Nichtsein, sondernSein.« Die Form ist etwas, das notwendig endet;Himmel und Erde werden vergehen, zusammen mituns vergehen. Ob es dann ganz zu Ende ist? Wir wis-


sen es nicht. Wie sollte der Sinn des Weltgeschehensenden, da er doch seinem Wesen nach ohne Anfangist? Wie sollte er an eine äußerste Grenze kommen,da er doch seinem Wesen nach jenseits des zeitlichenDaseins ist? Was Leben hat, kehrt wieder zum Nichtleben;was Form hat, kehrt wieder zum Formlosen.Dieses Nichtlebende ist aber nicht seinem Wesennach jenseits des Lebens; dieses Formlose ist abernicht seinem Wesen nach jenseits der Formenwelt.Alles Lebendige muß nach notwendigen Gesetzen endigen.Es ist etwas, das endigt und nicht anders kannals endigen, ebenso wie das Erzeugte nicht anderskann als leben.Wer sein Leben bewahren möchte und seine Endeverhindern, der irrt sich in den Naturverhältnissen.Was geistig ist, ist Teil des Himmels, was leiblich ist,ist Teil der Erde. Was dem Himmel angehört, ist reinund flüchtig; was der Erde angehört, ist trübe undhaftend. Wenn der Geist die Form verläßt, so kehrtbeides zurück zu seinem wahren Wesen. Darum heißensie die Heimgegangenen. »Heimgegangene«kommt von »heimgehen«, heimgehen in seine wahreBehausung.Der Herr der gelben Erde sprach:»Der Geist geht ein zu seinen Toren,Der Leib kehrt heim zu seiner Wurzel,


Wie soll das Ich da dauern können?«Der Mensch macht von seiner Geburt bis zu seinemEnde vier große Wandlungen durch: Kindheit, Jugend,Alter, Sterben. In der Kindheit ist die Lebenskraftgesammelt, der Wille einheitlich, der innereFriede ist auf seinem Höhepunkt. Die Außenweltschadet nicht, das Wesen ist in sich vollkommen. Inder Jugend wallt die Lebenskraft des Blutes; Wünscheund Sorgen erheben sich, die Außenwelt stürmtein, daher reibt sich das Wesen auf. Im Greisenalterwerden Wunsch und Sorge schwach. Der Leib suchtRuhe, die Welt tritt zurück. Wohl ist die Völligkeitder Kindheit nicht erreicht, doch ist ein Abstand vonder Jugendzeit. Im Sterben, da geht es zur Ruhe undkehrt zu seinem Anfang zurück.


5. Der alte vom TaischanbergGründe der ZufriedenheitMeister Kung wanderte im Taischangebirge. Da saher den Yung Kiki auf den Wiesen von Tscheng umhergehenim Rehpelz und mit einem Strick gegürtet.Er schlug die Laute und sang.Meister Kung fragte und sprach: »Was ist es, worüberIhr fröhlich seid?« Er erwiderte: »Meiner Freudensind viele. Unter allen Geschöpfen, die der Himmelerzeugt, ist der Mensch das edelste. Und mir istes zuteil geworden, Mensch zu sein: das ist meineerste Freude. Der Unterschied zwischen Mann undWeib ist, daß der Mann geehrt, das Weib gering ist;darum gilt der Mann für edler. Nun ist es mir zuteilgeworden, daß ich ein Mann bin: das ist meine zweiteFreude. Unter den Menschen, die geboren werden,gibt es solche, die weder Sonne noch Mond erblicken,die nicht den Arm der Wärterin verlassen. Nun wandereich schon 90 Jahre umher: das ist meine dritteFreude. Armut ist das beständige Los des Gelehrten,der Tod ist das Ende aller Menschen. Wenn man indieser beständigen Lage verweilend das Ende erreicht:Worüber sollte man da traurig sein?«Meister Kung sprach: »Wohl dem, der so sich


selbst befreien kann.«


6. Der alte Lin LeVerschiedene Wertung von Leben und TodLin Le (Waldmensch) war wohl hundert Jahre alt. Eswar Frühlingszeit, und er war noch in Pelz gehülltund las zurückgelassene Ähren auf den abgeerntetenFeldern auf und sang im Gehen. Meister Kung, aufseiner Reise nach We, erblickte ihn auf dem Feld. Ersah nach seinen Jüngern um und sprach: »Der Alte daist jemand, mit dem sich's lohnt zu reden. Versuche esdoch einer, hinzugehen und ihn zu fragen!« Dsï Gungbat, gehen zu dürfen.Er holte ihn ein auf einem Hügel, sah ihm geradeins Gesicht und sagte seufzend: »Alter, tut Euchnichts leid, daß Ihr so singend umhergeht und Ährenleset?« Lin Le hielt nicht ein im Gehen und hörtenicht auf zu singen. Dsï Gung drang unablässig inihn. Da wandte er sich ihm zu und antwortete: »Wassollte mir denn leid tun?« Dsï Gung sprach: »Ihr wartin der Jugend nicht strebsam; als Ihr erwachsen wart,habt Ihr nicht mit der Zeit gekämpft; jetzt seid Ihr altund habt nicht Weib noch Kind, und die Zeit desTodes naht heran. Was habt Ihr da noch Grund zurFreude, daß Ihr beim Ährenlesen singt?«Lin Le lächelte und sprach: »Was ich für Freude


achte, können alle Menschen haben, aber sie halten esfür Leid. Weil ich in der Jugend nicht gestrebt und alsErwachsener nicht mit der Zeit gekämpft, darum habeich es auf ein so hohes Alter gebracht. Weil ich imAlter nicht Weib noch Kind habe, und es kommt derTod heran, darum kann ich so fröhlich sein.«Dsï Gung sprach: »Hohes Alter ist etwas, das nachdem Gefühl der Menschen gut ist; aber der Tod istetwas, das die Menschen hassen: wie könnt Ihr dennden Tod für Freude achten?« Lin Le sprach: »Sterbenund Leben ist ein Gehen und Zurückkehren. Darum,wer hier stirbt: wer weiß, ob er nicht dort geborenwird? Ich weiß nur, daß beides einander nicht gleichist. Wie kann ich wissen, ob einer, der mit Müh' undNot sein Leben sucht, nicht am Ende betrogen ist?Wie kann ich wissen, ob heute mein Tod nicht etwasBesseres ist als früher mein Leben?«Dsï Gung vernahm es, aber verstand nicht, was ermeinte. Er ging zurück, um es dem Meister zu sagen.Der Meister sprach: »Ich wußte, daß er einer ist, mitdem sich's lohnt zu reden, und richtig war es so.Wahrlich, er hat es erfaßt, aber nicht erschöpft.«


7. Dsï Gung und der MeisterIm Grab ist RuhDsï Gung war des Lernens müde und sagte zuDschung Ni (Konfuzius): »Ich möchte Ruhe finden.«Dschung Ni sprach: »Das Leben hat keine Ruhe.« DsïGung sprach: »Dann gibt es also keine Ruhe fürmich?« Dschung Ni sprach:»O ja; sieh dort im Brachfeld alle die Gräber, soweißt du, wo es Ruhe gibt.« Dsï Gung sprach:»Wahrlich, groß ist der Tod; die Edlen bringt er zurRuhe, die Gemeinen zur Unterwerfung.«Dschung Ni sprach: »Sï, du hast es erkannt. DieMenschen im allgemeinen wissen nur, daß das Lebeneine Freude ist, aber nicht, daß es auch bitter ist. Siewissen nur, daß das Alter hinfällig ist, aber nicht, daßes auch friedlich ist. Sie wissen nur, daß der Tod einÜbel ist, aber nicht, daß er auch Ruhe gibt.«


8. Von der Irdischen PilgerschaftMeister Yän sprach: »Wie schön dachten die Altenvom Tode! Die Guten bringt er zur Ruhe, dieSchlechten bringt er zur Unterwerfung. Der Tod istdie Rückkehr des Wesens. Die Alten nannten die VerstorbenenHeimgegangene. Wenn man von den Verstorbenenals von Heimgegangenen redet, dann sinddie Lebenden Wanderer. Wer wandert und weiß nichtwohin, ist heimatlos. Wenn ein einzelner Menschseine Heimat verloren hat, so hält das die ganze Mitweltfür unrecht. Nun aber die ganze Welt ihre Heimatverlor, ist niemand der es unrecht fände.Wenn ein Mensch aus seiner Heimat wegläuft,seine Verwandten verläßt, sein Vermögen verpraßtund in alle Himmelsrichtungen wandert und nichtheimkehrt, wahrlich: was ist das für ein Mensch! DieWelt hält ihn sicher für einen Verlorenen. Da ist einanderer Mensch, der das äußere Leben wichtig nimmt,geschickt ist sich einen Namen zu machen und großartigauftritt in der Welt und keine Grenzen kennt,wahrlich: was ist auch der für ein Mensch! Aber dieWelt hält ihn sicher für einen weisen und klugenHerrn. Aber beide sind Verlorene. Doch die Welt billigtden einen und verwirft den anderen, und nur derBerufene weiß, was zu billigen und was zu verwerfen


ist.«


9. Die LeereEs sagte jemand zu Meister <strong>Liä</strong> Dsï: »Wie kann derMeister die Leere so hochschätzen!« <strong>Liä</strong> Dsï sprach:»Die Leere braucht keine Hochschätzung. Es kommtnicht auf den Namen an. Nichts kommt der Stille,nichts der Leere gleich. Durch Stille, durch Leere findetman die Heimat, durch Nehmen und Geben verliertman seinen Ort. Wenn eine Sache verdorben undzerstört ist, und man fuchtelt nachher herum mit Liebeund Pflicht, so kann man sie nicht wieder gut machen.«


10. Das Gleichgewicht der KräfteStetige WandlungYü Hiung sprach: »Der Kreislauf hört nicht auf. Weraber merkt die verborgenen Veränderungen von Himmelund Erde? Denn wenn die Dinge auf der einenSeite verringert werden, so werden sie auf der anderenSeite vermehrt; wenn sie hier voll werden, so nehmensie dort ab. Verringerung und Vermehrung, Vollwerdenund Abnehmen werden fortwährend erzeugt undhören fortwährend auf, ihr Gehen und Kommen istmiteinander verbunden durch unsichtbare Übergänge.Wer merkt es wohl? Überall nimmt eine Kraft nichtplötzlich zu, nimmt eine Form nicht plötzlich ab,darum bemerkt man auch ihr Vollwerden und ihr Abnehmennicht. Es ist wie bei dem Menschen, der vonder Geburt bis zum Alter im äußeren Aussehen undim Stand seiner Erkenntnis sich täglich ändert: Haut,Nägel und Haare werden fortwährend erzeugt und fallenfortwährend ab. Nicht gibt es ein Stillstehen aufder Stufe der Kindheit ohne Wandlung. Die Übergängesind unmerklich; erst hinterher erkennt man es.«


11. WeltuntergangIm Reiche Gi lebte ein Mann, der war in Sorgen, daßHimmel und Erde untergehen könnten, so daß fürseine Person keine Stätte mehr sein würde. Und erschlief nicht mehr und aß nicht mehr. Und da war einanderer Mann, der war in Sorgen über die Sorgenjenes Menschen. Und er ging hin, ihn aufzuklären. Ersprach: »Der Himmel ist die Ansammlung der Luft.Es gibt keinen Raum ohne Luft. Zusammenziehen undAusdehnen, Einatmen und Ausatmen wechselt täglichim Himmelsraum ab. Warum sollte man besorgt sein,daß er einfallen könnte?«Der andere sprach: »Wenn wirklich der Himmeldie Ansammlung der Luft ist: können dann aber nichtSonne, Mond und Sterne herunterfallen?« Der Aufklärersprach: »Sonne, Mond und Sterne sind nur Lichterscheinungenin dieser Luftansammlung. Laß sie nurherunterfallen: auch dadurch kann niemand verletztwerden.«Der andere sprach: »Ja, aber was dann, wenn dieErde entzweigeht?« Der Aufklärer sprach: »Die Erdeist die Ansammlung der festen Teile, mit denen derganze leere Raum ausgestopft ist. Es gibt keinenRaum ohne feste Teile. Täglich geht und tritt manfortwährend darauf herum: warum sollte man besorgt


sein, daß sie entzweigeht?«Da ließ jener seine Sorgen und hatte eine großeFreude, und der Aufklärer ließ auch seine Sorgen undhatte auch eine große Freude.Der Gelehrte Dschang Lu hörte das, machte sichüber ihn lustig und sprach: »Regenbogen, Wolkenund Nebel, Wind und Regen und die klimatischenVorgänge: das sind die Bestandteile der Luft, die inihrer Zusammensetzung den Himmel bilden. Bergeund Täler, Flüsse und Meere, Metalle und Gesteine,Feuer und Holz: das sind die Elemente der Form, diein ihrer Zusammensetzung die Erde bilden. Wennman nun weiß, daß sowohl die Luft als auch die festeMasse etwas Zusammengesetztes ist, wie kann mandann noch meinen, daß das nicht zugrunde geht?Was wir Himmel und Erde nennen, ist nur ein winzigesTeilchen im leeren Raum. Es ist freilich unbestreitbar,daß diese Dinge, die größten innerhalb desuns bekannten Seins, nicht leicht ein Ende nehmenund sich erschöpfen. Und es ist ferner unbestreitbar,daß es nicht leicht zu berechnen und erkennen ist.Das, worüber jener sich Sorgen machte: daß sie untergehen,liegt allerdings in weiter Ferne. Aber das, wasder andere sagte: daß sie nicht untergehen, ist auchnicht richtig. Himmel und Erde werden unvermeidlichuntergehen und sich in ihre Bestandteile auflösen, undwer gerade zur Zeit ihres Unterganges lebt, der hat ge-


wißlich Grund zur Sorge.«Meister <strong>Liä</strong> Dsï hörte es und sprach lächelnd:»Wer behauptet, daß Himmel und Erde untergehen,ist im Irrtum; wer behauptet, daß sie nicht untergehen,ist ebenfalls im Irrtum. Ob sie untergehen oder nicht,ist etwas, das wir nicht wissen können. Und doch behauptetder eine dies und der andere das. Das Lebenversteht den Tod nicht, und der Tod versteht dasLeben nicht. Die Zukunft versteht die Vergangenheitnicht, und die Vergangenheit versteht die Zukunftnicht. Warum also sollte ich mir darüber Gedankenmachen, ob Himmel und Erde untergehen oder nichtuntergehen?«


12. EigentumSchun (der große Herrscher) fragte den Dscheng undsprach: »Kann man den Sinn des Weltgeschehens sichzu eigen machen?« Der sprach: »Nicht einmal deinLeib ist dein Eigentum, wie willst du da den Sinnzum Eigentum dir machen?« Schun sprach: »Wennmein Leib nicht mein Eigentum ist, wessen Eigentumist er denn dann?« Jener sprach: »Er ist die Form, dieHimmel und Erde dir zugeteilt. Dein Leben ist nichtdein eigen, es ist das Gleichgewicht der Kräfte, dasHimmel und Erde dir zugeteilt. Deine Natur und deinSchicksal sind nicht dein eigen, sie sind der Lauf, denHimmel und Erde dir zugeteilt. Deine Söhne undEnkel sind nicht dein eigen, sie sind die Überbleibsel,die Himmel und Erde dir zugeteilt. Darum: wir gehenund wissen nicht wohin, wir bleiben, und wissen nichtwo, wir essen und wissen nicht warum: das alles istdie starke Lebenskraft von Himmel und Erde: werkann die sich zu eigen machen?«


13. Zweierlei RäuberIn Tsi lebte ein Mann namens Guo, der war sehrreich. In Sung lebte ein Mann namens Hiang, der warsehr arm und ging von Sung nach Tsi, um den MannGuo um sein Geheimnis zu bitten. Dieser sagte zuihm: »Ich bin tüchtig im Rauben. Nachdem ich Räubergeworden, da hatte ich im ersten Jahre schonetwas, im zweiten Jahr schon genug, im dritten Jahrschon ein großes Stück Land. Von da an ging es weiter,bis zum Besitz von ganzen Dörfern und Markungen.«Der Mann namens Hiang war hoch erfreut. Er hattewohl die Rede vom Räubersein verstanden, aber nichtden Sinn, in dem jener Räuber war. So fing er dennan, über Mauern zu klettern und in Häuser einzubrechen,und nahm alles, was ihm unter die Hände undvor Augen kam. Nicht lange, da wurde er wegen desangehäuften Raubs bestraft und verlor so noch allseine frühere Habe dazu.Er dachte, der Mann Guo habe ihn zum besten gehabt,ging hin und machte ihm Vorwürfe. Guo sprach:»Wie hast du denn das Räuberhandwerk betrieben?«Hiang erzählte nun, wie es ihm gegangen. Da sagteGuo: »Ei, daß du den Sinn des Räuberseins so mißverstehenkonntest! Nun will ich ihn dir erklären: Ich


habe sagen hören, daß der Himmel seine Zeiten unddie Erde ihre Gaben hat. Ich habe des Himmels Zeitenund der Erde Gaben geraubt, die Feuchtigkeit vonWolken und Regen, die Fruchtbarkeit von Berg undTal, um mein Korn zu erzeugen und mein Getreidefett zu machen, um meine Mauern zu bauen undmeine Häuser zu zimmern. Zu Lande raubte ich Vögelund Tiere, zu Wasser raubte ich Fische und Schildkröten.Alles war Raub. Denn Korn und Getreide,Erde und Holz, Vögel und Tiere, Fische und Schildkrötensind alle vom Himmel erzeugt und keineswegsmein Eigentum. Aber ich beraubte den Himmel undhatte deshalb kein Unglück. Gold aber und Edelsteine,Perlen, Kostbarkeiten, Lebensmittel, Reichtümerund Waren sind Dinge, die sich andere Menschenschon genommen haben, nicht freie Gaben des Himmels.Wenn man das raubt und wird dafür bestraft,wer kann sich darüber beklagen?«Der Mann Hiang kam in große Zweifel und meinte,Guo wolle ihn zum zweitenmal betrügen. Da begegneteer dem Herrn Dung Go, und fragte ihn, wie dassei. Der Herr Dung Go sagte: »Ist doch schon der Gebrauchdeines Leibes ein Raub. Du raubst das Gleichgewichtder beiden Weltkräfte, damit dein Leben wirdund deine Gestalt besteht. Wie viel mehr sind alle äußerenDinge Raub! In Wirklichkeit sind Himmel undErde und alle Geschöpfe untrennbar verbunden; die


die aufhäufen und besitzen wollen, sind alle im Irrtum.Der Mann namens Guo ist Räuber in selbstlosemSinn, darum traf ihn kein Unglück; du warstRäuber aus Selbstsucht, darum wurdest du bestraft.Wer ein selbstloses Selbst hat, ist auch ein Räuber,ebenso wie der, der kein selbstloses Selbst hat, istauch ein Räuber, ebenso wie der, der kein selbstlosesSelbst hat, ein Räuber ist. Daß aber Selbstlosigkeitauf Selbstlosigkeit trifft und Selbstsucht auf Selbstsucht,ist das Wesen von Himmel und Erde. Wer dasWesen von Himmel und Erde kennt: wer ist für denein Räuber und wer ist kein Räuber?«


Buch IIDer Herr der gelben Erde.Die Macht des Geistes»Statt heißem Wünschen, wildem Wollen / Stattläst'gem Fordern, strengem Sollen / Sich aufzugeben,ist Genuß.«1. UtopiaDer Herr der gelben Erde saß auf dem Throne fünfzehnJahre lang und freute sich darüber, daß die Weltihm diente. Er pflegte seines Lebens, er genoß Schönheitund Wohlklang und erfreute sich an Speisen undWohlgerüchen. Aber er ward bekümmert, also daßsein Fleisch verdorrte; er ward betrübt, also daß seineGefühle sich verwirrten.Abermals fünfzehn Jahre lang trauerte er, daß dieWelt in Unordnung sei. Er strebte nach Einsicht underschöpfte seine Weisheit und arbeitete am Volke.Aber er ward bekümmert, also daß sein Fleisch verdorrte;er ward betrübt, also daß seine Gefühle sichverwirrten.Da atmete der Gelbe Herr tief und sprach seufzend:


»Mein Fehler ist groß. Allein sein Selbst zu pflegenbringt solches Leid, alle Welt zu ordnen bringt solchesLeid.«Und so gab er auf seine tausend Gedanken, verließdie Schlafgemächer im Palast, entfernte die Diener, tatab das Glocken- und Saitenspiel, verringerte die Speisender Küche. Er zog sich zurück und wohnte inMuße in den Gemächern der großen Halle und sammeltesein Gemüt, daß er des Leibes wieder Meisterwürde. Drei Monate blieb er fern von den Geschäftender Regierung.Da schlief er einmal bei Tage ein und hatte einenTraum. Er wandelte im Reiche der Hua Sü. DiesesReich hat keine Herrscher: es geht alles von selber;das Volk hat keine Begierden: es geht alles von selber.Man weiß nichts von der Freude am Leben nochdem Abscheu vor dem Tod: darum gibt es keine Plagendes Himmels. Man weiß nichts vom Haften amSelbst noch von der Entfremdung von der Außenwelt:darum gibt es nicht Liebe noch Haß. Man weiß nichtsvon der Abkehr von Andersdenkenden noch von derZukehr zu Gleichgesinnten: darum gibt es nicht Nutzennoch Schaden. Keiner hat eine Vorliebe, keinerhat eine Abneigung. Sie gehen ins Wasser und ertrinkennicht, sie gehen ins Feuer und verbrennen nicht,Schläge machen nicht Wunden noch Schmerz, Kratzenmacht nicht Brennen noch Jucken. Sie steigen in


die Luft, wie man auf festen Boden tritt, sie ruhen imleeren Raum, wie man auf einem Bette schläft. Wolkenund Nebel umdüstern nicht den Blick. Donnerrollenbetäubt nicht das Ohr. Schönheit und Häßlichkeitbetören nicht das Herz. Berge und Täler behindernnicht den Schritt. In Kraft des Geistes wandeln sie.Als der Gelbe Herr erwachte, wurde er verstehendund kam zu sich selbst. Er berief seine drei MinisterHimmelgreis, Krafthirt und den Denker vom großenBerg. Er redet also zu ihnen: »Ich lebte in Muße dreiMonate lang und sammelte mein Gemüt, daß ich desLeibes wieder Meister würde, und dachte auf den Besitzdes rechten SINNES zur Pflege des Ichs und zurOrdnung des Erdkreises. Aber ich fand nicht die rechteArt. Da ward ich müde und schlief ein. Was ich geträumt,war also. Nun weiß ich, daß der letzte SINNnicht durch leidenschaftliches Suchen zu finden ist.Ich weiß ihn jetzt, ich habe ihn jetzt, aber euch kannich ihn nicht sagen.«Und abermals vergingen 28 Jahre, und der Erdkreiswar in guter Ordnung, fast wie das Reich der Hua Sü.Da ging der Herrscher zur Ruhe ein, und das Volk beweinteihn 200 Jahre lang ohne aufzuhören.


2. Der Götterberg im NordenDie Gu Schä Berge liegen auf einer Insel im Okeanos.Auf den Bergen wohnen selige Geister. Sie schlürfenden Wind und trinken den Tau und leben nicht vonBrot und Korn. Ihr Herz ist abgrundtiefer Quellegleich, ihr Leib jungfräulich. Sie wissen nichts vonZärtlichkeit und Liebe: Heilige und Weise sind beiihnen Diener. Sie wissen nichts von Scheu und Zorn:Aufrichtige und Redliche sind bei ihnen Boten. Siewissen nichts von Spenden und Gnade: und dochhaben alle Wesen von selbst genug. Sie wissen nichtsvon Sammeln und Sparen: und doch gibt es von selbstkeinen Mangel. Das Lichte und Trübe ist immer imEinklang; der Mond und die Sonne sind immer vollKlarheit; die Jahreszeiten sind immer milde; der Windund der Regen sind immer gleichmäßig; die Pflegeund Nahrung kommt immer zur Zeit; die Ernte desJahres ist immer voll Segen. Und die Erde kennt nichtSeuche noch Krankheit, die Menschen kennen nichtvorzeitiges Sterben, die Wesen haben nicht Fehlernoch Mängel, und die Geister regen sich nicht.


3. Selbstvergessen<strong>Liä</strong> Dsï hatte zum Lehrer den alten Schang und zumFreunde den Be Gao. Als er den SINN der beidenMeister innehatte, fuhr er auf dem Winde nach Hause.Der Scholar Yin hörte davon und folgte dem <strong>Liä</strong> Dsïnach. Er blieb mehrere Monate bei ihm wohnen, ohnenach seinem Hause zu sehen; denn er hatte nichts zutun. Er bat ihn, ihm zu eröffnen, wie man das (aufdem Winde Fliegen) mache. Zehnmal kam er zu ihm,und zehnmal sagte er ihm nichts. Da ward der ScholarYin böse und erbat seinen Abschied. <strong>Liä</strong> Dsï sagtewieder nichts. Der Scholar Yin zog sich ein paar Monatezurück. Da er aber den Gedanken nicht loswerdenkonnte, wandte er sich wieder an ihn. <strong>Liä</strong> Dsïsprach: »Was kommst du schon wieder?« Der ScholarYin sprach: »Damals habe ich den Meister gefragt,und der Meister hat mir nichts gesagt, darum war ichböse auf den Meister. Das bin ich nun aber wiederlos, und darum komme ich wieder.«<strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Damals dachte ich, du seiest hinterdie Sache gekommen, und nun war es nur einekleinliche Laune von dir! Setz' dich, ich will dirsagen, was ich bei meinem Meister gelernt habe.Nachdem ich mich an meinen Meister gewandt undFreundschaft geschlossen mit jenem andern, vergin-


gen drei Jahre. Ich wagte im Herzen nicht über Rechtund Unrecht nachzudenken noch mit meinem Mundeüber Vorteil und Nachteil zu reden. Da erst bekam ichvon meinem Meister einen einzigen Blick. Nach fünfJahren dachte ich in meinem Herzen wieder an Rechtund Unrecht und redete mit meinem Munde wiederüber Vorteil und Nachteil. Da erst heiterte sich dieMiene des Meisters auf, und er lächelte. Nach siebenJahren machte ich mir im Herzen wieder keine Gedankenmehr über Recht und Unrecht und redete mit meinemMunde keine Worte mehr über Vorteil undNachteil. Da erst ließ mich mein Meister auf derselbenMatte mit ihm sitzen. Nach neun Jahren, damachte ich einen Strich durch die Gedanken meinesHerzens und die Worte meines Mundes. Ich wußtenicht mehr, ob es sich um mein Recht und Unrecht,um meinen Vorteil und Nachteil handle oder um dievon andern. Noch wußte ich mehr, daß der Meistermein Lehrer war, oder jener andere mein Freund. DerUnterschied von Ich und Nicht-Ich war zu Ende. Danachhörten auch die Unterschiede der fünf Sinne auf,alle wurden sie einander gleich. Da verdichteten sichdie Gedanken, der Leib ward frei, Fleisch und Beinlösten sich auf, ich hatte keine Empfindung mehrdavon, worauf der Leib sich stützte, wohin der Fußtrat: ich folgte dem Wind nach Osten und Westen wieein Baumblatt oder trockene Spreu, und wirklich weiß


ich nicht, ob der Wind mich trieb oder ich den Wind.Nun sieh: Du weilst im Hause des Lehrers, und ehenoch ein Jahr herum ist, wirst du zwei-, dreimal unwillig.Kein Teil deines Leibes kann die Luft aufnehmen,keines deiner Glieder kann die Erde tragen.Kannst du da hoffen, ins Leere treten zu können undauf dem Winde zu reiten?«Der Scholar Yin schämte sich sehr, also daß erganz stille ward und eine lange Zeit nicht mehr zureden wagte.


4. Sammlung des Geistes<strong>Liä</strong> Dsï fragte den Guan Yin und sprach: »Die Adeptengehen durch Gegenstände ohne Hindernis hindurch,sie treten auf Feuer und werden nicht heiß, siewandeln über der Welt dahin und zittern nicht. Darfich fragen, wodurch man diese Stufe erreichen kann?«Guan Yin sprach: »Es ist das die Bewahrung derreinen Kraft, nicht Weisheit, Gewandtheit, Entschlossenheitoder Wagemut. Setz' dich: ich will mit dir darüberreden. Alles was Gestalt, Klang und Farbe hat,ist ein Ding. Ein Ding ist von dem andern nicht räumlichentfernt, ein Ding ist dem andern nicht zeitlichvoran: das alles ist nur Erscheinung. Die Dinge entstehenjenseits der Form und enden jenseits des Wandelbaren.Wer das erreichen und ergründen könnte –der könnte wohl Vollkommenheit erlangen. Derwürde weilen im Maß ohne Lüste und würde sich bergenin spurloser Zeit. Er wandelt umher, da wo alleDinge beginnen und enden. Er macht seine Natur einheitlich,er nährt seine Kraft, er hält sein WESEN zusammen,um durchzudringen zur Entstehung derDinge. Wer also ist, dessen Geist wahrt völlige Geschlossenheit,dessen Seele ist ohne Mangel, wokönnten da die Dinge in ihn eindringen?Nimm einen Betrunkenen, der vom Wagen fällt.


Fällt er auch heftig, er stirbt nicht daran. Seine Knochensind wie die der andern Leute, aber er bleibt vonderen Beschädigung verschont. Das macht: seineSeele ist in sich abgeschlossen. Er merkt weder, wieer fährt noch wie er fällt. Leben und Tod, Schreckenund Furcht dringen nicht in seine Brust, darumbraucht er die Dinge, die er begegnet, nicht zu fürchten.Wenn nun dieser Mensch im Wein eine solchevöllige Abgeschlossenheit erlangt! Der Berufene istgeborgen im Geist, darum können ihm die Außendingenicht schaden.«


5. Bogenschießen<strong>Liä</strong> Yü Kou zeigte sich vor Be Hun Wu Jen im Bogenschießen.Er spannte den Bogen zu voller Weite;dann stellte er einen Becher Wasser auf seinen Vorderarmund schoß ab. Ein Pfeil folgte dem andern,während er die ganze Zeit über stand wie eine Bildsäule.Be Hun Wu Jen sprach: »Du bist ein Schütze,aber noch kein Überschütze! Wenn ich mit dir aufeinen hohen Berg steige, auf steile Felsen trete amRand eines hundert Klafter tiefen Abgrunds: kannstdu da immer noch schießen?«Mit diesen Worten führte ihn Wu Jen auf einenhohen Berg, trat auf einen steilen Felsen am Randeines hundert Klafter tiefen Abgrunds, wandte sichund ging rückwärts, bis seine Fußsohlen zu zwei Drittelnin die Luft ragten. Da winkte er dem Yü Kou vorzutreten.Der aber duckte sich zur Erde, und derSchweiß rann ihm bis zu den Fersen herunter.Da sprach Be Hun Wu Jen: »Ein Adept kann hinaufblickenzum blauen Himmel oder mit seinem Augehinunterdringen bis zu den Flüssen der Unterweltoder hinausschweifen in alle Fernen, ohne daß seineGeisteskraft beeinflußt wird. Du aber hast Angst undwagst nicht um dich zu blicken, du sitzest mitten aufdem Land und fühlst dich doch nicht sicher.«


6. Sancta SimplicitasDsï Hua, der Sohn Fan's, verstand es, sich einenguten Namen zu machen, und das ganze Reich hieltihn hoch. Er stand in Gunst beim Fürsten von <strong>Dsi</strong>n.Ohne im Amt zu sein, stand er an Rang den höchstenRäten gleich. Wer seinem Auge wohlgefiel, der wardim Staate <strong>Dsi</strong>n befördert: gegen wen er ein üblesWort fallen ließ, der war im Staate <strong>Dsi</strong>n unten durch.Verkehr in seinem Schloß galt gleichviel wie eine Audienzbei Hofe. Er ließ von seinen Schranzen Klugeund Dumme miteinander streiten, Starke und Schwachemiteinander kämpfen. Um die Wunden und Brüche,die es dabei absetzte, kümmerte er sich nicht.Tag und Nacht war das sein Spaß, so daß es im Reichbeinah zum festen Brauche ward.Der Scholar Ho und der Gelehrte Be, zwei vornehmeHausfreunde des Fan, machten einst eineReise. Sie kamen durch eine abgelegene Gegend undübernachteten in der Hütte eines alten Bauern namensSchang Kiu Kai. In der Nacht unterhielten sie sichüber die große Macht ihres Freundes, der Lebende totund Tote lebend, Reiche arm und Arme reich machenkönne. Der alte Bauer hatte sich, von Hunger undKälte geplagt, unter das Fenster geschlichen und hörteihr Gespräch. Darum borgte er sich Brot und Lebens-


mittel, tat sie in einen Korb und lief damit, bis er vordas Tor des Dsï Hua kam.Die Genossen des Dsï Hua waren alles vornehmeLeute, die an seidene Kleider und prächtige Wagengewöhnt waren. Sie schlenderten gemächlich umhermit hochmütigen Mienen. Als sie den Schang Kiu Kaierblickten, alt an Jahren und schwach von Kraft, mitsonnenverbranntem Gesicht und altmodischer Kleidung,da trieben sie alle ihren Spott mit ihm, fopptenund verhöhnten ihn und stießen und pufften ihn umherauf jegliche Weise. Aber Schang Kiu Kai blieb immerehrerbietig.Als nun die Hausfreunde am Ende ihres Witzes unddes Spieles müde waren, da gingen sie mit SchangKiu Kai auf eine hohe Terrasse. Und es erhob sich einGemurmel unter ihnen: »Wer da hinunterspringenkann, der soll hundert Goldstücke zum Lohn bekommen.«Und alle waren damit einverstanden. SchangKiu Kai hielt es für ernst und stürzte sich eilends hinunter.Er schwebte gleich einem fliegenden Vogel zurErde, ohne sich zu verletzen. Die Genossen des Fanhielten das für Zufall und wunderten sich weiter nichtdarüber. Darum deuteten sie abermals auf einen tiefenWirbel an der Krümmung des Flusses und sprachen:»Da sind kostbare Perlen darin; wer hinuntertaucht,kann sie sich holen.« Schang Kiu Kai folgte ihnenwieder und tauchte. Als er wieder hervorkam, hatte er


wirklich Perlen gefunden. Da fingen alle an, sich zuverwundern.Der Hausherr ließ nun Fleisch und Speisen auftragen.Dann ließ er seidene und brokatene Gewänderrings von einem großen Feuer umgeben und sprach:»Wenn du durchs Feuer gehen und diese Stoffe holenkannst: soviel du bekommst, soll dir gehören.«Schang Kiu Kai ging hin, ohne des Feuers zu achten.Er ging und kam zurück, ohne sich im mindesten zubrennen. Da meinten die Genossen, er sei im Besitzegeheimen SINNS, und entschuldigten sich alle beiihm und sprachen: »Wir wußten nicht, daß du, o Meister,geheimen SINN besitzest, und haben dich verhöhnt;wir wußten nicht, daß du, o Meister, ein Gottmenschbist, und haben dich beleidigt. Meister, alsToren stehen wir nun vor dir da. Meister, als Taubestehen wir nun vor dir da. Meister, als Blinde stehenwir nun vor dir da. Dürfen wir wagen, dich, o Meister,um dein Geheimnis zu bitten?«Schang Kiu Kai sprach: »Ich habe kein Geheimnis.Aber wenn auch mein Herz die Gründe nicht kennt,immerhin: es gibt Einen Punkt dabei, den will ich versuchen,den Herren zu sagen. Als neulich zwei Herrenals Gäste in meiner Hütte nächtigten, da hörte ich siedie Macht des Herrn Fan rühmen, der Lebende zumTode und Tote zum Leben bringen, der Reiche armund Arme reich machen könne. Das nahm ich ernst


mit einfältigem Herzen, darum scheute ich nicht denweiten Weg und kam hierher. Als ich hierher gekommenwar, da hielt ich die Worte der Herren alle fürwirklich und fürchtete nur, sie nicht ernst genug zunehmen, sie nicht ausführen zu können. Darüber vergaßich, auf die Sicherheit meines Lebens, auf Nutzenund Schaden zu achten. Mein Herz war einfältig,darum haben mir die Außendinge so wenig entgegensein können. Das ist die ganze Sache.Nun erst wird mir klar, daß die Herren mich zumbesten hatten. Ich hege innerlich Zweifel und Furcht,und das, was ich sehe und höre, dringt auf mich ein.Wenn ich daran denke, daß ich vorhin glücklich demVerbrennen und Ertrinken entgangen, so wird mirshinterher heiß vor Angst, und ich zittere vor Aufregung.Wie sollte ich jemals mich wieder ins Wasseroder Feuer wagen?«Wenn seither die Genossen des Herrn Fan auf derStraße etwa einem Bettler oder Pferdedoktor begegneten,so wagten sie nicht mehr, ihn zu beleidigen, sondernstiegen stets vom Wagen und verneigten sich vorihm.Dsai Wo hörte die Geschichte und erzählte sieDschung Ni (Konfuzius). Der sprach: »Weißt dunicht, daß ein Mensch, der Glauben hat, alle Dingebemeistern, Himmel und Erde bewegen, Geister undGötter rühren, ja die Enden der Welt durchkreuzen


kann, ohne daß ihm etwas widersteht? Demgegenüberist es eine Kleinigkeit, von hohen Abgründen sich zustürzen oder durch Feuer und Wasser zu gehen.Schang Kiu Kai glaubte Lügnern, und die Dingekonnten ihm nicht widerstehen. Wie muß es erst sein,wenn beide in der Wahrheit stehen! Meine Kinder,merkt es euch!«


7. TierbändigungDer Verwalter der Tiergärten des Königs Süan vonDschou hatte einen Wärter namens Liang Yang, derwar tüchtig in der Pflege der Tiere. Wenn er das Futterin den Hof oder Zwinger brachte, so waren selbstTiger und Wölfe, Adler und Geier ganz zahm. Diealten Männchen und Weibchen kamen zuerst, die Jungenin Herden hinterdrein. Die verschiedenen Artenwohnten beieinander und taten sich nichts zuleide.Der König fürchtete, daß er seine Geschicklichkeitmit ins Grab nehme, und befahl ihm, sie den Mau KiuYüan zu lehren. Liang Yang sprach (zu diesem):»Mein Dienst ist gering; ich wüßte keine besondereGeschicklichkeit, die ich dir sagen könnte. Doch ichfürchte, der König denkt, ich wollte es vor dir geheimhalten;darum will ich dir mit Einem Wort meineArt der Pflege der Tiger mitteilen. Geht es nach ihremSinn, so empfinden sie Lust; geht es gegen ihren Sinn,so werden sie wütend. Das liegt in der Natur vonallem Fleisch und Blut. Aber Lust und Wut entstehennicht grundlos, sondern nur als Gegenwirkung vonReizung.Wer Tiger füttert, der soll sich hüten, ihnen lebendeTiere zu geben, um der Wut willen, die beim Tötenerwacht. Man muß sich hüten, ihnen ganze Tiere zu


geben, um der Wut willen, die beim Zerreißen erwacht.Man muß zur Zeit ihren Hunger stillen, umzum voraus ihrer Wut zu begegnen. Die Tiger sindwohl ihrer Gattung nach vom Menschen verschieden,aber freundlich gefüttert zu werden, ist auch ihnen angenehm;darum werden sie gereizt, wenn sie etwas zutöten haben. Da es also ist, so hüte ich mich, ihnen zuWillen zu sein, daß sie nicht in Lust kommen. DennLust schlägt sicher in Wut um, und die Wut schlägtimmer wieder in Lust um; beides sind keine in sichruhenden Zustände.Da ich nun in meinem Gefühl sie weder reize nochihnen zu Willen bin, so sehen mich Tiere und Vögelals ihresgleichen an, darum spazieren sie in meinemGarten und denken nicht an ihre hohen Wälder undweiten Sümpfe; sie ruhen in meinem Zwinger undsehnen sich nicht nach verborgenen Bergen und tiefenTälern. Durch Vernunft habe ich es dahin gebracht.«


8. Der FährmannYän Hui fragte den Dschung Ni und sprach: »Ich fuhrüber die Untiefe von Tschang Schen (tiefer Becher).Der Fährmann lenkte das Boot wie ein Gott. Ich fragteihn und sprach: ›Kann man das Lenken der Bootelernen?‹ Er sprach: ›Ja, wer schwimmen kann, denkann man es lehren; ein tüchtiger Schwimmer kann esvon selber. Was aber ein Taucher ist: der erblickt zumerstenmal ein Boot und kann es sofort lenken.‹ Wonachich gefragt hatte, das hat er mir aber nicht gesagt.Darf ich fragen: Was meinte er mit seinen Worten?«Dschung Ni sprach: »Wie oft habe ich mit dirschon diese Ideen behandelt, und nun sie dir wirklichvor Augen treten, so verstehst du sie doch nicht. Wasmuß ich nun erst wieder die ganze Sache bereden!Die, die schwimmen können, kann man es lehren;denn sie fürchten das Wasser nicht. Ein guterSchwimmer lernt es von selber; denn er kümmert sichnicht um das Wasser. Was aber ein Taucher ist, dererblickt zum erstenmal ein Boot und kann es sofortlenken, weil in seinen Augen die Wassertiefe ist wiedas trockene Land und das Kentern des Bootes wiedas Festfahren eines Wagens. Beim Kentern wie beimFestfahren liegt die Welt vor ihm da, ohne in sein In-


neres eindringen zu können. Da ist es ganz natürlich,daß er sich daran macht und ganz ruhig dabei bleibt.Es ist wie beim Auffange-Spiel. Hascht man umZiegelsteine, so ist einer vielleicht geschickt, geht esum Gürtelspangen, so wird er zagend, geht es um gelbesGold, so verliert er alle Besinnung. Und doch istseine Geschicklichkeit die gleiche, aber er wird ängstlichund nimmt das Äußere wichtig. Wer aber dasÄußere wichtig nimmt, der wird in seinem Inneren betört.«


9. Der Alte am WasserfallMeister Kung betrachtete den Wasserfall von LüLiang, der dreißig Klafter hoch herabstürzt, also daßmeilenweit das Wasser schäumt und selbst Schildkröten,Fische und Molche nicht hinunterschwimmenkönnen. Da sah er einen Menschen, der hinunterschwamm.Er meinte, er habe Bitternis und wolle sichden Tod geben, und ließ seine Jünger an den Flußeilen, um ihn aufzufangen. Aber nach ein paar hundertSchritten kam er wieder heraus, trocknete sein Haarund sang im Gehen, während er unten am Ufer umherwandelte.Meister Kung ging ihm nach, fragte ihn undsprach: »Der Wasserfall von Lü Liang stürzt dreißigKlafter hoch herab, also daß meilenweit das Wasserschäumt und selbst Schildkröten, Fische und Molchenicht hinunterschwimmen können. Als ich Euch hinunterschwimmensah, dachte ich, Ihr habet Bitternisund wollet Euch den Tod geben. Ich ließ meine Jüngerhinuntereilen, um Euch aufzufangen. Nun kametIhr heraus und trocknetet Euch die Haare und sangetim Gehen: da dachte ich, Ihr wäret ein Geist. Sehe icheuch genauer an, so seid Ihr ein Mensch. Darf ich fragen,ob es geheimen SINN gibt, der das Wandeln aufdem Wasser lehrt?«


Jener sprach: »Nein, ich habe kein Geheimnis. AnfangsGewöhnung, wurde es mir zur Natur und ist mirnun Schicksal. Mit dem saugenden Wirbel zusammengehe ich hinein, mit dem schäumenden Strudel zusammenkomme ich heraus. Ich folge dem Sinn des Wassersund tue nichts selbst. Das ist es, warum ich darinwandeln kann.«Meister Kung sprach: »Was bedeutet das: AnfangsGewöhnung, wurde es mir zur Natur und ist mir nunSchicksal?« Jener sprach: »Ich bin geboren in diesenHügeln und fühle mich in diesen Hügeln wohl: das istdie Gewohnheit. Ich wurde groß im Wasser und fühlemich im Wasser wohl: das ist meine Natur. Ohne zuwissen, warum ich es so mache, mache ich es so: dasist mein Schicksal.«


10. Der Bucklige ZikadenfängerAls Dschung Ni auf der Wanderung nach Tschu auseinem Walde herauskam, sah er einen Buckligen, derZikaden fing, als pflückte er sie nur so von den Bäumen.Dschung Ni sprach: »Beruht deine Geschicklichkeitauf dem Besitz geheimen SINNS?«Jener sprach: »Ja, ich besitze ein Geheimnis. Fünf,sechs Monate lang legte ich zwei Erdkügelchen auf(die Leimrute), und als sie nicht mehr herunterfielen,da mißte ich von den Zikaden nur noch wenige. Dannlegte ich drei auf. Als die nicht mehr herunterfielen,mißte ich unter zehn höchstens eine. Dann legte ichfünf auf, und seit die nicht mehr herunterfallen, kannich sie nur so abpflücken. Ich mache meinen Körperunbeweglich wie einen Baumstumpf und halte meinenArm wie einen dürren Ast. Von all den unzähligenDingen zwischen Himmel und Erde kenne ich nur dieFlügel der Zikaden. Davon weiche ich nicht ab undtausche nicht um die ganze Welt die Flügel der Zikadenein. So bringt man alles fertig.«Meister Kung blickte seine Schüler an und sprach:»Wer seinen Willen gebraucht ohne Zerteilung, demverdichtet er sich zu einer geistigen Macht. Das istwohl die Meinung dieses buckligen Alten.« Der Altesprach: »Ihr Herren in langen Gewändern, was wißt


ihr nach solchen Dingen zu fragen! Pflegt euren Wandelund heftet nachher eure Worte daran.«


11. Die SeemöwenUnter den Leuten am Meer waren etliche, die Seemöwenliebten. Jeden Morgen gingen sie auf das Meerhinaus und schwammen den Möwen nach. Und dieSeemöwen kamen herbei zu Hunderten und mehr. Dasprach ihr Vater: »Ich höre, die Seemöwen schwimmeneuch nach. Fangt doch ein paar, daß ich mitihnen spiele.« Am anderen Tage schwammen sie wiederins Meer hinaus. Die Möwen kreisten in der Luft,kamen aber nicht herunter. Darum heißt es: »VollkommeneRede ist ohne Worte, vollkommenes Tun istohne Handeln. Was alle Weisen wissen, ist flach.«


12. JagderlebnisSiang Dsï von Dschau ging mit einem Gefolge vonhunderttausend Mann zur Feuerjagd in den Mittelberg.Mit dürrem Reisig ward der Wald angesteckt,daß die Lohe sich meilenweit ergoß. Da kam einMann aus einer Felswand hervor und schwebte mitdem Rauch und den Funken auf und nieder. Alle hieltenihn für ein Geisterwesen. Als das Feuer vorüberwar, da kam er gemächlich hervor, als wäre ihmnichts widerfahren.Siang Dsï verwunderte sich und behielt ihn bei sichund untersuchte ihn bedächtig. Er hatte die Gestaltund die Züge eines Menschen, er atmete und redetewie ein Mensch. Da fragte er ihn: »Durch was für einGeheimnis kannst du in den Felsen weilen, durch wasfür ein Geheimnis kannst du durch das Feuer schreiten?«Jener Mensch sprach: »Was für ein Ding nennstdu Fels, was für ein Ding nennst du Feuer?« SiangDsï sprach: »Das, woraus du vorhin hervorkamst, istFels; das, was du vorhin durchschrittest, ist Feuer.«Jener Mensch sprach: »Das kenne ich nicht.«Der Fürst Wen von We hörte davon und fragte denDsï Hia: »Was für ein Mensch war das?« Dsï Hiasprach: »Nach dem, was ich den Meister reden hörte,ist der, der inneren Einklang hat, in Gemeinschaft mit


den Dingen, so daß die Dinge ihm nichts anhabenkönnen. Er vermag durch Metall und Stein zu dringenund in Wasser und Feuer zu wandeln.« Der FürstWen sprach: »Warum tut Ihr das nicht, mein Herr?«Dsï Hia sprach: »Meiner Gefühle mich entäußern undmein Bewußtsein aufgeben, das kann ich noch nicht.Immerhin habe ich Muße, um zu versuchen, darüberzu reden.« Der Fürst Wen fragte weiter: »Und warumhat es der Meister nicht getan?« Dsï Hia sprach: »DerMeister hätte es vermocht; aber er vermochte es, daraufzu verzichten.« Da war der Fürst Wen hoch befriedigt.


13. Der Zauberer und der WeiseEs war einmal ein göttlicher Zauberer, der kam vonTsi und ließ sich in Dscheng nieder. Sein Name hieß:Gi Hiän. Er wußte Tod und Leben, Sein und Nichtsein,Glück und Unglück, langes und kurzes Lebenauf Jahr, Monat, Woche und Tag hinaus genau zu bestimmenwie ein Gott. Wenn die Leute von Dschengseiner ansichtig wurden, so gingen sie ihm alle ausdem Wege.<strong>Liä</strong> Dsï besuchte ihn, und sein Herz ward betört. Erkehrte zurück, um es dem Meister Hu Kiu anzusagenund sprach: »Anfangs hielt ich des Meisters Sinn undLehre für vollkommen, nun aber gibt es eine, die dochwohl noch vollkommener ist.« Meister Hu sprach:»Ich kam mit dir nur bis zum Buchstaben, nicht biszum Wesen selbst, und nun hast du wirklich den geheimenSINN erlangt? Was für Eier legen denn dieHennen ohne Hahn? Daß du über den geheimenSINN mit der Welt streitest, zeigt deine Arglosigkeit,darum hat der Mensch dich in die Hand bekommenund aus deinen Mienen gelesen. Versuche es einmal,ihn mit hierher zu bringen, damit ich es ihm zeige.«Andern Tags kam <strong>Liä</strong> Dsï mit ihm vor den MeisterHu. Beim Hinausgehen sprach er zu <strong>Liä</strong> Dsï: »Wehe,dein Lehrer wird sterben und nicht am Leben bleiben,


er kann es höchstens noch eine Woche lang treiben.Ich habe Wunderliches gesehen, ich habe feuchteAsche gesehen.«<strong>Liä</strong> Dsï ging wieder hinein und weinte bitterlich,also daß die Tränen seine Kleider feuchteten, undsagte es dem Meister Hu. Meister Hu sprach: »Ichhabe ihm soeben im Geiste die äußere Form der Erdegezeigt, wenn die Keime sich noch nicht regen undnoch nicht da sind. So sah er wohl die Wirkung meinerLebenskraft in verhaltenem Zustand. Komm nocheinmal mit ihm.«Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den MeisterHu. Beim Hinausgehen sprach er zu <strong>Liä</strong> Dsï: »ZumGlück hat dein Lehrer mich getroffen. Er ist geheilt.Er hat völliges Leben. Ich sah eine gleichstehendeWaage.«<strong>Liä</strong> Dsï ging hinein und sagte es dem Meister Hu.Meister Hu sprach: »Ich habe ihm soeben im Geisteden vom Himmel befruchteten Boden gezeigt. Ohnedaß von außen her ein Begriff oder etwas Wirklichesin ihn eingeht, regte sich zu meinen Füßen der Kreislaufdes Lebens. Das war die gleichstehende Waage.So sah er mich wohl im Zustand meiner Güte. Kommnoch einmal mit ihm.«Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den Meister.Beim Hinausgehen sagte er zu <strong>Liä</strong> Dsï: »DeinLehrer ist nicht gesammelt, darum kann ich nicht in


seinen Mienen lesen. Er soll versuchen sich zu sammeln,dann will ich wieder seine Mienen deuten.«<strong>Liä</strong> Dsï ging hinein und sagte es dem Meister Hu.Meister Hu sagte: »Eben zeigte ich ihm im Geiste diegroße unergründliche Tiefe. So hat er wohl etwas vonden Wirkungen meiner Beharrungskraft verspürt.Aber komm wieder mit ihm.«Tags darauf kam er wieder mit ihm vor den Meister.Aber noch ehe er sich richtig hingestellt hatte,verlor er die Fassung und lief weg. Meister Husprach: »Lauf ihm nach!« <strong>Liä</strong> Dsï lief ihm nach, holteihn aber nicht ein. Er kam zurück, meldete es demMeister Hu und sprach: »Er ist verschwunden, er hatsich verloren, ich konnte seiner nicht habhaft werden.«Meister Hu sprach: »Eben habe ich ihm im Geistegezeigt, wie vor aller Dinge Anfang mein Vater (derSINN) hervortrat. Ich bot ihm das Wesenlose und warunpersönlich. Er wußte nicht, was er daraus machensollte. Es war ihm wie stürmender Wirbel, es war ihmwie fließende Wogen, darum lief er weg.«Danach meinte <strong>Liä</strong> Dsï, daß er noch nicht die erstenAnfänge gelernt habe. Er ging heim und kam dreiJahre lang nicht wieder hervor. Er kochte für seinWeib und brachte den Schweinen das Futter, gleichals ob es Menschen wären. Um andere Geschäftekümmerte er sich nicht. Allerhand Schmuck und Zier


schaffte er ab. Nur die einfache Form ließ er bestehen.Alles Zerstreuende beseitigte er. Und das Eine dadurcherlangte er.


14. Vergebliche WeltfluchtMeister <strong>Liä</strong> Dsï wollte nach Tsi, kehrte aber auf halbemWege wieder um. Da begegnete er dem Be HunWu Jen. Der sprach: »Was kommst du schon wiederzurück?« Er sprach: »Ich fürchte mich.« »Ach, dufürchtest dich?« »Ich aß unterwegs in zehn Garküchen,und fünfmal setzten sie mir, ohne Geld zu nehmen,die Suppe hin.« »Nun gut, warum brauchst dudich da zu fürchten?« Er sprach: »Innere Wahrheitläßt sich nicht erraten, Gestalt und Klugheit scheintnach außen. Wenn man aber nur mit seinem Äußerenauf die Menschen Eindruck macht, so bringen sieeinem leichthin allerlei Ehren dar, und daraus entstehtnur Leid und Verwirrung. Nun betreiben die Garköcheden Verkauf ihrer Nahrungsmittel als Gewerbe,nicht viel haben sie übrig als Gewinn. Ihr Strebennach Vorteil und Macht ist nicht heftig. Und wenntrotzdem schon sie so zu mir waren, wie wäre es daerst beim Fürsten des Landes ergangen, auf dessenPerson die Last des Reiches ruht und dessen Weisheitzu Ende ist in seinen Staatsgeschäften. Der würdemich sicher mit Staatsgeschäften betraut und großeTaten von mir verlangt haben. Darum habe ich michgefürchtet.«Be Hun Wu Jen sprach: »Du zeigst eine prachtvol-


le Vorsicht! Aber wenn du dich auch zurückziehst:sieh zu, die Leute werden dich doch überlaufen.«Nicht lange danach ging er zu ihm. Da war vor derTür alles voll von Schuhen. Be Hun Wu Jen blieb mitdem Gesicht nach der Tür stehen und stützte das Kinnauf seinen Stab. Nach einer Weile ging er weg, ohneein Wort zu sagen. Der Pförtner sagte es dem <strong>Liä</strong> Dsï.<strong>Liä</strong> Dsï nahm seine Schuhe auf und lief ihm barfußnach.Er holte ihn am Hoftor ein und fragte ihn: »Meister,da du doch einmal gekommen bist, willst du mirnicht einen heilsamen Rat spenden?« Jener sprach:»Es ist zu spät! Ich habe dir ja gesagt, daß die Menschendich überlaufen werden, und nun ist's richtig so,daß sie dich überlaufen. Darum handelt sich's nicht,daß du verstehst die Leute anzuziehen, daß sie dichüberlaufen, sondern darum, daß du es nicht verstehstzu machen, daß sie dich nicht überlaufen. Wasbrauchst du auf sie zu wirken? Sobald einmal dieWirkung auf andere sich erstreckt, gibt es sicher eineGegenwirkung. Dein eignes Ich wird schwankend unddu merkst es nicht. Die mit dir wandeln, sagen esnicht. Ihr leer Gerede ist für Menschen Gift. Bewußtlos,achtlos, wie kann man so einander zur Reife helfen!«


15. BescheidenheitYang Dschu war im Süden von Pe. Lau Dan wanderteim Westen in Tsin. Als jener an die Grenze kam beiLiang, traf er den Lau Dsï (Laotse). Mitten auf demWege blickte Lau Dsï zum Himmel empor und seufzte:»Ich dachte erst, man könnte dich lehren, nun aberbist du doch unbelehrbar.« Yang Dsï erwiderte nichts.Als sie zur Herberge kamen und er fertig war mitWaschen, Mundausspülen, Abtrocknen und Kämmen,zog er seine Schuhe aus vor der Tür und begab sichauf den Knien vor ihn hin und sprach: »Vorhin hatder Meister gen Himmel geblickt und seufzend gesprochen:›Ich dachte erst, man könnte dich lehren,nun aber bist du doch unbelehrbar.‹ Ich wollte gernden Meister um ein Wort der Erklärung bitten, aberbeim Gehen war nicht Muße, darum wagte ich esnicht. Nun hat der Meister Muße, und ich bitte umAufschluß über meine Fehler.«Lau Dsï sprach: »Du hast so etwas Selbstzufriedenesin deinem Blick. Da mag niemand mit dir sein.Die höchste Reinheit erscheint als Schmach,Das weite Leben erscheint als ungenügend.«Yang Dsï errötete beschämt und sprach: »Ich will


mirs gewissenhaft zu Herzen nehmen.«Als er in die Herberge eingetreten, war er zuvorkommendempfangen worden, der Wirt hatte eineMatte gebracht, die Wirtin ein Handtuch, die Gästewaren von ihren Plätzen aufgestanden, und die sichwärmten, hatten ihm am Herde Platz gemacht. Als erherauskam, da machten ihm die Gäste die Matte streitig.


16. Die beiden WeiberYang Dschu wanderte durch Sung und kam im Ostendavon in eine Herberge. Der Herbergswirt hatte zweiWeiber, die eine war schön und die andere häßlich.Die Häßliche war geehrt und die Schöne verachtet.Meister Yang fragte nach dem Grunde. Da sagte derjunge Mann in der Herberge zu ihm: »Die Schöne hältsich selber für schön, darum weiß ich von ihrerSchönheit nichts. Die Häßliche hält sich selber fürhäßlich, darum weiß ich von ihrer Häßlichkeitnichts.«Meister Yang sprach: »Meine Jünger, merkt eseuch! Wandelt recht, aber meidet selbstgerechtenWandel; dann mögt ihr kommen, wohin ihr wollt, undman wird euch lieben.«


17. Der Weg zum SiegEs gibt in der Welt einen immer sieghaften Sinn undeinen immer sieglosen Sinn. Der sieghafte Sinn heißtDemut, der sieglose Sinn heißt Gewalt. Beides istleicht zu erkennen, aber die Menschen erkennen esnoch nicht. Darum haben die Alten gesagt: Gewaltverläßt sich darauf, daß andres dem eignen Selbstnicht gleichkommt; Demut verläßt sich auf das, wasaus dem eigenen Selbst hervorgeht.Wenn einer sich darauf verläßt, daß andere seinemeignen Selbst nicht gleichkommen, und die andern erreichenes dann doch, seinem eignen Selbst gleichzukommen,so kommt er in Gefahr. Wer sich auf dasverläßt, was aus seinem eigenen Selbst hervorgeht,kommt nie in Gefahr. Dadurch siegt man über Ein Ichwie nichts; dadurch waltet man über der Welt, wienichts. Das heißt: man siegt nicht, es siegt sich vonselber. Man waltet nicht, es walte sich von selber.Meister Yu sprach: »Willst du Härte, mußt du siedurch Weichheit wahren. Willst du Stärke, mußt dusie durch Schwäche schützen. Übe dich in Demut, sowirst du fest. Übe dich im Schwachsein, so wirst dustark. Wenn du darauf siehst, was einer übt, so weißtdu, ob Glück oder Unglück ihm naht. Die Gewaltsiegt über das, was dem eigenen Selbst nicht gleich-


kommt. Das, was dem eigenen Selbst gleichkommt,stößt hart mit ihr zusammen. Demut siegt durch das,was aus ihrem eignen Selbst hervorgeht, ihre Machtist ohne Maß.«Lau Dan sprach:»Sind Waffen stark, so bersten sie.Ist ein Baum stark, so zerbricht er.Weichheit und Schwäche sind Gesellen des Lebens,Festigkeit und Stärke sind Gesellen des Todes.«


18. Gestalt und GehaltMensch und TierDie ist oft nicht gleich, wo die Denkart gleich ist. DieDenkart ist oft nicht gleich, wo die Gestalt gleich ist.Der Berufene fragt nach der Gleichheit der Denkartund läßt die Gleichheit der Gestalt beiseite. Die großeMenge hält sich an die Gleichheit der Gestalt und vernachlässigtdie Gleichheit der Denkart. Wer an Gestaltmir gleicht, dem fühle ich mich nahe, den liebeich. Wer an Gestalt von mir verschieden ist, der istmir fremd und ich scheue ihn.Ein Wesen, das ein Knochengerüst von sieben Fußhat, Hand und Fuß voneinander verschieden, Haareauf dem Kopf hat und festgereihte Zähne im Mund,sich anlehnen kann und bücken, wird Mensch genannt.Aber es ist gar nicht ausgemacht, daß solch einMensch nicht das Herz eines Tieres hat. Aber ob erauch das Herz eines Tieres hat, so fühlt man sichwegen seiner Gestalt mit ihm verwandt. Ein Wesen,das Flügel anhat oder Hörner trägt, das geteilte Zähnehat oder gespreizte Klauen, das nach oben gerichtetist und fliegen kann oder nach unten gerichtet ist undläuft, wird ein Tier genannt. Aber es ist gar nicht ausgemacht,daß solch ein Tier nicht das Herz eines


Menschen hat. Aber ob es auch das Herz eines Menschenhat, so fühlt man sich wegen seiner Gestalt ihmfremd.Aber Fu Hi, Nü Wa, Schen Nung, Hia Hou hattenSchlangenleib und Menschengesicht oder einen Stierkopfoder eine Tigerschnauze. Sie hatten also einenichtmenschliche Gestalt, und doch hatten sie die geistigeKraft von Gottmenschen. Der König Gie ausdem Hause Hia, der König Dschou Sin aus demHause Yin, der Fürst Huan von Lu, der Fürst Mu vonTschu waren an Gestalt, Ansehen und Gesichtszügengleich wie Menschen, aber sie hatten die Herzen vonTieren. Wenn sich die große Menge nur einzig an dieGestalt hält, um so auf die Denkart zu kommen, sokommt sie damit nicht zustande.Als der Herr der gelben Erde (Huang Di) mit demHerrn der Feuerflammen kämpfte auf dem Felde derHügelquelle, da führte er Bären und Wölfe, Pantherund Tiger als Vorhut ins Feld und Adler und Seeadler,Falken und Weihen als Fahnenträger. Er brauchtedie Tiere durch seine Macht.Yau ließ durch Kui die Musik aufzeichnen. Erschlug die Leier, und alle Tiere des Waldes lockte erzum Tanz herbei. Wenn die Flötentöne der Schau-Musik neunmal erklangen, so kam der Vogel Phönixherbei und kreiste in der Luft. Diese wirkten auf dieTiere durch die Macht der Töne. Wie kann also das


Herz der Tiere von dem der Menschen so gar verschiedensein? Ihre Gestalt und Sprache sind vondenen der Menschen verschieden, und wir wissennicht das Geheimnis, mit ihnen umzugehen. Die Gottmenschensind allwissend und allweise, darum könnensie sie zu ihrem Gebrauche leiten. Die Denkartder Tiere ist von Natur gleichartig mit der des Menschen.Sie alle streben nach Erhaltung des Lebens undborgen doch nicht diese ihre Denkart vom Menschen.Männchen und Weibchen paaren sich. Die Mütter unddie Jungen lieben einander. Sie meiden die Ebene undsuchen Schutz auf steilen Felsen. Sie kehren sich abvon der Kälte und kommen zur Wärme. Sie wohnenin Herden und wandern in Zügen. Die Kleinen haltensich innen, die Starken halten sich außen. Sie führeneinander zur Tränke, und wenn es zu fressen gibt,rufen sie die Herde. In uralten Zeiten wohnten sie mitden Menschen zusammen und wanderten mit ihnen.Erst zur Zeit der Herren und Könige begannen siesich zu fürchten und zerstreuten sich in die Irre. Seitden letzten Zeiten erst verstecken sie sich und laufendavon, um Leid und Schaden zu entgehen.Im Osten ist der Staat Gie (Kiautschou). Die Leutedieses Volkes können noch vielfach die Sprache derHaustiere verstehen. Sie erreichen das wohl durch zufälligeErkenntnis. In uralter Zeit die Gottmenschenaber erkannten völlig aller Wesen Eigenschaften und


Zustände. Sie verstanden die Laute andersartigerWesen. Sie waren mit ihnen zusammen und sammeltensie um sich. Sie zähmten sie und nahmen sie beisich auf gleichwie das Menschenvolk. Darum lebtensie zusammen mit Geistern, Göttern, Kobolden undTeufeln, verstanden ferner die Menschenvölker allerWeltgegenden, und schließlich versammelten sieVögel, Tiere, Lurche und Kerfe. Sie sagten: »Alle Geschlechtervon Fleisch und Blut sind in der Denkartdes Herzens nicht gar weit verschieden.« Da die Gottmenschensie also kannten, so blieb ihre Lehre beikeinem erfolglos.


19. Der AffenvaterIm Lande Sung lebte ein Affenvater. Der hatte dieAffen gern und hielt eine ganze Herde davon. Er verstandihre Gedanken, und auch die Affen begriffen,was er meinte. Er erfüllte alle Wünsche der Affen,selbst auf Kosten seiner Familie.Plötzlich kam eine Teuerung, und er mußte ihr Futterverkürzen. Auf daß die Affen nicht wild gegen ihnwürden, redete er erst listig also zu ihnen: »Wenn icheuch morgens drei Bündel Heu gebe und abends vier,ist das genug?« Da erhoben sich die Affen alle undwurden böse. Plötzlich sprach er: »Gut, ich gebe euchmorgens vier Bündel Heu und abends drei, ist dasgenug?« Da legten sich die Affen alle wieder niederund waren erfreut.Der Weise überlistet durch seine Klugheit dieMenge der Toren, gleichwie der Affenvater durchseine Klugheit die Menge der Affen überlistete. OhneNamen und Wesen zu ändern, konnte er machen, daßsie zornig wurden oder sich freuten.


20. Der KampfhahnGi Siau Dsï richtete für den König Süan vom HauseDschou einen Kampfhahn zu. Nach zehn Tagen fragteder König: »Kann der Hahn schon kämpfen?« Ersprach: »Noch nicht, er ist noch eitel, stolz und zornig.«Nach aber zehn Tagen fragte er wieder. Ersprach: »Noch nicht, er geht noch auf jeden Laut undSchatten los.« Nach aber zehn Tagen fragte er wieder.Er sprach: »Noch nicht, er blickt noch heftig undstrotzt vor Kraft.« Nach aber zehn Tagen fragte erwieder. Er sprach: »Nun geht es. Wenn andere Hähnekrähen, so macht das keinen Eindruck mehr auf ihn.«Der Hahn war anzusehen wie aus Holz. Sein Wesenwar vollkommen. Fremde Hähne wagten nicht mitihm anzubinden, sie kehrten um und liefen weg.


21. Der SophistHui Yang kam zum König Kang von Sung. DerKönig Kang sprang auf und rief erregten Tones:»Was Uns erfreut, ist Heldenmut und Kraft. Wirmögen nicht Gerechtigkeit und Liebe. Womit kannstdu, o Fremdling, Uns belehren?«Hui Yang erwiderte: »Ich habe ein Mittel, dadurchwird der Mensch fest, also daß auch eines HeidenStich nicht in ihn eindringen und eines Starken Schlagihn nicht treffen kann. Hat der große König allein keinenSinn dafür?« Der König von Sung sprach: »Gut!Das ist's, was Wir zu hören wünschen.«Hui Yang sprach: »Stechen, ohne zu verletzen;schlagen, ohne zu treffen, ist eine Schande. Ich habeein Mittel, das macht, daß ein Mensch, sei er auchheldenhaft, nicht mehr zu stechen, sei er auch stark,nicht mehr zu schlagen wagt. Das nicht mehr zuwagen, heißt aber noch nicht, es gar nicht mehr wollen.Ich habe ein Mittel, das macht, daß der Menschvon sich aus gar nicht mehr den Willen zu solchenTaten hat. Diesen Willen nicht zu haben, ist abernoch nicht so gut, als den Vorteil zu lieben. Ich habeein Mittel, das macht, daß alle Männer und Weiberauf der ganzen Welt freudig den Vorteil lieben wollen.Das ist noch besser als Heldenmut und Kraft und


höher als aller Rang und Stand. Hat der große Königallein keinen Sinn dafür?« Der König von Sungsprach: »Das ist's, was Wir zu erlangen wünschen.«Hui Yang erwiderte: »Kung und Mo hatten esschon. Kung Kiu und Mo Di hatten kein Land undwaren doch Fürsten, keine Diener und waren dochHerren. Auf der ganzen Welt alle Männer und Weiberreckten die Hälse und standen auf den Zehen undhofften Heil und Frieden von ihnen. Du, großerKönig, bist ein mächtiger Herrscher. Wenn Du wirklichdiesen Willen hast, so werden alle in DeinemReich Dein Heil erlangen. Das ist noch weit mehr alsKung und Mo.« Der König von Sung wußte nichts zuerwidern. Da ging Hui Yang eilends hinaus.Der König von Sung sprach zu seinem Gefolge:»Diese Zungenfertigkeit! Der Fremdling hat durchsein Reden Uns überwältigt.«


Buch IIIKönig Mu von Dschou.Leben und Traum»Verweilst du in der Welt, sie flieht als Traum / Dureisest, ein Geschick bestimmt den Raum / NichtHitze, Kälte nicht vermagst du festzuhalten / Und wasdir blüht, sogleich wird es veralten.«1. Die Sagen vom König MuZur Zeit des Königs Mu vom Hause Dschou kam einMagier aus dem äußersten Westen. Der konnte insFeuer und Wasser gehen, Metall und Steine durchdringen,Berge und Flüsse verkehren, Städte und Burgenversetzen, er konnte den leeren Raum besteigen,ohne zu fallen, er konnte gegen Festes stoßen, ohneWiderstand zu finden. Tausenderlei Wandlung konnteer vollbringen in unerschöpflicher Fülle. Und hatte erdie Gestalten der Dinge verändert, so wandelte ernoch zudem die Gedanken der Menschen.König Mu ehrte ihn wie einen Gott und diente ihmwie einem Herrscher. Er räumte seine Gemächer, umihn zu beherbergen, ließ Opfertiere herführen, um sie


ihm darzubringen, und wählte Sängerinnen aus, ihnzu ergötzen.Dem Magier waren die königlichen Gemächer zudürftig um darin zu wohnen, die königlichen Speisenzu übelriechend, um ihren Duft zu genießen, die königlichenHaremsmädchen zu bockigt, um ihnen zunahen.Der König Mu ließ nun für ihn ein anderes Gebäudeerrichten; die Arbeiten der Maurer und Zimmerleute,die Farben der Maler und Tüncher: nichts ließ anGeschick zu wünschen übrig. Die Schatzkammernwaren leer, als das Gebäude seine volle Höhe erreicht.Hundert Klafter ragte es empor, noch über den Gipfeldes Südendberges hinaus. Man nannte es: den Palastdes Mittelhimmels.Er suchte Jungfrauen aus, die schönsten und zartestenvon Dscheng und We, gab ihnen Wohlgerüche,ließ sie die Augenbrauen schön geschwungen ziehenund schmückte sie mit Haarschmuck und Ohrgehängen.Er kleidete sie in feine Tücher und ließ sie vonweißer Seide umflattern, das Gesicht weiß, die Brauenschwarz schminken, Armringe aus Edelsteinen anziehenund duftende Kräuter mischen. Sie erfülltenden Palast und sangen die Lieder der alten Könige:»Halte die Wolken«, »Sechsfacher Glanz«, »NeunfacheHarmonien«, »Der Morgennebel«, um ihn zu erfreuen.


Jeden Monat brachte er die köstlichsten Kleider darund jeden Morgen die feinsten Speisen. Der Magierließ es sich gefallen; weil er nicht anders konnte,nahm er damit vorlieb.Nach wenigen Tagen lud er den König ein, mit ihmzu reisen. Der König hielt sich an des Magiers Ärmel.So fuhren sie in die Höhe bis mitten in den Himmel.Da hielten sie an und waren am Schloß des Magiersangelangt. Das Schloß des Magiers war aus Gold undSilber gebaut, mit Perlen und Edelsteinen geschmückt.Es ragte über Wolken und Regen empor.Man wußte nicht, worauf es ruhte. Es erschien demBlick wie aufgetürmte Wolken. Was den Sinnen sichbot, war alles anders als die Dinge der Menschenwelt.Dem König war es, als sei er leibhaftig inmitten derpurpurnen Tiefen der Ätherstadt, der Sphärenharmoniendes Himmels, wo der große Gott wohnt. DerKönig blickte nach unten, da sah er seine Schlösserund Lusthäuser wie Erdhügel und Strohhaufen. DerKönig weilte darum einige Jahrzehnte hier und dachtenicht mehr an sein Reich.Da lud der Magier den König abermals ein, mitihm zu reisen. An dem Ort, dahin sie kamen, sah manoben nicht Sonne noch Mond, unten nicht Flüsse nochMeere. Die Lichtgestalten, die sich zeigten, konnteder König geblendeten Auges nicht erkennen; dieKlänge, die herankamen, konnte der König betäubten


Ohres nicht vernehmen. Er war einer Ohnmacht naheund drohte das Bewußtsein zu verlieren. Da bat er denMagier zurückzukehren. Der Magier berückte ihn, dawar es dem König, als wenn er ins Leere hinabfiele.Als er zu sich kam, saß er am selben Platze wiezuvor. Die aufwartenden Diener waren dieselben wiezuvor. Er blickte vor sich, da war der Becher nochnicht leer und die Speisen noch nicht kalt. Der Königfragte, was gewesen, da antworteten die Leute seinerUmgebung: »Der König saß eine Weile schweigendda.« Da verlor der König sich selbst und kam erstnach drei Monaten wieder zu sich. Dann fragte er denMagier.Der Magier sprach: »Ich wandelte im Geiste mitdir, o König, was braucht sich da die Gestalt zu bewegen?Wo wir damals geweilt, das war nicht wenigerwirklich als des Königs Schloß; wohin wir gereist,das war nicht weniger wirklich als des KönigsGarten. Du, o König, bist gewöhnt an die dauerndenZustände und beargwohnst daher solche plötzlich innichts sich auflösende Erscheinungen. Aber die höchsteStufe der Verwandlungskraft kann in einem Augenblickdas (was in unserem Geist als) Vorbild (vorhandenist,) zur Wirklichkeit machen.«Der König war's zufrieden. Er kümmerte sich nichtmehr um die Reichsgeschäfte und hatte keine Lustmehr zu seinen Dienern und Weibern, sondern ent-


schloß sich, in die Ferne zu reisen. Er ließ die acht berühmtenRosse an zwei Wagen spannen und fuhr mitwenigen Getreuen tausend Meilen weit, bis er in dasLand der großen Jäger kam. Die großen Jäger brachtendem König das Blut der Schneegans als Trank darund wuschen seine Füße mit der Milch von Pferdenund Rindern. Ebenso den Leuten des zweiten Wagens.Als sie getrunken, fuhren sie weiter und übernachtetenam Abhang des Kun Lun, im Süden desroten Wassers. Am andern Tage erstiegen sie denGipfel des Kun Lun, um das Schloß des Herrn dergelben Erde zu sehen, und erbauten ihm einen Altar,um es der Nachwelt zu überliefern.Dann weilte er zu Gast bei der Königin-Mutter desWestens, die ihn auf dem Jaspissee bewirtete. DieKönigin-Mutter des Westens sang dem König einLied vor, und der König stimmte ein. Es war ein sehrrührendes Lied. Dann sah er auch, wo die Sonne einkehrt,die täglich zehntausend Meilen weit läuft. Daseufzte der König und sprach: »Wehe, Wir mehrennicht unsere Tugend und pflegen der Freude. DieNachwelt wird Uns das als Fehler anrechnen.«Der König Mu war fast wie die seligen Götter! Eswar ihm vergönnt, die zugemessenen Freuden seinesLebens bis auf die Neige zu kosten, und er verschiednach hundert Jahren. Die Welt aber hielt dafür, er seizur Unsterblichkeit aufgestiegen.


2. Die Lehre vom ScheinLau Tscheng Dsï wollte bei Meister Yin Wen dieLehre vom Schein erlangen. Aber der teilte ihm dreiJahre lang nichts mit. Da bat Lau Tscheng Dsï umAufklärung über seine Fehler und Entlassung. MeisterYin Wen machte ihm eine Verbeugung und führte ihnin sein Gemach.Nachdem er die Leute seiner Umgebung entfernthatte, sprach er also zu ihm: »Als vor Zeiten Lau Dan(Laotse) nach Westen ging, wandte er sich zu mir undsprach: ›Die Kraft, die zu Zeugungen führt, die Form,die zu Gestaltungen führt, sind beide nur Schein. Wasdurch Schöpfung und Wandlung begonnen wird, wasdurch die beiden Weltkräfte verändert wird, heißtZeugung, heißt Tod. Was die Bestimmung bedingt,die Veränderungen durchdringt, die Gestaltungen verursacht,den Wechsel veranlaßt, heißt Wandlung,heißt Schein. Die Macht, die die Welt erschuf, ist geheimnisvollin ihrem Wirken, tief in ihrem Walten,darum ist sie unerschöpflich und unendlich. DieMacht, die die Einzelgestaltungen verursacht, ist offenbarin ihrem Wirken und flach in ihrem Walten,darum wechselt bei ihnen Entstehen und Vergehen.Wer erkennt, daß Schein und Wandlung dasselbe istwie Zeugung und Tod, der erst kann die Lehre vom


Schein erlangen. Ich und du sind auch Schein, wasbraucht man ihn also erst noch zu erlernen!‹«Lau Tscheng Dsï kehrte heim und dachte über dieWorte des Meisters Yin Wen tief nach, drei Monatelang. Da hatte er die freie Herrschaft über Sein undNichtsein. Er konnte die vier Jahreszeiten vertauschen,im Winter Donner und im Sommer Eis machen,die Vögel zu Lauftieren und die Lauftiere zuVögeln machen. Aber sein Leben lang offenbarte ernicht sein Geheimnis, darum ward es in der Weltnicht überliefert.


3. MagieMeister <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Der gute Magier gebrauchtseine geheimen Kräfte im Verborgenen, und seineWerke gleichen (nach außen hin) denen der anderenMenschen. Die großen Taten der heiligen Männer derVorzeit sind nicht notwendig durch die Stärke besondererWeisheit und Muts vollbracht; vielleicht benütztensie zu ihrer Vollendung die Magie. Wer vermagdas zu ergründen?«


4. Wachen und TraumIm Wachsein gibt es acht Erfüllungen. Im Traumlebengibt es sechs Vorbedeutungen. Die acht Erfüllungensind: Absicht, Handlung, Erlangen, Verlieren,Trauer, Freude, Geburt, Tod. Diese acht Erfüllungenwerden durch die Körperlichkeit bedingt. Die sechsVorbedeutungen sind: der rechte Traum, der Warnungstraum,der Sehnsuchtstraum, der Wachtraum,der freudige Traum, der Angsttraum. Diese sechsVorbedeutungen werden durch den Geist eingegeben.Wer die Entstehung der bedingten Veränderungennicht kennt, der wird, wenn ein Fall eintritt, überseine Ursachen im unklaren sein. Wer die Entstehungder bedingten Veränderungen kennt, der wird, wennein Fall eintritt, seine Ursachen erkennen. Wer die Ursachenerkennt, der bleibt frei von aller Verwirrung.Jeder einzelne Körper steht mit seiner Fülle undLeere, seiner Not und Ruhe in durchgehendem Zusammenhangmit der ganzen Welt und steht in Wechselwirkungmit allen Dingen. Darum, wenn die Kraftdes Trüben mächtig ist, so träumt man vom Durchschreitengroßer Wasser und von Beängstigung; wenndie Kraft des Lichten mächtig ist, so träumt man vomDurchschreiten großer Feuer, von Hitze und Helle. Istdas Trübe und Lichte beides mächtig, so träumt man


von Geburt und Tod. Ist man gesättigt, so träumt manvom Spenden; ist man hungrig, so träumt man vomNehmen. Darum, wer an Leichtblütigkeit (Manie) leidet,der träumt von Ausdehnung; wer an Schwermut(Melancholie) leidet, der träumt vom Ertrinken. Wermit umgebundenen Gürtel schlaft, der träumt vonSchlangen. Von wem fliegende Vögel ein Haar imSchnabel halten, der träumt vom Fliegen. Naht mandem Trüben, so träumt man von Feuer, vor einerKrankheit träumt man von Essen. Nachdem manWein getrunken, ist man traurig; nachdem man gesungenund getanzt, weint man.Der Meister <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Was dem Geist vonaußen her begegnet, zeigt sich als Traum, was demKörper von außen her begegnet, zeigt sich als Begebenheit.Daher sind die Vorstellungen des Tages unddie Träume der Nacht äußere Einwirkungen auf Körperund Geist. Darum, wessen Geist in sich fest geworden,für den verschwinden ganz von selbst Vorstellungenund Träume. Darum ist es kein leeres Gerede,daß die wahren Menschen des Altertums im Wachenihr Selbst vergaßen und im Schlafen keine Träumehatten.«


5. Verschiedene Wertung von Wachen undTraumIm südlichsten Winkel des Westpols ist ein Land.Man weiß nicht, wohin sich seine Grenzen erstrecken.Sein Name heißt Gu-Mang-Reich. Dort kreuzen sichnicht die Kräfte des Trüben und Lichten, darum gibtes nicht den Unterschied von Kälte und Wärme. DasLicht von Sonne und Mond scheint nicht, darum gibtes nicht den Unterschied von Tag und Nacht. DieLeute essen nicht und kleiden sich nicht, sondernschlafen meist. Alle fünfzig Tage wachen sie nur einmalauf. Sie halten das, was sie im Traum tun, fürwirklich und das, was sie im Wachen sehen, für nichtig.Inmitten der vier Meere liegt das Reich der Mitte;es breitet sich im Nord und Süd des (gelben) Flussesaus und erstreckt sich im Ost und West des GroßenBerges (Taischan) über tausend Meilen weit. DasTrübe und Lichte ist wohl begrenzt; darum wechseltKälte und Wärme. Dunkel und Licht ist klar geschieden;darum wechselt Tag und Nacht. Unter den Leutengibt es Weise und Toren. Die Natur gedeihtüppig, Kunst und Handwerk sind reich entwickelt,Fürst und Volk stehen einander nahe, Sitte und Rechtstützen einander. Was sie tun und reden, läßt sich


nicht alles einzeln aufzählen. Wachsein und Schlafenwechseln. Was man im Wachen tut, hält man fürwirklich, was man im Traume sieht, für nichtig.Im nördlichsten Winkel des Ostpols ist ein Land,das heißt Fu-Lo-Reich. Sein Klima ist beständig heiß.Sonne und Mond scheinen mit übermäßigem Licht.Die Erde erzeugt nicht gutes Getreide. Die Leuteleben von Wurzeln und Baumfrüchten; sie kennennicht gekochte Speisen. Ihre Natur ist hart und grausam.Starke und Schwache bekämpfen einander. Sieehren nur den Sieger und fragen nicht nach Recht. Sielaufen meist umher und ruhen selten. Sie wachen stetsund schlafen nie.


6. Der Reiche Mann und der Arme KnechtIm Reiche Dschou lebte ein Mann namens Yin, derwaltete über große Güter. Seine Diener und Knechtehatten Tag und Nacht keine Ruhe. Er hatte einen altenKnecht, der war schwach und gebrechlich; den ließ erum so mehr sich anstrengen. Bei Tage tat der Knechtkeuchend seine Arbeit. Des Abends war er erschöpftund schlief fest. Sein Geist wurde frei, und er träumtejede Nacht, daß er ein König sei und über viele Untertanenherrsche. Des ganzen Reichs Geschäfte lagen inseiner Hand. Er lustwandelte in Palästen und Galerienund genoß, was sein Herz begehrte. Seine Wonne warunvergleichbar. Wenn er erwachte, so war er wiederKnecht.Als ihn einst jemand wegen seiner Mühsale bemitleidete,sprach der alte Knecht: »Lebt der Menschauch hundert Jahre, so sind sie doch alle in Tag undNacht geteilt. Ich bin bei Tag ein Sklave. Ist's Mühe,nun gut, so ist's Mühe. Bei Nacht bin ich ein König,dessen Wonnen unvergleichlich sind. Was habe ichda zu klagen?«Der Herr Yin aber hatte in seinem Herzen viel Arbeitmit weltlichen Geschäften und viele Sorgen, seinenBesitz zu mehren. So ward er müde an Seele undLeib. Des Nachts war er auch erschöpft und schlief


ein. Er träumte jede Nacht, daß er ein Knecht sei, derherumlaufen und jeglichen Dienst verrichten mußte.Scheltworte gab's und Stockstreiche: nichts wurdeihm erspart. Im Schlafe stöhnte und keuchte er, underst wenn der Morgen nahte, kam er wieder zur Ruhe.Als Herr Yin einst einen Freund über sein Leidenbefragte, sprach der Freund: »Deine Stellung gibt dirgenug an Ehren; an Schätzen und Reichtümern hastdu Überfluß. Du bist weit besser daran als andreMenschen. Daß du bei Nacht träumst, du seiest einKnecht, das entspricht der allgemeinen Erfahrung,daß Freud und Leid der Bestimmung nach sich abwechseln.Du möchtest es im Wachen und Schlafengleich gut haben; das wird aber niemand zuteil.«Herr Yin vernahm die Rede seines Freundes. Under erleichterte die Arbeit seines Knechts und verringertedie Geschäfte, die ihm selber Sorgen machten.Dadurch ward seine Krankheit etwas besser.


7. Das RehTraumeswirrenEin Mann aus Dscheng war in die Steppe gegangen,um Brennholz zu suchen. Da traf er ein aufgescheuchtesReh. Er fing es, schlug es, tötete es. Auf daß keinanderer es finde, barg er es in einem leeren Grabenund deckte es mit Reisern zu. Er konnte seine Freudenicht bemeistern. Doch er verlor plötzlich den Ort, daer es versteckt. So hielt er alles für einen Traum. Erging des Wegs dahin und sagte sein Erlebnis vor sichhin. Ein andrer vernahm es; er merkte sich seineReden und fand das Reh.Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Hausfrauund sprach: »Vorhin hat ein Reisigsammler im Traumein Reh gefangen, doch wußte er nicht seinen Ort. Ichhabe es nun gefunden. Er hatte also einen wahrenTraum gehabt.« Die Hausfrau sprach: »Du hast wohlim Traum einen Reisigsammler gesehen und so dasReh gefunden. Wo soll denn auf einmal solch ein Reisigsammlerherkommen? Nun hast du ja in Wirklichkeitein Reh gefunden, so ist also dein Traum wahrgewesen.« Der Mann sprach: »Ich habe das gefundeneReh in Händen; was brauche ich zu wissen, ob er geträumtoder ich geträumt?«


Der Reisigsammler ging nach Hause und war überden Verlust des Rehes nicht ärgerlich. In derselbenNacht sah er im Wahrtraum den Ort, da er es verborgen,und träumte auch den Finder, der er gefunden.Am andern Morgen ging er dem nach, was er geträumt,und fand ihn richtig. Nun stritten sie sich umdas Reh, und die Sache kam vor den Richter. DerRichter sprach: »Hast du erst in Wirklichkeit das Rehgefunden und hieltest das dann fälschlich für einenTraum, oder hast du in Wirklichkeit geträumt, daß dudas Reh gefunden, und hältst es nun fälschlich füreine Tatsache? Hat jener wirklich dein Reh genommenund streitet nun mit dir um das Reh? Und dieHausfrau behauptet gar, daß er im Traum den Mannund das Reh erblickt und gar niemand war, der dasReh gefunden. Nun haben wir handgreiflich diesesReh vor uns. Ich bitte, es in zwei Teile zu teilen undden Fürsten von Dscheng darüber zu hören.«Der Fürst von Dscheng sprach: »Ei, der Richterträumt wohl seinerseits, das Reh der Leute zu teilen!«und fragte den Reichskanzler. Der Reichskanzlersprach: »Ob es Traum war oder nicht; Traum istetwas, das ich nicht entscheiden kann. Wollte manentscheiden, was Traum, was Wachen war, so könntedas nur der weise Herr der gelben Erde oder KungKiu (Konfuzius). Nun gibt es aber keinen Herrn dergelben Erde oder Kung Kiu mehr: wer sollte da ent-


scheiden? Man mag daher nach den Worten des Richterstun.«


8. Schlimme HeilungHua Dsï aus Yang Li in Sung erkrankte in seinenmittleren Jahren an Vergeßlichkeit. Was er morgensgenommen, hatte er abends vergessen; was er abendsgegeben, hatte er morgens vergessen; unterwegs vergaßer zu gehen; daheim vergaß er zu sitzen; heutewußte er nicht mehr, was früher war; später wußte ernicht mehr, was heute war. Das ganze Haus war darüberim Unglück. Man bat den Zeichendeuter. Derfragte das Orakel darüber, aber es kam kein Spruch.Man bat den Zauberer. Der betete darüber, aber erbannte es nicht. Man bat den Arzt. Der kurierte daran,aber es hörte nicht auf.In Lu war ein Gelehrter, der bot sich selber an, esheilen zu können. Die Angehörigen des Hua Dsïboten ihm die Hälfte ihres Vermögens und baten umsein Mittel. Der Gelehrte sprach: »Das ist wahrlichnicht etwas, das durch Orakel erfragt oder durch Gebeteerbeten oder durch Medizinen geheilt werdenkann. Ich werde versuchen, sein Herz zu wandeln,seine Sorgen zu ändern, vielleicht wird es hernachbesser.«So versuchte er es denn und entblößte ihn, da bat erum Kleider; er ließ ihn hungern, da bat er um Speise;er sperrte ihn ins Dunkle, da bat er um Licht. Da


sagte es der Gelehrte vergnügt seinem Sohne undsprach: »Die Krankheit kann geheilt werden. Doch istmein Mittel ein Geheimnis, das man nicht andernsagen kann. Laßt einmal alle Umstehenden sich entfernenund mich allein mit ihm bleiben sieben Tagelang.« Sie folgten ihm und wußten nicht, was er mitihm tat. Und wirklich war die Krankheit vieler Jahrean Einem Morgen ganz verschwunden.Als Hua Dsï nun zu sich gekommen war, da warder sehr zornig. Er vertrieb sein Weib und schlug seinenSohn und nahm einen Speer und verfolgte damitden Gelehrten. Die Leute von Sung hielten ihn festund fragten, warum er das tue. Hua Dsï sprach: »Vorherwar ich in Vergessenheit versunken und gleichgültig.Ich merkte nicht, ob es eine Welt gab odernicht. Nun bin ich zum Bewußtsein erwacht, und wasmir während dieser Jahrzehnte widerfahren an Bestehenund Vergehen, Gewinn und Verlust, Trauer undFreude, Liebe und Haß, regt sich mit tausend Verstrickungenverwirrend in mir. Ich fürchte, daß auchBestehen und Vergehen, Gewinn und Verlust, Trauerund Freude, Liebe und Haß der Zukunft also meinHerz verwirren werden. O, daß ich doch jene Vergessenheitauch nur auf einen Augenblick wieder findenkönnte!«Dsï Gung vernahm davon und wunderte sich darüber,also daß er es dem Meister Kung erzählte. Mei-


ster Kung sprach: »Das ist nichts, das du verstehenkönntest.« Er wandte sich darauf an Yän Hui undsagte: »Merk es dir!«


9. Wer ist verrückt?Herr Pang aus Tsin hatte einen Sohn, der war in seinerKindheit klug gewesen. Als er aber heranwuchs,da erkrankte er an Verrücktheit. Hörte er Gesang, sohielt er es für Weinen; sah er Weißes, so hielt er esfür schwarz; roch er Duft, so hielt er es für Gestank;schmeckte er Süßes, so hielt er es für bitter; tat erSchlechtes, so hielt er es für recht. In seinen Gedankenwaren die vier Himmelsrichtungen, Feuer undWasser, Kalt und Warm, und alles, was auf der Weltist, in ihr Gegenteil verkehrt.Ein Mann namens Yang sagte zu seinem Vater:»Der große Mann in Lu (Konfuzius) kennt viele Mittelund Wege; der kann es vielleicht beseitigen. Willstdu ihn nicht befragen?« Der Vater ging darauf nachLu. Als er durch Tschen kam, begegnete er dem LauDan. Darum erzählte er ihm den Zustand seines Sohnes.Lau Dan sprach: »Wie weißt du denn, daß deinSohn verrückt ist? Heutzutage ist die ganze Welt imZweifel über Recht und Unrecht und im Irrtum überGut und Schlecht. Aber es sind viele, die an derselbenKrankheit leiden, darum merkt es keiner. Außerdem:wenn ein Mensch verrückt ist, wird dadurch nochnicht seine ganze Familie umgekehrt. Wenn eine Ge-


meinde verrückt ist, wird dadurch noch nicht dasganze Land umgekehrt. Wenn ein Land verrückt ist,wird dadurch noch nicht die ganze Welt umgekehrt.Wenn aber die ganze Welt verrückt ist, wer will siedann umkehren? Nun laß einmal die ganze Welt sofühlen wie dein Sohn, dann bist umgekehrt du derVerrückte. Was traurig ist und freudig, Ton, Farbe,Geruch, Geschmack, Recht und Unrecht: wer kanndas unbedingt feststellen? Außerdem ist es auch garnicht ausgemacht, daß das, was ich da zu dir sage,nicht verrückt ist. Was soll da erst der große Mann inLu, der ein Verbreiter aller Verrücktheit ist! Wie kannder die Verrücktheiten andrer Menschen heilen? Dutätest wohl besser daran, dein Reisegeld zu sparenund schleunigst wieder heimzugehen.«


10. Verfrühte RührungEin Mann aus Yän war in Yän zur Welt gekommen,aber in Tschu aufgewachsen. Als er alt geworden,kehrte er in sein Heimatland zurück. Er kam durchdas Land <strong>Dsi</strong>n. Da log ihn ein Mitreisender an, deuteteauf die Stadt und sprach: »Das ist die Hauptstadtdes Landes Yän.« Da errötete jener Mann und verzogdie Mienen. Er deutete auf die Altäre und sprach:»Das sind die Altäre deiner Heimat.« Da seufzte ertief. Er deutete auf eine Hütte und sprach: »Das ist dieBehausung deiner Ahnen.« Da schluchzte er undschneuzte sich. Er deutete auf die Gräber und sprach:»Hier ist die Ruhestätte deiner Ahnen.« Da weintejener Mann fassungslos. Der Mitreisende lachte lautund sprach: »Ha, ha, ha, ich habe eben nur Spaß gemacht.Das ist das Land <strong>Dsi</strong>n.« Jener Mann ward sehrbeschämt. Und als er dann ins Land Yän kam undwirklich die Hauptstadt und die Altäre seiner Heimatsah und wirklich die Behausung und die Ruhestätteseiner Ahnen sah, da waren seine gerührten Gefühlesehr zusammengeschmolzen.


Buch IVKonfuzius.Hingabe ans All»Und solang du das nicht hast / Dieses: Stirb undWerde / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklenErde.«1. WelterlösungsschmerzenDschung Ni (Konfuzius) weilte einst in der Zurückgezogenheit.Dsï Gung trat ein, um bei ihm zu sein. Eraber sah bekümmert aus. Dsï Gung wagte nicht zufragen. Er ging wieder hinaus und teilte es Yän Huimit. Yän Hui ergriff die Zither und sang.Meister Kung hörte es, und richtig rief er ihn zusich hinein. Er fragte ihn und sprach: »Warum bist duin deiner Einsamkeit so fröhlich?« Yän Hui sprach:»Warum ist der Meister in seiner Einsamkeit bekümmert?«Meister Kung sprach: »Sage mir zuerst, wasdich bewegt.« Er sprach: »Ich hörte einst den Meistersagen, wer Frieden mit Gott habe und seinen Willenkenne, brauche niemals Kummer zu haben; darum binich fröhlich.«


Der Meister Kung errötete und sprach nach einerWeile: »Das hätte ich gesagt? Deine Gedanken sindauf falscher Bahn. Was ich da früher gesagt habe, dasbitte ich durch das, was ich jetzt sage, richtigzustellen.Du hast allerdings erkannt, daß, wer Frieden mitGott hat und seinen Willen kennt, keinen Kummerhat, aber du hast noch nicht erkannt, daß gerade werFrieden mit Gott hat und seinen Willen kennt, den allergrößtenKummer hat.Nun will ich dir sagen, wie es in Wirklichkeitdamit steht. Allein sein Selbst veredeln ohne Rücksichtauf Erfolg oder Nichterfolg, erkennen, daß äußereSchicksale und Verluste nicht unser wahres Ich betreffen,und sich nicht die Gedanken des Herzens verwirrenlassen: das ist es, was du meinst, wenn dusagst: wer Frieden mit Gott hat und seinen Willenkennt, hat keinen Kummer.Ich habe einst die Lieder und Urkunden verbessert,die Lebensregeln und die Kunst gereinigt, um derNachwelt die Mittel zur Ordnung des Erdkreises zuhinterlassen; nicht nur mein eignes Selbst zu veredelnund den Staat Lu zu ordnen, war meine Absichtdabei. Und doch ging selbst in Lu die Ordnung imStaate verloren, Sittlichkeit und Pflicht verkamenimmer mehr, und das Gemüt des Volkes verrohteimmer mehr. So wenig vermochte auch nur in einemeinzigen Staate der Gegenwart der Sinn jener Lehren


durchzudringen. Wie soll es da erst mit dem ganzenErdkreis in künftigen Zeiten werden!Ich habe zwar erkannt, daß Lieder und Urkunden,Lebensregeln und Kunst keine Rettung aus der Verwirrungbringen können, aber ich habe das Mittel zurwahren Erneuerung noch nicht gefunden. Das ist derKummer, den man hat, wenn man Frieden mit Gotthat und seinen Willen kennt.Immerhin habe ich die Einsicht erlangt, daß, wasman so Friede und Erkenntnis nennt, nicht das ist,was die Alten Friede und Erkenntnis nannten. Jenseitsdieses Friedens und dieser Erkenntnis ist der wahreFriede und die wahre Erkenntnis. Darum hat man allenthalbenFrieden, allenthalben Erkenntnis, allenthalbenKummer und allenthalben Erfolg. Die Lieder undUrkunden, die Lebensregeln und die Kunst brauchtman darum nicht zu verwerfen, aber die Erneuerungführen sie nicht herbei.«Yän Hui stand mit gefalteten Händen nach Nordengewandt und sprach: »Auch ich habe die Einsicht erlangt.«Er ging hinaus und sagte es Dsï Gung. DsïGung geriet in äußerste Verwirrung und verlor allenHalt. Er kehrte nach Hause zurück und überließ sichden einstürmenden Gedanken. Sieben Tage langkonnte er weder schlafen noch essen, bis er schließlichzum Gerippe abmagerte. Yän Hui ging häufig zuihm und sprach ihm zu. Da kehrte er in die Lehre des


Meisters zurück, spielte und sang und sagte die Urkundenher ohne Unterbrechung sein ganzes Lebenlang.


2. Verschiedene HeiligkeitDer Kanzler von Tschen weilte als Gast im Staate Lu.Er besuchte den Freiherrn Schu Sun. Der sprach:»Wir haben einen Heiligen im Land.« Der andre fragte:»Doch nicht etwa Kung Kiu?« »Gewiß!« war dieAntwort. »Und woher weiß man, daß er ein Heiligerist?« Schu Sun sprach: »Ich habe schon oft den YänHui sagen hören, daß Kung Kiu es über sich bringt,die Stimmungen auszutilgen, um des Leibes Meisterzu werden.«Der Kanzler von Tschen sprach: »Wir haben aucheinen Heiligen im Land. Wißt ihr das nicht?« »Undwie heißt denn dieser Heilige?« »Unter den SchülernLau Dan's gibt es einen namens Geng Sang Dsï, derden SINN des Lau Dsï erlangt hat. Der kann mit denOhren sehen und mit den Augen hören.« Der Fürstvon Lu hörte davon und wunderte sich sehr. Er sandteeinen vornehmen Boten mit reichen Geschenken, umihn holen zu lassen. Geng Sang Dsï folgte der Einladungund kam. Der Fürst von Lu befragte ihn mit höflichenWorten. Geng Sang Dsï sprach: »Diese Berichtesind falsch. Ich kann sehen und hören, ohne Augenund Ohren zu gebrauchen, aber ich kann nicht denGebrauch von Aug' und Ohr vertauschen.« Der Fürstvon Lu sprach: »Das ist ja noch merkwürdiger. Ich


wünschte gerne zu hören, wie das zugeht.« GengSang Dsï sprach: »Mein Leib ist eins mit dem Gefühl,das Gefühl ist eins mit der Kraft, die Kraft ist eins mitdem Geist, der Geist ist eins mit dem Jenseits. Daswinzigste Wesen, der leiseste Ton, mögen sie fernesein außerhalb der acht Wüsten oder nahe innerhalbder Augenwimpern, sie haben Einfluß auf mich undich erkenne sie mit Notwendigkeit. Aber ich weißnicht, ob es eine sinnliche Empfindung und eine seelischeErkenntnis ist. Ich habe nur die Erkenntnis ansich, nichts weiter.« Der Fürst von Lu war sehr befriedigtund erzählte es Tags darauf dem Dschung Ni(Konfuzius). Dschung Ni lächelte und erwidertenichts.


3. Der ferne HeiligeDer Statthalter von Schang besuchte den MeisterKung und sprach: »Bist du ein Heiliger?« MeisterKung sprach: »Ein Heiliger! Wie könnte ich das mirunterstehen! Ich bin nur im Lernen bewandert undhabe viele Kenntnisse.« Der Statthalter von Schangsprach: »Waren die drei Könige Heilige?« MeisterKung sprach: »Die drei Könige waren tüchtig in derAusübung von Weisheit und Tatkraft. Waren sie Heilige,so weiß ich das nicht.« »Waren die fünf HerrscherHeilige?« Meister Kung sprach: »Die fünf Herrscherwaren tüchtig in der Ausübung von Sittlichkeitund Pflicht. Waren sie Heilige, so weiß ich dasnicht.« »Waren die drei Erhabenen Heilige?« MeisterKung sprach: »Die drei Erhabenen waren tüchtig inder Ausübung dessen, was die Zeit verlangte. Warensie Heilige, so weiß ich das nicht.«Da verwunderte sich der Statthalter sehr undsprach: »Ja, wer ist dann heilig?« Meister Kung verändertedie Miene und sprach nach einer Weile:»Unter den Leuten der Westgegend, da gibt es ja wohleinen Heiligen. Er ordnet nichts, und doch ist nichtsverwirrt, er redet nichts, und alles glaubt von selber,er bessert nichts, und alles geht von selber. Unbegreiflichist er! Und die Leute finden keinen Namen


für ihn. Ich vermute, der ist wohl heilig. Ob er inWahrheit ein Heiliger ist, oder in Wahrheit kein Heiligerist – das weiß ich nicht.« Der Statthalter schwiegund überlegte in seinem Herzen: »Der Kung Kiu hatmich wohl zum besten?«


4. Πλεον η‘μισυ παντοςDsï Hia fragte den Meister Kung und sprach: »Wasist von Yän Hui als Menschen zu halten?« Der Meistersprach: »In der Liebe ist er mir überlegen.« Ersprach: »Was ist von Dsï Gung als Menschen zu halten?«Der Meister sprach: »An Scharfsinn ist er mirüberlegen.« Er sprach: »Was ist von Dsï Lu als Menschenzu halten?« Der Meister sprach: »An Kühnheitist er mir überlegen.« Er sprach: »Was ist von DsïDschang als Menschen zu halten?« Der Meistersprach: »An Würde ist er mir überlegen.«Dsï Hia stand von seinem Platze auf und sprach:»Ja, wie kommt es denn, daß die vier dem Meisterdienen?« Der Meister sprach: »Setz' dich, ich will esdir erklären. Yän Hui kann wohl lieben, aber er kannnicht widersprechen. Sï (Dsï Gung) kann wohl scharfsinnigsein, aber er kann nicht andern zustimmen. Yu(Dsï Lu) kann wohl kühn sein, aber er kann sich nichtvorsichtig zurückhalten. Schï (Dsï Dschang) kannwohl würdevoll auftreten, aber er kann sich nicht anderngesellen. Nimm die Eigenschaften der vier zusammen,um mit mir zu tauschen: ich tue nicht mit.Das ist der Grund, warum sie mir dienen und keinemandern.«


5. <strong>Liä</strong> Dsï und sein Nachbar(Erzählt den ergebnislosen Besuch <strong>Liä</strong> Dsï's beieinem Nachbarphilosophen.)


6. Die Entwicklung des <strong>Liä</strong> Dsï(Teilweise Wiederholung Von II, 3.)


7. Das WandernAnfangs liebte es der Meister <strong>Liä</strong> Dsï zu wandern. HuKiu Dsï sprach: »Du liebst zu wandern. Was ist amWandern zu lieben?« <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Des WandernsLust ist, daß man die Zwecklosigkeit genießt. DieMenschen wandern zu schau'n, was sie seh'n, ich aberwandere zu schauen den Wechsel. Wandern und wandern:noch niemand gab es, der das Wandern unterscheidenkonnte.«Hu Kiu Dsï sprach: »Dein Wandern gleicht wahrlichdem der andern, und du behauptest dennoch, essei von dem der andern wahrlich verschieden. Aberbei allem, was man sieht, sieht man beständig auchden Wechsel. Du genießt die Zwecklosigkeit der Außenwelt,aber du hast die Zwecklosigkeit des eignenIchs noch nicht erkannt. Wer auf das Äußere achthatbeim Wandern, versteht nicht, aufs Innere achtzuhaben.Der Wandrer, der nach außen blickt, sucht dieVollkommenheit bei den Dingen. Wer nach innenblickt, findet Genüge im eignen Selbst. Genüge imeignen Selbst zu finden, das ist des Wanderns höchsteStufe. Vollkommenheit bei den Dingen zu suchen, dasist noch nicht die höchste Stufe des Wanderns.«Darauf wollte <strong>Liä</strong> Dsï sein Leben lang nicht mehrhinaus und dachte bei sich selbst, daß er das Wandern


noch nicht verstehe.Hu Kiu Dsï sprach: »Wandre zum höchsten Ziel!Wer dieses Ziel des Wanderns erreicht, der weiß nichtmehr, wohin es geht; wer das Ziel des Schauens erreicht,der weiß nicht mehr, was er erblickt. AllenDingen begegnet er auf seiner Wanderschaft. AlleDinge schaut er so. Das ist's, was ich wandern nenne,das ist's, was ich schauen nenne. Darum sage ich:Wandre zum höchsten Ziel! Wandre zum höchstenZiel!«


8. Selbstlosigkeit als KrankheitLung Schu wandte sich an Wen Dschï und sprach:»Eure Kunst ist fein. Ich habe eine Krankheit, könntIhr sie heilen?« Wen Dschï sprach: »Ich stehe zurVerfügung. Doch sagt mir erst die Zeichen EurerKrankheit.«Lung Schu sprach: »Das Lob meiner Mitbürger istfür mich nicht Ehre. Der Tadel meiner Landsleute istfür mich nicht Schande. Gewinn erfreut mich nicht,Verlust betrübt mich nicht. Leben und Tod gilt mirgleich. Reichtum und Armut gilt mir gleich. Die Menschengelten mir nicht mehr als Schweine, ich geltemir nicht mehr als andre. Ich weile in meiner Heimatwie in einer Herberge auf der Wanderschaft. MeinVaterland ist vor meinen Blicken wie ein fremdesLand. Unter allem diesen leide ich. Titel und Lohnspornt mich nicht an. Strafen und Bußen schreckenmich nicht ab. Wohlergehen und Verfall, Gewinn undSchaden können mich nicht wandeln. Freude undTrauer können mich nicht ändern. Darum bin ich ungeschicktzum Fürstendienst, zum Verkehr mit Verwandtenund Freunden, zum Walten über Weib undKind, zum Herrschen über Diener und Knechte. Wasist das für eine Krankheit, und welches Mittel kannsie heilen?«


Wen Dschï ließ nun den Lung Schu mit dem Rükkengegen das Licht stehen. Er selbst sah ihn vom Innern(des Zimmers) her gegen das Licht an. Dannsprach er: »Ei, ich sehe Euer Herz; seine Stelle istganz leer. Beinahe ein Heiliger! Sechs ÖffnungenEures Herzens münden ins All, nur eine Öffnung gehtnicht durch. Heutzutage hält man heilige Weisheit füreine Krankheit. Das mag es wohl sein. Das ist abernicht etwas, das meine geringe Kunst zu heilen vermag.«


9. Das Gesetz des Lebens und des TodesDas Unbedingte, ewig Zeugende ist der SINN. Daßdas im Leben gegründete Leben, obwohl ans Endekommend, nicht aufhört, ist ewiges Gesetz. Tod, deraus Leben kommt, ist Unglück. Daß das Bedingteewig stirbt, ist ebenfalls der SINN. Daß der im Todegegründete Tod, obwohl noch nicht ans Ende gekommen,von selber aufhört, ist ebenfalls ewiges Gesetz.Leben, das aus dem Tode kommt, ist Glück.Darum, was ohne Mittel Leben zeugt, heißt SINN.Wer diesen SINN auswirkt, findet Vollendung: das istewiges Gesetz. Daß, was der Mittel bedarf, stirbt,heißt ebenfalls SINN. Wer diesen SINN auswirkt, istdem Tod verfallen; auch das ist ewiges Gesetz.Als Gi Liang starb, blickte Yang Dschu nach seinerTür und sang. Als Sui Wu starb, strich YangDschu über seinen Leichnam und weinte. Die Mengeaber singt, wenn wer geboren wird, und weint, wenneiner stirbt.


10. WendepunkteIst das Auge am Erblinden,sieht es jedes feinste Härchen.Ist das Ohr dem Taubsein nahe,hört es kleinster Mücken Schwirren.Eh' der Gaumen völlig stumpf wird,kennt er Wasser nach der Quelle.Will sich der Geruch verlieren,kennt er dürren Holzes Moder.Ist der Körper am Erlahmen,rastlos muß er sich bewegen.Eh' im Herzen Wahnsinn dunkelt,scheidet klar es Recht und Unrecht.Eh' das Äußerste erreicht ist,kehrt sich nichts ins Gegenteil.


11. Staat und AnarchismusIm Flachlande von Dscheng gab es viele weltabgewandteEremiten; in Ostdorf dagegen viele praktischeStaatsmänner. Unter den Anhängern jener Eremitendes Flachlandes war einer namens Be Feng Dsï. Derkam durch die Gegend von Ostdorf und begegnetedem Staatspolitiker Deng Si. Deng Si wandte sich zuseinen Schülern, lächelte und sprach: »Wie wäre es,wenn ich für euch den Ankömmling da ein wenig behandelte?«Seine Schüler sprachen: »Das ist's gerade,was wir sehen möchten.«Deng Si wandte sich nun an Be Feng Dsï undsprach: »Weißt du wohl, welche Pflichten aus der Bedürfnisbefriedigungerwachsen? Wesen, die sich nurvon Menschen füttern lassen, ohne selbst sich nährenzu können, gehören zur Gattung der Hunde undSchweine. Und es steht in der Macht des Menschen,die Wesen, die er füttert, für seine Zwecke zu benützen.Daß deine Genossen sich satt essen und in Ruhesich kleiden können, ist das Werk der Lenker desStaates. Wenn Alte und Junge in Herden beieinanderleben in Ställe eingepfercht, wodurch unterscheidensich solche Küchengeschöpfe von Hunden undSchweinen?« Be Feng Dsï erwiderte nichts. Da durchbracheiner seiner Schüler die Ordnung, trat vor und


sprach: »Hat der Herr Doktor noch nicht gehört, daßes in unserem Land gar viele geschickte Arbeitergibt? Es gibt Leute, die tüchtig sind in Erd- und Holzarbeiten,Leute, die tüchtig sind in Metall- und Lederarbeiten,Leute, die tüchtig sind in Musik und Tönen,Leute, die tüchtig sind im Schreiben und Rechnen,Leute, die tüchtig sind im Kriegshandwerk, Leute, dietüchtig sind im Tempeldienst. Ganze Scharen von begabtenLeuten sind vorhanden. Aber ohne gegenseitigeEinordnung können sie einander nicht gebrauchen.Aber die, die sie einordnen, wissen nichts; die, die siegebrauchen, können nichts. Aber die, die etwas wissenund etwas leisten können, bedienen sich dieser(Leitenden). Darum sind die Lenker des Staates unsereAngestellten. Was braucht der Herr sich da großzutun?«Deng Si wußte nichts zu erwidern. Er sah seineSchüler an und zog sich zurück.


12. Beherrschte KraftDer Graf Gung I war wegen seiner Stärke berühmtunter den Fürsten. Der Herzog Tang Ki erzählte vonihm dem König Süan vom Hause Dschou. Der Königrichtete Geschenke zu, um ihn zu Gast zu bitten. DerGraf Gung I kam. Sah man seine Gestalt an, so erschiener wie ein Schwächling. Der König Süan hegteMißtrauen in seinem Herzen und sprach zweifelnd:»Wie groß ist deine Stärke?« Graf Gung I sprach:»Meine Stärke reicht hin, die Beine einer Frühlingsheuschreckezu brechen und einer Herbstzikade Flügelzu ertragen.«Dem König stieg das Blut zu Kopf, und er sprach:»Die Starken unter meinen Leuten können die Hauteines Nashorns zerreißen und neun Stiere am Schwanzeschleppen, und doch sind sie mir zu schwach. Dubrichst einer Frühlingsheuschrecke die Beine undhältst die Flügel einer Herbstzikade aus, und dochhört man auf der ganzen Welt von deiner Stärke. Wiegeht das zu?«Der Graf Gung I atmete tief, stand von seiner Matteauf und sprach: »Wahrlich, gut ist deine Frage, oKönig! Ich wage es, der Wirklichkeit entsprechend zuerwidern: Mein Lehrer war ein Mann namens SchangKiu Dsï, dessen Stärke niemand auf Erden gewachsen


war; doch wußten selbst seine Nächsten nichts davon,darum daß er niemals seiner Stärke sich bediente. Ichdiente ihm bis zum Tode. Da sagte er mir: ›Wer Außerordentlichessehen will, muß auf das blicken, wasdie andern nicht beachten. Wer Unerreichtes erreichenwill, muß auf das blicken, was die andern nicht beachten.Wer Unerreichtes erreichen will, muß daspflegen, was die andern nicht tun. Darum, wer sich imSchauen übt, mag erst einen Heuwagen ansehen. Wersich im Hören übt, mag erst auf Glockenschläge horchen.Was leicht geworden ist im Innern, macht imÄußern keine Schwierigkeiten mehr. Wenn man aberim Äußern keine Schwierigkeiten mehr findet, sodringt der Name nicht über das eigne Heim hinaus.‹Daß nun mein Name unter den Fürsten bekannt gewordenist, zeigt, daß ich meines Meisters Lehrenmißachtet und meine Fähigkeiten geoffenbart habe.Aber dennoch beruht mein Name nicht darauf, daß ichmeine Stärke mißbrauche, sondern darauf, daß ichmeine Stärke zu gebrauchen weiß. Ist das nicht besser,als seine Kraft zu mißbrauchen?«


13. Sophismen(Der Abschnitt ist späterer Zusatz)


14. Des Volkes StimmeYau waltete über dem Erdkreis fünfzig Jahre lang undwußte nicht, ob der Erdkreis in Ordnung sei odernicht in Ordnung sei, ob die Millionen sich ihm willigfügten oder nicht. Er wandte sich fragend an seineUmgebung. Seine Umgebung wußte es nicht. Er fragtedie von außen her zu Hofe kamen, aber auch siewußten es nicht. Er fragte die auf den Feldern, aberauch sie wußten es nicht. Da ging Yau in geringerKleidung auf die Wanderschaft. In Kang Kü hörte erdie Kinder ein Gassenlied singen:»Unsre vielen VolksgenossenKommen ohne Arg zum Ziele.Ohne alles eigne WissenFolgen sie des Herren Willen.«Yau war erfreut und fragte: »Wer hat euch dieses Liedgelehrt?« Die Knaben sprachen: »Wir haben's vomVogte gehört.« Er fragte den Vogt, der sprach: »Dasist ein altes Lied.« Yau kehrte heim zu seinemSchloß. Er berief den Schun und übergab ihm denErdkreis. Schun weigerte sich nicht und nahm an.


15. Erlösung vom IchGuan Yin Hi sprach: »Wer nicht an seinem Eignenhaftet, dem gibt sich die Leiblichkeit und die Außenweltkund. In seinen Handlungen ist er (schmiegsam)wie das Wasser. In seiner Ruhe ist er wie ein Spiegel.In seinen Gegenwirkungen ist er wie das Echo.Darum ist sein SINN ein treues Abbild der Außenwelt.Die Außenwelt widerstrebt wohl ihrerseits demSINN, aber der SINN widerstrebt nicht der Außenwelt.Darum, wer sich auf diesen SINN versteht, derbedarf nicht des Ohrs, noch des Auges, noch der Stärke,noch des Bewußtseins.Wer diesen SINN begehrt und sucht ihn mit Augeund Ohr, mit der Leiblichkeit und mit Erkenntnis, derist auf falscher Fährte. Er starrt nach vorne, undplötzlich ist er hinter ihm. Gebraucht man ihn, so erfüllter alle Leere, tut man ihn ab, so weiß man nicht,wo er geblieben ist. Er ist weder fern, daß man ihndurch bewußtes Suchen finden könnte, noch ist ernahe, daß man ihn durch unbewußten Zufall findenkönnte. Nur schweigend erlangt man ihn. Und nurwer sein Wesen zur Vollendung gebracht, erlangt ihn.Erkennen ohne Leidenschaft, Vermögen ohneHandlungen ist wahres Erkennen und wahres Vermögen.Wer die Aufhebung des Erkennens in sich ent-


wickelt, wie kann der noch leidenschaftlich sein? Werdie Beseitigung des Vermögens in sich entwickelt,wie kann der noch sich in Handlungen verstricken?Wer Irdisches sammelt und Staub aufhäuft, ist, ob erauch Geschäftigkeit meidet, noch nicht zur wahrenVernunft durchgedrungen.«


Buch VDie Fragen Tang's.Antinomien»Und es ist das Ewig Eine / Das sich vielfachoffenbart / Klein das Große, groß das Kleine / Allesnach der eignen Art.«1. Widerstreit der Ideen von Raum und ZeitTang vom Hause Yin fragte Gi von Hia und sprach:»Gab es am Uranfang keine Welt?« Gi von Hiasprach: »Wenn es am Uranfang keine Welt gegebenhätte, wie könnte es dann heute eine Welt geben? Dakonnten in Zukunft die Menschen auch behaupten,daß es heute keine Welt gebe.«Tang von Yin sprach: »Dann gibt es also in derWelt kein Vorher und Nachher?« Gi von Hia sprach:»Ende und Anfang in der Welt sind nicht fest begrenzt.Jeder Anfang kann als Ende aufgefaßt werden,jedes Ende kann als Anfang gesetzt werden: wie sollich ihren Verlauf erkennen können? Was jenseits derWelt liegt, was vor den Erscheinungen ist, ist etwas,das ich nicht erkennen kann.«


Tang von Yin sprach: »Gibt es dann im Raum eineäußere Grenze und letzte einfache Teile?« Gi von Hiasprach: »Das weiß ich nicht.« Tang fragte dringender.Gi sprach: »Gibt es einen leeren Raum, so hat erkeine Grenzen, gibt es nur erfüllten Raum, so hat erletzte einfache Teile. Wie kann ich das erkennen?Doch kann man jenseits der Grenzen des Leeren nocheinmal ein grenzenlos-grenzenloses Leere denken, innerhalbder unendlich kleinen Teile noch einmal unendlich-unendlichkleine Teile denken. Da jenseits desGrenzenlosen noch wieder ein grenzenlos Grenzenlosesund innerhalb des unendlich Kleinen noch wiederein unendlich-unendliches Kleines ist, so kann ich mirdenken, daß es keine Grenzen und keine letzten einfachenTeile gibt, nicht aber denken, daß es Grenzenund einfache Teile gibt.«Tang fragte abermals und sprach: »Und wie ist esjenseits der vier Meere?« Gi sprach: »Grade so wiehier bei uns.« Tang sprach: »Wie willst du das beweisen?«Gi sprach: »Wenn ich nach Osten gehe, sokomme ich nach Ying. Dort sind die Leute grade wiehier. Und wenn ich frage, wie es östlich von Ying ist,so ist es dort grade wie in Ying. Gehe ich nach Westen,so komme ich nach Bin. Dort sind die Leutegrade wie hier. Und wenn ich frage, wie es westlichvon Bin ist, so ist es dort grade wie in Bin. Daherweiß ich, daß es jenseits der vier Meere, jenseits der


vier Wüsten, jenseits der vier Pole nicht anders ist alshier.Weil immer ein Größeres das Kleinere in sich befaßt,darum gibt es kein Ende und keine Grenze. Esgibt etwas, das die Natur in sich befaßt, wie es auchetwas gibt, das die Welt in sich befaßt. Weil es etwasgibt, das die Natur in sich befaßt, darum gibt es keinEnde. Weil es etwas gibt, das die Welt in sich befaßt,darum gibt es keine Grenze. Wie kann ich auch wissen,ob es um unsere Welt herum nicht noch eine größereWelt gibt? Anderseits übersteigt das auch dasWissen. Immerhin folgt daraus, daß die Welt auch zurNatur gehört. Die Natur aber ist unvollkommen.(Darum hat vor alters Nü Wa Steine von allen Farbenausgesucht, um den Schaden auszubessern undhat die Beine einer Riesenschildkröte abgebrochen,um sie als die vier Pole aufzustellen. Nach ihm kamGung Gung; als der mit Dschuan Hü um die Herrschaftstritt, stieß er in seinem Zorn an den Berg Unvollkommenund zerbrach des Himmels Säule undzerriß der Erde Band. Darum fiel der Himmel nachNordwesten, und Sonne, Mond und Sterne neigen sichseitdem dorthin. Die Erde aber füllt den Südostennicht mehr aus, darum fließen alle Flüsse und Strömedorthin.«)


2. Relativität der GegensätzeGleichnis von den Inseln der SeligenTang fragte abermals: »Gibt es in der Natur einen festenMaßstab für Größe und Kleinheit, Länge undKürze, Gleichheit und Verschiedenheit?« Gi sprach:»Östlich vom Gelben Meer, wer weiß wie viele tausendMeilen weit, ist eine große Untiefe. In Wirklichkeitist sie ein bodenloser Abgrund, sie heißt dasgroße Grab. Alles Wasser der irdischen Gefilde undder Strom der Milchstraße fließen dorthin. Und dochnimmt es weder zu noch ab. In seiner Mitte warenfünf Berge: der eine heißt Dai Yü (der große Wagen),der zweite heißt Yüan Kiau (der runde Gipfel), derdritte heißt Fang Hu (die viereckige Urne), der vierteheißt Ying Dschou (Atlantis), der fünfte heißt PengLai (Irrgarten). Die Berge hatten eine Höhe und unterenUmfang von 30000 Meilen. Auf ihren Gipfelnwar ein ebener Raum, der war 9000 Meilen groß.Zwischen den Bergen waren Zwischenräume von70000 Meilen. Und doch galten sie noch als benachbart.Auf ihren Gipfeln sah man lauter Gold und Edelsteine;Vögel und Tiere waren rein wie weiße Seide;Bäume von Perlen und Korallen wuchsen in dichtenWäldern; Blumen und Früchte waren duftend und


süß. Wenn man davon aß, ward man frei von Alterund Tod. Die Leute, die dort wohnten, waren alleEngel und Feen. Jeden Tag und jede Nacht flogen siezueinander, sich zu besuchen in zahllosen Scharen.Aber der fünf Berge Wurzeln waren lose, darumschwammen sie immer mit Flut und Wogen auf undab, hin und her und standen keinen Augenblick fest.Die Engel verdroß das, und sie sagten es dem Herrn.Der Herr fürchtete, sie möchten nach dem Westpolgetrieben werden und so der Wohnplatz der Engelscharenverloren gehen. Darum befahl er dem YüGiang (Anfangsgrenze), fünfzehn ungeheure Seeschildkrötenzu bringen, die auf ihren Köpfen dieBerge tragen sollten. In dreimaliger Wechselfolgesollte jede immer 60000 Jahre Dienst tun. So wurdendie fünf Berge dann fest und bewegten sich nichtmehr.Im Reiche des Drachenfürsten aber lebte ein Riese.Der hob den Fuß und kam mit ein paar Schritten anden Ort der fünf Berge. Er angelte mit einem Malesechs der Schildkröten und nahm sie miteinander aufden Rücken und kehrte in sein Land zurück. Dort rösteteer die Schalen, um Orakel zu gewinnen. So triebendie beiden Berge Dai Yü und Yüan Kiau nachdem Nordpol und versanken im großen Meer. Vonden Engeln aber wurden viele Millionen heimatlos.Der Herr ward zornig und verringerte das Reich des


Drachenfürsten, daß es bedrückt ward, und verkleinerteseine Bewohner, daß sie kürzer wurden.Zur Zeit des Fu Hi (brütender Atem) und des SchenNung (göttlicher Landmann) waren die Leute ihresReiches an hundert Fuß hoch. Vom Mittelbezirk nachOsten, 400000 Meilen, kommt man an das <strong>Dsi</strong>au-Yau-Reich. Dort sind die Leute anderthalb Fuß hoch.Am Nordostpol gibt es Menschen, die heißen <strong>Dsi</strong>ngleute,die werden neun Zoll groß. Im Süden von Ginggibt es Geister der Unterwelt (Schildkröten?), die 500Jahre lang jung sind und 500 Jahre altern. In uraltenZeiten gab es große Götterbäume, die 8000 Jahrewuchsen und 8000 Jahre alterten. Im Moderbodenwachsen Pilze, die morgens entstehen und abendssterben. In den Frühlings- und Sommermonaten gibtes Eintagsfliegen, die im Regen entstehen, und sterben,sobald sie an die Sonne kommen.Nördlich vom kahlen Norden ist ein großer Ozean,der Himmelssee. Da gibt es einen Fisch, der ist wohltausend Meilen breit und entsprechend lang. SeinName ist Kun. Es gibt einen Vogel, der heißt Peng,dessen Flügel gleichen vom Himmel fallenden Wolken,und sein Leib ist entsprechend groß. Und dochweiß die Welt nicht, daß es solche Wesen gibt. (Dergroße Yü ging hin und sah sie, Be I kannte und benanntesie, I Giän hörte davon und zeichnete es auf.)Zwischen den Flüssen Giang und Pu entstehen


winzige Lebewesen, namens <strong>Dsi</strong>au Ming, die in Scharenherbeifliegen und im Augenwinkel einer Mückesich sammeln, ohne einander zu stoßen. Sie brütenund nisten, sie gehen und kommen, und die Mückemerkt nichts davon. Selbst Leute, die so scharf sehenwie ein Li Dschu und Dsï Yü, und wenn sie sich amhellen Tage die Augen reiben und die Brauen hochziehen,um sie zu sehen, erblicken nicht ihre Gestalt.Selbst Leute mit so feinem Gehör wie Li Yü und SchïGuang, und wenn sie sich in stiller Nacht die Ohrenputzen und den Kopf ducken, um auf sie zu horchen,so vernehmen sie nicht ihren Laut. Nur der Herr dergelben Erde und Yung Tscheng Dsï, als sie auf demKung Tung wohnten und drei Monate fasteten, alsodaß ihr Herz erstarb und ihr Leib welkte, erblicktensie allmählich im Geiste als große Massen wie denAbhang des Sungberges; sie hörten sie allmählich imÄther als lautes Rollen wie des Donners Ton.Im Staate Wu und Tschu (Südchina) wächst eingroßer Baum, sein Name ist Pumalobaum. Er wächstim Winter, seine Früchte sind gelbrot und schmeckensauer. Die Schale und der Saft sind gut für das Wechselfieber.Die Leute vom Tsi-Bezirk (Nordchina) hieltenden Baum für wertvoll und brachten ihn über denHuaifluß, da wurde der wilde dornige Apfelsinenbuschdaraus. Der Mainavogel geht nicht über den<strong>Dsi</strong>-Fluß. Wenn der Dachs über den Wen-Fluß geht,


so stirbt er. Das sind die Einflüsse des Klimas. Obwohldaher die einzelnen Arten an Gestalt und Kraftverschieden sind, so sind sie von Natur gleichmäßigausgestattet, so daß sie nicht miteinander tauschenmöchten. Ihr Leben ist durchaus vollkommen, ihr Anteilist durchaus genügend. Woher soll ich da wissen,ob es einen festen Maßstab für Groß und Klein oderfür Lang und Kurz oder für Gleichheit und Verschiedenheitgibt?«


3. Berge versetzender GlaubeDie beiden Berge Tai Hing und Wang We sind 700Meilen im Geviert und zehntausend Klafter hoch. Siestanden ursprünglich südlich von Gi Dschou undnördlich von Ho Yang (an der Grenze zwischenNord- und Mittelchina). In Nordberg lebte ein einfältigerMann, der war an neunzig Jahre alt. Er wohnteim Angesicht der Berge und war unwillig, daß derNordhang der Berge den Ausgang und Eingang versperrte.Er versammelte sein Haus und sagte nachdenkend:»Wäre es nicht möglich, daß wir mit aller Kraftdie steilen Gipfel abtragen, so daß wir nach YüDschou im Süden einen Durchgang haben, der nachHan Yin geht?« Und sie versprachen es alle einander.Sein Weib äußerte Zweifel und sprach: »Deine Kraftreicht nicht mehr aus, um ein kleines Erdhäufchen zubeseitigen, wie soll es da erst mit dem Tai Hing- undWang Wu-Berge werden? Und wo wollt ihr denn dieErde und die Steine hintun?« Alle sprachen: »Wirwerfen sie ans Ende des Gelben Meeres im Nordendes dunkeln Landes.« Darauf führte er Sohn undEnkel hinaus ans Werk. Die drei zerklopften die Steine,schaufelten Erde, luden sie in Körbe und befördertensie ans Ende des Gelben Meeres. Unter den Nachbarnwar die Witwe eines Mannes namens Hauptstäd-


ter, die hatte einen Nachgeborenen, der eben dieZähne wechselte. Der sprang herzu und half mit. DerWinter hatte mit dem Sommer gewechselt, als sie zumersten Male heimkehrten.In Flußeck aber war ein weiser Greis, der verlachtesie und wollte sie abhalten und sprach: »Groß, wahrlich,ist dein Unverstand. Mit deiner alterswelkenKraft kannst du kein Gräschen des Berges mehr ausreißen,wieviel weniger Erde und Steine.« Der einfältigeAlte von Nordberg atmete tief und sprach: »DeinHerz ist hart, undurchdringlich hart. Da ist diesesschwache Kind der Witwe besser. Wenn ich auchsterbe, so bleibt mein Sohn noch am Leben. MeinSohn zeugt wieder Enkel, die Enkel zeugen wiederSöhne, deren Söhne haben wieder Söhne, derenSöhne haben wieder Enkel. So gehen die Geschlechterder Söhne und Enkel in unerschöpflicher Folge weiter.Dem Berg aber wird nichts hinzugefügt. Warumalso sollte es zu schwer sein, ihn abzutragen?« Derweise Greis von Flußeck hatte nichts darauf zu erwidern.Einer der schlangenhaltenden Götter hörte davonund fürchtete, es möchte kein Ende nehmen. So sagteer es dem Herrn. Der Herr ward bewegt von diesemGlauben und befahl den zwei Söhnen des Kua Wo(Ameisenfürsten), die beiden Berge auf den Rückenzu nehmen und den einen östlich des Nordens und den


anderen südlich von Yung zu vergraben. Seither gibtes südlich von Gi und nördlich von Han keinen trennendenWall mehr.


4. Der Durst des SonnenjägersKua Fu (Prahlhans), seine Kraft nicht ermessend,jagte dem Bilde der Sonne nach und folgte ihm bis andie Grenze des Winkeltals. Da ward er durstig undbegehrte zu trinken. Er ging hin und trank den Gelben-Flußund den We-Fluß aus. Aber diese Flüsse genügtenihm nicht, so wandte er sich nach Norden, umden großen Sumpf auszutrinken. Aber ehe er hinkam,verdurstete er auf dem Wege. Er ließ seinen Stab fallen,der, vom Fett und Fleisch des Leichnams durchtränkt,den Deng-Wald erzeugte. Der Deng-Wald aberwuchs viele tausend Meilen weit.


5. Notwendigkeit und FreiheitDer große Yü sprach: »Innerhalb des ganzen Erdkreiseshängt alle Beleuchtung ab von Sonne und Mond,alle Zeitbestimmung von den Sternen, alle Regelungvon den Jahreszeiten, alle Notwendigkeit von demgroßen Jahreszyklus. Die vom Geist erzeugten Naturwesensind verschieden an Form, früh endend oderlange lebend. Nur der Heilige durchdringt ihr Gesetz.«Gi von Hia sprach: »Und doch gibt es auch Leben,das nicht vom Geist abhängt, Gestalt, die nicht vonden Dualkräften abhängt, Licht, das nicht von Sonneund Mond abhängt, unabhängig vom Töten früh Endendes,unabhängig von Pflege lange Lebendes, Ernährung,die nicht vom Brote abhängt, Kleidung, dienicht von Gewerben abhängt. Bewegung, die nichtvon Schiff und Wagen abhängt. Deren Gesetz ist dieFreiheit. Das kann auch der Heilige nicht durchdringen.«


6. Das ParadiesAls Yü Land und Wasser ordnete, da verirrte er sichund kam vom Weg ab. Er geriet in ein Land, das amnördlichen Strande des Nordmeeres liegt, niemandweiß, wie viele hunderttausend Meilen von dem Tsi-Lande entfernt. Das Land heißt das Ende des Nordens.Man weiß nicht, wovon sein Gebiet begrenztwird. Dort gibt es nicht Wind noch Regen, nicht Reifnoch Tau. Nicht leben dort die Geschlechter der Tiereund Vögel, der Kerfe und Fische. Ringsum ebensteigt es in die Lüfte. In dieses Landes Mitte ist einBerg. Sein Name heißt Hu Ling (Urnenhals). SeineGestalt ist wie eine Urne. Auf seinem Gipfel ist eineÖffnung. Ihre Gestalt ist wie ein runder Ring. IhrName heißt Wirkung des Feuchten. Wasser strömtdaraus hervor, das heißt Götterbrunnen. Sein Duft istherrlicher als Orchideen und Pfeffer. Sein Geschmackist lieblicher als Wein und Most. Die eine Quelle teiltsich in vier Bäche, die strömen den Berg hinab unddurchfließen das ganze Land nach allen Enden. DerErde Kraft ist milde: kein giftiger Hauch macht krank.Der Menschen Art ist sanft: sie folgen der Natur ohneZank und Streit. Ihr Herz ist weich und ihr Leib istzart: fern ist ihnen Hochmut und Neid. Alte und Jungewohnen friedlich beieinander: nicht haben sie Fürsten


und Knechte. Männer und Frauen wandeln zusammen:nicht freien sie und lassen sich freien. Sie wohnenam Ufer des Wassers; nicht pflügen sie noch erntensie. Die Luft ist weich und lau: nicht weben sienoch kleiden sie sich. Hundertjährig sterben sie: nichtgibt es Krankheit und vorzeitigen Tod. Das Volk lebtin Frieden und Seligkeit ohne Maß. Sie haben Freudeund Wonne, sie kennen nicht Verfall und Alter, Trauerund Bitternis. Sie lieben die Töne. Sie fassen sichbei den Händen und singen Wechselgesänge. Denganzen Tag endet nicht ihr Sang. Sind sie hungrig undmüde, so trinken sie aus dem Götterbrunnen, undKraft und Wille kommt ins Gleiche. Wird's zu viel, sowerden sie trunken und wachen nach zehn Tagen wiederauf. Sie baden im Götterbrunnen, und ihre Hautwird feucht und glatt, und nach zehn Tagen erst verliertsich der Duft.König Mu von Dschou, als er nach Norden wanderte,kam durch ihr Land und vergaß der Heimkehrdrei Jahre lang. Als er zum Hause Dschou zurückgekehrtwar, da sehnte er sich nach jenem Lande zurückvoll Unruhe, also daß er sich selbst verlor. Er nahmnicht Wein noch Speise, er rief nicht seinen Weibernund Dienern. Und erst nach Monaten erholte er sichwieder.


7. Relativität der MoralGuan Dschung drängte den Herzog Huan von Tsi, mitihm zusammen eine Reise zu machen und die verschiedenenStaaten bei der Mündung des Liauflusseszu besuchen. Beinahe hätte er ihn dazu gebracht.Da machte Si Peng Gegenvorstellungen undsprach: »Eure Hoheit wohnen in dem großen StaateTsi, sein Volk ist zahlreich, seine Berge und Flüssegewähren schöne Aussicht, üppig gedeiht die Natur,es blühen Sitte und Recht, die Kunst verschönt dasLeben, zauberhafte Pracht ziert die Schlösser, treueDiener füllen den Hof, ein Ruf: und Millionen sindgewärtig, ein Wink: und alle Fürsten gehorchen demBefehl. Warum sollte man sich nach anderem sehnenund die Altäre von Tsi verlassen, um den Völkern derBarbaren nachzugehen? Das ist ein altersschwacherGedanke des Vaters Dschung, der kein Gehör verdient.«Der Herzog stand auf die Worte des Si Peng hinvon dem Vorhaben ab und sagte es Guan Dschung.Der sprach: »Wahrlich, das ist etwas, das über denGesichtskreis von Peng hinausgeht. Ich fürchte, daßes keinen anderen Weg gibt, jene Völker kennen zulernen. Wozu dieses Kleben an den Reichtümern vonTsi? Wozu diese Beachtung der Worte des Peng?«


Die Bewohner der südlichen Länder scheren sichdie Haare kurz und gehen nackt; die Bewohner dernördlichen Länder winden sich Turbane um den Kopfund gehen in Pelzen; die Bewohner der mittleren Ländertragen Hüte und Mützen und gehen in Kleidern.Je nach seiner Beschaffenheit begünstigt der Bodenden Ackerbau, den Handel, die Jagd, den Fischfang.Daß man im Winter Pelze trägt, im Sommer Linnen,daß man zu Wasser Schiffe hat und auf dem LandeWagen: das sind Erfindungen stillen Nachdenkens,deren Vollendung durch die Natur bewirkt wird.Im Osten von Yüo ist das Land der Dschä Mu.Wird der erste Sohn geboren, so schlachten und essensie ihn; das nennen sie Pflicht gegen die jüngerenBrüder. Stirbt der Großvater, so nehmen sie die Großmutterauf den Rücken und setzen sie aus; denn siesagen: mit dem Weib eines Geistes darf man nicht zusammenwohnen. Im Süden von Tschu ist das Landder Feuermenschen. Wenn ihre Angehörigen sterben,so lassen sie ihr Fleisch verwesen und werfen es weg,dann begraben sie ihre Gebeine. Auf diese Weise erfüllensie die Pflicht der Pietät. Im Westen von Tsinist das Land der I-Kü. Wenn ihre Angehörigen sterben,so sammeln sie Reisig und verbrennen sie. Wennsie anbrennen, so steigt der Rauch empor. Das nennensie: in den Himmel fahren. Dadurch erfüllen sie diePflicht der Pietät. Dies alles gilt bei den Oberen als


Staatsgesetz und bei den Unteren als fester Brauch,ohne daß man sich darüber zu wundern brauchte.


8. Konfuzius in VerlegenheitMeister Kung wanderte im Osten. Da sah er zweikleine Knaben, die sich stritten. Er fragte nach demGrund; da sprach der eine Knabe: »Wenn die Sonneaufgeht, ist sie den Menschen näher, zurzeit des Mittagsist sie ferner.« Der andere sprach: »Wenn dieSonne aufgeht, ist sie ferner und zur Mittagszeitnäher.«Der erste Knabe sprach: »Wenn die Sonne aufgeht,ist sie so groß wie ein Wagenrad, zur Mittagszeit istsie nur noch wie ein Teller. Was ferner ist, sieht kleineraus, was näher ist, sieht größer aus. Ist's nichtalso?« Der andere Knabe sprach: »Wenn die Sonneaufgeht, so ist sie trübe und kühl. Zur Mittagszeitaber fühlt sie sich wie kochendes Wasser. Was näherist, ist heißer; was ferner ist, ist kühler. Ist's nichtalso?«Meister Kung konnte die Frage nicht entscheiden.Da lachten die beiden Knaben und sprachen: »Werwill behaupten, daß du viel weißt?«


9. Die Macht des GleichgewichtsGleichgewicht ist das höchste Weltgesetzt. Wird esauf die Körperwelt angewandt, so verhalten sich dieDinge entsprechend. Läßt man auf ein Haar, das sichim Gleichgewichtsmittelpunkt befindet, zwei gleichschwere Kräfte frei schwebend wirken und das Haarzerreißt, so ist das ein Zeichen, daß es sich nicht imGleichgewichtsmittelpunkt befand. Ist es genau imGleichgewichtsmittelpunkt, so bewirken die zerreißendenKräfte kein Zerreißen. Die Leute halten dasnicht für wahr, aber es gibt natürlich auch solche, diedie Wahrheit davon erkennen.Dschan Ho benützte einen einzelnen Seidenfadenals Angelschnur, die Granne einer Ähre als Angelhaken,eine dünne Gerte als Angelrute und ein gespaltenesKorn als Köder und konnte damit einen Fisch, dereinen ganzen Wagen füllte, fangen in einem hundertKlafter tiefen Abgrund, mitten in brausendem Wirbel,ohne daß die Angelschnur zerriß, der Haken sichstreckte oder die Rute sich krümmte.Der König von Tschu hörte es und wunderte sichdarüber. Er berief ihn und fragte nach dem Grunddavon. Dschang Ho sprach: »Ich hörte meinen verstorbenenVater von der Geschicklichkeit des Pu DsuDsï im Schießen reden. Er benützte einen schwachen


Bogen und befestigte den Pfeil an einer dünnen Leineund benützte den Wind, um ihn zu treiben. Damitholte er zusammen zwei Kraniche aus den höchstenWolkenregionen herunter, weil sein Sinnen gesammeltwar und die Bewegung der Hände dem Gleichmaßder Kräfte sich anpaßte.Ich ahmte seinem Beispiel nach und lernte das Angeln.Nach fünf Jahren erst hatte ich den geheimenSinn erfaßt. Wenn ich nun dem Flusse nahe mit derAngelrute in der Hand, so habe ich keine anderen Gedankenim Sinn als nur die Vorstellung der Fische.Ich werfe die Leine und versenke die Angel, ohne daßmeine Hand ihr ein Gewicht verliehe, so daß von derAußenwelt her keine Verwirrung kommen kann.Wenn die Fische meine Angel und meinen Ködersehen, so halten sie es für sinkende Stäubchen oderSchaumblasen und schnappen danach ohne Bedenken.Deshalb kann man mit Schwäche Starkes meistern,mit Leichtem Schweres bewegen. Wenn du, o Großkönig,in Wahrheit also über dem Reiche zu waltenvermagst, so kannst du die Welt bewegen, als faßtestdu sie in der Hand, und hast nicht einmal Arbeitdavon.« Der König von Tschu sprach: »Gut«.


10. Austausch der HerzenGung Hu von Lu und Tsi Ying von Dschau warenbeide krank und baten gemeinsam den Biän Tsüo, umHeilung zu erlangen. Biän Tsüo heilte sie. Als siebeide gesund waren, redete er zu Gung Hu und TsiYing also: »Die Krankheit, die ihr eben hattet, warvon außen in die Eingeweide eingedrungen und konntedaher mit Arzneien geheilt werden. Nun habt ihraber auch eine Krankheit, die mit euch zusammen geborenist und mit euch zusammen wächst. Wie wärees, wenn ich sie euch kurierte?« Die beiden Männersprachen: »Wir möchten gerne erst das Ergebnis derUntersuchung hören.«Biän Tsüo sprach zu Gung Hu: »Dein Wille iststark und deine Kraft ist schwach, darum mangelt esdir nicht an Vorsätzen, wohl aber an der Ausführung.Tsi Yings Wille ist schwach und seine Kraft ist stark,darum denkt er zu wenig und leidet an Eigensinn.Wenn ich eure Herzen austausche, so kommt ihr insrechte Gleichgewicht.«Biän Tsüo gab den beiden nun einen giftigen Weinzu trinken, daß sie bewußtlos wurden drei Tage lang.Dann schnitt er ihnen die Brust auf, nahm die Herzenheraus und setzte sie vertauscht wieder ein. Dann gaber ihnen einen Göttertrank. Da kamen sie wieder zu


sich wie zuvor. Die beiden verabschiedeten sich undkehrten heim.Nun aber ging Gung Hu in das Haus des Tsi Yingund nahm dessen Weib und Kinder in Besitz. Weibund Kind aber kannten ihn nicht. Ebenso ging TsiYing nach dem Hause des Gung Hu und nahm dessenWeib und Kind. Ebensowenig kannten ihn Weib undKind. Die beiden Häuser stritten darob miteinanderund baten den Biän Tsüo um Entscheidung. BiänTsüo machte ihnen die Gründe klar. Da hatte derStreit ein Ende.


11. Die Macht der Töne I.ZitherspielWenn Gu Ba die Zither schlug, so kreisten die Vögelüber ihm und die Fische sprangen aus dem Waserhervor. Der Musikmeister Wen von Dscheng hörte es.Er verließ sein Haus und folgte dem Meister Siangauf seinen Wanderungen. Er rührte mit dem Fingerdie Saiten drei Jahre lag, ohne daß es eine Melodiewurde. Der Meister Siang sprach: »Geh nur wiedernach Hause.«Meister Wen legte die Zither weg, seufzte undsprach: »Nicht daran liegt es, daß ich die Saiten nichtzu rühren wüßte, nicht daran, daß ich keine Melodiezustande brächte; was mir im Sinne liegt, das beziehtsich nicht auf die Saiten; worauf ich ziele, das beziehtsich nicht auf die Töne. Solange ich innerlich im Herzendas noch nicht erreicht, kann ich ihm äußerlichauf dem Instrument noch keinen Ausdruck geben;darum wage ich nicht, die Hand zu regen und die Saitenzu rühren. Doch gebt mir noch eine kleine WeileFrist und seht dann, was ich kann.«Nicht lange danach trat er wieder vor den MeisterSiang. Der sprach: »Wie steht's mit deinem Zitherspiel?«Der Meister Wen sprach: »Ich habe es er-


eicht; bitte, prüfet mein Spiel.«Darauf schlug er während des Frühlings dieSchang-Saite an und ließ das achte Rohr begleiten.Da erhob sich plötzlich ein kühler Wind, und Krautund Baum trugen Früchte. Als es Herbst geworden,schlug er die Güo-Saite an und ließ das zweite Rohrerwidern. Da kam laue Luft linde geflossen, undKraut und Baum entfalteten ihre Pracht. Während desSommers schlug er die Yü-Saite an und ließ sie vondem elften Rohr begleiten. Da fiel Reif und Schneedurcheinander, die Flüsse und Seen wurden plötzlichstarr. Als es Winter geworden, da schlug er die Dschï-Saite an und ließ das fünfte Rohr erwidern. Da wardder Schein der Sonne stechend heiß, und das harte Eisschmolz rasch zusammen. Zuletzt ließ er die Gung-Saite ertönen und vereinigte sie mit den vier anderenSaiten, da säuselten liebliche Winde, glückbringendeWolken schwammen, süßer Tau fiel herab, und kräftigrauschten die Quellen.Der Meister Siang schlug an sein Herz und sprangempor und sprach: »Zauberhaft ist Euer Spiel. Auchder Meister Kuang (der Wolken und Winde) mit seinenMelodien (meistern konnte) und Dsou Yän (der)mit seiner Flöte (dem eisigen Norden Korn entlockte)konnten es nicht besser. Sie mögen mit der Zitherunter dem Arm und der Flöte in der Hand Euch hintennachfolgen.«


12. Die Macht der Töne II.GesangSüo Tan lernte den Gesang bei Tsin Tsing. Noch eheer dessen Kunst erschöpft, hielt er dafür, daß er fertigsei; so nahm er Abschied und wollte heimkehren. TsinTsing hielt ihn nicht zurück. Beim Abschiedsmahl amScheideweg schlug er den Takt und sang eine Elegie.Von deren Klang erzitterten die Bäume des Waldes,und von dem Echo wurden die ziehenden Wolken aufgehalten.Süo Tan bat da um Verzeihung und flehtewieder zurück zu dürfen. Sein Leben lang wagte ernicht mehr von Heimkehr zu reden.Tsin Tsing wandte sich an seinen Freund undsprach: »Vor alters lebte in Han ein Mädchen namensWo. Die kam einst nach Osten bis Tsi. Da mangeltees ihr an Brot. Sie kam durch Yung Men und sang fürGeld, um Nahrung zu bekommen. Nachdem sie wegwar, umgab der Nachklang noch die Dachbalken dreiTage lang, ohne zu verklingen, so daß die Anwesendendachten, sie sei noch nicht gegangen.Sie kam an einer Straßenherberge vorbei. DieLeute der Herberge beschimpften sie. Da erhob sieihre Stimme, klagte und weinte, daß meilenweit dieAlten und die Jungen vor Wehmut Tränen vergossen


und sich ansahen und drei Tage lang nicht essenkonnten. Dann liefen sie ihr nach und holten sie ein.Da erhob sie abermals die Stimme und sang ein Lied,daß meilenweit die Alten und die Jungen vor Freudehüpften und sprangen, ohne sich halten zu können.Und sie vergaßen ihre frühere Trauer und entließensie reich beschenkt.Darum sind die Leute von Yung Men noch bis aufden heutigen Tag geschickt im Singen und Klagen;denn sie ahmen die Nachklänge Wo's nach.«


13. MusikverständnisBe Ya war ein guter Zitherspieler. Dschung Dsï Kiwar ein guter Zuhörer. Wenn Be Ya die Zither schlugund die Ersteigung eines hohen Berges im Sinnehatte, so sprach Dschung Dsï Ki: »Wundervoll, sosteil und kühn, wie der Große Berg!« Hatte er fließendesWasser im Sinne, so sprach Dschung Dsï Ki:»Vortrefflich, so wogend und wallend wie Fluß undStrom.« Was Be Ya dachte, erriet Dschung Dsï Kimit Sicherheit.Als sie einst im Schatten des Großen Berges wanderten,wurden sie plötzlich von einem heftigenRegen überrascht und machten halt unter einem überhängendenFelsen. Be Ya war trübselig gestimmt,nahm seine Zither und spielte. Erst spielte er eineWeise von tropfendem Regen, dann schuf er den Lautvon stürzenden Bergen. Welche Melodie er immerspielte, Dschung Dsï Ki erriet sofort seine Stimmung.Da legte Be Ya die Zither weg und sagte seufzend:»Vortrefflich, vortrefflich hörst du, was ich im Sinnehabe. Die Bilder, die du ersinnst, sie gleichen meinerStimmung. Unmöglich ist es mir, dir mit meinenTönen zu entgehen.«


14. Der AutomatDer König Mu vom Hause Dschou machte einst einenJagdausflug nach Westen und kam über das Kunlungebirge,doch hatte er noch nicht den Yän-Berg (wodie Sonne untergeht) erreicht, als er wieder umkehrte.Noch ehe er im Reiche der Mitte angekommen war,wurde ihm unterwegs ein Mechaniker dargebracht mitNamen Ning Schï. Der König Mu ließ ihn vor sichkommen, fragte ihn und sprach: »Was hast du für Fertigkeiten?«Ning Schï sprach: »Ich werde versuchen,alles zu tun, was mir befohlen wird. Doch habe ichschon ein Werk fertig, das du, o König, erst besehenwollest.« Der König Mu sprach: »Komm morgendamit, so will ich es mit dir besehen.«Am anderen Tage meldete sich Ning Schï beimKönig. Der König ließ ihn vor sich kommen undsprach: »Was ist das für ein Mensch, der da mit dirkommt?« Er erwiderte: »Den habe ich gemacht, erkann singen.« Der König sah mit Erstaunen, wie ermit Hofschritten gehen, sich verneigen und aufrichtenkonnte wie ein richtiger Mensch. Der Mechanikerfaßte ihn am Kinn, da sang er richtig im Tone. Erschüttelte ihm die Hand, da schlug er auch den Taktdazu. Tausenderlei verschiedene Kunststücke konnteer machen, wie man es haben wollte. Der König hielt


ihn für einen wirklichen Menschen. Alle seine Weiberund Sklavinnen sahen mit ihm zu.Als nun die Kunststücke zu Ende waren, da blinzelteder Sänger den Sklavinnen in der Umgebung desKönigs zu. Da ward der König sehr zornig und wollteden Ning Schï auf der Stelle töten lassen. Ning Schïerschrak sehr und schnitt den Sänger eilends auseinander,um dem König zu zeigen, daß er ganz zusammengesetztsei aus Leder, Holz, Leim, Lack, aus weißen,schwarzen, roten und blauen Teilen.Der König untersuchte ihn, da sah er, daß im InnernLeber, Galle, Herz, Glieder, Gelenke, Haare,Zähne alles künstlich gemacht war mit vollendeterGeschicklichkeit. Zusammengesetzt sah er wieder auswie vorher. Er nahm zur Probe das Herz heraus, dakonnte der Mund nicht mehr reden; er nahm die Leberheraus, da konnten die Augen nicht mehr sehen; ernahm die Nieren heraus, da konnten die Füße nichtmehr gehen.Da erst begann der König Mu sich zu freuen undsprach aufatmend: »Wie? Kann denn die Kunst derMenschen die Werke des Schöpfers erreichen?« Erberief den zweiten Wagen, lud ihn (den Automaten)auf und nahm ihn mit sich heim.Ban Schu mit seiner Wolkenleiter, Mo Di mit seinemDrachenflieger hielten sich für äußerst geschickt.Ihre Schüler Dung Men Gia und Kin Gu Li hörten


von der Kunst des Ning Schï und sagten es ihren beidenMeistern. Da wagten die beiden Meister ihr ganzesLeben lang nicht mehr über Kunst zu reden, sondernnahmen stets Zirkel und Richtmaß zur Hand.


15. Die beiden SchützenGan Ying war ein tüchtiger Bogenschütze der altenZeit. Spannte er den Bogen, so brachen die Tiere zusammenund die Vögel fielen herunter. Sein Schüler,namens Fe We, der bei ihm das Schießen gelernthatte, übertraf an Geschicklichkeit noch seinen Meister.Gi Tschang wiederum wollte das Schießen beiFe We lernen.Fe We sprach: »Du mußt erst lernen, nicht zu blinzeln.Danach erst kann vom Schießen die Rede sein.«Gi Tschang ging heim und legte sich unter den Webstuhlseines Weibes und verfolgte mit dem Auge dieauf- und niedergehenden Rahmen. Nach zwei Jahrenhatte er es so weit gebracht, daß er nicht blinzelte, obauch eine Ahle mit der Spitze ihm ins Auge fiel. Dassagte er Fe We.Fe We sprach: »Das ist's noch nicht. Nun mußt dusehen lernen, daß du Kleines groß siehst und Unsichtbaresdeutlich. Dann sag mir's.« Gi Tschang hing nunan einem Haar eine Laus im Fenster auf. Nach derblickte er innen vom Zimmer aus. Nach zehn Tagenwurde sie allmählich größer. Nach drei Jahren sah ersie wohl so groß wie ein Wagenrad, so daß er andereDinge alle so groß wie Berge sah. Da nahm er einenBogen aus Horn von Yän und einen Pfeil aus Rohr


von Scho und schoß nach ihr. Er durchbohrte dasHerz der Laus, ohne daß das Haar abriß. Das sagte erFe We. Fe We machte einen Luftsprung, schlug sichauf den Leib und sprach: »Du hast's erreicht.«Da nun Gi Tschang die Kunst des Fe We innehatte,überschlug er, daß nunmehr auf der ganzen Welt nurnoch ein einziger Mensch es mit ihm aufnehmenkönne. Und er gedachte den Fe We zu töten. Sie trafensich im Walde, und die beiden Männer schossenaufeinander. Auf halbem Wege trafen sich die Spitzenihrer Pfeile, und sie fielen zur Erde, ohne den Staubzu erregen. Fe We's Pfeile waren zuerst alle. GiTschang hatte noch einen Pfeil, den schoß er ab. FeWe aber parierte ihn mit der Spitze eines Dornes,ohne ihn zu fehlen.Darauf brachen die beiden in Tränen aus, ließenihre Bogen fallen und warfen sich auf offener Straßevoreinander nieder und schlossen einen Bund alsVater und Sohn. Sie schnitten sich in den Arm undschworen, daß sie ihre Kunst niemand verraten wollten.


16. Wagenlenkung(Anweisung zur Erlernung des Wagenlenkens durchsorgfältiges Achten auf die Bewegung)


17. Die drei kostbaren SchwerterSchwarz-Ei (He Luan) aus We tötete aus altem Grollden Kiu Bing Dschang (Strahlende Schönheit). KiuBing Dschang's Sohn Ehrlich (Lai Dan) beschloß seinenVater zu rächen. Seine Erregung war heftig undzeigte sich deutlich in seinem Äußeren. Man konntedie Körner zählen, die er aß, und er lief beständig wievom Winde getrieben umher. Aber obwohl vollGrimm, konnte er doch keine Waffen führen, umjenem zu vergelten. Auch schämte er sich, andrerLeute Kraft zu borgen. Er schwur, mit dem Schwert inder Hand den Schwarz-Ei abzuschlachten.Schwarz-Ei aber war von roher Gesinnung undüberaus großer Kraft. Er konnte hundert Mann widerstehen.Seine Sehnen und Knochen, Haut und Fleischwaren nicht nach andrer Menschen Art. Er konnte seinenHals dem Schwerte hinhalten und seine Brust denPfeilen darbieten. Ihre Spitze brach ab und bog sich,ohne daß sein Leib eine Verletzung zeigte. Er pochteauf sein Vermögen und seine Kraft und sah auf Ehrlichwie auf ein eben aus dem Ei gekrochenes Kükken.Der Freund Ehrlichs namens Rathilf (Schen To)sprach zu ihm: »Du grollst dem Schwarz-Ei aufs äußerste,und doch nimmt dich Schwarz-Ei nur allzu


leicht. Was denkst du zu tun?« Ehrlich vergoß Tränenund sprach: »Ich wollte, du gäbest mir einen Rat!«Rathilf sprach: »Ich habe gehört, daß der Ahn desGroßen Vollkommenen (Kung Dschou) im Staate Wedas kostbare Schwert der Kaiser aus dem Hause Yinüberkommen hat, mit dem ein einziger Knabe dreiHeere in die Flucht schlagen kann. Ob du nicht darumbittest?«Darauf ging Ehrlich nach We und trat vor den GroßenVollkommenen. Er befolgte den Brauch der Wagensklavenund brachte ihm erst sein Weib und seineKinder dar und sagte hinterher sein Begehren.Der Große Vollkommene sprach: »Ich habe dreiSchwerter, unter denen du wählen kannst. Aber mitallen dreien kann man keinen Menschen töten. Dochwill ich dir erst ihre Eigenschaften sagen. Das ersteheißt ›Verhaltenes Licht‹. Schaut man danach, sokann man es nicht sehen, bewegt man es, so erkenntman nicht, was es trifft. Es ist verborgen und spurlos.Es durchdringt die Dinge, und die Dinge merken esnicht.Das zweite heißt ›Erlangtes Schattenbild‹. Wennman vor Tagesanbruch, wenn Dunkel und Licht sichmischen, oder am Abend des Tages, an der Grenzeder Dämmerung und Helle nach Norden gewandt esuntersucht, so sieht man ganz schwach etwas wie einvorhandenes Ding, ohne daß man seine Form erken-


nen kann. Was es trifft, das gibt ganz verstohlen einenKlang. Es durchdringt die Dinge, und die Dinge empfindenkeinen Schmerz.Das dritte heißt ›Nächtliche Übung‹. Wenn es ebenTag geworden ist, so sieht man seinen Umriß, abernicht sein Licht. Bei Nacht sieht man sein Licht, abernicht seine Form. Wenn es auf ein Ding trifft, sodringt es schrecklich durch, aber sowie es durchgedrungenist, schließt sich die Wunde wieder. Manfühlt Schmerz, aber die Klinge färbt sich nicht mitBlut. Diese drei Schätze sind seit dreizehn Geschlechternüberliefert und haben noch nichts zu tun gehabtmit Weltgeschäften, sie waren geborgen in ihrer Hülleund haben die Scheide noch nie verlassen.«Ehrlich sprach: »Immerhin, ich bitte gewißlich umdas dritte.« Der Große Vollkommene gab ihm zunächstWeib und Kind zurück, dann fastete er mit ihmsieben Tage lang, darauf überreichte er ihm in derTiefe der Nacht knieend das dritte Schwert. Ehrlichwarf sich ebenfalls nieder, nahm es und kehrte heim.Als Ehrlich nun mit dem Schwert in der Hand demSchwarz-Ei nachging, da war Schwarz-Ei betrunkenund lag unter dem Fenster. Er durchhieb ihn vomHals bis zu den Lenden dreimal. Schwarz-Ei wachtenicht auf. Da dachte Ehrlich, Schwarz-Ei sei tod, undzog sich vergnügt zurück. Er begegnete Schwarz-Ei'sSohn unter der Türe und schlug ihn dreimal, gleich


als streiche er durch die Luft. Da begann Schwarz-Ei's Sohn zu lachen und sprach: »Was bist du für einNarr und winkst mir dreimal!«Da merkte Ehrlich, daß er mit dem Schwert niemandtöten könne, und kehrte seufzend heim. AlsSchwarz-Ei erwachte, fuhr er sein Weib an undsprach: »Du hast mich in meinem Rausch unbedecktliegen lassen, davon habe ich Halsweh und Lendenschmerzenbekommen.« Sein Sohn sprach: »Vorhinist Ehrlich dagewesen. Er begegnete mir unter der Türund winkte dreimal nach mir, davon habe ich auchSchmerzen im Leib und Gliederreißen bekommen.Der Kerl hat uns untergekriegt.«


18. König Mu(Sage von der Damaszenerklinge und dem Asbest.Unvollendet)


Buch VIFreiheit und Notwendigkeit»Wie an dem Tag, der Dich der Welt verliehen / DieSonne stand zum Gruße der Planeten / Bist alsobaldund fort und fort gediehen / Nach dem Gesetz,wonach du angetreten. / So mußt du sein, dir kannstdu nicht entfliehen / So sagten schon Sibyllen, soPropheten / Und keine Zeit und keine Machtzerstückelt / Geprägte Form, die lebend sichentwickelt.«1. Streit der UrmächteDie Willenskraft sprach zum Schicksal: »Deine Wirkungenkönnen sich den meinigen nicht vergleichen.«Das Schicksal sprach: »Was hast du für Wirkungenauf die Natur, daß du dich mir vergleichen willst?«Die Willenskraft sprach: »Langes und kurzes Leben,Erfolg und Mißerfolg, Ehre und Niedrigkeit, Armutund Reichtum: das alles steht in meiner Macht«.Das Schicksal sprach: »Der Großvater Peng warnicht weiser als die heiligen Herrscher Yau und Schunund wurde doch achthundert Jahre alt. Yän Yüan (derLieblingsjünger Kungs) war an Begabung nicht gerin-


ger als die andern und mußte doch mit zweiunddreißigJahren sterben. Kungs Geisteskraft war nicht geringerals die der Fürsten seinerzeit, und doch kam erin Not zu Tschen und Tsai. Der Wandel des TyrannenDschou Sin aus dem Hause Yin war nicht besser alsder der drei Vollkommenen zu seiner Zeit, und dochsaß er auf dem Herrscherthron. Der würdige Gi Dschawurde nicht mit dem Wu-Gebiet belehnt, und derMörder Heng aus dem Hause Tiän kam in den Besitzder Alleinherrschaft im Staate Tsi.Die unbeugsam guten Brüder Be I und Schu Tsiverhungerten am Schou-Yang-Berg, das böse HausGi ward reicher als Dschan Kin.Wenn das alles durch dein Vermögen, o Willenskraft,gekommen ist, warum gabst du gerade jenem solanges Leben und diesem so kurzes? Warum gabst dudem Heiligen Mißerfolg und dem Sünder Erfolg?Warum machtest du den Würdigen niedrig und denNarren geehrt? Warum machtest du die Guten armund die Bösen reich?«Die Willenskraft sprach: »Wenn es so ist, wie duredest, dann habe ich allerdings keine Wirkung aufdie Natur. Daß die Natur sich so verhält, das ist dannalso etwas, das du gemacht?«Das Schicksal sprach: »Wenn ich doch Schicksalheiße, wie kann da noch von ›machen‹ die Rede sein?Das Gerade treibe ich, das Krumme dulde ich. Hohes


Alter, das aus sich selber kommt; frühes Sterben, dasaus sich selber kommt; Erfolg und Mißerfolg, Ehreund Niedrigkeit, die aus sich selber kommen: diekann ich auch nicht erkennen, die kann ich auch nichterkennen.«


2. Gleich und doch ungleichEs war ein Herr von Nordhausen (Be Gung), dersprach zu dem Herrn von Westheim (Si Men): »Ichbin von demselben Alter wie du, und die Leute schaffendir Erfolg; wir sind vom selben Stamm, und dieLeute ehren dich; wir haben dieselbe Gestalt, und dieLeute lieben dich; wir reden dieselben Worte, und wirhaben dasselbe Amt, und die Leute achten dich; wirpflügen dieselben Felder, und die Leute schaffen dirReichtum; wir treiben dieselben Geschäfte, und dieLeute schaffen dir Gewinn; ich kleide mich in grobeWolle, ich nähre mich von schwarzem Brot, ichwohne in einer strohgedeckten Hütte, und will ich reisen,so muß ich zu Fuß gehen. Du kleidest dich inSamt und Seide; du issest Reis und Fleisch, duwohnst unter hohem Dache und fährst vierspännigaus. In der Heimat setzt du dich mit heiterer Gelassenheitüber mich hinweg, bei Hofe bist du hochfahrendund stolz gegen mich. Seit Jahren meiden wirden gegenseitigen Verkehr und gehen nie mehr gemeinsamauf Reisen. Denkst du, daß du an Wesensartmir überlegen bist?« – Der von Westheim sprach:»Ich weiß nicht, was der eigentliche Grund ist. Aberwas du machst, hat Mißerfolg, und was ich mache,das gelingt: das ist doch wohl ein Beweis, daß wir


uns durch Fülle und Ärmlichkeit unterscheiden. Undwas du da redest von Dingen, in denen du mir gleichseiest, kommt nur von deiner dicken Stirn.«Der von Nordhausen hatte darauf nichts zu erwidern;er verlor seine Selbstachtung und ging nachHause. Unterwegs begegnete er dem Lehrer Ostweiler(Dung Go). Der Lehrer sprach: »Was läufst du so verlassenund einsam hin und her, und deine Schritte zeigentiefe Scham?« Der von Nordhausen erzählte seineGeschichte. Da sprach der Lehrer Ostweiler: »Ich willdir deine Beschämung abnehmen und wieder mit dirzu dem Westheim gehen.« Er fragte jenen nun:»Womit hast du den Nordhausen so sehr beschämt?Sage es alles der Wahrheit gemäß!« Der von Westheimsprach: »Der Nordhausen sagte, daß er an Alter,Stamm, Jahren, Gestalt, Worten und Taten mir gleichsei, aber an Ehre und Reichtum hinter mir zurückstehenmüsse. Ich habe daraufhin zu ihm gesagt: ›Ichweiß nicht, was der eigentliche Grund ist. Aber wasdu machst, hat Mißerfolg, und was ich mache, das gelingt:das ist doch wohl ein Beweis, daß wir unsdurch Fülle und Ärmlichkeit unterscheiden. Und wasdu da redest von Dingen, in denen du mir gleich seiest,kommt nur von deiner dicken Stirn.‹«Der Lehrer Ostweiler sagte: »Fülle und Ärmlichkeitist nach deinen Worten beschränkt auf den Unterschieddes Wesens der Begabung. Ich fasse eure Fülle


und Ärmlichkeit anders auf. Der Nordhausen da hatFülle des Wesens, aber ein ärmliches Schicksal, duhast Fülle des Schicksals, aber ein ärmliches Wesen.Deine Erfolge sind nicht durch deine Weisheit errungen,Nordhausen hat sich seine Mißerfolge nichtdurch Torheit zugezogen. Das sind alles Wirkungendes Himmels, nicht der Menschen. Daß du dich derFülle des Schicksals rühmst, und Nordhausen derFülle seines Wesens sich schämt, kommt beidesdaher, daß ihr die Naturgesetze nicht kennt.« Der vonWestheim sprach: »Herr, haltet ein! Ich will nie wiederso reden!«Als nun Nordhausen heimkam, da zog er seinengroben Wollkittel an und fühlte sich so warm wie inFuchs- oder Dachspelzen. Er aß seine Bohnenkerne,und sie schmeckten ihm so gut wie der feinste Reis; erbarg sich in seiner Strohhütte, als säße er im Schattenweiter Hallen. Er fuhr in seinem Heuwagen so behaglichwie in einer Staatskarosse. Er hatte seine ganzeLebensfreudigkeit wiedergefunden und wußte nichtmehr, ob Ehre oder Schande auf der Seite des anderenoder auf seiner Seite seien.Lehrer Ostweiler hörte es und sprach: »Der Nordhausenhat lange geschlafen, und doch konnte ein einzigesWort ihn aufwecken. Der ist leicht aus der Fassungzu bringen.«


3. Beispiel aus der Geschichte für die Unfreiheitder HandlungenDie beiden Männer Guan I Wu (Guan Dschung) undBau Schu Ya waren gute Freunde. Sie lebten beide imStaate Tsi. Guan I Wu diente dem Prinzen Giu, BauSchu Ya diente dem Prinzen Siau Be. Der Herzog vonTsi handelte in seinem Hause nach der Gunst. DieSöhne seiner Nebenfrauen hatten dieselben Rechtewie die legitimen Prinzen. Die Leute im Volke fürchteten,daß daraus Unruhen entstehen möchten. Guan IWu und sein Kollege Schau Hu zogen sich daher mitdem Prinzen Giu in den Staat Lu zurück, währendBau Schu Ya mit dem Prinzen Siau Be nach demStaate Gü sich zurückzog.Nach dem Tode des alten Herzogs erhob sich seinEnkel Wu Dschï (gegen den legitimen NachfolgerSiang. Der Usurpator wurde jedoch selbst vom Volkeumgebracht). Da nun der Staat Tsi ohne Fürsten war,stritten die beiden Prinzen um die Thronfolge. Guan IWu kämpfte mit dem Prinzen Siau Be auf dem Wegevon Gü und traf ihn mit einem Pfeil auf das Gürtelschloß(dennoch behielt Siau Be die Oberhand). AlsSiau Be nun als Herzog eingesetzt war, da drängte erden Fürsten von Lu, den Prinzen Giu zu töten. Desseneiner Minister, Schau Hu, ging mit ihm in den Tod.


Guan I Wu (der sich nicht getötet hatte) wurde eingekerkert.Da sprach Bau Schu Ya zu dem Herzog Huan (demfrüheren Prinzen Siau Be): »Guan I Wu hat die Fähigkeit,das Reich zu leiten.« Herzog Huan sprach:»Der ist mein Feind, ich möchte ihn töten.« Bau SchuYa sprach: »Ich habe sagen hören, ein würdiger Fürstkenne keinen persönlichen Groll, und dann: wer seinHerr zu sein vermag, der vermag auch sicher Herr desReichs zu sein. Wenn Ihr die Vorherrschaft im Reicheerstrebt: ohne Guan I Wu läßt sie sich nicht erreichen.Darum müßt Ihr, o Fürst, ihn befreien.« Darauf verlangteder Herzog den Guan I Wu. Der Staat Lu lieferteihn aus. Als er nach Tsi kam, empfing ihn BauSchu Ya auf dem Felde und löste seine Fesseln. DerHerzog Huan beschenkte ihn und gab ihm seinenPlatz noch über den Geschlechtern Gau und Guo. BauSchu Ya war ihm persönlich unterstellt. Es wurde ihmdie Leitung des Staates übertragen und der Titel»Vater Dschung« verliehen. Und Herzog Huan gewanndie Vorherrschaft im ganzen Reiche.Guan I Wu sprach seufzend: »In meiner Jugend, alsich in Bedrängnis war, habe ich mit Bau Schu Ya Geschäftegemacht. Bei der Verteilung der Güter nahmich selber den größeren Anteil. Bau Schu Ya hieltmich darum nicht für habgierig, sondern wußte, daßich es aus Armut tat. Ich machte mit Bau Schu Ya zu-


sammen Pläne und hatte großen Mißerfolg. Bau SchuYa hielt mich darum nicht für töricht, sondern wußte,daß Gelingen und Mißlingen seine Zeit hat. Ich wardreimal im Amt gewesen und war dreimal von meinemHerrn weggejagt worden. Bau Schu Ya hieltmich darum nicht für unbrauchbar, sondern wußte,daß ich die rechte Gelegenheit noch nicht gefunden.Ich stand dreimal in der Schlacht und habe dreimaldem Feind den Rücken gekehrt. Bau Schu Ya hieltmich darum nicht für feige, sondern wußte, daß icheine alte Mutter hatte. Als Prinz Giu unterlegen, gingSchau Hu mit ihm zusammen in den Tod. Ich kam insdunkle Verließ und hatte Schmach und Schande zutragen. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für ehrlos,sondern wußte, daß ich mich nicht um Kleinigkeitenschäme, aber es als Schmach achte, wenn meinName nicht auf Erden bekannt wird. Die mich erzeugten,sind Vater und Mutter, der mich kennt, ist BauSchu Ya.«Unsere Zeit rühmt Guan und Bau als treue Freundeund den Prinzen Siau Be als einen, der es verstand,fähige Menschen in seinen Dienst zu ziehen. Aber inWirklichkeit kommt ihnen das Lob der Freundestreueund der Tüchtigkeit im Gebrauche fähiger Menschennicht zu. Damit soll nicht gesagt sein, daß andere einehöhere Stufe in der Freundestreue oder in der Tüchtigkeitim Gebrauch fähiger Menschen einnehmen. Daß


Schau Hu in den Tod ging, war nicht seine freie Tat;er konnte gar nicht anders als in den Tod gehen. DaßBau Schu den Würdigsten empfahl, war nicht seinefreie Tat; er konnte gar nicht anders als ihn empfehlen.Daß Siau Be seinen Feind verwandte, war nichteine freie Tat; er konnte gar nicht anders als ihn verwenden.Als Guan I Wu schließlich erkrankte, da fragteSiau Be und sprach: »Vater Dschungs Krankheit istschwer, wir dürfen's uns nicht verschweigen. Wenn esnun zum äußersten kommt, wem kann ich dann denStaat anvertrauen?« Guan I Wu sprach: »An wen denkenEure Hoheit?« Siau Be sprach: »Bau Schu Ya istwohl geeignet.« Guan I Wu erwiderte: »Er ist nichtgeeignet. Er führt den Wandel eines reinen, unbestechlichen,tüchtigen Gelehrten. Mit Leuten, dienicht seine Lebensrichtung haben, kommt er nichtaus. Hört er einmal, daß jemand sich etwas hat zuschuldenkommen lassen, so vergißt er das sein Lebenlang nicht. Betraute man ihn mit der Verwaltung desStaates, so würde er den Fürsten in Verwickelungenbringen und das Volk unzufrieden machen. DieseVerfehlungen dem Fürsten gegenüber würden raschzum Ende führen.« Siau Be sprach: »Ja, wer ist danngeeignet?« Er erwiderte: »Es wird wohl niemand andersübrigbleiben als Si Peng (der persönliche Feinddes Guan I Wu). Er ist ein Mensch, der sich nichts


daraus macht, wenn er in hoher Stellung ist; dadurchentgeht er dem Neid der Untergebenen. Er stellt sichselbst die höchsten Ziele und hat Mitleid mit denen,die schlechter sind als er. Mit der Kraft des geistigenWesens die Menschen zur Pflicht zu bringen, das istdie Sache des berufenen Heiligen; durch Spenden dieMenschen zur Pflicht zu bringen, das ist die Art derwürdigen Männer. Wer mit seiner Würde von obenher den Menschen naht, der wird niemals die Menschenfür sich gewinnen; wer sich aber mit seinerWürde unter die Menschen hinuntergibt, der wirdsicher die Menschen gewinnen. Was er im Staate anBesitz erwirbt, wird nicht bekannt; was er im Hausean Besitz erwirbt, bleibt ungesehen. Wenn es alsonicht anders geht, so ist Si Peng geeignet.«Und dennoch hat nicht etwa Guan I Wu den BauSchu Ya benachteiligt: er konnte gar nicht anders alsihn benachteiligen. Nicht er hat den Si Peng bevorzugt;er konnte gar nicht anders als ihn bevorzugen.Es mag wohl vorkommen, daß man einen, den mananfangs bevorzugt hat, schließlich benachteiligenmuß, oder daß man einen, den man schließlich bevorzugt,erst benachteiligt hatte. Das Kommen undSchwinden der Art des Benehmens hängt nicht vonuns ab.


4.Dieser Abschnitt gibt noch eine Nachlese aus der Geschichte,das Verhältnis von Deng Si und Dsï Tschan,als Beleg für den oben ausgesprochenen Satz, daß alleHandlungen determiniert seien.)


5. Gesetz des ZufallsWenn etwas, das die Möglichkeit zu leben hat, auchwirklich lebt, so ist das Glück vom Himmel. Wennetwas, das reif zum Sterben ist, auch wirklich stirbt,so ist das Glück vom Himmel. Wenn etwas, das dieMöglichkeit zum Leben hätte, nicht zum Lebenkommt, so ist das Strafe vom Himmel. Wenn etwas,das reif zum Sterben wäre, nicht zum Sterben kommt,so ist auch das Strafe vom Himmel.Daß solches, das die Möglichkeit zum Leben oderSterben hat, nun auch wirklich das Leben oder dasSterben erreicht: das kommt vor. Daß solches, dasnicht die Möglichkeit zum Leben oder Sterben hat,dennoch lebt oder stirbt: auch das kommt vor.Das, was also das Leben zum wirklichen Lebenmacht, das Sterben zum wirklichen Sterben macht,das liegt nicht in der Außenwelt und liegt nicht in unseremIch, sondern es ist beides Schicksal: die Erkenntnisfindet hier unübersteigliche Grenzen. Soheißt es:Unfaßbar, ohne Grenzen,Trifft aus sich selbst des Himmels SINN das Ziel.Unendlich, ohne Teile,Schließt aus sich selbst des Himmels SINN den


Kreis.Sichtbares und Unsichtbares können nicht dagegen,Heilige und Weise können nichts dazu,Geister und Teufel können nicht entwischen.Das auf sich selbst BeruhendeStillet, wirket,Ebnet, sänftigt,Leitet, wartet.


6. Die drei Doktoren und das Geheimnis desLebensYang Dschu hatte einen Freund namens Gi Liang. GiLiang wurde krank, und nach sieben Tagen war essehr schlimm mit ihm geworden. Sein Sohn umarmteihn schluchzend. Er wollte einen Arzt rufen. Gi Liangsagte zu Yang Dschu und sprach: »So weit also treibtmein Sohn seine Dummheit! Willst du mir nicht denGefallen tun und ein Lied singen, um ihn zur Besinnungzu bringen?« Yang Dschu sang darauf also:»Was kein Gott im Himmel weiß,Soll der Mensch es merken?Keine Hilfe kommt vom Himmel,Keine Schuld des Menschen gibt es.Wahrlich ich und wahrlich duKönnen es nicht wissen;Ärzte wohl und Zaubrer wohl:Sollten die es wissen?«Aber der Sohn wurde nicht zur Besinnung gebrachtund rief schließlich drei Ärzte. Der eine hieß Eisenbart(Kiau), der zweite hieß Einverstanden (Yü), undder dritte hieß Schwarz (Lu). Sie untersuchten seinLeiden.


Herr Eisenbart sagte zu Gi Liang und sprach:»Wärme und Kälte stehen nicht im Einklang. Geistund Leib haben nicht das rechte Verhältnis. DieKrankheit kommt von Hunger und Sättigung, Genußund Begierde, Sorgen des Geistes und zerstreuendenBeschäftigungen. Sie kommt nicht vom Himmel undnicht von Geistern; obwohl es schlimm steht, kannman dagegen angehen.« Gi Liang sprach: »Ein ganzgewöhnlicher Doktor!« Und er trieb ihn hinaus.Herr Einverstanden sprach nun: »Bei dir war vonAnfang an die Kraft des Mutterleibes nicht ausreichend,die Milch war zu reichlich. Die Krankheit istnicht von gestern und heute, ihre Ursachen haben sichallmählich entwickelt. Sie ist unheilbar.« Gi Liangsprach: »Ein guter Arzt.« Und er gab ihm zu essen.Herr Schwarz sprach: »Deine Krankheit kommtnicht vom Himmel noch von Menschen noch von Geistern.Als du mit dem Leben deine körperliche Gestalterhieltest, da hat sie sich gebildet. Der sie gemachthat, kennt sie auch wohl. Was sollen die Arzneienund Pulver nützen?« Gi Liang sprach: »Ein göttlicherArzt.« Und er entließ ihn reich beschenkt. Plötzlichwurde dann die Krankheit Gi Liang's von selber wiedergut.Nicht durch sorgfältige Pflege kann man das Lebenverlängern, nicht durch Liebe zum Leben kann manFülle gewinnen. Ebensowenig kann man durch Ver-


achtung des Leibes ein frühes Ende herbeiführen,durch Vernachlässigung des Lebens es dürftiger machen.Darum kommt es vor, daß wer sein Leben werthält, es verliert; wer es verachtet, doch nicht stirbt;wer es liebt, nicht seine Fülle gewinnt; wer es unwichtignimmt, es doch nicht dürftiger macht. Dasscheint verkehrt, es ist aber nicht verkehrt, sondern eskommt davon her, daß Leben und Tod, Fülle undDürftigkeit auf sich selber beruhen.Es kommt auch vor, daß einer sein Leben wert hältund es behält; daß einer es verachtet und stirbt; daßeiner es liebt und seine Fülle gewinnt; daß einer esunwichtig nimmt und in Dürftigkeit kommt. Dasscheint der gerade Lauf zu sein, es ist aber nicht dergerade Lauf, sondern auch das kommt davon, daßLeben und Tod, Fülle und Dürftigkeit auf sich selberberuhen.


7. Fügung ins UnvermeidlicheYü Hiung redete mit dem König Wen und sprach:»Was lang an sich ist, dem kann man nichts zufügen;was kurz an sich ist, das kann man nicht verringern.Solches entzieht sich aller Berechnung.«Lau Dan redete mit Guan Yin und sprach:»Wer weiß den Grund davon,Daß der Himmel einen haßt!«Damit meint er, daß es sich nicht verlohnt, den Gedankendes Himmels nachzuspüren und Glück undUnglück auszurechnen.


8. PessimismusYang Bu fragte (seinen älteren Bruder Yang Dschu)und sprach: »Es gibt hier Menschen, die sind Brüderan Jahren, in ihren Worten, in ihrer Begabung, inihrem Aussehen und unterscheiden sich doch wieVater und Sohn in Beziehung auf ihre Lebensdauer,auf Rang, auf Ruhm, auf Liebe und Haß der Menschen.Das macht mir zu schaffen.«Meister Yang sprach: »Die Alten hatten ein Wort,das ich mir gemerkt habe und das ich dir sagen will:Was so ist, wie es ist, ohne daß man die Gründe fürsein Sosein kennt, das ist Schicksal. Nun aber folgtundurchdringliches Dunkel und gesetzloser Zufall sowohldem, der handelt, als auch dem, der nicht handelt.Die Tage kommen und gehen. Wer kann die Ursachedavon ergründen? Das alles ist Schicksal.Wer sich nun dem Schicksal überläßt, für den gibtes kein hohes Alter und kein frühes Sterben. Wer sichder Notwendigkeit überläßt, für den gibt es keinRecht und Unrecht. Wer sich seinem Gefühl überläßt,für den gibt es kein Widerstreben oder Folgen. Wersich der Natur überläßt, für den gibt es nicht Ruhenoch Gefahr. Von dem kann man sagen, daß er annichts glaubt und an alles glaubt. Der hat die Wahrheitunverfälscht. Wozu gehen? Wozu kommen?


Wozu traurig sein? Wozu fröhlich sein? Wozu handeln?Wozu nicht handeln?«


9. UnabhängigkeitIm Buche des Herrn der gelben Erde heißt es:»Der höchste Mensch weilt wie ein Leichnam undbewegt sich wie in Fesseln; er weiß weder, warum erverweilt, noch, warum er nicht verweilt; er weißweder, warum er sich bewegt, noch, warum er sichnicht bewegt. Er ändert weder vor den Blicken derMenge sein äußeres Benehmen, noch kann man vonihm sagen, daß, wenn er den Blicken der Menge entzogenist, er sein äußeres Benehmen nicht verändert.Einsam geht er, einsam kommt er, einsam äußert ersich, einsam zieht er sich in sich zurück. Wer kannihn hindern?«


10. Das Naturgesetz in der GeistesweltVerschlagene und Reizbare, Zurückhaltende und Heftige:diese vier Menschenarten wandern miteinanderauf der Welt umher. Jeder geht seinen Zielen nach,und bis ans Ende der Tage verstehen sie gegenseitigihre Gefühle nicht; jeder hält seine Weisheit für dietiefste.Redegewandte und Einfältige, Alberne und Kriecher:diese vier Menschenarten wandern miteinanderauf der Welt umher. Jeder geht seinen Zielen nach,und bis ans Ende der Tage verkehren sie nicht miteinander;jeder hält seine Kunst für die feinste.Heimtückische und Unverschämte, Voreilige undkalte Spötter: diese vier Menschenarten wandern miteinanderauf der Welt umher. Jeder geht seinen Zielennach, und bis ans Ende der Tage bringen sie einandernicht zur Besinnung; jeder denkt, daß sein Verstandes erfaßt habe.Heuchler und Aufdringliche, Tollkühne und Zaudernde:diese vier Menschenarten wandern miteinanderauf der Welt umher. Jeder geht seinen Zielennach, und bis ans Ende der Tage bringen sie einandernicht vorwärts; jeder hält seinen Wandel für tadellos.Gesellschaftsmenschen und Selbstgewisse, Tyrannenund Vereinsamte: diese vier Menschenarten wan-


dern miteinander auf der Welt umher. Jeder geht seinenZielen nach, und bis ans Ende der Tage beachtensie einander nicht; jeder hält sich für zeitgemäß.Das ist der Zustand der Menge. Ihr Äußeres istvielgestaltig, und doch folgen sie alle den ewigen Gesetzenund sind dem Schicksal unterworfen.


11. Der Schein trügtDas beinahe Vollkommene ist dem Vollkommenenähnlich; aber es ist von Anfang an unvollkommen.Das beinahe Verkommene ist dem Verkommenenähnlich; aber es ist von Anfang an nicht verkommen.So entsteht die Betörung aus der Ähnlichkeit. DieGrenzen solcher Ähnlichkeiten sind verschwommen.Wer das Ähnliche ungetrübt zu unterscheiden vermag,der fürchtet nicht äußeres Unheil und freut sichnicht inneren Glücks.Wann es die rechte Zeit ist zu wirken, und wann esdie rechte Zeit ist innezuhalten, kann auch der Weisestenicht wissen. Wer sich dem Schicksal überläßt,betrachtet die Außenwelt und das eigne Ich mit gleichenGefühlen. Wer der Außenwelt und dem eignenIch mit verschiedenen Gefühlen gegenübersteht, derist noch nicht so weit wie einer, der mit verbundenenAugen und mit verstopften Ohren, im Rücken eineFelswand und vor sich einen Sumpfgraben, dastehtund doch nicht hineinstürzt.Darum heißt es: Tod und Leben kommen vomSchicksal, Armut und Mißerfolg hängen von der Zeitab. Wer über ein vorzeitig abgebrochenes Lebenmurrt, kennt das Schicksal nicht. Wer über Armut undMißerfolg murrt, kennt die Zeit nicht. Im Tode nicht


zagen, unter Mißerfolg nicht trauern: das heißt dasSchicksal kennen und sich der Zeit fügen.Menschen, die viele Weisheit besitzen, ermessenGewinn und Schaden, beurteilen, was nichtig ist undwas wirklich, und berechnen der Menschen Gefühle:zur Hälfte erreichen sie ihr Ziel, zur Hälfte nicht.Menschen mit geringer Weisheit ermessen nicht Gewinnund Schaden, beurteilen nicht, was nichtig istund was wirklich, und berechnen nicht der MenschenGefühle: zur Hälfte erreichen sie ihr Ziel, und zurHälfte nicht. Was ist darum für ein Unterschied zwischenErmessen und Nichtermessen, zwischen Beurteilenund Nichtbeurteilen, zwischen Berechnen undNichtberechnen? Nur wer nichts ermißt und alles ermißt,der erreicht das Vollkommene und hat keinenVerlust, und doch kennt er nicht die Vollkommenheit,noch kennt er den Verlust; denn Vollkommenheit,Nichtsein, Verlust beruhen alle auf sich selber.


12. Der Nutzen des TodesHerzog Ging von Tsi wanderte auf dem Kuhberg. Alser von Norden der Hauptstadt seines Landes nahte, davergoß er Tränen und rief aus: »Wie schön bist du, oLand! So üppig, so prächtig, glitzernd im Tau! Mußich dies Land verlassen und sterben? O, gäbe es dochkeinen Tod in der Welt! Wenn ich von hier scheide,wohin werde ich dann kommen?« Der GeschichtsschreiberKung und Liang Kiu Gü taten es ihm beidenach und sprachen schluchzend: »Wir hängen von desFürsten Gnade ab, und unsere Speise ist einfachesGemüse und geringes Fleisch. Wir fahren mit altenMähren und Rumpelwagen und möchten dennochnicht sterben. Wieviel mehr (Grund zur Klage) hat daerst unser Fürst!«Nur Meister Yän lächelte für sich. Der Herzogwischte seine Tränen ab, wandte sich an Meister Yänund sprach: »Der Spaziergang hat Uns traurig gemacht,und Kung und Gü haben es Uns beide nachgetanund auch geweint. Warum lachst du allein?« MeisterYän erwiderte und sprach: »Wenn die Würdigenewig dauerten, so wäre der Große Herzog und derHerzog Huan ewig am Leben geblieben. Wenn dieMutigen ewig dauerten, so wären die Herzöge Dschuangund Ling ewig am Leben geblieben. Wenn nun


alle diese Fürsten heute noch lebten, so könnten EureHoheit im Schilfmantel und Strohhut auf den Feldernstehen. In diesem bemitleidenswerten Zustand hättetIhr keine Muße gehabt, ans Sterben zu denken, undwie wäre es dann überhaupt möglich geworden, daßEure Hoheit auf den Thron gekommen wären? Dadurch,daß in beständigem Wechsel jeder weilte unddann wieder ging, kam die Reihe an Eure Hoheit.Darüber nun aber Tränen zu vergießen, ist nichtwahre Seelengröße. Ich habe einen Fürsten gesehenohne wahre Seelengröße und habe Diener gesehen,die ihm schmeichelnd nach dem Munde redeten. Alsich dies beides sah, da habe ich mir erlaubt, heimlichfür mich zu lächeln.«Der Herzog Ging schämte sich. Er erhob den Bechersich selbst zur Strafe, und er bestrafte seine beidenDiener, jeden mit zwei Bechern Weins.


13. Nach wie vorUnter den Leuten von We lebte ein Mann namens Wuvom Osttor. Als sein Sohn starb, ward er nicht traurig.Da sprach sein Hausverwalter zu ihm: »Auf derganzen Welt gab es keinen Menschen, der seinenSohn so liebte wie Ihr. Nun Euer Sohn gestorben ist,warum seid Ihr nicht traurig?« Wu vom Osttorsprach: »Es gab eine Zeit, da ich immer ohne Sohnwar, und in jener Zeit, da ich noch keinen Sohn hatte,war ich nicht traurig. Nun ist mein Sohn gestorben,und es ist wieder ebenso wie früher, da ich noch keinenSohn hatte. Was sollte ich da traurig sein?«


14. Willenskraft und SchicksalDer Landmann benützt die Jahreszeiten; der Kaufmannstrebt nach Gewinn; der Arbeiter sucht nachKunstgriffen; der Beamte benützt seine Macht: so äußertsich die Willenskraft. Doch dem Landmann wirdRegen oder Trockenheit zuteil, dem Kaufmann Gewinnoder Verlust, dem Beamten Erfolg oder Mißerfolg:so äußert sich das Schicksal.


Buch VIIYang Dschu»So wälz ich ohne Unterlaß / Wie Sankt Diogenesmein Faß / Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß / Baldist es Lieb, bald ist es Haß / Bald ist es Dies, bald istes Das / Es ist ein Nichts und ist ein Was / So wälzich ohne Unterlaß / Wie Sankt Diogenes mein Faß.«1. Über den RuhmYang Dschu übernachtete bei seinen Wanderungen inLu einmal im Hause der Familie Meng. Herr Mengfragte und sprach: »Schließlich ist doch jeder nichtsweiter als ein Mensch; wozu dient der Ruhm?« Erantwortete: »Die nach Ruhm trachten, tun es, umreich zu werden.« – »Wenn aber einer reich ist,warum hört er auch dann noch nicht auf?« Er antwortete:»Um der Ehre willen.« – »Wenn aber einer geehrtist, warum hört er auch dann noch nicht auf?« Erantwortete: »Um des Todes willen.« – »Wenn einertot ist, was kann er dann da noch wollen?« Er antwortete:»Er kann für seine Kinder und Enkel sorgen.« –»Wie kann denn der Ruhm den Kindern und Enkelnnützen?« Er sprach: »Der Berühmte hat selber viel


Mühsal und Sorgen. Die, denen sein Ruhm zugutekommt, das sind seine Stammesangehörigen; die Gewinndavon haben, sind seine Landsleute: wievielmehr erst seine Kinder und Enkel!« – »Wer aber nachRuhm trachtet, muß uneigennützig sein; Uneigennützigkeitaber führt zur Armut. Wer nach Ruhm trachtet,muß demütig sein; Demut aber führt zur Niedrigkeit.«Er sprach: »Guan Dschung war Kanzler in Tsi.Sein Fürst war ausschweifend, er war auch ausschweifend;sein Fürst war üppig, er war auch üppig.In seiner Willensrichtung stimmte er mit ihm überein;in seinen Worten richtete er sich nach ihm. Sein Weghatte Erfolg, und die Vorherrschaft im Reiche warderrungen. Nach seinem Tode aber war er einfachGuan Dschung und nichts weiter. Der Mann Tiän warKanzler in Tsi. War der Fürst übermütig, so zeigte ersich herablassend; war der Fürst habgierig, so zeigteer sich freigebig. Alles Volk fiel ihm zu, und er kamso auf den Thron von Tsi, und seine Nachkommenhaben es bis auf den heutigen Tag noch ununterbrochenzu genießen.« – »So bringt also wahrer Ruhm inArmut und heuchlerischer Ruhm in Reichtum?« Ersprach: »Was wahr ist, erlangt keinen Ruhm; wasRuhm genießt, ist nicht wahr. Alle die berühmtenMänner sind Heuchler und nichts weiter. Vor altershaben Yau und Schun heuchlerischerweise das Reichdem Hü Yu und Schan Küan angeboten, darum haben


sie das Reich nicht verloren und erfreuten sich eineshundertjährigen Alters. Be I und Schu Tsi haben inWahrheit auf den Thron von Gu Dschu verzichtet undhaben auch tatsächlich für immer ihr Reich verloren,also daß sie am Schou Yang-Berge Hungers starben.An diesen Beispielen kann man sehen, zu welch verschiedenenErfolgen Wahrheit und Heuchelei führen.«


2. Carpe diemYang Dschu sprach: »Die höchste Grenze menschlichenLebens sind hundert Jahre. Hundert Jahre erreichtunter Tausenden nicht einer. Doch nehmen wiran, es gebe so einen: die Zeit seiner Kindheit und Unreifeund die des gebrechlichen Alters nimmt etwa dieHälfte davon ein; davon nimmt die Zeit, die mannachts im Schlafe verbringt und die tags im Wachenunbenützt verstreicht, wieder etwa die Hälfte weg;Schmerzen und Krankheit, Trauer und Verdruß, Verlustund Mißerfolg, Kummer und Sorgen nehmen vondem Rest wieder etwa die Hälfte weg. Innerhalb derübrigbleibenden Zahl von etwa zehn Jahren kommtauf die Zeit, in der man vollkommen frei sich selbstgenießt, ungetrübt von jeglicher Spur sorgender Gedanken,kaum einer Stunde Spanne.In eines Menschen Leben, was bleibt da also nochan Freuden übrig? Es bleibt Genuß, es bleibt dieSchönheit der Töne und Farben; doch des Genusseskann man sich auch nicht dauernd ungetrübt erfreuen,an Tönen und Farben kann man sich auch nicht dauerndungetrübt ergötzen; dazu kommen noch dieÜberredungen und Einschränkungen von Lohn undStrafe, die hemmenden und treibenden Einflüsse vonNamen und Vorbildern. In rastloser Hast streitet man


um eitles Lob während der Spanne Zeit, um nach demTode überflüssige Verherrlichung zu erreichen. Nutzloszügelt man Ohren und Augen und achtet auf Rechtund Unrecht der Triebe des Leibes. So bringt mansich umsonst um den höchsten Genuß der Gegenwartund ist auch nicht der einen Stunde freier Herr. Wodurchunterscheidet sich ein solches Leben noch vonden Ketten und Fesseln eines schweren Verbrechers?Die Menschen der grauen Vorzeit hatten erkannt,daß des Lebens Dauer flüchtig ist, hatten erkannt, daßes flüchtig dem Tode zueilt; darum ließen sie in ihrenHandlungen ihrem Herzen freien Lauf und widerstrebtennicht den natürlichen Neigungen, und was augenblicklichdem Leibe schmeichelte, das taten sie nichtab. So ließen sie sich nicht um des Ruhmes willenüberreden; sie folgten ihrer Natur und ließen sich treiben,und aller Wesen Neigungen ließen sie gewähren.Sie waren nicht auf Ruhm nach dem Tode aus, sowurden sie auch von der Strafe nicht erreicht. UndRuhm und Lob der früheren oder späteren Zeit undihrer Lebensjahre zugemessene Zahl beachteten sienicht.«


3. Gleichmacher TodYang Dschu sprach: »Verschieden sind die Wesenvoneinander während des Lebens; im Tode sind siegleich. Im Leben gibt es Weise und Narren, Vornehmeund Geringe und dadurch Unterschiede; mitdem Tode kommt Verwesung, Fäulnis, Auflösung,Vernichtung und dadurch Gleichheit. Und trotzdemsteht Weisheit oder Narrheit, Vornehmheit oder Niedrigkeitnicht in der Menschen Macht; Verwesung undFäulnis, Auflösung und Vernichtung steht ebensowenigin ihrer Macht.Darum, die da leben, leben nicht aus sich selber;und die sterben, sterben nicht aus sich selber; dieWeisen sind nicht weise aus sich selber; und die Narrensind nicht Narren aus sich selber; die Vornehmensind nicht vornehm aus sich selber; und die Niedrigensind nicht niedrig aus sich selber. Vielmehr ist es dieGesamtheit aller Wesen, die gleichzeitig lebt undgleichzeitig stirbt, gleichzeitig weise ist und gleichzeitignärrisch, gleichzeitig vornehm und gleichzeitigniedrig.Einer stirbt mit zehn Jahren, ein anderer stirbt mithundert Jahren. Vollkommene Heilige sterben, ebensowie bösartige Narren sterben. Im Leben waren es Patriarchen(Yau und Schun); im Tode sind es Moderge-


eine. Im Leben waren es Scheusale (Giä undDschou); im Tode sind es Modergebeine. Als Modergebeinesind sie eins; wer erkennt noch ihre Verschiedenheit?Darum laßt uns des Lebens Gegenwart ergreifen!Wozu sich sorgen um das, was nach demTode kommt!«


4. Übermässige TugendYang Dschu sprach: »Be I war nicht frei von Begehren;seine übermäßige Sucht nach Reinheit brachteihn dazu, daß er sich dem Hungertod ergab. DschanGi (Liu Hia Hui) war nicht frei von Leidenschaft;seine übermäßige Sucht nach Keuschheit war es, dieihn dazu brachte, daß er sich der Einsamkeit ergab.Also vermag Reinheit und Keuschheit das Gute zuverfehlen.«


5. Die Nachteile von Armut und ReichtumYang Dschu sprach: »Unter den Jüngern Kungs warYüan Hiän (Yüan Sï), der in ärmlichen Verhältnissenin Lu lebte. Dsï Gung anderseits erwarb sich Reichtümerin We. Yüan Hiän nahm durch seine ArmutSchaden an seiner Gesundheit; Dsï Gung machtedurch seinen Reichtum seinen Leib müde. So ist alsoArmut nicht das Wünschenswerte und Reichtum nichtdas Wünschenswerte. Worin besteht nun das Wünschenswerte?Ich sage, das Wünschenswerte bestehtdarin, daß man sich seiner Gesundheit freut, daß manseinem Leib Bequemlichkeit schafft. So hält sich, weres versteht sich seiner Gesundheit zu freuen, ferne vonArmut, und wer es versteht seinem Leibe Bequemlichkeitzu schaffen, ferne von Reichtum.«


6. Vom Nutzen des MitleidsYang Dschu sprach: »Die Alten hatten ein Wort: ›ImLeben soll man Mitleid miteinander haben; im Todesoll man voneinander lassen.‹ Dieses Wort hat es getroffen.Der Grundsatz des gegenseitigen Mitleids istnicht eine Sache des bloßen Gefühls: in Zeiten derÜberarbeitung verschafft er Erleichterung, dem Hungerverschafft er Sättigung, der Kälte verschafft er Erwärmung,dem Mißerfolg verschafft er Erfolg. DerGrundsatz, voneinander zu lassen, heißt nicht, daßman nicht umeinander trauert; nur braucht man (denToten) keine Perlen und Edelsteine in den Mund zugeben, keine gestickten Seidengewänder anzuziehen,keine Schlachtopfer darzubringen und keine prächtigenGeräte aufzustellen.«


7. Pflege des Lebens und Bestattung der TotenBau Schu Ya befragte den Guan I Wu über die Pflegedes Lebens. Guan I Wu sprach: »Sich ausleben istdas Ganze! Nichts verhindern, nichts unterdrücken!«Bau Schu sprach: »Und wie macht man das in jedemFalle?« Guan I Wu sprach: »Laß deine Ohren hören,was sie begehren! Laß deine Augen sehen, was sie begehren!Laß deine Nase riechen, was sie begehrt! Laßdeinen Mund reden, was er begehrt! Laß deinen Leibgenießen, was er begehrt! Laß deinen Willen tun, waser begehrt!Die Ohren verlangt es nach Klängen und Tönen;wenn man sie ihnen nicht zu hören gibt, so unterdrücktman die Ausbildung des Gehörs. Die Augenverlangt nach Schönheit und Farben; wenn man sieihnen nicht zu sehen gibt, so unterdrückt man dieAusbildung des Sehvermögens. Die Nase verlangtnach Düften und Wohlgerüchen; wenn man sie ihrnicht zu riechen gibt, so unterdrückt man die Ausbildungdes Riechvermögens. Den Mund verlangt überRecht und Unrecht zu reden; wenn man ihn nicht darübersprechen läßt, so unterdrückt man die Ausbildungder Klugheit. Den Leib verlangt der Pracht undFülle zu genießen; wenn man ihn nicht gewähren läßt,so unterdrückt man sein Wohlbefinden. Den Willen


verlangt darnach, sich unbehindert auszuwirken;wenn man ihn nicht so handeln läßt, so unterdrücktman seine Natur.Alle diese Unterdrückungen sind schlimme Tyrannen.Wer diese schlimmen Tyrannen beseitigt, derkann fröhlich sein Ende erwarten, sei es einen Tag,einen Monat, ein Jahr oder zehn Jahre lang. Dasnenne ich Pflege des Lebens. Wer diese schlimmenTyrannen festhält, ihrer gedenkt und sie nicht preisgibt,der schleicht elend dahin, um ein hohes Alter zuerreichen; und ob er hundert Jahre alt würde oder tausendJahre oder zehntausend: ich nenne das nicht Pflegedes Lebens.«Guan I Wu sprach: »Nachdem ich dir nun über diePflege des Lebens gesprochen, wie steht es da wohlmit der Bestattung des Toten?« Bau Schu Ya sprach:»Die Bestattung des Toten ist Nebensache; wasbraucht man darüber zu reden?« Guan I Wu sprach:»Ich möchte es aber doch von dir hören.« Bau SchuYa sprach: »Wenn ich erst tot bin, was geht das Weiteremich dann noch an? Mag man mich verbrennenoder ins Wasser werfen; mag man mich begraben oderoffen liegen lassen; mag man mich in Stroh wickelnund in einen Graben werfen oder in prächtige Gewänderhüllen und in einem steinernen Sarkophag beisetzen:das alles mag gehen, wie es will!«Da blickte Guan I Wu den Bau Schu Ya an und


sprach: »Des Lebens und des Todes Sinn haben wirbeide erfaßt.«


8. Die beiden ÜbermenschenDsï Tschan war Kanzler in Dscheng, und nachdem erdie Gewalt im Staate drei Jahre lang in seiner Handvereinigt hatte, da folgten die Guten seinem Einfluß,und die Bösen scheuten seine Strenge. So kam derStaat Dscheng in Ordnung, und die übrigen Reichsfürstenfürchteten ihn. Er aber hatte einen älteren Brudernamens Gung Sun Tschan und einen jüngerenBruder namens Gung Sun Mu. Der ältere war demWein ergeben und der jüngere der Frauenschönheit.Vor dem Hause des älteren standen Tausende vonWeinfässern aufgestapelt, und die Hefe lag in Haufenumher. Wenn man auf hundert Schritt dem Torenahte, so beleidigte der Geruch von Trebern und ungegorenemWein die Nase. Und nun erst seine Unmäßigkeitim Weingenuß! Er kümmerte sich nicht umdes Weltlaufs Sicherheit oder Gefahr, nicht um Reueoder Verzweiflung menschlicher Vernunft, nicht umBesitz oder Verlust im eigenen Hause, nicht um Zuneigungoder Entfremdung seiner Verwandten, nichtum Freude und Trauer über Leben und Tod, ja selbstwenn Wassersnot und Feuersnot, Schwert und Spießgleichzeitig ihn bedroht hätten, er hätte es nicht beachtet.Der jüngere hatte sich in seinen hinteren Gemä-


chern einen Harem von Dutzenden von Zimmern angelegt,den er mit ausgesucht jungen und schönenMädchen gefüllt hatte. Und nun erst seine Ausschweifungin Wollust! Die Verwandten trieb er weg, undmit den Freunden brach er. Er zog sich in die innerenGemächer zurück und trieb dort Tag und Nacht seinWesen. Alle drei Monate kam er nur einmal hervor,und selbst dabei war ihm noch nicht wohl. Wenn inder Gegend irgendwo eine besonders schöne Jungfrauwar, so sandte er sicher Geschenke, um sie herbeizulocken,brauchte Kuppler, um sie zu verführen, undließ nicht ab, ehe er sie bekommen.Dsï Tschan war Tag und Nacht darüber bekümmert.Er suchte heimlich den Deng Si auf, um ihn umRat zu fragen, und sprach: »Ich weiß, daß man erstsein Selbst in Ordnung bringen muß, um auf die FamilieEinfluß zu gewinnen, daß man erst sein Haus inOrdnung bringen muß, um auf den Staat Einfluß zugewinnen. Dieser Grundsatz besagt, daß man im engstenKreise anfangen muß, um weitere Kreise zu erreichen.Nun habe ich im Staate Ordnung geschaffen,aber meine Familie ist in Unordnung. Das ist der verkehrteWeg. Was für ein Mittel gibt es nun, um diebeiden Herren zurechtzubringen? Willst du mir's nichtkundtun?« Deng Si sprach: »Ich wundere mich schonlange darüber; aber ich habe nicht gewagt, zuerstdavon zu reden. Willst du sie nicht schleunigst zur


Ordnung bringen, indem du ihnen die Wichtigkeit vonLeib und Leben klarmachst und sie anziehst durch dieErhabenheit von Recht und Sitte?«Dsï Tschan befolgte die Worte Deng Si's und benützteeine freie Stunde, um seine Brüder zu besuchen.Und er redete mit ihnen also: »Was den Menschenvor dem Tiere auszeichnet, das ist sein sinnenderVerstand; worauf der sinnende Verstand unsweist, das ist Sitte und Recht. Wenn man in allenStücken nach Sitte und Recht lebt, so kommt man zuEhren und Ämtern; wenn man von seinen Leidenschaftensich treiben läßt und sich der Völlerei undWollust ergibt, so bringt man Leib und Leben in Gefahr.Wenn ihr meine Worte zu Herzen nehmt undmorgens Buße tut, so habt ihr abends schon einAmt.«Die beiden Brüder sprachen: »Das wissen wirschon längst und haben auch schon längst unsereWahl getroffen! Wir brauchten nicht auf dich zu warten,um das zu erfahren. Es ist ein seltenes Glück zuleben; der Tod aber kommt ganz von selbst. Was istdas für ein Gedanke, das seltene Glück des Lebenspreiszugeben, um auf den Tod zu warten, der dochganz von selbst kommt; Sitte und Recht hochzuhalten,um vor den Menschen zu prahlen; seinen Gefühlenund seiner Natur Gewalt anzutun, um den Ruhmherbeizulocken! Wenn wir das tun wollten, wären wir


dann nicht so gut wie schon tot? Wir wünschen dieFreuden dieses einen Lebens auszukosten und die Genüsseder Gegenwart zu erschöpfen. Darum kennenwir nur die Sorge, daß, wenn der Leib überfüllt ist,der Genuß am Trunk gehindert wird, daß, wenn dieKraft erschöpft ist, die Befriedigung der Lust gehindertwird; nicht aber beunruhigen wir uns darüber,daß unser Name stinkend wird und unser Leib undLeben in Gefahr kommt. Du aber kannst doch mit deinerGeschicklichkeit, den Staat zu ordnen, vor derWelt prahlen! Nun willst du auch noch mit deinemGeschwätz unser Herz verwirren und mit Ehre undÄmtern unseren Gedanken schmeicheln. Ist das nichtgemein oder erbärmlich?Nun wollen wir einmal mit dir rechten. Wenn einertüchtig ist in der Ordnung des Äußeren, so ist es nochlange nicht sicher, daß die Welt durch ihn in Ordnungkommt; aber er selbst hat eitel Mühsal. Wenn einerdagegen tüchtig ist, sein Inneres in Ordnung zu bringen,so ist damit noch lange nicht gesagt, daß dieWelt durch ihn in Unordnung kommt; aber sein eignesWesen hat eitel Behagen. Deine Art, das Äußerein Ordnung zu bringen, mag wohl zeitweise in einemStaat Erfolg haben; aber sie stimmt nicht überein mitdem Herzen der Menschen. Unsere Art, das Innere inOrdnung zu bringen, kann auf die ganze Welt ausgedehntwerden, und das Verhältnis zwischen Fürst und


Untertan käme schließlich dadurch zur Ruhe. Wirhaben schon lange im Sinne gehabt, dich diese Kunstzu lehren. Nun kommst statt dessen du zu uns, umuns in jener Kunst zu unterweisen!«Dsï Tschan kam in Verlegenheit und hatte nichtszu erwidern. Am anderen Tag teilte er es dem Deng Simit. Deng Si sprach: »Du lebst mit Übermenschen zusammenund hast es nicht gewußt; wer will behaupten,daß du weise seist! Daß der Staat Dscheng inOrdnung ist, ist Zufall und nicht dein Verdienst.«


9. Der ungerechte MammonDuan Mu Schu im Staate We war ein NachkommeDsï Gungs. Er überkam das Vermögen seiner Vorfahren,so daß in seinem Hause Zehntausende von Goldstückenaufgehäuft waren. Da er nicht Ordnung haltenkonnte, so ließ dieser Nachkomme seinen Wünschenfreien Lauf. Was die Menge zu tun begehrt, woransich Menschengedanken zu erfreuen trachten: alles tater, an allem erfreute er sich. Mauern und Häuser, Terrassenund Wandelgänge, Gärten und Parks, Teicheund Weiher, Speise und Trank, Wagen und Gewänder,Klänge der Musik und dienende Sklavinnen; dasalles hatte er so reichlich wie die Fürsten von Tsi undTschu. Was immer seinen Stimmungen zusagte, wasAuge, Ohr und Mund ergötzen konnte, und waren esauch Erzeugnisse ferner Gegenden, die nicht im eignenLande wuchsen: alles schaffte er herbei, als wärenes Dinge innerhalb der eignen Zäune und Wände. Undwenn er reiste, so fragte er nicht nach Hindernissenund Gefahren durch Berge und Ströme, nicht nachLänge und Ferne der Wege und Straßen: überall kamer hin, so leicht wie andere Menschen ein paar Schrittegehen. Der Gäste und Besucher verkehrten in seinerHalle täglich an die hundert. In der Küche ging Rauchund Feuer nie aus. In dem Saale über der Terrasse


hörten die Klänge der Musik nie auf. Was von denaufgetragenen Speisen übrigblieb, verteilte er unterseine Verwandten; was die Verwandten übrigließen,verteilte er in der Nachbarschaft; was in der Nachbarschaftnoch übrigblieb, verteilte er im ganzen Reich.Als er nun in die sechziger Jahre kam und Leib undSeele alterten, da gab er seine häuslichen Geschäfteauf und verteilte alles. Was seine Kammern bargen anPerlen und Edelsteinen, Wagen und Gewändern, Weibernund Sklavinnen, war im Laufe eines Jahres alleszu Ende. Für seine Söhne und Enkel ließ er keinenBesitz mehr übrig. Und als er krank ward, war nichtsmehr da, um Heilkräuter und Pulver zu kaufen. Als erstarb, war kein Geld mehr da für seine Beerdigung.Alle Leute im ganzen Reich hatten aber seineWohltaten genossen. Sie taten sich nun zusammenund brachten Geld auf, um ihn zu beerdigen, und erstattetenseinen Söhnen und Enkeln ihr Vermögenwieder zurück.Kin Gu Li (der Schüler des Mo Di) hörte davonund sprach: »Duan Mu Schu war ein Narr, der seinemAhn Schande machte.«Duan Gan Scheng hörte davon und sprach: »DuanMu war ein großartiger Mensch, dessen Geist den seinesAhns noch übertraf. Wie er handelte, was er tat,davor scheuen sich die Gedanken der Menge, unddoch hat er die wahre Vollkommenheit erlangt. Die


Herren von We aber halten viel auf sich selbst wegenihrer Moralvorschriften. Sie sind allerdings nicht imstande,die Gesinnung dieses Mannes zu verstehen.«


10. Es ist alles ganz EitelMeng Sun Yang fragte den Meister Yang und sprach:»Angenommen ein Mensch suche dadurch, daß er seinLeben wert hält und seinen Leib liebevoll pflegt, dieUnsterblichkeit zu erlangen: ist das zu billigen?«Jener sprach: »Die Naturgesetze dulden keine Unsterblichkeit.«– »Nehmen wir an, er suche seine Lebensdauerzu verlängern: ist das zu billigen?« Ersprach: »Die Naturgesetze dulden keine Verlängerungdes Lebens. Das Leben kann man nicht durch Werthaltungbewahren; den Leib kann man nicht durch liebevollePflege gesund erhalten. Und dann: was hatdenn die Verlängerung des Lebens für einen Zweck?Die Neigungen und Abneigungen der Gefühle bleibensich gleich von alters her bis heute, die Sicherheit undUnsicherheit der Glieder bleibt sich gleich von altersher bis heute, die Freuden und Leiden der Weltgeschäftebleiben sich gleich von alters her bis heute,Wandel und Wechsel von Ordnung und Verwirrungbleiben sich gleich von alters her bis heute. Wennman das alles erst einmal gehört hat, wenn man es gesehenhat, wenn man es mitgemacht hat: so hat manin hundert Jahren schon zum Überdruß daran; wie bittermüßte da erst eine weitere Verlängerung des Lebenssein!«


Meng Sun Yang sprach: »Wenn es also steht, daßein früher Tod besser ist als ein langes Leben, sokann man ja sein Ziel erreichen, wenn man sich in dieSchärfe des Schwertes stürzt oder ins Wasser oderFeuer springt.«Meister Yang sprach: »Nicht also! Wenn manschon einmal im Leben steht, so muß man es unwichtignehmen und über sich ergehen lassen, seine Wünschebeobachten und so den Tod erwarten. Kommtdann der Tod heran, so muß man ihn auch unwichtignehmen und über sich ergehen lassen, beobachten,was erfolgt, und sich so der Auflösung überlassen.Beides muß man unwichtig nehmen, beides über sichergehen lassen; was braucht es des Zögerns oder derHast in dieser Spanne Zeit?«


11. Wert der SelbstsuchtYang Dschu sprach: »Be Tscheng Dsï Gau gab nichtEin Haar her, um der Außenwelt zu nützen. Er ließsein Reich im Stich und pflügte in der Verborgenheitsein Feld. Der Große Yü gab sein ganzes Ich hin,ohne sich zu nützen. Sein ganzer Leib verrunzeltedarob. Die Menschen des Altertums gaben kein Haarher, und wenn sie damit der ganzen Welt hätten nützenkönnen. Und umgekehrt, wenn alle in der ganzenWelt ihnen huldigen wollten, so nahmen sie es nichtan. Kein einziger gab ein Haar her, kein einzigernützte der Gesamtheit, und die Gesamtheit war inOrdnung.«Meister Kin fragte den Yang Dschu und sprach:»Würdet Ihr wohl auf ein einziges Härchen Eures Leibesverzichten, wenn Ihr damit der ganzen Welt könntetaufhelfen?« Meister Yang sprach: »Der Welt kannunmöglich mit Einem Haar geholfen werden.« MeisterKin sprach: »Nehmen wir an, es könnte ihr dadurchgeholfen werden: würdet Ihr es tun?« MeisterYang gab keine Antwort.Meister Kin ging weg und redete mit Meng SunYang darüber. Meng Sun Yang sprach: »Ihr verstehtdes Meisters Sinn nicht. Darf ich es Euch erklären?Würdet Ihr bereit sein, Euch die Haut ritzen zu las-


sen, wenn ihr zehntausend Goldstücke dafür bekämet?«Er sprach: »Ich würde es tun.« Meng Sun Yangsprach: »Würdet Ihr bereit sein, Euch ein Glied abhackenzu lassen, wenn Ihr ein Königreich dafür bekämet?«Meister Kin schwieg. Nach einer Weilesprach Meng Sun Yang: »Ein Haar ist weniger als dieHaut, die Haut ist weniger als ein Glied, das ist klar.Doch handelt es sich in dem Verhältnis von Haar undHaut, von Haut und Gliedern nur um ein Wenigeroder Mehr. Ein Haar ist freilich nur der zehntausendsteTeil des ganzen Leibes, aber warum soll man auchnur diesen Einen Teil gering achten?« Meister Kinsprach: »Ich vermag Euch nichts darauf zu erwidern.Aber die Sache steht so, daß wenn man Eure Wortedem Lau Dan und Guan Yin vorlegte, sie Euch rechtgeben würden, wenn man aber meine Worte dem MoDi und dem Großen Yü vorlegte, sie mir recht gebenwürden.«Meng Sun Yang wandte sich darauf an seine Jüngerund redete von anderen Dingen.


12. Vom Leiden der Gerechten und vom Glückder GottlosenYang Dschu sprach: »Alles Gute in der Welt sagtman dem Schun und dem Yü, dem Herzog Dschouund dem Kung Dsï nach, alles Üble in der Welt demGiä und Dschou Sin. Aber Schun hatte zu pflügen imSüden des (gelben) Flusses und bildete Gefäße amDonnersumpf (Le Dsche); keinen Augenblick konnteer seinen Gliedern Ruhe gönnen; sein Mund erfreutesich nicht an köstlichen Speisen; die Liebe seiner Elternhatte er nicht, und seine Geschwister waren ihmnicht zugetan. Als er dreißig Jahre verbracht, da heirateteer, ohne es ihnen anzuzeigen, und als er endlichdas Reich von Yau überkam, da war er schon hochbetagt,und sein Geist war schon stumpf geworden. SeinSohn Schang Gün war unbrauchbar; so mußte er denThron dem Yü abtreten. Unter Not und Kummer kamer zum Tode. Er war der unglücklichste und elendesteunter allen Menschen.Yü's Vater Gung sollte Land und Wasser in Ordnungbringen. Als seine Bemühungen keinen Erfolghatten, da ward er lebenslänglich verbannt auf denFlügelberg (Yüschan). Yü hatte seine Erbschaft zuübernehmen und mußte seinem Feinde dienen. Nurder Urbarmachung des Landes galt sein Bemühen.


Ein Sohn ward ihm geboren, und er konnte sich nichtum ihn kümmern. Er kam an seiner Tür vorbei undhatte keine Zeit einzutreten. Sein ganzer Leib war verrunzelt;an Händen und Füßen hatte er Schwielen undBeulen. Als er endlich das Reich von Schun überkam,da wohnte er in einer ärmlichen Hütte mit prächtigerKleidung und Krone. Unter Not und Kummer kam erzum Tode. Er war der geplagteste und sorgenvollsteunter allen Menschen.Als der König Wu starb, da war sein Sohn Tschengnoch jung und schwach. So mußte sein Bruder, derHerzog von Dschou, des Himmelssohnes Herrschaftverwalten. Sein eigner Bruder, der Herzog Yau, warunzufrieden. Im ganzen Reiche liefen üble Gerüchteüber ihn um, so daß er drei Jahre lang fern von derHauptstadt verweilen mußte. Er mußte seinen älterenBruder hinrichten und seinen jüngeren Bruder verbannen,und kaum rettete er sein eignes Leben. Unter Notund Kummer kam er zum Tode. Er war der bedrohtesteund beunruhigteste unter allen Menschen.Kung Dsï erkannte den Weg der Herrscher und Königeund war bereit, den Einladungen der Fürsten seinerZeit zu folgen. In Sung wollten sie ihn töten durchFällen des Baumes (unter dem er saß). Aus dem StaateWe mußte er sich heimlich flüchten; im StaateSchang und Dschou hatte er Mißerfolg; im StaateTschen und Tsai wurde er eingeschlossen. In seiner


Heimat geschah ihm Unrecht vom Haupt des HausesGi, und er ward verhöhnt von Yang Hu. Unter Notund Kummer kam er zum Tode. Er war der umhergetriebensteund gehetzteste unter allen Menschen.Alle diese vier Heiligen hatten während ihres Lebensnicht Einen Tag der Freude. Wohl ernteten sienach ihrem Tode jahrhundertelangen Ruhm; aber inWirklichkeit gewannen sie mit diesem Ruhme nichts,von allem Lob wissen sie nichts mehr, von allen Ehrungenwissen sie nichts mehr. Sie unterscheiden sichin nichts von einem dürren Baumstumpf und einemErdenkloß.Der Tyrann Giä dagegen überkam die Schätze vielerGeschlechter, er saß geehrt auf dem Herrscherthron.Er hatte genügend Verstand, um der KnechteSchar von sich fernzuhalten. Der Schrecken, der vonihm ausging, reichte hin, um alles innerhalb derMeere zittern zu machen. Er ließ den Genüssen seinerSinne freien Lauf und führte bis zu Ende aus, wasimmer in seinem Sinne stand. In Saus und Braus kamer zum Tode. Er war der glücklichste und ungebundensteunter allen Menschen.Dschou Sin überkam ebenfalls die Schätze vielerGeschlechter und saß geehrt auf dem Herrscherthron.Dem Schrecken, der von ihm ausging, war nichts unmöglich,und seinem Willen war niemand ungehorsam.Er gab sich seinen Leidenschaften hin im Innern


des Palastes und folgte seinen Lüsten die langenNächte hindurch. Er verbitterte sich nicht das Lebendurch Sitte und Recht. In Saus und Braus kam er zumUntergang. Er war der freieste und unbeschränktesteunter allen Menschen.Diese beiden Bösewichter hatten während ihres Lebensdie Freude, ihren Lüsten folgen zu können.Wohl luden sie nach ihrem Tode den Namen von Narrenund Scheusalen auf sich; aber in Wirklichkeit verlorensie durch diesen Namen nichts, von allen Verleumdungenwissen sie nichts mehr, von allen Beschimpfungenwissen sie nichts mehr. Sie unterscheidensich in nichts von einem dürren Baumstumpf undeinem Erdenkloß.Jenen vier Heiligen sagt man nun wohl Gutes nach;aber sie hatten Bitternis bis zu ihrem Ende und sindden allen gemeinsamen Weg in den Tod gegangen.Jenen beiden Bösewichtern sagt man wohl Üblesnach; aber sie genossen der Freuden bis zu ihremEnde und sind ebenfalls den allen gemeinsamen Wegin den Tod gegangen.«


13. Ich hab' mich nie mit KleinigkeitenabgegebenYang Dschu wurde beim König von Liang vorgelassenund sagte, die Welt zu ordnen gehe im Handumdrehen.Der König von Liang sprach: »Du, o Lehrer,hast eine Frau und eine Nebenfrau und kannst sienicht in Ordnung halten; du hast drei Morgen Gartenlandund kannst sie nicht bestellen; und nun sagst du,die Welt zu ordnen gehe im Handumdrehen: wie istdas?«Er erwiderte: »Haben Eure Hoheit schon beimSchafhüten zugesehen? Für eine Herde von hundertSchafen bedarf es nur eines halbwüchsigen Knaben,der mit der Peitsche in der Hand hintendrein geht.Will er nach Osten, so gehen sie nach Osten; will ernach Westen, so gehen sie nach Westen. Wollte manden Erzvater Yau ein einziges Schaf führen und denErzvater Schun mit der Peitsche in der Hand hintendreingehen lassen, so kämen sie nicht vorwärtsdamit.Ferner habe ich gehört, daß ein Fisch, der ein Bootverschlingen kann, nicht in kleinen Bächenschwimmt, und daß die hochfliegenden Schwäne sichnicht in schmutzigen Tümpeln sammeln. Warum? –Weil ihr Sinn ins Weite steht. Die Töne der gelben


Glocke und der großen Flöte darf man beim Reigennicht zusammen laut erklingen lassen. Warum? –Weil ihre Klänge einander zu fern stehen.Wer Großes in Ordnung bringen will, ordnet nichtGeringes; wer ein großes Werk vollbringen kann,vollbringt kein kleines. So ist das.«


14. VergänglichkeitYang Dschu sprach: »Der grauen Vorzeit Taten sindausgelöscht: wer mag sie noch verzeichnen? Der dreiErhabenen Taten sind schwankend zwischen Sein undNichtsein. Der fünf Herrscher Taten sind von sagenhaftemSchleier umwoben. Der drei Könige Taten,teils verborgen, teils offenbar, sind so, daß von Millionennicht eine bekannt ist. Was man in seinem eignenLeben an Taten teils gehört, teils gesehen hat, istso, daß man von Zehntausenden nicht eine weiß; jaselbst die Taten vor unseren Augen sind so, daß, obsie Dauer haben oder vergänglich sind, man unterTausenden noch nicht von einer wissen kann.Die Zahl der Jahre vom grauen Altertum bis aufunsere Tage entzieht sich aller Berechnung. Würdigeund Narren, Gute und Böse, Siegende und Unterliegende,die recht hatten und die unrecht hatten: allesind sie vergangen und ausgelöscht, der ganze Unterschiedist der, daß die einen zögernder, die anderenflüchtiger dahingingen.Einer kurzen Spanne Zeit Lob oder Tadel so zuHerzen nehmen, daß man Geist und Leib beunruhigtund bemüht, um nach dem Tode für einige hundertJahre seinem Namen eine Dauer zu geben, die dochnicht imstande ist die modernden Gebeine zu beleben:


was ist das für eine Lebensfreude!«


15. Der Mensch inmitten der NaturYang Dschu sprach: »Der Mensch ist das Ebenbildvon Himmel und Erde und vereinigt in sich die Naturder fünf Elemente. Von allen Lebewesen am meistenVernunft hat der Mensch, und doch ist der Mensch sobeschaffen, daß er sich nicht auf seine Nägel undZähne verlassen kann zu seiner Verteidigung; Muskelnund Haut sind nicht stark genug, um Widerstandzu leisten; er kann nicht schnell genug laufen, umSchaden zu entgehen; er hat keine Haare oder Federn,um sich vor Kälte und Hitze zu schützen. Zu seinerErnährung bedarf er der Außenwelt; dabei muß ersich aber seines Verstandes bedienen und kann sichnicht auf seine Kraft verlassen. Darum schätzt er denVerstand hoch, weil ihm die Erhaltung des eignenIchs wertvoll erscheint, und er schätzt die rohe Kraftgering, weil die Vergewaltigung der Dinge der Außenweltminderwertig erscheint.Dennoch ist unser Ich nicht in unserer Hand; einmalgeboren, wächst es sich mit Notwendigkeit aus.Ebensowenig ist das Nicht-Ich in unserer Hand; einmalbesessen, geht es mit Notwendigkeit wieder verloren.Das Leben hängt allerdings vom Ich ab, aberebenso hängt die Ernährung vom Nicht-Ich ab. Selbstwenn unser Ich in voller Blüte des Lebens steht, ist es


nicht möglich, es in die Hand zu bekommen; selbstwenn wir mit dem Nicht-Ich in Verbindung bleiben,ist es nicht möglich, es in die Hand zu bekommen.Wer das Nicht-Ich in der Gewalt hätte und sein eignesIch in der Gewalt hätte, der könnte willkürlich verfügenüber alles, was in der Welt Ich und Nicht-Ichheißt; dazu aber wäre wohl nur ein Berufener imstande.Wer sich mit jedem Ich in der Welt und mit jedemNicht-Ich in der Welt in eins zu setzen vermöchte, derwäre der Vollkommene Mensch, – ja das ist die Vollkommenheitder Vollkommenheit.«


16. Sklaven und Herren der Güter des LebensYang Dschu sprach: »Vier Gründe sind es, daß die lebendenMenschen nicht zur Ruhe kommen: der eineist das lange Leben, der zweite ist der Ruhm, der dritteist der Rang und Stand, und der vierte ist der Besitz.Um dieser vier Dinge willen fürchten sie die Geister,fürchten sie die Menschen, fürchten sie dieMacht und fürchten sie die Strafe. Die das tun, sindMenschen, die nicht zur Besinnung kommen. Mankann sie töten, man kann sie am Leben lassen: ihrSchicksal wird von außen her bestimmt.Wer seinem Los nicht widerstrebt, was braucht derhohes Alter zu begehren? Wer sich nicht um Ansehenkümmert, was braucht der Ruhm zu begehren? Wernicht nach Macht trachtet, was braucht der Rang undStand zu begehren? Wer nicht nach Reichtum gierigist, was braucht der Besitz zu begehren? Die solchestun, sind mit sich selbst im reinen. Auf der ganzenWelt finden sie keinen Gegner; ihr Schicksal wird voninnen her bestimmt. Darum sagt ein Sprichwort:Die Leute ohne Ehr und AmtSind nur zur halben Last verdammt,Und schafft man Speis' und Kleidung ab,Gräbt man der Staatsgewalt ihr Grab.«


17. BauernglückEin Sprichwort aus Dschou sagt: »Den Bauer kannman durch Sitzen umbringen.« Morgens geht er hinaus,und nachts kommt er zurück, und er selber siehtdarin die unabänderliche Naturordnung. Er schlürftseinen Bohnenbrei, ißt seine Kräuter und Wurzelnund hält das für die feinsten Gerichte. Seine Muskelnsind rauh und dick; seine Sehnen und Gelenke sindverzogen und steif. Läßt man ihn auch nur einen Morgenlang ruhen in einem weichen Bett mit seidenenVorhängen und reicht ihm feinen Reis und Fleischund Orchideen und Apfelsinen, so wird's ihm übel zuMut; sein Leib wird unruhig, er bekommt Fieber undwird krank. Wenn die Fürsten von Schang und Lu indieselbe Lage gebracht würden wie ein Bauer, sokönnten sie's auch keine Stunde lang aushalten, ohnezu ermatten. Darum ist den gemeinen Leuten in dem,wodurch sie sich befriedigt fühlen und was sie fürschön halten, auf der ganzen Welt niemand über.Es war einmal ein Bauer im Staate Sung, derimmer in groben, hänfenen Kleidern ging, so daß erkaum sich durch den Winter brachte. Als der Frühlingkam, ging er aufs Feld hinaus zu arbeiten und wurdewarm im Sonnenschein. Er wußte gar nicht, daß esauf der Welt weite Hallen und warme Häuser, prächti-


ge Kleider und Fuchs- und Dachspelze gäbe. Darumsagte er zu seinem Weib und sprach: »Wenn einemdie Sonne auf den Rücken scheint, dann wird manwarm; das hat noch kein Mensch entdeckt; das Mittelwill ich unserem Herrn anbieten, der wird mich sicherreichlich dafür belohnen.« Ein reicher Mann in seinemWeiler sprach da zu ihm also: »Es war einmalein Mann, dem schmeckten wilde Bohnen, und erhielt Nesselstengel, Sellerie und Wasserlinsen fürvorzüglich und lobte sie vor den angesehenen Männerndes Orts. Die angesehenen Männer nahmendavon und kosteten, aber es brannte sie im Mund undmachte ihnen Leibgrimmen; alle lachten ihn aus undverachteten ihn, und er schämte sich gewaltig darob.Ihr seid wohl auch so einer von diesem Schlag.«


18. Unersättlichkeit der MoralYang Dschu sprach: »Bequeme Wohnung, schöneKleider, feine Speisen und schöne Frauen: wer diesevier Dinge hat, was braucht der mehr zu begehren?Wer diese Dinge hat und dennoch mehr begehrt, derist eine unersättliche Natur; eine unersättliche Naturaber ist wie eine Made im Haushalt der Welt.(Was man so zum Beispiel) Pflichttreue nennt, istkeineswegs ausreichend, dem Herrn, dem man dient,Ruhe zu verschaffen; aber sie ist vollständig ausreichend,das eigne Ich in Gefahr zu bringen. Uneigennützigkeitist keineswegs ausreichend, den Nebenmenschenzu nützen; aber sie ist vollständig ausreichend,das eigne Leben zu schädigen.Wenn erst die Oberen Ruhe finden, ohne auf diePflichttreue angewiesen zu sein, dann wird der Ruhmder Pflichttreue verblassen; wenn erst die Nebenmenschenihren Nutzen finden, ohne auf ihre gegenseitigeUneigennützigkeit angewiesen zu sein, dann wird derRuhm der Uneigennützigkeit aufhören.Daß Fürsten und Untertanen miteinander Ruhe findenund die Mitwelt und das eigne Ich miteinanderRuhe finden: das war der Sinn des Altertums.«


19. Beschränkter Nutzen des RuhmsMeister Yü sprach: »Die den Namen abtun, habenkeine Sorgen.« Lau Dan sprach: »Der Name ist derGast der Wirklichkeit.« Aber weit und breit renntalles dem Namen nach ohne Aufhören. Den Namendarf man allerdings nicht abtun; den Namen darf manallerdings nicht bloß als Gast betrachten, denn werheute einen Namen hat, der ist geehrt und herrlich;wer keinen Namen hat, der ist niedrig und verachtet.Wer geehrt und herrlich ist, der hat Freude undWonne; wer niedrig und verachtet ist, der hat Kummerund Bitternis. Kummer und Bitternis widerstrebender Natur, Freude und Wonne entsprechen derNatur. Das sind sehr wirkliche Zusammenhänge.Wozu also den Namen abtun? Wozu also den Namenals Gast behandeln? Aber man hasse es, den Namenfestzuhalten und dadurch die Wirklichkeit beeinflussenzu lassen. Wer den Namen festhält und dadurchdie Wirklichkeit beeinflussen läßt, der wird dereinstdarüber zu klagen haben, daß er sich unrettbar in Gefahrund Verderben gestürzt. Wahrlich, nicht untätigverharre man, unentschieden zwischen Freude undWonne und Kummer und Bitternis.


Buch VIIIZusammentreffen der Verhältnisse»Dein Los ist gefallen, verfolge die Weise / Der Wegist begonnen, vollende die Reise / Denn Sorge undKummer verändern es nicht / Sie schleudern dichewig aus gleichem Gewicht.«1. Was man vom Schatten lernen kannMeister <strong>Liä</strong> Dsï lernte bei Hu Kiu Dsï Lin.Hu Kiu Dsï Lin sprach: »Wißt Ihr, daß, wer sichhinten hält, dadurch sein Selbst behalten mag?«<strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Ich möchte erfahren, was es heißt,sich hinten zu halten.« Er sprach: »Blickt auf EurenSchatten, so wißt ihr es!«<strong>Liä</strong> Dsï wandte sich und betrachtete seinen Schatten.Krümmte er seinen Körper, so war sein Schattenkrumm, richtete er seinen Körper auf, so war seinSchatten gerade. Ob der Schatten krumm war oder gerade,wurde von dem Körper bestimmt und nicht vonihm selber. Sich beugen und sich ausdehnen, wie esden Verhältnissen entspricht, und es nicht selber bestimmen,das heißt sich hinten halten und dadurchvorne weilen.


Guan Yin redete mit Meister <strong>Liä</strong> Dsï und sprach:»Sind die Worte schön, ist auch das Echo schön; sinddie Worte häßlich, ist auch das Echo häßlich. Ist derLeib lang, so ist auch der Schatten lang; ist der Leibkurz, so ist auch der Schatten kurz. Der Name (deruns zuteil wird) ist wie ein Echo (unserer Reden).Unser eignes Ergehen ist der Schatten (unserer Taten).So heißt es: Achte auf deine Worte, so wirst du Übereinstimmungfinden! Achte auf deine Taten, so wirstdu Nachfolger finden! Darum sieht der Berufene aufdas, was von einem Menschen ausgeht, und erkenntdaraus das, was ihm zuteil wird; er betrachtet dasVergangene und erkennt daraus das Kommende. Dasist der Grund seines Vorherwissens.Das Maß liegt im eignen Selbst; das Richten liegtbei den Menschen. Wenn die Menschen mich lieben,so habe ich sie sicher (erst) geliebt; wenn die Menschenmich hassen, so habe ich sie sicher (erst) gehaßt.Tang und Wu haben die Welt geliebt, darumwurden sie Könige. Giä und Dschou Sin haben dieWelt gehaßt, darum gingen sie zugrunde. So wurdensie gerichtet.Wer Messen und Richten beides versteht, aberohne den SINN, der gleicht einem Menschen, der hinausgehenwollte, aber nicht durch die Tür; der wandelnwollte, aber nicht auf dem Weg. Schwerlich wirdes ihm gelingen, sich Nutzen zu schaffen. Betrachte


Schen Nungs und Fu Hi's (Yu Yän's) geistige Kräfte!Forsche nach in den Büchern der Könige von Yü,Hia, Schang und Dschou! Überlege die Worte derWeisen und Würdigen: Bestand und Untergang, Blüteund Vernichtung ward niemals anders gewirkt als aufdiesem Wege.«


2. Wahrer Reichtum und Kampf ums DaseinYän Hui sprach: »Da sagt man, daß das Suchen nachdem SINN reich macht. Wer aber Perlen hat, ist auchreich, wozu braucht es da des SINNS?«Meister <strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Giä und Dschou Sin nahmennur den Gewinn wichtig und verachteten denSINN der Wahrheit; darum gingen sie zugrunde. Ichhalte es dir zugut, daß ich mit dir noch nicht darübergesprochen habe. Menschen, die sich nicht um Pflichtenkümmern, sondern nur essen und nichts weitertun, sind wie Hühner und Hunde. Sie stoßen undstreiten um den Futterplatz, also daß der StärksteHerrscher bleibt: das ist die Art der Tiere. Wenn manes aber macht wie die Tiere und dabei doch erwartet,daß die Menschen einen achten, so wird man damitschwerlich Erfolg haben. Wenn die Menschen einenaber nicht achten, so kommt man in Gefahr undSchande.«


3. Die Ursachen des Erfolges<strong>Liä</strong> Dsï lernte das Bogenschießen und fragte denGuan Yin Dsï um Rat. Der sprach: »Wißt Ihr, warumIhr trefft?«Er erwiderte: »Ich weiß es nicht.«Guan Yin Dsï sprach: »Dann ist's noch nicht dasrichtige.«Darauf zog er sich zurück und übte drei Jahre lang.Dann kam er wieder und sagte es dem Guan Yin Dsïan.Der sprach: »Wißt Ihr, warum Ihr trefft?«<strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Ich weiß es.«Guan Yin Dsï sprach: »Dann ist's das richtige.Haltet fest daran und verliert es nicht! Nicht nur beimBogenschießen, auch beim Wirken im Staate und ameignen Selbst verhält es sich so. Darum erforscht derBerufene nicht Dauer oder Untergang, sondern erforscht nach ihren Ursachen.«


4. Gefahren des Stolzes<strong>Liä</strong> Dsï sprach: »Wer durch jugendliche Schönheithervorragt, wird leicht stolz; wer durch Kraft hervorragt,wird leicht gewalttätig, und es lohnt sich nicht,mit solchen über den SINN der Wahrheit zu reden.Wenn einer, der noch nicht fleckig ist und grau, überden SINN der Wahrheit redet, der trifft ihn nicht; wievielweniger kann ein solcher darnach handeln! Weraber selbst gewalttätig ist, dem teilen die Menschennichts mit; wem die Menschen nichts mitteilen, der istverlassen und ohne Helfer. Die Würdigen können sichauf die Menschen verlassen, darum werden sie alt,ohne zu verwelken, und ihre Erkenntnis ist gründlich,ohne verwirrt zu sein. Deshalb besteht die Schwierigkeitbeim Ordnen eines Staates darin, daß man dieWürdigen erkennt, und nicht darin, daß man sichselbst für würdig hält.«


5. Kunst und Natur: das MaulbeerblattEin Mann aus Sung machte für seinen Fürsten einMaulbeerblatt aus Nephrit. Drei Jahre brauchte er, bises fertig war. Mit spitzem Messer war es geschnitzt,und Rippen, Stiel und alle feinsten Äderchen warensorgfältig und dabei doch glatt ausgeführt, so daß,wenn es unter wirkliche Maulbeerblätter gemischtwurde, man es nicht herausfinden konnte. DieserMann wurde daraufhin wegen seiner Geschicklichkeitin Sung auf Staatskosten unterhalten.Der Meister <strong>Liä</strong> Dsï hörte davon und sprach:»Wenn die Natur bei der Erzeugung der Geschöpfealle drei Jahre nur Ein Blatt fertigbringen würde, sogäbe es wohl wenig Dinge mit Blättern. Darum vertrautder Berufene auf die Gestaltungskraft desSINNS und nicht auf Weisheit und Geschicklichkeit.«


6. Selbstbewußte ArmutDer Meister <strong>Liä</strong> Dsï war arm, so daß er in seinemganzen Äußeren den Anblick des Hungers bot.Ein Fremder erzählte es dem Fürsten Dsï Yang vonDscheng und sprach: »<strong>Liä</strong> Yü Kou ist doch wohl einWeiser, der im Besitz des SINNS der Wahrheit ist. Erwohnt im Reiche Eurer Hoheit und ist arm. SchätztEure Hoheit denn die Weisen gar nicht?«Da ließ Dsï Yang von Dscheng durch einen Beamtenihm Getreide überbringen. Meister <strong>Liä</strong> Dsï empfingden Abgesandten am Tor, verneigte sich zweimalvor ihm und lehnte die Gabe ab. Als der Abgesandteweg war, ging Meister <strong>Liä</strong> Dsï wieder in sein Hauszurück. Sein Weib blickte ihn an, preßte die Handaufs Herz und sprach: »Ich habe gehört, daß Weibund Kind eines Mannes, der im Besitz des SINNS derWahrheit ist, eitel Freude und Wonne haben. Wiraber müssen Hunger leiden. Und nun, da der Fürstunserer Lage entgegenkam und dir ein Geschenk vonSpeise machte, nimmst du es nicht an. Wahrlich einbitteres Los!«Meister <strong>Liä</strong> Dsï sprach lächelnd zu ihr: »Der Fürstkennt mich nicht von sich aus, sondern auf andererLeute Reden hin hat er mir das Geschenk von Getreidegeschickt und mich dadurch schwer beleidigt. Und


das noch dazu auf anderer Leute Reden hin! Das warder Grund, warum ich nicht annahm.« Schließlicherhob sich tatsächlich das Volk und machte einenAufruhr, in dem Dsï Yang getötet wurde.


7. Wenn zwei dasselbe tunIn Lu lebte ein Mann namens Schï; der hatte zweiSöhne. Der eine liebte die Gelehrsamkeit, der andereliebte das Waffenhandwerk. Der Gelehrte wandte sichan den Fürsten von Tsi, um seine Gelehrsamkeit anden Mann zu bringen. Der Fürst von Tsi nahm ihn aufund machte ihn zum Erzieher sämtlicher Prinzen. DerKriegstüchtige ging nach Tschu und wandte sich anden König von Tschu, um seine Künste an den Mannzu bringen. Der König war erfreut und machte ihnzum General. Durch das Einkommen der beiden Brüderwurde die ganze Familie reich, und durch ihrenRang machten sie ihren Eltern Ehre.Schï hatte einen Nachbarn namens Meng. Der hatteebenfalls zwei Söhne, die denselben Beruf ausübten,und doch waren sie von Armut bedrückt. Er war lüsternnach dem Besitz der Familie Schï. Darum wandteer sich an sie und bat um Auskunft über das Mittelzu solch einem raschen Vorwärtskommen. Die beidenSöhne sagten ihm alles der Wirklichkeit gemäß. Dawandte sich der eine Sohn des Meng nach Tsin, umseine Gelehrsamkeit beim König von Tsin an denMann zu bringen.Der König von Tsin sprach: »Heutzutage kämpfendie Landesfürsten mit aller Kraft; worauf alles an-


kommt, sind Waffen und Proviant. Wenn ich mitLiebe und Gerechtigkeit mein Reich in Ordnung bringenwollte, so wäre das der (sicherste) Weg zum Verderben.«Darauf ließ er ihn verschneiden und ließ ihn laufen.Der andere Sohn ging nach We, um beim Fürstenvon We seine (kriegerischen) Künste an den Mann zubringen.Der Fürst von We sprach: »Mein Land ist schwachund eingezwängt zwischen große Reiche. Den großenReichen diene ich, den kleinen Reichen helfe ich. Dasist der Weg, um Ruhe zu finden. Wenn ich mich aufWaffengewalt verlassen wollte, so brauchte ich nichtlange auf mein Verderben zu warten. Wenn ich denMann da aber unbeschädigt weglasse, so würde ersich an ein anderes Reich wenden und mir nicht geringenVerdruß bereiten.«Darauf ließ er ihm die Füße abhauen und ihn sonach Lu zurückbringen.Als sie zurück waren, da schlugen sich der Vaterund seine Söhne auf die Brust und kamen scheltendzu Schï.Der sprach: »Wer die Zeit trifft, dem gelingt es;wer die Zeit verfehlt, der kommt ins Verderben. EuerWeg war derselbe wie meiner, und doch ist der Erfolgverschieden; das kommt davon, daß ihr die Zeit nichtgetroffen, nicht etwa davon, daß ihr in euren Taten es


verfehlt hättet. Außerdem gibt es auf der Welt keineWahrheit, die unter allen Umständen richtig wäre,und keine Handlung, die unter allen Umständen unrichtigwäre. Was in früheren Tagen gebraucht wurde,wird heute vielleicht verworfen. Was heute verworfenwird, wird später vielleicht gebraucht. Ob etwas gebrauchtwird oder nicht gebraucht wird, das folgtnicht einer festen Regel. Wie man eine Gelegenheitbenützt, die rechte Zeit trifft, den Verhältnissen sichanpaßt, dafür gibt es kein Rezept, das kommt allesauf die Klugheit an. Fehlt es an dieser Klugheit, somag man einen Herrn nehmen, gelehrt wie Kung Kiuund gewandt wie Lü Schang: er geht hin und hat sicherMißerfolg.«Vater Meng und seine Söhne gaben sich zufriedenund sagten ohne Groll: »Wir begreifen es, Ihr brauchtes uns nicht noch einmal zu sagen.«


8. Wer andern eine Grube gräbtDer Herzog Wen von <strong>Dsi</strong>n zog aus, um die Reichsfürstenzu versammeln, denn er wollte den Staat Webekämpfen. Da blickte der Prinz Tschou zum Himmelempor und lachte.Der Herzog sagte: »Was lachst du?«Er sprach: »Ich lache über einen Nachbar von mir,der seine Frau auf einem Besuch nach ihrem Elternhausbegleitete. Unterwegs sah er ein Mädchen, dasMaulbeerblätter pflückte. Die gefiel ihm, und er plaudertemit ihr. Als er sich aber nach seiner Ehefrau umblickte,da hatte die auch einen gefunden, der ihr zuwinkte.Das ist der Grund, warum ich zu lachenwage.«Der Herzog verstand den Wink und hielt ein. Erführte sein Heer zurück, aber noch ehe er angekommenwar, waren an der Nordgrenze seines Staates (dieHunnen) eingefallen.


9. Vom Schaden des SpürsinnsDer Staat <strong>Dsi</strong>n hatte unter Räubern zu leiden. Es gababer einen Mann namens Hi Yung, der die Räuber amGesicht erkannte. Indem er die Stelle zwischen Augenbrauenund Augenlid prüfte, fand er den Tatbestandheraus. Der Fürst von <strong>Dsi</strong>n ließ ihn alle Räuberbeobachten, und unter Hunderten und Tausenden entgingihm nicht einer. Darüber war der Fürst von <strong>Dsi</strong>nhocherfreut.Er teilte es (seinem Kanzler) Dschau Wen Dsï mitund sprach: »Ich habe einen Mann gefunden, durchden ich sämtliche Räuber des ganzen Reiches beseitigenkann; was brauche ich noch mehr!«Wen Dsï sprach: »Wenn Eure Hoheit sich auf solcheUntersuchungen verläßt, um der Räuber habhaftzu werden, so werden die Räuber niemals alle werden,und außerdem wird Hi Yung nicht eines natürlichenTodes sterben.« Eines Tages kam die ganze Schar derRäuber zusammen zu gemeinsamer Beratung.Sie sprachen: »Wer uns alle diese Schwierigkeitenbereitet, das ist Hi Yung.« Darauf taten sie sich zusammenund ermordeten ihn heimlich.Als der Fürst von <strong>Dsi</strong>n das hörte, erschrak er sehr.Er berief sofort den Wen Dsï, teilte es ihm mit undsprach: »Es ist richtig so gegangen, wie Ihr gesagt: Hi


Yung ist tot. Was für ein Mittel gibt es nun, um derRäuber habhaft zu werden?«Wen Dsï sprach:»Wer die Fische auf dem Grunde sieht,Fällt leicht ins Wasser hinein.Wer die Gedanken der Menschen errät,Kommt leicht in Not und Pein.Wenn Eure Hoheit wünschen, daß es keine Räubermehr gibt, so gibt es kein besseres Mittel, sie alsWürdige zu erheben und sich ihnen anzuvertrauen,damit die Oberen die Unterweisung erkennen, durchdie Einfluß auf die Unteren ausgeübt werden kann.Wenn das Volk erst Ehrgefühl hat, so wird niemandmehr Räuber sein wollen.«Daraufhin berief der Fürst den Sui Hui zur Leitungdes Staates, und die Räuberbanden zogen sich überdie Grenze zurückt nach Tsin.


10.(Abschnitt 10 enthält eine nicht ganz wörtliche Wiederholungvon II, 9.)


11. Belehrung durch AndeutungDer weiße Prinz (Be Gung) fragte den Meister Kungund sprach: »Kann man mit den Menschen in geheimenAnspielungen reden?«Meister Kung antwortete nicht.Der weiße Prinz fragte darauf: »Wie ist's, wennman einen Stein ins Wasser wirft?«Meister Kung sprach: »In Wu gibt's gute Taucher,die ihn holen können.« Jener sprach: »Wie steht'saber, wenn man Wasser ins Wasser gießt?«Meister Kung sprach: »Der Koch J Ya konnte dasWasser der Flüsse Dschï und Yung, wenn es zusammengegossenwar, noch am Geschmack unterscheiden.«Der weiße Prinz sprach: »Dann kann man alsonicht mit anderen Menschen durch geheime Anspielungensich verständigen?«Meister Kung sprach: »Wieso nicht? Es brauchtnur einen, der den Sinn der Worte versteht. Miteinem, der den Sinn der Worte versteht, braucht mannicht in Worten zu reden. Wer Fische fangen will, derwird naß; wer Tiere verfolgt, muß laufen. Das tundiese Leute nicht zu ihrem Vergnügen. Darum ist dashöchste des Redens: nicht zu reden, das höchste desHandelns: nicht zu handeln; denn Leute mit unzurei-


chender Erkenntnis bekämpfen immer nur die Äußerungen.«Der weiße Prinz verstand (die Meinung) nicht.Darum (empörte er sich und) kam schließlich ineinem Badehause (in das er sich geflüchtet) um.


12. Festhalten des SiegesDer Kanzler Dschau Siang Dsï (von <strong>Dsi</strong>n) ließ durch(den Feldherrn) Sin Dschï Mu Dsï die wilden Stämmeim Norden des Reichs (Di) angreifen. Er siegte undnahm die beiden Bezirke der östlichen und der mittlerenHorde ein. Er entsandte einen Eilboten, um dieNachricht zu überbringen. Siang Dsï war gerade beimEssen und wurde traurig darüber.Seine Leute sprachen zu ihm: »An einem Morgenzwei Städte zu unterwerfen, das ist doch etwas, worübersich die Menschen freuen. Weshalb zeigt EureHoheit sich darüber traurig?«Siang Dsï sprach: »Das Hochwasser in den Flüssendauert nicht länger als drei Tage. Ein Wirbelwind undein Platzregen dauern keinen Morgen lang. Die Sonneverweilt keinen Augenblick im Mittag. Nun hat unserGeschlecht durch seinen Wandel noch nicht so vielVerdienste angesammelt. An einem Morgen zweiStädte zu unterwerfen, macht mich besorgt, daß unsder Untergang droht.«Meister Kung hörte davon und sprach: »Das Geschlechtdes Dschau wird sicher Glück haben!«Wer Leid trägt, wird dadurch sein Glück machen;wer sich der Freude überläßt, wird dadurch seinenUntergang herbeiführen. Den Sieg zu erringen, ist


nicht schwer; ihn festzuhalten ist schwer. Ein würdigerHerr hält seinen Sieg fest, und darum kommt seinGlück auf seine Nachkommen. Die Staaten Tsi,Tschu, Wu, Yüo haben alle einmal Siege errungen,und doch haben sie schließlich den Untergang sichzugezogen, weil es ihnen nicht gelang, den Sieg festzuhalten.Nur ein Herr, der den SINN der Wahrheithat, vermag es, den Sieg festzuhalten. Meister Kungbesaß so große Kraft, daß er die Falltür des Tors einerHauptstadt aufhalten konnte, und doch verschmähte eres, durch seine Kraft berühmt zu werden. Meister Moverstand es, den Angriff des Gung Schu Ban (auf dieHauptstadt des Staates Sung) erfolgreich abzuwehren,und doch verschmähte er es, durch seine Kenntnisseim Waffenhandwerk berühmt zu werden. Darum, wertüchtig ist im Festhalten des Sieges, hält seine Stärkefür Schwäche.


13. Wunderbare Wege der VorsehungIn Sung lebte eine Familie, die wandelte schlicht undrecht und ließ davon nicht ab drei Geschlechter lang.Da warf im Hause ohne Ursache eine schwarze Kuhein weißes Kalb. Man befragte den Meister Kung darüber.Meister Kung sprach: »Das ist ein gutes Zeichen.Man soll es dem höchsten Gotte opfern.«Als ein Jahr um war, ward der Vater ohne Ursacheblind. Die Kuh warf abermals ein weißes Kalb. DerVater ließ abermals seinen Sohn den Meister Kungbefragen.Der Sohn sprach: »Das letztemal haben wir ihn befragt,und du verlorst das Augenlicht. Wozu sollenwir ihn noch einmal befragen?«Der Vater sprach: »Der heiligen Männer Wortescheinen erst verkehrt, aber schließlich treffen sie zu.Noch ist die Sache nicht zu Ende. Frage ihn vorläufignoch einmal.«Da fragte der Sohn abermals den Meister Kung.Meister Kung sprach: »Es ist ein gutes Zeichen.«Und er ließ ihn abermals (das Kalb) als Opfer darbringen.Der Sohn kehrte heim und teilte seinem Vater dieEntscheidung mit.Der sprach: »Tue nach den Worten des Meister


Kung.«Als ein Jahr um war, da ward auch der Sohn ohneUrsache blind.Danach bekriegte der Staat Tschu den Staat Sungund belagerte die Stadt, also, daß die Leute ihre Kinderaustauschten und sie aßen, daß sie Knochen spaltetenund mit ihnen Feuer anmachten. Alle kräftigenMänner mußten auf der Mauer stehen, und die meistenkamen im Kampfe um. Nur die beiden Männerentgingen allem, weil Vater und Sohn krank waren.Als dann die Belagerung aufgehoben wurde, da genasensie von ihrem Übel.


14. Die beiden GauklerEs war einmal ein Landstreicher im Lande Sung. Derwandte sich mit seinen Künsten an den Fürsten Yüanvon Sung. Yüan von Sung berief ihn und ließ ihnseine Künste zeigen. Er band sich zwei Stelzen an dieBeine, die noch einmal so lang waren wie er selbst.Darauf konnte er laufen und springen. Er nahm siebenSchwerter, warf sie empor und fing sie wieder auf,also daß immer fünf Schwerter gleichzeitig in der Luftwaren. Fürst Yüan verwunderte sich sehr und beschenkteihn alsbald mit Gold und kostbaren Gewändern.Es war aber noch ein anderer Landstreicher da, derkonnte Purzelbäume schlagen. Der hörte davon undwandte sich ebenfalls an den Fürsten Yüan. Der FürstYüan aber ward sehr zornig und sprach: »Zuvor warein anderer Gaukler da, der sich an Uns gewandt;diese Künste sind nutzlos, aber er traf's gerade, daßWir wohl gelaunt waren. Darum beschenkten Wir ihnmit Gold und köstlichen Gewändern. Dieser da hatsicher davon gehört und kommt herbei, in der Hoffnung,daß Wir ihn ebenfalls beschenken. Werft ihnins Gefängnis, daß er dort sein Todesurteil erwarte!«Nach einem Monat ließ er ihn dann wieder laufen.


15. Der PferdekennerHerzog Mu von Tsin redete zu (dem Pferdekenner) BeYüo und sprach: »Eure Jahre sind vorgerückt. HabtIhr in Eurem Stamm einen, den man brauchen kann,um Pferde auszusuchen?«Be Yüo erwiderte und sprach: »Ein gutes Pferdkann man nach seiner Gestalt, seinen Muskeln undKnochen beurteilen. Ein Allerweltspferd aber hatetwas Unsichtbares an sich, das sich aller Beschreibungentzieht. Ein solches wirbelt keinen Staub aufund hinterläßt keine Fußspuren. Meine Söhne sindalle ungeschickt; denen kann man allenfalls ein gutesPferd erklären, aber nicht ein Allerweltspferd. Ichkenne aber einen, mit dem ich zusammen Brennholzund Gemüse getragen, namens Giu Fang Gau. Der ist,was Pferde anbelangt, nicht schlechter als ich. Ichbitte, ihn vorlassen zu wollen!«Herzog Mu ließ ihn vor und schickte ihn aus, einPferd zu suchen.Nach drei Monaten kam er zurück und berichtete:»Ich habe eins! Es ist in Sandberg (Scha kiu).«Herzog Mu sprach: »Was ist's für ein Pferd?«Er erwiderte: »Es ist eine gelbe Stute.«Man sandte einen Mann, um es zu holen; da war esein schwarzer Hengst. Herzog Mu ward ungehalten,


erief den Be Yüo und sagte zu ihm: »Es ist gefehlt!Der, den Ihr mir empfohlen habt, um Pferde zu suchen,kann nicht einmal die Farbe und das Geschlechtunterscheiden. Was versteht der von Pferden!«Be Yüo seufzte tief und sprach: »Hat er es so weitgebracht! Damit steht er über der Beurteilung der großenMenge. Was Giu Fang Gau erblickt, ist das innersteWesen. Er erfaßt den Geist und vergißt dasGrobstoffliche; er dringt ins Innere ein und vergißtdarüber das Äußere. Man muß auf das sehen, was ersieht, und nicht auf das, was er nicht sieht; man mußdas erblicken, was er erblickt, und beiseite lassen,was er nicht erblickt. Das Pferd, das Giu Fang Gauausgesucht hat, ist sicher edler als alle anderen Pferde.«Das Pferd kam an, und richtig war es ein Allerweltspferd.


16. Staatsmoral und PrivatmoralKönig Dschuang von Tschu fragte den Dschan Hound sprach: »Was muß man tun, um den Staat in Ordnungzu bringen?«Dschan Ho erwiderte und sprach: »Ich verstehenur, das eigne Selbst in Ordnung zu bringen; einenStaat in Ordnung zu bringen, verstehe ich nicht.« HerzogDschuang von Tschu sprach: »Wir haben dieTempel unserer Ahnen überkommen und das Recht,dem Himmel zu opfern. Wir möchten lernen, wodurchWir diese Stellung wahren können.«Dschan Ho sprach: »Ich habe noch nie gehört, daß,wenn das eigne Selbst in Ordnung ist, der Staat inVerwirrung käme, und habe auch noch nie gehört,daß, wenn das eigne Selbst in Verwirrung ist, derStaat sich ordnen ließe. Die Ursache der Ordnungliegt also im eignen Selbst, und deshalb wage ichnicht, über ihre Wirkungen etwas zu sagen.«Der König von Tschu sprach: »Gut!«


17. Der Schutz der BescheidenheitDer Alte von Fuchsberg (Hukiu) redete zu Sun SchuAu und sprach: »Drei Dinge sind es, denen die Menschengram sind. Kennt Ihr sie wohl?«Sun Schu Au sprach: »Wie heißen sie?«Er erwiderte: »Hohen Rang beneiden die Menschen;großes Amt wird vom Fürsten gehaßt; reichesGehalt zieht Unwillen auf sich.«Sun Schu Au sprach: »Je höher mein Rang ist,desto demütiger bin ich in meinem Herzen; je größermein Amt ist, desto kleiner bin ich in meinen Gefühlen;je reicher mein Einkommen ist, desto mehr gebeich Almosen. Kann man nicht dadurch dem dreifachenGroll entgehen?«Als Sun Schu Au auf den Tod krank war, da ermahnteer seinen Sohn und sprach: »Der König wolltemich oft belehnen; aber ich habe es nicht angenommen.Weil ich nun sterbe, wird der König dich belehnen.Nimm keinesfalls ein reiches Land an! ZwischenTschu und Yüo ist der Berg der Entschlafenen (TsinKiu). Dieses Land ist nicht reich, und sein Name istden Leuten anstößig. Die Leute von Tschu fürchtensich vor den Gespenstern, und die Leute von Yüo suchennur nach Namen von guter Vorbedeutung.Darum ist gerade dieser Platz einer, den man lange in


Besitz behalten kann.«Als Sun Schu Au gestorben war, da wollte wirklichder König seinen Sohn mit einem schönen Lande belehnen.Der Sohn weigerte sich es anzunehmen undbat um den Berg der Entschlafenen. Er erhielt ihn,und bis auf den heutigen Tag hat das Geschlecht ihnnicht verloren.


18. Unter RäubernNiu Küo war ein großer Gelehrter aus dem Oberland.Er ging einmal hinunter nach Gan Dan. Da fiel erunter die Räuber in der Gegend der Sanddünen (OuScha). Sie nahmen ihm alle seine Kleider, sein Gepäckund seinen Wagen weg. Niu ging zu Fuß weiterund sah fröhlich aus und zeigte weder Kummer nochBedauern. Die Räuber gingen ihm nach und fragtennach dem Grund.Er sprach: »Der Edle bringt nicht um der Mittel desLebens willen sein Leben zu Schaden.«Die Räuber sprachen: »Hi! Das ist ein Heiliger!«Darauf redeten sie untereinander und sprachen:»Wenn der mit seiner Heiligkeit hingeht und vor denHerrn von Dschau tritt, so bringt er sicher große Notüber uns. Da bringen wir ihn lieber um.«So fielen sie miteinander über ihn her und brachtenihn um. Ein Mann aus Yän hörte die Geschichte undversammelte seinen ganzen Stamm, um ihn zu warnen,und sprach: »Wenn ihr Räubern begegnet, somacht es ja nicht wie Niu Küo vom Oberland!«Und alle nahmen seine Belehrung zu Herzen.Nun ging einmal sein jüngerer Bruder nach Tsin,und als er an den Grenzpaß kam, begegnete er wirklichden Räubern. Er gedachte der Mahnungen seines


Bruders und wehrte sich kräftig seiner Haut. Dochward er nicht mit den Räubern fertig. Darauf lief erihnen nach und bat mit flehentlichen Worten, ihmseine Sachen zurückzugeben.Da wurden die Räuber zornig und sprachen: »Ist'snicht schon viel, daß wir dich am Leben gelassenhaben! Nun läufst du uns auch noch unablässig nach!Dadurch kommt die Geschichte sicher noch ans Licht!Da wir doch Räuber sind, was geht die Nächstenliebeuns an!«Darauf töteten sie ihn und verwundeten außerdemnoch vier oder fünf seiner Leute.


19. Die tote MausYü war der reichste Mann in Liang. In seinem Hausewar alles im Überfluß vorhanden, Gold und kostbareStoffe und allerlei Reichtümer und Güter in unermeßlicherFülle.Einst bestieg er sein hohes Haus an der Hauptstraße,ließ Musik machen und Wein auftragen und spielteein Würfelspiel im oberen Stock. Eine Schar vonverwegenen Burschen gingen miteinander unten vorüber.Oben im Haus hatte gerade einer einen gutenWurf getan, und es erscholl Gelächter. In demselbenAugenblick flog eine Weihe vorüber und ließ einetote Maus herunterfallen, die gerade die Burschentraf.Die redeten untereinander also: »Der Reichtum unddas Glück dieses Yü dauern schon lange, und er hatvon jeher die anderen Leute verachtet. Wir haben ihmnichts zuleide getan, und doch beschimpft er uns nunmit dieser toten Maus. Wenn wir ihm das nicht heimzahlen,können wir uns nicht mehr als brave Burschensehen lassen. Wir wollen mit unseren Genossen unszusammentun und sie einmütig hierher führen. SeinHaus muß verwüstet werden, wie es sich gehört.«Alle stimmten zu, und am Abend des verabredetenTages versammelte sich eine große bewaffnete


Menge, stürmte das Haus des Yü und richtete einegroße Verwüstung darin an.


20. Der barmherzige Räuber und der gerechteWandererIm Morgenland lebte ein Mann, der hieß HuanScheng Mu. Er machte eine Reise und wurde unterwegsvom Hunger überwältigt.Es war aber ein Räuber aus Hu Fu namens Kiu; dersah ihn und brachte ihm Wein und Speise hinab, umihn zu stärken.Huan Scheng Mu stärkte sich dreimal; da konnte erwieder gehen und sprach: »Wer seid Ihr?«Er sprach: »Ich bin ein Mann aus Hu Fu namensKiu.«Huan Scheng Mu sprach: »O, bist du nicht einRäuber? Wie kommst du dazu, mich zu speisen? DiePflicht verbietet mir, deine Speise zu essen.«Und er stützte beide Hände auf die Erde und wolltees wieder von sich geben. Aber es kam nichts herausals Gegurgel. Darauf streckte er sich aus und starb.Der Mann aus Hu Fu war wohl ein Räuber; aber daßer jenen speiste, war nicht Raub. Daß jener nun, weilsein Wohltäter ein Räuber war, auch die Speise, die erihm bot, als Raub ansah und sich weigerte, davon zuessen, beruhte auf einer Verwechslung von Name undWirklichkeit.


21. Aufopferung aus TrotzDschu Li Schu diente dem Fürsten Au von Gü. Weiler sich von ihm verkannt fühlte, so zog er sich ansMeeresufer zurück und lebte im Sommer von Wassernüssenund im Winter von Eicheln und Kastanien.Einst kam der Fürst Au von Gü in große Not. Daverabschiedete sich Dschu Li Schu von seinemFreund, um für jenen in den Tod zu gehen.Sein Freund sprach: »Weil ihr gedacht habt, daßjener Euren Wert nicht erkenne, deshalb habt Ihr ihnverlassen. Und nun wollt Ihr doch für ihn in den Todgehen? Damit macht ihr ja den Unterschied zunichtezwischen den (Fürsten), die (ihre Diener zu) schätzen(wissen), und denen, die es nicht tun.« Dschu Li Schusprach: »Nicht also! Weil ich mich verkannt sah,darum ging ich. Nun gehe ich für ihn in den Tod, umihm zu zeigen, daß er mich tatsächlich verkannt hat.Ich bin im Begriff zu sterben, um alle Fürsten derNachwelt zu beschämen, die ihre Diener verkennen.«Wenn ein Fürst unseren Wert erkennt, für ihn inden Tod zu gehen, und wenn er uns verkennt, nichtfür ihn in den Tod zu gehen: das ist der gerade Weg,der zum Ziel führt. Von Dschu Li Schu kann mansagen, daß er im Trotz sein Leben gelassen hat.


22. Vorsicht in ÄußerungenYang Dschu sprach: »Wenn Gutes von uns ausgeht,so werden uns die Früchte davon zuteil. Wenn Grollvon uns ausgeht, so kommt der Schaden herbei. Waswir äußern, findet seine Vergeltung von draußen her.Das ist der Welt Lauf. Darum ist der Weise vorsichtigin dem, was er von sich gibt.«


23. Das verlorene SchafDer Nachbar des Meisters Yang hatte ein Schaf verloren.Er zog mit allen seinen Leuten aus und bat auchnoch den Yang Dschu um seine Knechte, um ihmnachzugehen.Meister Yang sprach: »Ei! Was sollen denn dievielen Leute, um dem einen verlorenen Schafe nachzugehen!«Der Nachbar sprach: »Es gibt so viele Seitenwege.«Als sie zurückkamen, fragte er: »Habt ihr das Schafgefunden?«Er sprach: »Es ist verloren.«Meister Yang sprach: »Wie ging es denn verloren?«Jener sprach: »Die Seitenwege hatten wieder Seitenwege,und wir wußten nicht, wo es hin ist. Darumsind wir umgekehrt.«Meister Yang wurde traurig. Seine Mienen verdüstertensich; lange Zeit redete er nichts, und den ganzenTag lachte er nicht mehr.Seine Jünger verwunderten sich darob, baten ihnum Auskunft und sprachen: »Ein Schaf ist doch eingeringes Haustier, und noch dazu gehörte es nichtdem Meister. Was ist der Grund, daß Ihr um seinet-


willen schweigsam und verstimmt seid?«Meister Yang gab keine Antwort.Die Jünger verstanden nicht, was er meinte.Da ging der Jünger Meng Sun Yang hinaus undsagte es dem Sin Du Dsï.Sin Du Dsï trat tags darauf gemeinsam mit MengSun Yang vor den Meister, fragte ihn und sprach:»Vor alters lebten drei Brüder, die in der Gegend derLänder Tsi und Lu umherwanderten. Sie hatten denselbenLehrer, bei dem sie den Weg zur moralischenVollkommenheit lernten.Als sie heimkehrten, sprach ihr Vater: ›Wie ist esmit dem Weg der Moral?‹ Der älteste sprach: ›DieMoral verlangt von mir, daß ich mein eignes Selbstwert halte und den Namen hintan setze.‹Der zweite sprach: ›Die Moral verlangt von mir,daß ich mein eignes Selbst in den Tod gebe, um mireinen Namen zu machen.‹Der dritte sprach: ›Die Moral verlangt von mir, daßich mein eignes Selbst und meinen Namen gleichzeitigvervollkommene.‹Diese drei Brüder waren in ihren Meinungen entgegengesetzt,und doch hatten sie denselben rechtgläubigenLehrer. Welcher hatte nun recht, und welcherhatte unrecht?«Meister Yang sprach: »Es war einmal ein Mann,der lebte am Ufer eines Flusses. Er war an das Wasser


gewöhnt und kühn im Tauchen. Er verstand es, eineFähre zu lenken, in der er (die Reisenden) für Geldübersetzte. Damit verdiente er soviel, daß er einegroße Familie ernähren konnte. So kam eine Scharvon Schülern zu ihm mit ihrer Wegzehrung im Bündel.Aber fast die Hälfte davon ertrank. Und dochwaren sie ursprünglich gekommen, um das Tauchenzu lernen, nicht um das Ertrinken zu lernen. Da essich also verhält mit Gewinn und Schaden, welcherhatte nach deiner Meinung recht und welcher unrecht?«Sin Du Dsï schwieg und ging hinaus.Meng Sun Yang fuhr ihn an und sprach: »Was fürUmschweife habt Ihr doch gemacht, um den Meisterzu fragen, daß Euch der Meister so seltsam geantwortethat! Ich bin jetzt nur noch mehr im unklaren.«Sin Du Dsï sprach: »Auf der großen Straße gingdas Schaf verloren wegen der vielen Seitenwege. DieLernenden richten ihr Leben zugrunde wegen der vielenMeinungen. Die Lehre ist nicht ihrem Ursprungnach widerspruchsvoll, nicht ihrem Ursprung nachuneinheitlich, sondern nur die Folgerungen sind verschieden.Da es sich also verhält, so wird nur der demUntergang entgehen, der zur Gleichheit sich wendetund umkehrt zur Einheit. Schon so lange sitzt Ihr zuden Füßen des Meisters und übt des Meisters SINN,und doch versteht ihr noch nicht des Meisters Mei-


nung! Das ist wirklich traurig.«


24. Yang Bu und sein HundYang Dschu hatte einen jüngeren Bruder namens Bu.Der ging eines Tages in weißer Kleidung aus. Er kamin den Regen und mußte sich umziehen. Daher kames, daß er bei seiner Rückkehr ein schwarzes Kleid anhatte. Sein Hund erkannte ihn nicht und bellte ihn an.Yang Bu wurde böse und wollte ihn schlagen.Yang Dschu sprach: »Du mußt ihn nicht schlagen!Du hättest es geradeso gemacht. Wenn vorhin deinHund weiß weggegangen wäre und wäre schwarz wiedergekommen,so würdest du dich doch sicher auchdarüber gewundert haben.«


25. Warnung vor guten WerkenYang Dschu sprach: »Wer Gutes tut, tut es wohl nichtum des Ruhmes willen; aber doch wird ihm der Ruhmfolgen. Der Ruhm hat an sich nichts mit Gewinn zutun; aber doch wird ihm der Gewinn folgen. Der Gewinnhat an sich nichts mit Streit zu tun; aber dochwird sich der Streit an ihn heften. Darum hütet sichder Edle, Gutes zu tun.«


26. Der verstorbene Prediger der UnsterblichkeitVor alters gab es einen Mann, der predigte, daß erden Weg zur Unsterblichkeit kenne.Der Fürst von Yän sandte einen Boten, um in seinenBesitz zu kommen. Der war nicht rasch genug, sodaß der Prediger vorher gestorben war. Da ergrimmteder Fürst von Yän über seinen Boten und wollte ihnhinrichten lassen.Ein Diener, der seine Gunst hatte, machte jedochEinwendungen und sprach: »Was die Menschen ammeisten fürchten, ist der Tod; was sie am meistenwichtig nehmen, ist ihr eignes Leben. Jener nun hatsein eignes Leben verloren; wie wäre er imstande gewesen,Eure Hoheit vom Tode zu retten!« So wurdeder Bote nicht hingerichtet.Es war ein Meister Tsi. Der hatte auch jenen Weglernen wollen. Als er nun hörte, daß der Prediger gestorbensei, da schlug er an die Brust und bedauertees.Meister Fu hörte das, lachte über ihn und sprach:»Was er lernen wollte, war doch, nicht zu sterben.Nun ist jener Mensch selbst gestorben; das bedauernkann nur einer, der nicht weiß, worin er Unterweisungsuchte.«Meister Hu sprach: »Meister Fu's Worte sind nicht


ichtig. Es gibt Menschen, die besitzen Überlieferungen,die sie doch nicht ausführen können. Und es gibtandere, die sie ausführen könnten, aber die Überlieferungnicht besitzen. Im Lande We lebte ein tüchtigerRechenmeister. Als sein Tod herannahte, teilte erseine Kunst zum Abschied seinem Sohne mit. SeinSohn behielt seine Worte, aber er konnte sie nicht anwenden.Ein anderer fragte ihn darum, und er sagteihm die Worte seines Vaters. Der Frager benutzte dieWorte und wandte die Überlieferung an, so daß er esdem Vater gleichtat. Warum also sollte es unmöglichsein, daß der Verstorbene ein Mittel zum Leben hätteverkündigen können!«


27. Grausame GüteDie Leute von Gan Dan brachten dem (Dschau) Giänam Neujahrstag Felsentauben dar. Der war hocherfreutdarüber und belohnte sie reichlich. Sein Gastfreundfragte, warum er das tue.Giän sprach: »Wenn man am Neujahrstag Lebendesbefreit, zeigt man dadurch seine milde Gesinnung.«Der Gastfreund sprach: »Wenn die Leute merken,daß ihr Herr die Tiere fliegen lassen will, so fangensie sie um die Wette und töten dabei eine große Anzahl.Wenn der Herr sie am Leben lassen will, so istes besser, den Leuten das Fangen zu verbieten. Wennman sie erst fängt und dann wieder fliegen läßt, machtman durch seine Milde noch nicht einmal das wiedergut, was vorher verfehlt worden ist.«Giän sprach: »So ist's!«


28. Enfant terribleDer Herr Tiän von Tsi gab in seiner Halle ein großesFestmahl und saß inmitten von tausend Gästen.Als Fisch und Geflügel hereinkamen, betrachtete ersie und sprach seufzend: »Wie gut ist doch der Himmelgegen die Menschen! Er läßt das Korn wachsenund bringt Fische und Vögel hervor zu unserem Gebrauch.«Alle Gäste stimmten ihm zu wie ein Echo.Es war aber der zwölfjährige Sohn des Bau dabei.Der machte eine vorlaute Bemerkung und sprach: »Esist nicht so, wie der Herr sagt. Alle Wesen auf derWelt sind unsere Mitgeschöpfe. Unter diesen Geschöpfengibt es nicht edlere und geringere. Sie überwältigeneinander nur durch Größe, Klugheit undKraft und essen dann der Reihe nach einander auf. Esist aber nicht so, daß sie füreinander erzeugt wären.Was der Mensch an eßbaren Dingen unter die Handbekommt, das ißt er auf. Aber das ist nicht ursprünglichvom Himmel für die Menschen erzeugt. Schnakenund Mücken beißen uns in die Haut, Wölfe und Tigerfressen unser Fleisch; aber darum hat doch nicht ursprünglichder Himmel den Menschen und seinFleisch für Schnaken und Mücken, Wölfe und Tigerwachsen lassen.«


29. Arbeit ist keine SchandeEs war ein armer Mann in Tsi, der sich immer bettelndauf dem Marktplatz umhertrieb. Die Marktleutewurden schließlich alle seines häufigen Bettelns überdrüssigund gaben ihm nichts mehr. Darauf begab ersich in den Marstall des Herrn Tiän und folgte demRoßarzt als Knecht. Damit verdiente er sein Essen.Die Vorstadtleute hatten ihren Spott darüber undsprachen: »Nahrung suchen im Dienst eines Roßarztes,ist das nicht ehrlos!«Der Bettler sprach: »Auf der ganzen Welt gibt eskein ehrloseres Gewerbe als das Betteln. Ihr haltet dasBetteln nicht für ehrlos; warum wollt ihr dann einenRoßarzt für ehrlos halten?«


30. Vergebliche VorfreudeEs war einmal ein Mann im Lande Sung. Der gingspazieren auf der Straße. Da fand er einen Vertrag,den andere Leute weggeworfen hatten. Er kehrte heimund verbarg ihn. Im stillen rechnete er die darin enthaltenenGeldsummen aus. Dann sagte er zu seinenNachbarn und sprach: »Ihr könnt's noch erleben, daßich reich werde!«


31. Der dürre BaumEs war einmal ein Mann, der hatte einen dürrenBaum.Der Vater seines Nachbars sagte: »Ein dürrerBaum ist ein übles Vorzeichen.« Da ging der Mannhin und hieb ihn ab.Nun bat des Nachbars Vater ihn sich aus alsBrennholz.Da wurde der Mann mißvergnügt und sprach: »DesNachbars Vater wollte nur Brennholz haben; deswegenbelehrte er mich, ihn abzuhauen. Wenn einem dieeignen Nachbarn solche Fallen stellen, was soll manda anfangen!«


32. Wer hat die Axt gestohlen?Es war einmal ein Mann, der hatte seine Axt verloren.Er hatte seines Nachbars Sohn im Verdacht und beobachteteihn. Die Art, wie er ging, war ganz die einesAxtdiebes; sein Gesichtsausdruck war ganz der einesAxtdiebes; die Art, wie er redete, war ganz die einesAxtdiebes; aus allen seinen Bewegungen und aus seinemganzen Wesen sprach deutlich der Axtdieb. Zufälliggrub jener einen Graben um und fand seine Axt.Am anderen Tag sah er seinen Nachbarssohn wieder.Alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen hattennichts mehr von einem Axtdieb an sich.


33. In GedankenDen weißen Prinzen hatten seine Gedanken an Aufruhrüberwältigt. Er kam von Hofe zurück und standda, auf seinen umgekehrten Stab gestützt. Die Zwingedrang ihm ins Kinn ein, so daß das Blut zur Erdefloß, und er merkte nichts davon.Die Leute von Dscheng hörten es und sprachen:»Wer sein eignes Kinn vergißt, was wird der nichtvergessen!«Wenn die Gedanken hingenommen sind, so zeigt essich am Benehmen. Der Fuß stolpert über Stümpfeund Löcher, und der Kopf rennt gegen Bäume, undman merkt es selber nicht.


34. KleptomanieEs war einmal ein Mann in Tsi, der war sehr gierignach Gold. Am frühen Morgen kleidete er sich an,setzte seine Mütze auf und ging auf den Markt. Dakam er an den Stand eines Goldwechslers. Er nahmdas Gold und ging davon.Ein Polizist verhaftete ihn und fragte: »Ringsumstand doch alles voll Menschen; wie konntet Ihr daanderer Leute Gold wegnehmen?«Er erwiderte: »Als ich das Gold nahm, da sah ichdie Menschen nicht, ich sah nur das Gold.«


Taoistisches Kultbild des »auf dem Wind fahrenden echtenMenschen«, als der <strong>Liä</strong> Yü Kou verehrt wurde. Eszeigt ihn in Krone und Heiligenschein der taoistischenGottheiten. Richard Wilhelm erhielt dieses Bild vomGouverneur von Schantung 1911 überreicht.


ErklärungenBuch IDie Überschrift »Tiän Jui« ist nicht leicht zu übersetzen.Jui ist ursprünglich ein Abzeichen aus Nephrit,das die Lehnsfürsten vom Kaiser bei ihrer Einsetzungerhielten. Außerdem heißt es auch ein glücklichesOmen. Der Sinn ist: Darstellung der Äußerungen desjenseits der Erscheinungen befindlichen Absoluten innerhalbder Welt. Man ist versucht, den Titel zu übersetzen:»Ding an sich und Erscheinung«, was denAusführungen des Buches im allgemeinen entspricht.1 Was den Lehrer des <strong>Liä</strong> Dsï, Hu Kiu Dsï Lin, undseinen älteren Freund Be Hun Wu Jen anlangt, so findensich beide wiederholt erwähnt. Vgl. II, 13; IV, 7;VIII, 1. Sie sind auch ohne Zweifel identisch mit denin II, 3 (IV, 5) erwähnten Philosophen Lau Schang(der alte Schang) und Be Gau Dsï. Hu Kiu Dsï Linfindet sich außerdem in Lü Schï Tschun Tsiu Kap. 15erwähnt; beide auch in Dschuang Dsï, wo Be HunWu Jen jedoch etwas anders geschrieben ist. Wenn esgelänge, die beiden oder einen von ihnen mit einer historischenPersönlichkeit zu identifizieren, so wäredamit ein Anhaltspunkt für die Zeit, in der <strong>Liä</strong> Dsï ge-


lebt hat, gefunden. Leider ist es mit dem zurzeit zugänglichenMaterial nicht möglich. Der Versuchung,Lau Schang mit Lau Dsï (Laotse) zu identifizieren,muß man aus Mangel an Material widerstehen. In LüSchï Tschun Tsiu wird Hu Kiu Dsï Lin als Lehrer desDsï Tschan bezeichnet. In Dschuang Dsï V, 2 kommtBe Hun Wu Jen als Lehrer Dsï Tschan's vor. DsïTschan ist eine historische Persönlichkeit, namensGung Sun Kiau, ein Freund Kung Dsï's, vgl. Lun YüV, 15; XIV, 9 und 10. Damit kämen wir für <strong>Liä</strong> Dsïauch etwa in die Zeit Kungs. Vgl. übrigens die Einleitung.Hu Kiu heißt wörtlich »Urnenberg«. Hu Kiu DsïLin oder Hu Kiu Dsï, wie er auch heißt, würde demnachbedeuten: Der Meister (Lin) vom Urnenberg.Der »Urnenberg« ist einer der fünf Berge der Seligenim Ostmeer (vgl. V, 2 identisch mit Fang Hu, der»viereckigen Urne«). Daraus ist zu schließen, daß HuKiu Dsï Lin kein eigentlicher Name, sondern eine Gelehrtenbezeichnung,wie sich häufig ähnliche finden,ist. Die Lehren des »Meisters vom Urnenberg« enthaltengewisse Anklänge an altindische Philosopheme,so daß man sehr gerne ihn in Zusammenhang mitIndien bringen würde, wenn sprachlich in seinemNamen der geringste Anhaltspunkt dazu gegebenwäre. Schließlich ist es auch möglich, daß hier ebensowie an anderen Stellen, die an Buddhistisches anklin-


gen, zufällige Übereinstimmungen vorliegen. DasBuch enthält ja auch manche Berührungspunkte mitmodern europäischen Ausführungen, die sicher nichtauf gegenseitiger Abhängigkeit beruhen.Die Ausführungen des vorliegenden Abschnittesgeben in Anlehnung an Laotses Ausführungen überden SINN eine sehr gute Unterscheidung zwischendem in Freiheit befindlichen »Ding an sich« und dernach notwendigen Gesetzen sich auswirkenden Weltder Erscheinung. Das Zitat aus dem Buch des Herrnder gelben Erde findet sich wörtlich im Taoteking,Abschn. 6.Der »Herr der gelben Erde«, chinesisch Huang Di,gewöhnlich mit »der gelbe Kaiser« übersetzt, ist eineim Taoismus viel zitierte mythische Gestalt (vgl. I, 4;II, 1. 18; III, 1. 7; V, 2; VI, 9). Trotz der historischerscheinenden Züge, mit denen die Überlieferung vonihm ausgestattet ist und die sogar zu manchen Vermutungenüber die Einwanderung der Chinesen vom Westenher Anlaß gegeben haben, scheint den Sagen vom»Gelben Herrn« die Gestalt eines alten Gottes zugrundezu liegen. Diese Gottheit erinnert in vielenZügen an den Saturn der westlichen Völker. Die Zeitdes Gelben Herrn ist das goldene Zeitalter, da derMensch auch noch mit den Tieren in Frieden lebteund alle Erfindungen der Kultur im Gefolge des Akkerbauesihren Anfang nahmen. Ein interessantes Zu-


sammentreffen ist es, daß auch der Planet Saturn derStern der (gelben) Erde ist und seine Gottheit ebenfallsden Namen »Huang Di« führt. Es entsprichteinem auch sonst hervortretenden Zug der chinesischenReligion, daß diese Gottheit später vermenschlichtund in einen mit geheimer Weisheit begabtenHerrscher umgewandelt wurde, in dessen Bild dannauch manche Züge der prähistorischen Kulturentwicklunghineingetragen wurden.Zum sachlichen Inhalt vergleiche man den HegelschenSatz: »Die Erscheinung ist das Entstehen undVergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondernan sich ist und die Wirklichkeit und Bewegungdes Lebens in Wahrheit ausmacht«.2 Ganz ähnlich wie im Neuplatonismus, bei Spinozaund dann wieder in der deutschen romantischen Philosophieist hier das Problem der ewigen Verwandlungdes Absoluten in die Welt behandelt.Hatte sich die alte chinesische Philosophie die Erklärungder Weltentstehung leicht gemacht, indem siebei dem dualistischen Gegensatz von Licht (positiver,männlicher Kraft, Geistigkeit usw.) und Finsternis(negativer, weiblicher Kraft, Materialität usw.) Haltmachte, so geht der kühne Idealismus <strong>Liä</strong> Dsïs überdiesen Dualismus hinweg zum Monismus weiter. Erunternimmt es, die Geistigkeit als Grundprinzip auch


der materiellen Welt aufzustellen. Bezeichnend ist es,daß er bei diesem Ableitungsversuch auf dieselbeSchwierigkeit stößt wie jeder idealistische Monismus:auf die Schwierigkeit, die Vermittlung zu finden zwischendem Absoluten und der Welt. Und wie diewestliche Philosophie sich mit der Stufenfolge der»Potenzen« geholfen hat, so unterscheidet auch <strong>Liä</strong>Dsï verschiedene Phasen in diesem Prozeß. In zweiAbschnitten vollzieht sich der Übergang: Über dieideelle Differenzierung von Kraft, Form und Stoffzum »Dasein«. Man könnte dieses Dasein dem Wortlautnach auch »Chaos« nennen, doch ohne üble Nebenbedeutung,einfach als Ineinandersein der – ideelschon vorhandenen – Potenzen. Zur Beschreibungdieses Zustandes dient wieder ein Spruch aus Laotse(Taoteking No. 14. Vgl. auch No. 21. 25). Als zweiteEtappe kommt nun die weitere »Entwicklung« zurwechselnden Formenwelt. Hier ist im Anschluß andas Buch der Wandlungen auf die Zahlensymbolikzurückgegriffen. Interessant ist dabei die Unterscheidungder doppelten Eins, der Ureins (die freilich potentiellschon eine Differenzierung in sich trägt) undder durch den Kreislauf der Wandlung entstandenenzweiten Eins, die der Wirklichkeit zuführt (vgl. die»zweite Eins«, das »erstgeborene Eine« als das vollkommeneAbbild der ersten Eins bei Nikomachos,Theol. Arithm. pag. 44). Hiermit ist er nun da ange-


langt, wo die populäre Kosmogonie zu beginnenpflegte, bei »Himmel« und »Erde« und, als Vereinigungvon Geist und Materie, dem »Menschen«.3 Während der letzte Abschnitt sich mit der Erklärungder Weltentstehung beschäftigte, legt dieser die Wirkungsweisedes Ewigen innerhalb der Welt der Endlichkeitdar, zu der bezeichnenderweise auch der»Himmel«, die geistige Welt, soweit sie Phänomenist, gehört.4 Diese Szene findet sich in etwas veränderter Formauch in Dschuang Dsï XVIII, 6. Die Verschiedenheitendes Textes lassen sich einmal daraus erklären, daßDschuang Dsï den Text vereinfacht hat, andererseitsdaraus, daß der Text bei <strong>Liä</strong> Dsï nachträglich nochkommentiert und erweitert wurde. Wir glaubten voneiner wörtlichen Übersetzung absehen zu können, dadie verschiedenen Tierarten, die im Verlauf der Metamorphosenaufeinander folgen, zum Teil nicht mehridentifizierbar sind. Auch hat die auf Intuition undSagen beruhende Ausführung keinerlei tatsächlicheForschungen zur Grundlage, weshalb die Einzelheitenohne Wert sind. Die nächste Stufe vor dem Menschenist z.B. das Pferd.Wenn Legge (Sacred Books of the East, vol. XL,pag. 10) in diesen Ausführungen eine dem Buddhis-


mus verwandte Darstellung der Seelenwanderungsieht, so dürfte das doch nicht den Tatsachen entsprechen.Während die »Seelenwanderung« im Buddhismusunlösbar mit der Karma-Idee verbunden ist, ist inden hier vorliegenden Ausführungen nur von denWandlungen der Form, die das Plasma annehmenkann, die Rede. Viel eher kämen hier modern naturwissenschaftlicheTheorien in Betracht. Um eine »Abstammungslehre«handelt es sich übrigens auch nicht,vielmehr um Wandlungen innerhalb der jetzt bestehendenorganisierten Welt. Das Wort, das mit Kreislaufübersetzt ist, heißt eigentlich »Triebwerk, Mechanismus«.Die in der zweiten Hälfte des Abschnittes gegebenenAusführungen geben diese Auffassung noch deutlicher,nach der das Leben mit seinem Wechsel nureine Art vorübergehender Konstellation der verschiedenenElemente ist, die kaleidoskopisch zusammentretenund sich wieder trennen. Sehr interessant istauch der Standpunkt, daß das Leben, weil endlich,notwendig enden muß. Diese Auffassung läuft denspäter im Taoismus aufgekommenen Bestrebungen,durch irgendein Lebenselixier körperliche Unsterblichkeitzu erlangen, schnurstracks zuwider.5 Nach den theoretischen Ausführungen folgen nuneinige praktische Anwendungen in Form von parabel-


artigen Geschichten. Die Namen sind an sich unwichtig.Ein Beweis, daß das Buch noch aus der Zeit vorder strengen Scheidung zwischen Konfuzianismusund Taoismus stammt, ist die harmlose Art, wie Konfuziussehr häufig erwähnt wird. Wir haben hier wohlähnliches Traditionsgut vor uns, wie es zum Teil ins18. Buch der Lun Yü Eingang gefunden hat. Sachlichist hinzuweisen auf die von Plato erwähnten Gründezur Dankbarkeit.9 Vgl. Laotse, das Buch vom SINN und LEBEN, No.38.10 Yü Hiung war der Sage nach der Lehrer des KönigsWen aus der Dschoudynastie (ca. 1200 v.Chr.).Vgl. II, 17; VI, 7; VII, 19.Zur Sache vgl. Heraklits: παντα ρ‘ει. Die Stetigkeitdes Zeitverlaufs ist sehr gut beobachtet.11 Humorvolle Darlegung der verschiedenen »wissenschaftlichen«Theorien über die Möglichkeit undWahrscheinlichkeit des Weltuntergangs. Man würdeheutzutage andere Ausdrücke gebrauchen. LetztenEndes dürfte der Standpunkt <strong>Liä</strong> Dsïs auch heutenicht überwunden sein.12 Über den »Patriarchen« Schun, der möglicherwei-


se ebenso wie sein Vorgänger Yau ein vermenschlichterGott ist, vgl. IV, 14; VI, 1; VIII, 1. 3. 12. 13, fernerLun Yü XX, 1 und sonst oft. Der Abschnitt findetsich auch Dschuang Dsï XXII, 4. Ähnliche Stellenfinden sich im Dhammapada. Z.B. »›Diese Söhne gehörenmir, dieser Besitz gehört mir‹, mit solchen Gedankenquält sich ein Narr. Er selbst gehört sich nichteinmal; wie viel weniger Söhne und Besitz!«Zur Stelle: »Es sind Überbleibsel« – wörtlich istmit dem chinesischen Ausdruck die abgeworfene Larvenhaut,aus der die Zikade ausgekrochen ist, gemeint.– Zum Ganzen vgl. Dschuang Dsï XXII.13 Guo war eines der herrschenden Geschlechter imStaate Tsi. Vgl. »Die drei Räuber« im Yin Fu Ging(Einleitung).


Buch II1 Über den Herrn der gelben Erde vgl. Anm. zu I, 1.Das Reich der Hua Sü: Hua Sü ist die sagenhafteMutter des sagenhaften Fu Hi (brütender Atem). Siesoll den Sohn durch Inspiration des Himmels empfangenund nach zwölfjähriger Schwangerschaft geborenhaben. Nach anderer Version ist Hua Sü der GeburtsortFu His. Fu Hi, der erste Mensch, wird als Begründerder primitiven Kultur geschildert. Bei ihm sindschon in seinem Namen, der auch als »Wind« oderder »große Himmelsherr« angegeben wird, die Attributeder Gottheit deutlich. An die Odinsage erinnert,daß er die Menschen die Schrift vermittelst geknoteterStricke (vgl. Runen) gelehrt hat.2 Die verschiedenen Gu Schä Berge, die der Sagenach im Norden der Welt liegen auf einer Insel im»Meerfluß« (Okeanos), erinnern stark an den »Götterbergim Norden« der westlichen Mythologie. Eswürde sich verlohnen, den mythologischen Zusammenhängen,die gerade in den Parabeln des <strong>Liä</strong> Dsïsehr oft zutage treten, näher nachzugehen.3 Der alte Schang (Lau Schang) und Be Gau sindwohl identisch mit Hu Kiu Dsï Lin und Be Hun Wu


Jen. Vgl. Anm. zu I, 1. Die Stelle ist wiederholt IV,6.Bei Dschuang Dsï I, 3 findet sich <strong>Liä</strong> Dsï erwähntals einer, der auf dem Winde fahren konnte. Im heutigenTaoismus wird er als »der auf dem Wind fahrende,wahre Mensch« verehrt.4 Guan Yin heißt eigentlich Yin Hi. Er war derGrenzwart des Passes Han Gu Guan (Guan = Paß). Erist derselbe, der der Sage nach den Laotse beherbergte,ehe er sich nach Westen wandte, und der ihn zurNiederschrift des Taoteking veranlaßt haben soll. Esexistiert eine Schrift von 9 Kapiteln unter seinemNamen, die aber zweifellos späteren Ursprungs ist.Bei <strong>Liä</strong> Dsï wird er häufiger erwähnt (vgl. III, 3; IV,15; VI, 7; VII, 11; VIII, 1. 3), ferner Dschuang DsïXIX, 2, wo sich der hier gegebene Passus mit verschiedenenAbweichungen im Text findet.5 Zu Be Hun Wu Jen vgl. Anm. zu I, 1. Die Geschichtefindet sich auch Dschuang Dsï XXI, 9.6 Die Geschichte, deren Moral von Kung Dsï demJünger Dsai Wo noch ausdrücklich auseinandergesetztwird, spricht für sich selbst. Dschung Ni ist bekanntlichdie literarische Bezeichnung Kungs.»Ohne sich im mindesten zu brennen«, wörtlich:


die Asche zerstreute sich nicht, der Körper wurdenicht geröstet.Zu der Stelle: »einem Bettler oder Pferdedoktor«vgl. die Erzählung VIII, 29. Der »Pferdedoktor« waroffenbar eine ähnliche Person wie der Schinder imMittelalter.7 König Süan aus der Dschoudynastie regierte von827-781 v.Chr.; s. auch II, 20 und IV, 12. Er hatteder Sage nach eine besondere Vorliebe für Tiere undKraftleistungen.8 Yän Hui ist der bekannte Lieblingsjünger des Konfuzius(über Dschung Ni s.o. No. 6), der in den LunYü häufig erwähnt ist und auch in unserem Buch verschiedeneMale vorkommt: III, 8; IV, 1. 2. 4; VI, 1.Zu der Stelle: »Wie oft habe ich mit dir schon dieseIdeen behandelt ...«: Die chinesischen Ausdrücke»wen« und »schï« entsprechen etwa »Theorie« und»Praxis«; vgl. Abschn. 13.Das Auffange-Spiel ist ein altes Spiel. In der Handwurden die Dinge verborgen, die der, der sie erriet,bekam. Es war ein Spiel, das besonders in der Neujahrsnachtzum Zeitvertreib häufig gespielt wurde.Gürtelspangen waren in der Regel aus Silber oderBronze.Die Erzählung steht auch im Dschuang Dsï XIX, 4.


9 Eine ganz ähnliche Geschichte wie die vorige. Sieist mit kleinen Abweichungen wiederholt in VIII, 10,wo die Szene in die Zeit der Heimkehr des Meistersaus We nach Lu verlegt ist. Dschuang Dsï XIX, 9 hatsie auch.10 Die Zikaden werden in China ihres Zirpens wegengehalten. Man fängt sie an den Bäumen mit leimbestrichenenStangen. Offenbar legte der Bucklige dieErdkügelchen auf die Stange, um durch diese ÜbungSicherheit zu bekommen.Die Antwort des Zikadenfängers zum Schluß hatDschuang Dsï, der die Geschichte auch hat (XIX, 3),weggelassen: offenbar aus Gründen einer abgerundetenKomposition. Diese Stelle ist eine von denen, diefür die Priorität <strong>Liä</strong> Dsïs sprechen; denn es machtweit weniger Schwierigkeiten anzunehmen, daßDschuang Dsï die Stelle gestrichen, als daß sie hierangefügt ist.12 Siang Dsï ist der Kanzler Dschau Siang Dsï ausder berühmten Familie Dschau in <strong>Dsi</strong>n, die wiederholtin <strong>Liä</strong> Dsï erwähnt wird. Vgl. VIII, 12. Diese Artder Feuerjagden erklärt zur Genüge die Entwaldungvon Nordchina.Die Nutzanwendung ist gegeben in einem Ge-


spräch des Fürsten Wen von We mit dem Jünger DsïHia (Bu Schang) des Meisters Kung. Dsï Hia stammteaus dem Staate We, war 45 Jahre jünger als Kung,ist also geboren um 506 v.Chr. Fürst Wen von We regiertevon 425-387, so daß Dsï Hia zur Zeit jener Unterredungüber 80 Jahre alt war. Die Überlieferung,daß er der Lehrer des Fürsten Wen von We war, istauch anderweitig beglaubigt, ebenso wie das hoheAlter, das er erreicht hat. Es liegt also kein Anachronismusvor.13 Eine Geschichte aus den Lehrjahren des <strong>Liä</strong> Dsï.Sie findet sich auch bei Dschuang Dsï Buch VII.Die Erzählung gibt einen interessanten Einblick indie altchinesische Mantik. Der Zauberer war offenbareine Art Medium, der sich in psychischen Kontakt mitden von ihm zu beurteilenden Personen zu setzenwußte und so visionäre Eindrücke erhielt, aus denener dann nachher ihr Schicksal ableitete. Der MeisterHu war ihm dadurch überlegen, daß er durch seinemystische Einheit mit dem Weltzusammenhang dieverschiedenen Weltperioden in seiner Geistesverfassungnachzubilden vermochte. Dadurch wurden dannin der Psyche des Mediums entsprechende Visionenerzeugt. Der Irrtum des Zauberers bestand nun darin,daß er das, was kosmischer Zustand war, als Erscheinungdes individuellen Lebens des Hu Kiu Dsï zu


deuten suchte, so die Vision der feuchten Asche, dieer durch die Reproduktion der Welt vor Auftreten desLebens erhielt, auf den nahen Tod des Hu Kiu Dsï,die Vision der gleichstehenden Wage, die er durch dieReproduktion der Schöpfung des Lebens erhielt, aufdie wieder erlangte Gesundheit des Meisters. Darumwar seine Weisheit zu Ende, als Meister Hu Kiu inseinen Reproduktionen auf Gebiete überging, die sichnicht mehr individuell deuten ließen und gar keinenbestimmten visionären Ausdruck mehr zuließen. Vgl.den zweiten Ort, an den der König Mu von dem Magieraus dem Westen geführt wurde (III, 1).14 Vgl. Dschuang Dsï XXXII, 1. Über den älterenFreund <strong>Liä</strong> Dsïs Be Hun Wu Jen vgl. Anm. zu I, 1.<strong>Liä</strong> Dsï sucht der Öffentlichkeit zu entfliehen, wirdaber von Be Hun Wu Jen durchschaut. Dessen Meinungist, daß man nicht durch räumliche Trennung,sondern durch innere Absonderung den Menschen undihren Einwirkungen entgehen könne. Die traut er <strong>Liä</strong>Dsï nicht zu, und er hatte recht damit, wie sich beiseinem Besuch zeigte. Die vielen Schuhe vor der Türgehörten den sich um <strong>Liä</strong> Dsï drängenden Schülern.Noch heute ist es in Japan Brauch, die Schuhe vorden Zimmern auszuziehen, um die Matten, mit denendas Zimmer ausgelegt ist, nicht zu beschmutzen. Imalten China saß man ebenfalls auf Matten. Die Stühle,


die man heute in China benutzt, sind späteren Ursprungs.15 Der berühmte »Pessimist« unter den chinesischenPhilosophen, Yang Dschu, den Menzius so kräftig bekämpfte,tritt hier als Schüler Laotses auf. Demnachmüßte er Zeitgenosse Kungs und <strong>Liä</strong> Dsïs gewesensein. Im allgemeinen wird seine Zeit später angesetzt.Sein Benehmen ist hier das eines guten Jüngers undzeigt ein Beispiel für die alt-chinesischen Formen imVerkehr zwischen Lehrer und Schüler.Das Zitat in der Belehrung, die Laotse ihm zuteilwerden läßt, stammt aus Taoteking 41; vgl. DschuangDsï XXVII.16 Vgl. Dschuang Dsï XX, 9. Zur Sache vgl. SokratesÄußerung, daß man die häßlichen Weiber liebenmüsse.17 Die Ausführungen dieses Abschnittes erinnernsehr stark an den Taoteking, aus dem sich auch wörtlicheZitate finden. Vgl. No. 78 und 76.Meister Yü ist der in I, 10 und sonst genannte Lehrerdes Königs Wen (ca. 1200 v.Chr.). Das Zitat ausLaotse steht im Taoteking No. 76. Der Text weichtetwas von dem dort gegebenen ab.


18 Die hier betonte Einheit der gesamten Lebeweltberührt sich durchaus mit modernen Auffassungen.Über Fu Hi vgl. Anm. zu II, 1. Er wird auf altenAbbildungen (vgl. die Grabreliefs in Kia Hiang inSchantung aus der Handynastie) dargestellt mit einemSchlangenschwanz nach Art der Giganten. In derHand hält er ein Winkelmaß. In der Regel ist durchden Schwanz mit ihm verschlungen Nü Wa oder NüGua. Über dieses Wesen gehen die Traditionen auseinander.Offenbar ebenfalls eine Windgottheit, wirdes bald männlich als Nachfolger, bald weiblich alsSchwester Fu His gefaßt. Während der andere NameFu His: Bau Hi darauf hindeuten soll, daß er den Gebrauchdes Feuers bei der Zubereitung des Fleischeseingeführt habe, ist die Herrschaft Nü Was dadurchbekannt, daß er unter dem Zeichen des Holzes (der»Holzstern« ist Jupiter) regierte. Er hat ebenfallsSchlangenleib und Menschenkopf (nach andererÜberlieferung Stierkopf). Unter ihm empörte sichGung Gung, der unter dem Zeichen des Wassers standund durch das Wasser das Holz besiegen wollte (währendkorrekterweise das Wasser eine frühere Stufe alsdas Holz repräsentiert). Er stieß dabei an den Berg»Unvollkommen« (Bu Dschou Schan) und zerbrachdie Pfeiler des Himmels, und die Erde sank im Südostenin die Tiefe. Nü Wa nahm darauf Steine vonfünf Farben, die er schmelzte, um den Himmel auszu-


essern, und befestigte die Erde auf den vier Füßeneiner Schildkröte (vgl. V, 1). Es ist nicht ausgeschlossen,daß in diesen Erzählungen eine alte Sintflutsagedurchschimmert. Eine andere Tradition über die EmpörungGung Gungs s. V, 1.Nach ihm kommt der »Feuer-Herr« Yän Di, auchSchen Nung (der göttliche Landmann) genannt. SeineMutter empfing ihn von einem himmlischen Drachen.Er wird dargestellt mit einem Gerät zur Bearbeitungdes Bodens, wie ihm auch die Einführung der Landwirtschaftzugeschrieben wird. Auch ist er der Gottder Arzneikräuter. Nach manchen Darstellungen hater Menschenleib und Ochsenkopf.Ihm folgt dann Huang Di, der Herr der »gelben«Erde, der in unserem Buch ja eine große Rolle spielt.Vgl. über ihn Anm. zu I, 1. Die im Text erwähnteSage, daß er die Tiere zum Kampf gegen den Herrnder Feuerflammen (Yän Di) geführt habe, bezieht sichnicht auf Schen Nung, sondern auf Tschï Yu, den erstenEmpörer auf Erden. Eine Sage berichtet, daß erder älteste von 81 Brüdern war, die Tierleiber hatten,aber menschliche Sprache und Stirnen von Eisen, undsich vom Staub der Erde nährten. Sie machten Waffenund unterdrückten die Menschen, bis sich Huang Diins Mittel legte. Im Kampf rief Tschï Yu den Fürstendes Windes und den Meister des Regens zu Hilfe, sodaß ein mächtiger Sturm sich erhob. Aber Huang Di


sandte die Himmelstochter gegen ihn, die den Sturmstillte. Tschï Yu, der Erfinder der Waffen und Astrologie,wird als Verkörperung des Planeten Mars, des»Feuersterns«, angesehen, der die Schlachten beeinflußt.Daher der im Text gegebene Name Yän Di,Herr der Feuerflammen.Nun folgt der »Metallkönig« Schau Hau. Daraufnoch mehrere andere, die in die Dreiheit der »Patriarchen«Yau, Schun und Yü ausmünden, mit denenauch Konfuzius seine Geschichte beginnen läßt, währender die anderen Traditionen nicht kennt. Es erübrigtsich, zu erwähnen, daß vor diesen Herrschernnoch andere sagenhafte Persönlichkeiten, der tiergestalteteDemiurg Pan Gu, der Höhlen- bezw. Nestbewohner,der Feuermensch u.a. eingeschoben werden,um die Jahrmillionen, die man seit Schaffung der Erdevergangen denkt, auszufüllen. <strong>Liä</strong> Dsï erwähnt dieseLegenden nicht. Es wäre eine interessante Aufgabe,zu untersuchen, inwieweit man in all diesen Sagen gemeinsamesGut mit den westasiatischen Mythologemenfeststellen könnte. Hia Hou ist eben der obenerwähnteYü, der Ordner der Wasserverhältnisse dergroßen nordchinesischen Ebene. Er wird ebenfalls miteinem zweigeteilten Grabinstrument dargestellt. Vgl.V, 2. 5; VII, 11. 12.Der König Giä ist der letzte Sproß aus dem Geschlechtedes großen Yü, der Hiadynastie. Was sein


Ahn an Gutem geleistet, übertraf er durch Greueltaten,bis er vom Gründer der Schang- oder Yindynastie,Tang, gestürzt wurde. Er wird dargestellt miteinem Speer in der Hand und auf zwei Sklavinnen reitend.Der letzte König der Yindynastie war Dschou Sin,dessen Schilderung mit der des Giä in allem übereinstimmt.Vgl. VI, 1; VII, 3. 12; VIII, 1. 2.Herzog Huan (685-643): Der Staat Tsi, im späterenOstschantung, war in der Zeit des Rückgangs derDschoudgynastie einer der mächtigsten Lehnsstaaten.Der Fürst Huan, Siau Be mit Namen, hatte sich nachder Ermordung seines Vaters durch Wu Dschï auf denThron zu schwingen verstanden. Mit Hilfe des MinistersGuan Dschung gelang es ihm, die Hegemonie imganzen Reich zu erringen. Über das Nähere dieserGeschichten vgl. VI, 3. 12; V, 7. In seinem Alter gaber sich unmäßiger Sinnlichkeit hin und gewährteKnechten und Köchen Einfluß. Er versäumte es, einenNachfolger zu bestimmen, so daß die Söhne seinerNebenfrauen sich um den Thron stritten, während derLeichnam des Vaters unbeerdigt dalag. Mu vonTschu: Der Staat Tschu im Süden des alten Chinahatte schon früher sich selbständig gemacht und denKönigstitel usurpiert. Der Staat galt als halb barbarisch.König Mu, der von 625-614 regierte, ist alsVatermörder berüchtigt.


Der mythische Herrscher Yau, mit dem Kung diechinesische Geschichte beginnt, hatte unter seinen Beamtenden Kui, den er mit der Regulierung der Musikbeauftragte. Der komponierte die sogenannte Schaumusik,durch deren Klänge der Phönix herbeigelocktwurde und die noch auf Kung Dsï einen solchen Eindruckmachte, daß er drei Monate den Geschmack derSpeisen vergaß. Vgl. Lun Yü VII, 13 und III, 25.Der Staat Giä im Osten liegt in der Gegend vonKiautschou. Es ging die Sage von seinen Bewohnern,daß sie die Sprache der Tiere verständen.Die Gottmenschen der alten Zeit: Es entspricht derchinesischen Anschauung, daß in alter Zeit die Unterschiededer verschiedenen Wesen noch nicht so ausgeprägtwaren wie jetzt, so daß einerseits nach obenhin mit den Göttern – aber auch mit Kobolden undTeufeln (vgl. die Schlange im Paradies), andererseitsmit den Tieren noch nähere Fühlung bestand. DieseAuffassung findet ihre Parallele auch in der Paradiessage1. Mos. 2, 3. In anderem Sinn, ihres bildlichenAusdrucks entkleidet, ist sie ja auch ganz der modernenNaturwissenschaft entsprechend.19 Das Land Sung ist die Heimat der meisten taoistischenGleichnisse und Allegorien. In Sung regiertendie Nachkommen der Yindynastie, mit der bekanntlichder Taoismus besonders nahe Fühlung hat, wäh-


end Konfuzius sich an die Dschoudynastie anschließt.Die Moral der Geschichte erinnert bedenklich anGoethes kophtisches Lied:»Kinder der Klugheit, o habet die NarrenEben zum Narren auch, wie sich's gebührt.«Es ist hier die Annäherung zwischen Mensch und Tiervon oben nach unten vollzogen. – Zum Ganzen vgl.Dschuang Dsï II.20 Der König Süan von Dschou ist derselbe wie derin II, 7 bei der Geschichte von der Kunst der Tierbändigungerwähnte. Hahnenkämpfe waren im altenChina beliebte Spiele. Der Sinn der Parabel ist, daßhöchste Kraft die ist, die, vollkommen konzentriert insich, jede überflüssige Äußerung meidet. Eine Fortbildungder Lehre Laotses vom »Nicht-Handeln«.21 Der König Kang von Sung war eine der gefährlichstenPersönlichkeiten unter den Fürsten seinerZeit. Unter dem Namen Yün bestieg er als Herzog imJahre 328 den Thron in Sung. Es scheint in ihm dieganze Sinnlichkeit und Grausamkeit, die man demletzten König der Yindynastie, Dschou Sin, nachsagt,in Form eines atavistischen Rückschlags – die Für-


sten von Sung waren ja bekanntlich Nachkommen derFamilie der Yin – zum Ausbruch gekommen zu sein.Beamte, die ihm Vorstellungen machten, pflegte er zuerschießen. Ja, sein Zorn richtete sich selbst gegenden Himmel. Er ließ mit Blut gefüllte Ledersäcke aufhängen,nach denen er schoß. Wenn nun das Blut heruntertropfte,so nannte er das »den Himmel schießen«.Im Jahr 318 nahm er den Königstitel an. ImJahr 286 wurde der Staat Sung infolge der allgemeinenmoralischen Entrüstung vom Staate Tsi annektiert.Hui Yang, der kühne Sophist, der es wagt, in dieHöhle des Löwen zu gehen mit dem Erfolg, daß erden schlimmen Tyrannen tatsächlich Schritt fürSchritt dahin führt, daß er sich eine Vorlesung überMoral gefallen läßt – nach deren Beendigung der Predigeres allerdings für angezeigt hält, sich zurückzuziehen– ist ein Verwandter des sophistischen MeistersHui, mit dem Dschuang Dsï viel verkehrte (vgl.Dschuang Dsï XXXIII).Mo Di, den er zusammen mit Kung als Vorbildnennt, ist der bekannte Verkünder der allgemeinenMenschenliebe. Vgl. V, 14; VII, 11; VIII, 12.Die Geschichte ist eine der spätesten in unseremBuch enthaltenen und führt herunter bis in die Zeitdes Menzius, von dessen Art, wandernd zu predigen,sie eine vorzügliche Parodie gibt. Da die Geschichte


auch sonst überliefert ist, so ist nicht ausgeschlossen,daß sie erst nach Redaktion des <strong>Liä</strong> Dsï Aufnahme inden Text fand.Die Nutzanwendung, die in Lü Schï Tschun Tsiugegeben ist, zeigt die Macht geschickt gewählterWorte – eine Ausführung dessen, was in Abschnitt 19schon gesagt ist.


Buch IIIDieses Buch, das nach dem Romantiker auf demThrone von China, dem König Mu, benannt ist, beschäftigtsich vorzugsweise mit dem Verhältnis desbewußten, wachen Lebens, sowie des Traumlebensund verwandter psychischer Zustände zur Wirklichkeit.1 Der König Mu ist der fünfte Herrscher aus demHause Dschou; er regierte von 1001-947 v.Chr. Er istder chinesischen Sage nach berühmt wegen seinerweiten Reisen nach Westen, die ihn zu der Königin-Mutter des Westens geführt haben. Nach einem chinesischenKommentar ist er ein göttliches Wesen, daszur Strafe für Vergehen in die Menschenwelt gebanntwurde, aber sich darin nicht so heimisch fühlte wiedie gewöhnlichen Menschen, weshalb sein Leben vollist von Reisen und Abenteuern. Diese Bemerkunggibt möglicherweise einen Fingerzeig für gewisse mythologischeZüge, die mit der Geschichte dieses Fürstenverwoben sind. Der hier vorliegende Abschnittgehört mit zu den Quellen dieser Sagen, die mit derZeit noch weiter ausgestaltet wurden und manchen europäischenGelehrten viel Kopfzerbrechen gemachthaben. Es wird wohl ein vergebenes Bemühen blei-


en, diese Königin-Mutter des Westens (Si WangMu) mit irgendeiner historischen Persönlichkeit, wiez.B. der Königin von Saba, zu identifizieren. Im vorliegendenAbschnitt sind drei Orte genannt, wohin derKönig Mu auf seinen Reisen kam, deren Zusammenstellungeinigermaßen Licht in die Frage bringenkönnte:a) Das Land der großen Jäger, Gü Sou. Aus derBeschreibung der dortigen Sitten geht ziemlich deutlichhervor, daß es sich um einen der mongolisch-hunnischenNomadenstämme im Westen des damaligenChinas handelt, mit denen König Mu auch nach anderenGeschichtsquellen häufig zu tun hatte.b) Der Kun Lun-Berg. Es ist wohl mit Hirth anzunehmen,daß der Kun Lun-Berg kein festliegendergeographischer Begriff war, sondern daß er mit der jeweiligenErweiterung der Kenntnis der Westgegendenweiter nach Westen rückte.Das rote Wasser ist ein mythischer Fluß am Fußedes Gebirges, der nach drei Windungen zu seinerQuelle zurückkehrt und dessen Wasser Unsterblichkeitverleiht.c) In dieser Umgebung – also in den westlichenGrenzländern Chinas, höchstens in Zentralasien müssenwir auch die Königin-Mutter des Westens (SiWang Mu) suchen. Hier kommt uns nun die Traditionzu Hilfe, die im Westen Chinas ein Weibervolk


(Amazonenvolk) kennt. In einem Bilderbuch aus derSungzeit (gemalt von Tschen Gü Dschung) ist unterden Tributstaaten Chinas ein Frauenkönigreich (NüWang Guo) genannt. Dieses Amazonenvolk wird alsprachtliebend bezeichnet, was ja zu den Schilderungender Zustände bei der Königin-Mutter des Westensganz gut stimmt. Dieses Frauenkönigreich scheintetwas Ähnliches gewesen zu sein wie das von Herodotgenannte. Es handelt sich hier offenbar um Staaten,in denen das Mutterrecht sich besonders lange gehaltenhat.Was nun den Magier aus dem Westen anlangt, soläßt sich über ihn natürlich nichts sagen. Die Verehrung,die König Mu dem Magier darbringt, erinnertlebhaft an den Kult der Götter. Der Bau, an dem dierote Farbe – die zur Dschouzeit die kaiserliche war –bezeichnend ist, war in seiner Art ähnlich konstruiertwie die babylonisch-assyrischen Tempeltürme, d.h. erbestand aus einer massiven Terrasse, auf der das eigentlicheGebäude aufgeführt war. Derartige Terrassensind im alten China bei Palastbauten ziemlichhäufig.Die Lieder, die der König dem Magier vorsingenläßt, sind die Lieder der alten Könige. »Halte dieWolken« (Tscheng Yün) ist die Musik des Herrn dergelben Erde. »Sechsfacher Glanz« (Liu Yung) ist dieMusik des Herrschers Hau. »Neunfache Harmonien«


(Giu Schau) ist die Musik Schuns. »Der Morgennebel«(Tschen Lu) ist die Musik des Königs Tang derSchangdynastie. Die Reise, die der Magier mit demKönig Mu zusammen macht, erinnert an manche Szenenaus 1001 Nacht. Das Schloß, wohin er ihn führt,steht offenbar nach der Anschauung des Verfassersder Sichtbarkeit noch verhältnismäßig nahe. Deshalbhat der König Mu auch die Fähigkeit, sich diesenVerhältnissen anzupassen und empfindet sie nur alsSteigerung irdischer Pracht. Der zweite Ort scheintauf einer noch höheren geistigen »Ebene« zu liegen,in Gebieten, die dem Sinnenmenschen nicht mehr zugänglichsind.An der Stelle, wo König Mu seine Reise nach Westenantritt, steht im Text eine ausführliche Schilderungder berühmten acht Pferde (Ba Dsün), die in derchinesischen Malerei ein beliebtes Thema gewordensind.Der Platz, »wo die Sonne einkehrt«, wird auch V, 4erwähnt. Die Sonne hat auf ihrem Wege sechzehnStationen.König Mu starb der Überlieferung nach im Altervon hundertundvier Jahren.2 Lau Tscheng Dsï, auch Hiau Tscheng Dsï, ist einTaoist ungefähr zur Zeit des <strong>Liä</strong> Dsï. Der Katalog derHandynastie führt ein Werk von ihm in achtzehn Ab-


schnitten an.Meister Yin Wen (Dsï) ist, wie aus dem Text hervorgeht,identisch mit Guan Yin Hi, dem Grenzwartam Han Gu-Paß, dem Laotse den Taoteking hinterlassen.Vgl. II, 4; IV, 15; VI, 7; VIII, 1. 3.Man beachte die hier durchgeführte Unterscheidungzwischen der Idee im platonischen Sinn als der transzendentenFreiheit und der aus der Erfahrung geschöpftenund notwendig bedingten Erscheinung.Diese Unterscheidung entspricht vollkommen derKantischen. Der Unterschied besteht nur darin, daßKant von dieser Unterscheidung nur erkenntnistheoretischenGebrauch macht, während sie hier in denWeltzusammenhang hineinprojiziert und hypostasiertist. Daher dann auch das Bestreben, zu diesen transzendentenIdeen vorzudringen und durch ihren Besitzdie Erfahrungswelt zu meistern. Dies ist der Punkt,um den sich die ganze Theorie des Taoismus dreht,und hier finden wir den Schlüssel zu der ganzen Zauberweltund all dem Hokuspokus, in den diese Richtungsich mit der Zeit verloren hat.3 Der hier ausgesprochene Gedanke ist derselbe, denGoethe im V. Akt des II. Teils des Faust gestaltet hat.»Die heiligen Männer der Vorzeit« im Text genannt,sind: die fünf Herrscher (d.h. Fu Hi, SchenNung, Huang Di, Yau und Schun) und die drei Köni-


ge (d.h. Yü, Tang, Wen Wang). Vgl. IV, 3; VII, 14.4 Die sechs Träume: 1. der rechte Traum, der im gewöhnlichenLeben von selber kommt; 2. der Warnungstraum,der aus einer Beunruhigung entspringt;3. der Sehnsuchtstraum, der aus dem Begehren entsteht;4. der Wachtraum, der von dem handelt, wasman im Wachen gesprochen; 5. der freudige Traum,der aus fröhlicher Stimmung kommt; 6. der Angsttraum,der aus der Stimmung der Furcht kommt.»Erfüllungen« und »Vorbedeutungen« hat denSinn, daß die Außenwelt, wenn sie auf die Psychewirkt, die genannten Träume erzeugt, wenn sie auf dieKörperlichkeit wirkt, in den genannten Arten zumAusdruck kommt. Diese »Kategorien« des wachenLebens sind nach europäischen Begriffen etwas merkwürdigzusammengestellt; namentlich daß Geburt undTod darunter vorkommen, berührt seltsam. Nach chinesischerAuffassung sind aber Geburt und Tod inähnlicher Weise Zustände des Ichs wie etwa Gewinnenund Verlieren.Der Sinn der Ausführungen ist der, daß das gesamtepsychische Leben sowohl im Wachen als im Traummit der Außenwelt in Berührung steht und deren Einwirkungennach festen kausalen Gesetzen unterworfenist.In dem Ausspruch von <strong>Liä</strong> Dsï kommt diese Auf-


fassung noch deutlicher zum Ausdruck. Die Träume,die nach dem zweiten »Darum« genannt sind: Manie,Melancholie usw. sind wohl späterer Zusatz.5 Die Sagen vom Gu Mang Reich und vom Fu LoReich werden dazu benutzt, um in Zusammenstellungmit dem Reich der Mitte die Relativität der Wertungvon Wachen und Traum deutlich zu machen.6 Ebenfalls ein Gleichnis zur Darstellung dieser Auffassung.Dieses Gleichnis erinnert einigermaßen andas vom reichen Mann und armen Lazarus im Lukas-Evangelium, nur daß, was dort ins Jenseits verlegt ist,hier im Traumleben untergebracht wird.7 Noch mehr ins Humorvolle gewendet zeigt dieseGeschichte die unentwirrbaren Verwicklungen zwischenWachen und Traum. Historisch interessant istdie Rolle, die Konfuzius als das Ideal der Weisheitneben dem gelben Herrn spielt. Die Geschichte mußalso wesentlich später als <strong>Liä</strong> Dsï sein.8 Wieder eine Geschichte aus Sung, dem klassischenLand der taoistischen Legende. Der zugrundeliegendeVorgang bietet in seinem Verlauf deutliche Anklängean Melancholie mit darauffolgender maniakalischerTobsucht, wenn auch die Erklärung eine ganz andere


ist.Volkspsychologisch beachtenswert sind die Mittel,die man in derartigen Krankheiten anzuwenden pflegte:Orakel, Zauber und Arzneien.9 Auch diese Geschichte, in der Konfuzius und Laotseals typische Vertreter der positivistischen bezw.skeptischen Weltanschauung auftreten, scheint späterenUrsprungs zu sein. Ihre ganze Auffassung weist indie Schule Yang Dschus (vgl. Buch VII).10 Diese Geschichte hat ebenfalls einen stark antikonfuzianischenBeigeschmack, der sich darin zeigt,daß die heiligsten Gefühle der Pietät, die für die konfuzianischeSchule die »natürliche« Grundlage allerMoral sind, als auf Einbildung beruhend hingestelltsind.


Buch IVDieses Buch, das nach dem in Abschnitt 1 auftretendenKonfuzius benannt ist, gibt eine Lösung derSpannung, die der Skeptizismus des letzten hervorruft,in der Hingabe des Individuums ans All, demgroßen »Stirb und Werde«.1 Dieser Abschnitt gibt die denkbar beste und zugleichwohlwollendste Kritik dessen, was Kungtse erstrebtund was er erreicht.Von dem Versuch, den er die größte Zeit seines Lebensmachte, praktisch, d.h. durch Gewinnung einesFürsten für seine Ideen, der Wahrheit Bahn zu brechen,ist gar nicht die Rede, sondern nur von demWerk der Resignation, der Revision der Literatur undKunst, um einen Kanon für die Nachwelt zu gewinnen.Auch das ist noch nicht etwas, das zur Welterlösungausreicht. Die Bücher, die Kung revidiert undherausgegeben hat, sind: 1. Liederbuch (Schï Ging);2. Buch der Urkunden (Schu Ging); 3. Buch derWandlungen (I Ging); 4. Frühlings- und Herbstannalen(Tschun Tsiu); dazu kommt 5. die Neuordnung derLebensregeln – die später im sogenannten Li Gi aufgezeichnetwurde. Das sind die 5 heiligen Bücher.(Die Musikneuordnung ging verloren). An diese


schlossen sich später die heutzutage noch mehr gelesenen4 »Bücher« an: 1. Lun Yü (Gespräche); 2. DaHüo (Große Lehre); 3. Dschung Yung (Maß undMitte); 4. Meng Dsï (Menzius).»Yän Hui stand mit gefalteten Händen nach Nordengewandt«: die Stellung der Ehrfurcht. Der Herrsitzt, mit dem Gesicht nach Süden.Das Verhältnis zwischen Yän Hui, dem Lieblingsjünger,und Dsï Gung, dem Mann der äußeren Form,ist ähnlich gegeben wie in III, 8. Vgl. Lun Yü, V, 8.Vgl. zur Sache übrigens Lun Yü XIV, 37.2 Der Staat Tschen lag südlich von Sung, im Ostender heutigen Provinz Honan.Schu Sun war eines der drei herrschenden Adelsgeschlechterin Kungtses Heimatland Lu. Sehr fein istdie Haltung Kungs dem »Heiligen« Geng Sang Dsïgegenüber wiedergegeben: »Ein vielsagendes Lächeln,sonst nichts« (vgl. Dschuang Dsï XXIII).3 Schang soviel wie Sung (im heutigen Honan), weildort die Nachkommen der Schangdynastie regierten.Zu Kungs Selbstbeurteilung vgl. Lun Yü VII, 19und 33. Die drei Könige und die fünf Herrscher vgl.Erkl. zu III, 3. Die drei Erhabenen sind noch früher,Tiän Huang (Himmelsherr), Di Huang (Erdherr), JenHuang (Menschenherr).


Da der Statthalter von Schang die AblehnungKungs nicht bemerkt, geht dieser zur Ironie über undspielt auf Laotse an – denn der ist mit dem »Heiligenim Westen« gemeint – um dann schließlich auch ihmgegenüber seinen Standpunkt des »Nichtwissens«festzuhalten. Der Gouverneur von Schang hat Kungjedenfalls besser verstanden als mancher europäischeAusleger, der in der Stelle eine verkappte messianischeWeissagung sehen möchte.4 Dieser Abschnitt könnte ebensogut in Lun Yü stehen.Die Beurteilung der vier Jünger stimmt ganz mitder in Lun Yü an mehreren Stellen gegebenen überein.5 Der Sinn dieses Abschnittes ist nicht ganz klar. Eswird erzählt, daß Wand an Wand mit <strong>Liä</strong> Dsï ein andererPhilosoph namens Nan Go Dsï lebte, mit dem eraber keinerlei Verkehr pflegte. Auf Wunsch seinerJünger besucht ihn <strong>Liä</strong> Dsï. Doch jener vermag nichtmit ihm zu reden. Nur mit einem seiner Jünger unterhälter sich fließend. <strong>Liä</strong> Dsï macht dann einige Bemerkungenüber ihn, die sehr dunkel sind. Vgl. übrigensDschuang Dsï II, 1.6 Vgl. II, 3.Hier wohl später eingeschoben.


7 Die Gedanken, die Hu Kiu Dsï dem <strong>Liä</strong> Dsï gegenüberüber das Wandern äußert, sind dem Gedankenkreisdes Taoteking sehr verwandt. Vgl. TaotekingNo. 47.8 Der Abschnitt erinnert an III, 9. Von den genanntenPersonen ist sonst nichts bekannt.Zu der ärztlichen Untersuchung ist zu bemerken,daß nach chinesischer Theorie das Herz sieben Öffnungenhat. Sind diese Öffnungen alle durchbrochen,so ist der Mensch ein vollkommener Heiliger mit genialintuitiver Erkenntnis. Je mehr von diesen Öffnungenverklebt sind, desto niedriger steht der Mensch.9 Die Gegensätze des Unbedingten, frei Schaffenden,das Leben hat in sich selber, und des Bedingten, vonMitteln Abhängigen, das notwendig vergänglich ist.Bemerkenswert ist, daß außerdem noch dem glücklichenbezw. unglücklichen Zufall eine Macht zugeschriebenwird (vgl. Einleitung). Gi Liang ist derFreund Yang Dschus, der über Leben und Tod erhabenwar; vgl. VI, 6. Daher keine Trauer bei seinemScheiden.Über Sui Wu ist nichts Näheres bekannt. DemKommentar nach handelt es sich hier um einen Todesfallvon der Art, die oben als Unglück bezeichnet


worden ist.10 Vgl. Taoteking No. 2 und bes. No. 36.11 Das hübsche Geschichtchen gibt ein überaus plastischesBild von den Zuständen zur Zeit <strong>Liä</strong> Dsïs, dieeinigermaßen an die Sophistenzeit in Griechenland erinnern.Von den verschiedenen Staatstheorien, diehier aufeinander platzen, läßt namentlich die der»weltabgewandten Eremiten« – wir würden sie heuteAnarchisten nennen – an Radikalismus nichts zuwünschen übrig.Ostdorf (Dung Li) ist die Heimat des Staatsmannesund Kanzlers von Dscheng. Dsï Tschan, der mit Konfuziuspersönlich befreundet war. Auch der hier genannteDeng Si, der auch VI, 4 und VII, 8 erwähntwird, war ein bekannter Staatsmann der Zeit. Vonihm stammt ein auf Bambustafeln aufgezeichnetesGesetzbuch, das im Staate Dscheng eingeführt wurde.Sein persönlicher Charakter scheint jedoch, wie ausder vorliegenden Stelle sowie namentlich aus demSchluß von VII, 8 hervorgeht, etwas beißend Ironischesgehabt zu haben. Das konnte man in jenen altenZeiten nicht gut vertragen. Der Mann wurde hingerichtet.In VI, 4 steht, daß Dsï Tschan, nachdem erviel unter seinen zweideutigen Redensarten zu leidengehabt, ihn eines Tages ganz plötzlich töten ließ.


Wahrscheinlicher immerhin ist die Nachricht von DsoDschuan, daß erst der Nachfolger Dsï Tschans, DsïYän, ihn habe töten lassen im Jahr 501.Be Feng Dsï erscheint I, 4 in der Umgebung des<strong>Liä</strong> Dsï auf seiner Wanderung. Er scheint trotz seinerZurückgezogenheit auch Schüler um sich gesammeltzu haben.12 Die vorkommenden Namen sind mit Ausnahmedes Königs Süan aus dem Hause Dschou (vgl. II, 7.20) sonst nicht genannt. Vgl. zur Sache TaotekingNo. 64.13 Der weggelassene Abschnitt ist höchstwahrscheinlichauch späterer Zusatz. Er hat mit dem Thema desBuches gar nichts zu tun. Es sind nur einige logischeSpitzfindigkeiten des Philosophen Gung Sun Lung(vergl. Dschuang Dsï XXXIII) aufgezählt, die in frappanterWeise an die paradoxen Gedankenspielereiender griechischen Sophisten erinnern. Da heißt es unteranderm: »Wer Gedanken hat, hat keine Seele. Wasman hofft, trifft nicht ein. Die Dinge nehmen nie einEnde. Der Schatten bewegt sich nicht. Ein Haar kann1000 Zentner ziehen. Ein weißes Pferd ist nicht dasPferd. Ein verwaistes Kalb hat nie eine Mutter.« Natürlichhaben alle diese Paradoxe eine Lösung, diezum Teil auf begrifflichen Distinktionen beruht, zum


Teil aber auch in leere Wortspielereien ausmündet.14 Yau ist der bekannte, halb legendarische Herrscherzu Beginn der chinesischen Geschichte nach der Annahmedes Kungtse. Schun ist sein Nachfolger.Zu dem hier erwähnten alten Lied vgl. das in denErklärungen zu Laotse, Taoteking Abschn. 17 erwähnte,das zu dem hier genannten die konträre Ergänzunggibt.15 Guan Yin Hi, der Grenzwart von Han Gu Guan,vgl. II, 4; vgl. zur Sache Taoteking 32, 34, 35 undsonst oft.


Buch VDie Fragen TangsDie Antinomien der reinen Vernunft sind wenigstensals Probleme sehr gut herausgearbeitet, wenn auch ihrCharakter gerade als Antinomien noch nicht in vollerKlarheit erfaßt ist.1 Tang vom Hause Yin ist der bekannte Gründer derSchang- oder Yindynastie, dessen Zeit auf 1766-1754v.Chr. angegeben wird. Vgl. V, 2; VIII, 1. Über seinenLehrer Gi von Hia vgl. V, 2. 5.Die erste Frage befaßt sich mit der ersten Hälfte derersten Antinomie der reinen Vernunft (vgl. Kant, Kritikder reinen Vernunft, ed. Kehrbach, pag. 354 und355), wobei sich die Auffassung stark auf die Seiteder Kantschen Antithesis neigt.Die zweite Frage betrifft gleichzeitig die zweiteHälfte der ersten Antinomie – Grenzen des Raumes –(s.a.a.O. pag. 354 und 355) und die zweite Antinomie– Existenz oder Nicht-Existenz letzter einfacherTeile – (s.a.a.O. pag. 360 und 361). Auch hier ist dieHinneigung zur Kantschen Antithesis beachtenswert.Die dritte Frage behandelt das Problem der durchgehendenGültigkeit der Kausalität. Obwohl der Wort-


laut etwas abweicht, lassen sich die Ausführungen,besonders die der Antwort Gis mit der dritten KantschenAntinomie zusammenstellen. Hier zeigt sich inder Behauptung, daß die Welt zur Natur gehöre, nochunverhohlener als zuvor die Betonung der Antithese,obwohl auch hier noch mit dem Zusatz »Anderseitsübersteigt das auch das Wissen« die wissenschaftlicheVorsicht gewahrt bleibt.Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fällt in dieseverhältnismäßig subtile Gedankenarbeit die ebensowohlgemeinte wie übel angebrachte Erklärung desSatzes: »Die Natur aber ist unvollkommen«: »Darumhat vor alters Nü Wa Steine von allen Farben ausgesucht,um den Schaden auszubessern.« In der Übersetzungist aber dieser Zusatz in extenso wiedergegeben,einmal, um dem Leser die erschütternde Komikder Zusammenstellung nicht zu entziehen, dann aberauch aus dem Grund, weil sich an diesem Beispiel typischzeigt, warum der Taoismus vorkommen mußte.Er hat zwar große Denker, aber es handelt sich beiihnen immer um der Zeit weit voraneilende große Intuitionen.Die solide systematische Gedankenarbeitfehlt. Darum bleiben jene Denker isoliert, und dieMenge fällt dem Aberglauben anheim. Hier zeigt sichdie Größe Kungs, der nicht jene faszinierende Großartigkeitbesitzt, aber um so solider für die Jahrtausendegebaut hat.


Als Beitrag zu den Volkssagen der alten Zeit istdas hier gegebene Material sehr brauchbar. Die Empörungdes Wasserdämons Gung Gung fällt der hiergegebenen Version nach nicht unter Nü Was Regierung,sondern unter die des Dschuan Hü, des Enkelsdes gelben Herrn. Interessant in dieser Hinsicht ist,daß der »Minister« des Herrschers Yau, der die Wasserläufeder großen Ebene ordnen sollte und damitnicht zustande kam, so daß eine große Überschwemmungeintrat, ebenfalls Gung oder Gung Gung heißt.Er wird der Vater des Großen Yü genannt, derschließlich mit den Wassern fertig wurde (vgl. VII,12). Es ist nicht unmöglich, daß es derselbe GungGung ist, der seine Gigantennatur abgelegt hat undals »Minister« manierlicher und historischer erscheint.Leute mit Phantasie werden in ihm vermutlichdie verkappte Tihamat aus Babylon wiedererkennen.2 Die vierte der Fragen Tangs bezieht sich darauf, obes in der Welt einen absoluten Maßstab gibt oderalles nur relativ ist. Man kann sie ihrem Kern nachmit der von Kant aufgestellten vierten Antinomie –schlechthin notwendiges Wesen – (vgl. a.a.O. 374)zusammenstellen. Auch hier zeigt die Antwort dieRichtung auf die Antithesis. Die Antwort ist – im Unterschiedzu der bisherigen – durch allegorische Er-


zählungen und Gleichnisse gegeben.a) Die Erzählung von den Inseln der Seligen unddem Untergang zweier davon steht mit der Frage inetwas lockerem Zusammenhang, bietet aber um somehr poetische Schönheiten. Die »Engel« heißenwörtlich »heilige Genien«. Da sie fliegen können,kommen sie der westlichen Engelsvorstellung sehrnahe. Yü Giang (Anfangsgrenze), ein Geist des Nordpols,wird mit Menschengesicht und Vogelleib dargestellt,nach andern ist er der Gott des Nordmeers, Beherrscherder Götterschildkröten. Der Riese aus demReich des Drachen-»grafen« benutzt die Schildkrötenschalenzum Orakelholen. Im chinesischen Altertumwar es Sitte, mit Zeichen beschriebene Schildkrötenschalenhinten mit Einschnitten zu versehen; sie wurdendarauf angesengt, und aus den Rissen, die sichbildeten, wurden die Orakel abgelesen.b) Die übrigen Beispiele scheinen zum Teil späteraus allerlei anderen Quellen beigefügt zu sein. Manliebte damals eine derartige Anhäufung von Seltsamkeiten,weil sie als Gelehrsamkeit galt. Ober Fu Hivgl. Anm. zu II, 1.Das <strong>Dsi</strong>au Yau-Reich mit seinen Zwergen ebensowie das <strong>Dsi</strong>ng-Land werden im »Buch der Berge undMeere« (Schan Hai Ging), der älteren chinesischenGeographie, erwähnt.Den Passus von »Im Süden von Ging« an bis zu


der Schilderung des »Leviathan« (Kun) und des»Vogel Rokh« (Peng) hat Dschuang Dsï in Kapitel Iübernommen unter ausdrücklicher Erwähnung der»Fragen Tangs« als Quelle. Die kleinen <strong>Dsi</strong>au Mingsind eine intuitive Antizipierung der Infusorien undBazillen.Li Dschu oder Li Lou, der Scharfsichtige, lebte derSage nach zur Zeit des gelben Herrn. Er konnte aufhundert Schritte noch ein Haar unterscheiden. Vgl.auch Dschuang Dsï VIII.Über Dsï Yü und Hu Yü ist sonst nichts bekannt.Schï Guang, der Feinhörige, lebte zur Zeit des HerzogsPing von <strong>Dsi</strong>n (557-532). Yung Tscheng Dsïwar der Sage nach der Hofastronom des gelben Herrn,der astronomische Instrumente konstruierte und denKalender ordnete. Der Kung Tung-Berg (wörtlich:hohle Sterkulia) ist im Kommentar nicht näher erklärt.Der Sung-Berg ist einer der berühmten fünf heiligenBerge Chinas, in Mittelchina gelegen.Die zum Schluß gezogene Anwendung ist, daß esabsolute Maßstäbe nicht gibt, sondern relativ jede Artdie ihrer Natur entsprechenden Bedingungen findet.3 Der Tai Hing-Berg oder Da Hing-Berg ist südwestlichvon Peking. Der Wang Wu-Berg liegt im heutigenHonan, östlich vom gelben Fluß. Die zugrundeliegende Vorstellung ist, daß die Berge ursprünglich


nördlich vom heutigen Hankou gestanden und denVerkehr zwischen der Gegend am Gelben Fluß unddem Yangtse gehindert hätten.Das »Ende des Gelben Meeres«, genauer das»Ende des Golfs von Petschili« (chinesisch Bo Hai).Das dunkle Land wäre demnach wohl Korea.Die »schlangenhaltenden Götter«: der Kommentarsagt dazu, daß alle Berg- und Meergötter als AttributeSchlangen halten. Es ergeben sich hieraus interessantereligionsgeschichtliche Parallelen. Wer der Kua Wound seine beiden Söhne sind, ist nach DschangDschans Kommentar unsicher.4 Das »Winkeltal«: Die Sonne hat auf ihrer Reisenach Huai Nan Dsï III, 12 16 Stationen. Die Sonnegeht auf in Yang Gu (Lichttal), sie badet sich in HiänTschï (Weiher der Völligkeit), sie bürstet sich im FuSang (Halten der Maulbeeren), darauf beginnt sieihren Lauf, das ist die Morgendämmerung. Dannkommt sie nach Kü A (Krumme Biegung), das ist dieMorgenhelle, dann kommt sie nach Dseng Tsüan(Quelle der Zunahme), das ist die Frühstückszeit;dann kommt sie nach Sang Yä (Maulbeerfeld), das istdie Zeit des Mittagsmahles; dann kommt sie nachHeng Yang (Gleichgewicht der Sonne), das ist dieWinkelmitte; dann kommt sie nach Kun Wu (Berg imSüden, häufig genannt in der alten Mythologie), das


ist genaue Mitte; dann kommt sie nach Niau Tsï(Berg in Südwesten, wo die Vögel übernachten), dasist die kleine Rückkehr; dann kommt sie nach Be Gu(Tal der Sorge), das ist die Abendmahlszeit; dannkommt sie nach Nü Gi (Erinnerung an die Tochter),das ist die große Rückkehr; dann kommt sie nachYüan Yü (Gefahr des Abgrundes), das ist die Zeit deskräftigen Getreidestoßens (Dreschens); dann kommtsie nach <strong>Liä</strong>n Schï (verbundene Felsen), das ist dieZeit des schwachen Getreidestoßens (Mahlens); dannkommt sie nach Be Tsüan (Quelle der Sorge), von daab hält sie ihre Tochter an und läßt die Pferde ruhen,das ist die Zeit des Ausspannens; dann kommt sienach Yü Yüan (gefährlicher Abgrund) das ist die Zeitder Abenddämmerung; dann kommt sie nach MengGu (verhülltes Tal), das ist die Zeit der Dunkelheit.Der Ort, bis wohin Kua Fu die Sonne verfolgte,wäre demnach Heng Yang. Er wäre also nur bis zumMittag ihr zu folgen imstande gewesen, ehe er vomDurst überwältigt wurde.Der We-Fluß ist der bekannte Zufluß des GelbenFlusses. Der »Große Sumpf« wohl in der nordchinesischenEbene.5 Der Ausspruch von Yü gibt die grundlegenden großenRichtungen des Geschehens an: durchgängigekausale Bestimmtheit. Gi von Hia (vgl. No. 1 und 2)


erwähnt Geschehnisse, die außerhalb dieses Kausalnexusstehen und sozusagen einen Kausalnexus eignerArt bilden. Es handelt sich hierbei um ähnliche Erscheinungenwie die von Goethe unter dem Begriffdes Dämonischen zusammengefaßten. Vgl. dazu dieEinleitung.6 Yü ist wieder der große Yü; vgl. V, 2 usw. Tsi isthier einfach für China genommen. König Mu vonDschou; vgl. Erkl. zu III, 1; V, 14. 18; desgleichenzum Ganzen: Laotse, Taoteking No. 3; 80.7 Guan Dschung oder Guan I Wu ist der berühmteKanzler des Fürsten Huan von Tsi (684-643 v.Chr.),dem er zur Hegemonie im Reiche verholfen hat. KuHung-Ming nennt ihn den Bismarck seiner Zeit. Ererhielt den Ehrentitel »Vater Dschung«. Details ausseiner Geschichte finden sich VI, 3; VII, 1. 7. AuchKungtse beschäftigt sich wiederholt mit ihm, vgl. LunYü III, 22; XIV, 10; 17.Si Peng war ein politischer Gegner GuanDschungs, den er dennoch bei seinem Tode dem FürstenHuan als Nachfolger empfahl; vgl. VI, 3.Guan Dschungs Absicht bei seinem Rat, eine Reiseüber den Liaufluß (durch den Russisch-JapanischenKrieg berühmt geworden) zu machen, war eben die,dem Fürsten durch Vergleich mit den Zuständen in


anderen Ländern eine objektive Beurteilung heimischerVerhältnisse zu ermöglichen.Die Geschichte ist hier in einem etwas anderenSinne gebracht, als Beleg für die Relativität allerMaßstäbe. Vgl. V, 2.Yüo ist im Süden, etwa im Umkreis der heutigenKantonprovinz. Die Dschä Mu wären demnach – inzwischenausgestorbene – Ureinwohner.Tschu ist nordwestlich von Yüo, in der Gegend desYangtsekiang. Die Sitten der Feuermenschen (YänJen) erinnern an parsische Gewohnheiten.Tsin ist im heutigen Schansi und Sïtschuan.8 Der Antinomiengedanke ins Humorvolle gewandt.Ernsthafter ist er in V, 1 und 2. behandelt.9 Der physikalische Abschnitt über das Gleichgewichtist textlich sehr schwierig; möglicherweise liegtKorruption vor.Dschan Ho war ein Anachoret aus dem LandeTschu zur Zeit des Königs Dschuang (613-591); vgl.VIII, 16.Über Pu Dsu Dsï, den Bogenschützen, ist weiternichts bekannt. Die hier erwähnte Methode des Schießenssetzt einen angebundenen Pfeil voraus. Offenbarwurde bei dieser Methode der Wind zum Treiben desGeschosses mit verwandt, indem am Pfeil ein Rei-


ungswiderstand angebracht war. Der Zweck dieserMethode, die auch sonst erwähnt wird, war der, dergeschossenen Gegenstände auch habhaft zu werden.10 Biän Tsüo, dessen eigentlicher Name Tsin Jo Jenwar, ist ein berühmter Arzt aus Dscheng zur Zeit derniedergehenden Dschoudynastie. Die übrigen Namensind ohne Belang. Das Ganze ebenfalls ein Beleg fürdie Vertauschbarkeit und daher Relativität der Verhältnisse.11 Diese und die folgenden beiden Geschichten gebeneinen interessanten Einblick in die chinesischen Musiktheorien.Die chinesische Musiktheorie steht inenger Beziehung zur gesamten Naturphilosophie. Mitder Kunst (Riten) und Musik verbindet er die UmgestaltungenHimmels und der Erde, die Erzeugung derGeschöpfe, um den (Ahnen) Geistern und Göttern zudienen, alle Untertanen zu einigen, alle Dinge zu vollenden.Die 5 Noten, die hier erwähnt sind, entsprechenden Jahreszeiten. Sie folgen einander in dieser Reihenfolge:1. Gung (Grundton) = C; 2. Schang = D; 3.Güo = E; 4. Dschï (oder Tschï) = G; 5. Yü = A.Schang entspricht dem Metall, Güo entspricht demHolz, Dschï entspricht dem Feuer, Yü entspricht demWasser. Das Metall wiederum entspricht dem Herbst,


das Holz entspricht dem Frühling, das Feuer demSommer, das Wasser dem Winter.Außer diesen Noten gibt es noch ein System von12 Rohren (Lü), die, in reinen Quinten gestimmt, aufeinanderfolgen (die Folge dieser reinen Quinten war,daß die alte chinesische Musik an sich keine reineOktave hatte. Die Oktave mußte erst durch ein Erniedrigungszeichenjeweils erreicht werden).Das erste Rohr, Huang Dschung oder gelbe Glokke,das den Grundton Gung hatte, entspricht dem elftenMonat, das zweite Rohr dem zwölften Monat, dasdritte Rohr dem ersten Monat, das vierte dem zweitenusf. Daraus ergibt sich, daß das achte Rohr dem sechstenMonat entsprach, der in jener Zeit der Mittherbstmonatwar; das zweite Rohr entsprach demzwölften Monat, der in jener Zeit in den Frühling fiel;das elfte Rohr entsprach dem neunten Monat, der inden Winter fiel; das fünfte Rohr entsprach dem drittenMonat, der in den Sommer fiel. Hieraus sind die imText erwähnten Wandlungen zu erklären.Der erwähnte Meister Kuang lebte zur Zeit desHerzogs Ping von <strong>Dsi</strong>n (557 bis 552). Er benutztedas Gu Si Rohr mit der Note Güo, und erreichte dadurch,daß Wolken im Nordwesten aufstiegen, daßbei der zweiten Wiederholung sich Wind und Regenerhoben, bei der dritten Wiederholung ein vernichtenderOrkan entstand, so daß alles weglief und sich ver-


arg.Dsou Yän aus Tsi war Musikdirektor des HerzogsSüan von Yän (601-587) oder des Herzogs Dschan(586-574?); im Norden von Yän, (dem heutigenTschili) war gutes Land, das aber der Kälte wegennicht bebaubar war. Dsou Yän blies die Flöte undmachte dadurch das Klima milder, so daß Korn in üppigerFülle wuchs.12 Süo Tan: Vermutlich ist Süo ein Ortsname, ebensowie Tsin der Name des bekannten Staates im Westenist.Han: Die Leute des Staates Han waren ebenfallsals musikalisch bekannt. Wer die Sängerin Wo ist,von der hier steht, läßt sich nicht genau feststellen.Auch die Mondfee heißt Wo.Von den Leuten aus Yung Men geht die Sage, daßeinmal, zur Zeit eines feindlichen Angriffs, einer ihrerSänger durch Zitherspiel und ein trauriges Lied denfeindlichen Feldherrn und sein ganzes Heer so bewegthabe, daß sie alle in Tränen ausbrachen und dadurchzum Kampf unfähig wurden.13 Die beiden Freunde Be Ya, der Musiker, undDschung Dsï Ki, der Musikverständige, sind in derchinesischen Poesie viel genannt. Von Be Ya geht dieSage, daß er nach dem Tode Dschung Dsï Ki's seine


Zither entsaitete, um nie mehr zu spielen, da in dernächsten Generation doch niemand mehr imstande sei,seine Töne zu verstehen. Die Erwähnung der vorstehendendrei Geschichten über die Wirkungen derMusik hat im Zusammenhang ebenfalls den Sinn, alsBeleg dafür zu dienen, daß sowohl die menschlichenStimmungen, als auch die Naturerscheinungen keinefesten Größen sind, sondern nur relativ und vertauschbar.14 Über König Mu von Dschou vgl. III, 1 und diedort gegebenen Parallelen. Auch hier wird eine seinerReisen erwähnt.Über den Mechaniker Ning Schï mit seinem Androidenist sonst nichts weiter bekannt.Ban Schu, auch Gung Schu Ban genannt, war einberühmter Mechaniker im Staate Lu zur Zeit des Konfuzius.Vgl. auch VIII, 12, außerdem Li Gi II. II, 2.21. Es wird von ihm erzählt, daß er hölzerne Pferdekonstruieren konnte, die vermittelst Springfederngehen und selbst Wagen ziehen konnten. Er wird vonden Zimmerleuten als Schutzpatron verehrt.Mo Di ist der bekannte Philosoph Micius, der Verkünderder allgemeinen Menschenliebe. Er stammteaus Sung. In dem unter seinen Namen enthaltenenWerk handelt ein umfangreicher Teil über Festungsbauund Mechanik. Es wird von ihm erzählt, daß er


eine Flugmaschine konstruiert habe (Drachenfliegerist die ganz wörtliche Übersetzung des chinesischenAusdrucks: Fe Yän, da das Wort Yän, das auch »Gabelweihe«heißt, ebenso wie das englische »kite« fürdie Papierdrachen verwendet wird), die drei Tage sichin der Luft gehalten habe, dann aber nach Ablauf desWerkes abgestürzt und zerbrochen sei. Offenbar warauch damals schon das »Landen« die größte Schwierigkeitbei den Flugmaschinen. Vergl. über Mo Di: II,21; VII, 11, VIII, 12. Der Schüler Mo Di's, Kin GuLi, wird auch VII, 9. 11 erwähnt.16 Beschreibt die Art, wie der Wagenlenker des KönigsMu von Dschou namens Dsau Fu seine Kunst erlernte.17 Der Abschnitt ist eine Allegorie über die verschiedenenWirkungsweisen des SINNS. Das erste derSchwerter »Verhaltenes Licht« ist der SINN in seinerjenseitigen Absolutheit. Vgl. Taoteking No. 14. Daszweite Schwert »Erlangtes Schattenbild« würde etwadem namenhabenden SINN entsprechen. Das dritteSchwert »Nächtliche Übung« würde eine weitere Verkörperungsstufedes SINNS bezeichnen, die in ihrerWirkung der Stelle Hebräer IV, 12 entsprechenwürde: »Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig undschärfer denn kein zweischneidig Schwert und durch-


dringet, bis daß es scheidet Seele und Geist, auchMark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken undSinne des Herzens«. Die in dem Abschnitt vorkommendenNamen haben alle allegorische Bedeutung.Ein chinesischer Kommentar macht darauf aufmerksam,daß He Luan aus We (Schwarz-Ei) das Urprinzipder Finsternis (Lau Yin) bedeute, Kiu BingDschang (Strahlende Schönheit) dagegen das Urprinzipdes Lichts (Lau Yang). Lai Dan (Ehrlich) ist danachdas abgeleitete Licht (Schau Yang). Vgl. dazuden Osiris-Horus-Mythus und andere derartige Traditionenvom Sterben und Wideraufleben des Lichts.18 Der Abschnitt ist unvollendet. Er erwähnt, daßKönig Mu auf seinen Reisen von den Barbaren desWestens ein Schwert mit roter Klinge (Damaszener?)und gewobenes Zeug, das zur Reinigung im Feuer geglühtwerden konnte, ohne zu verbrennen (Asbest),zum Geschenk erhalten habe.


Buch VIDas Buch trägt im Anschluß an den ersten Abschnittdie Bezeichnung »Li Ming«. Li ist die Kraft der Freiheit;Ming ist die Bestimmung, Notwendigkeit. Die indiesem Buch hervortretenden pessimistischen Anschauungenweichen von der Art <strong>Liä</strong> Dsï's sehr wesentlichab. Es ist anzunehmen, daß dieses Buchebenso wie das nächste aus der Umgebung YangDschus stammt.1 Die beiden Prinzipien werden disputierend eingeführt,eine Form, die sich bei Dschuang Dsï in weitererAusbildung findet.Der Großvater Peng (Peng Dsu), der chinesischeMethusalem, ist eine Lieblingsgestalt der chinesischenAllegorie. Wer es eigentlich war, ist nicht ausgemacht.Yän Yüan (Yän Hui) ist der bekannte LieblingsjüngerKungs, der in Lun Yü an vielen Stellen erwähntist. Vgl. <strong>Liä</strong> Dsï II, 8; III, 8; IV, 1, 2, 4.Kung: Das Ereignis in Tschen und Tsai beziehtsich auf die Wanderung Kungs in seinem 62. Lebensjahraus dem Staate Tschen in den Staat Tsai. Die Beamtenvon Tschen, die fürchteten, er werde sich inden großen, südlichen Staat Tschu begeben und des-


sen König bei seinen Unternehmungen gegen Tschenunterstützen, ließen ihn militärisch gefangensetzen,bei welcher Gelegenheit der Meister und seine Schülersieben Tage lang von Nahrungszufuhr abgeschnittenwaren. Vgl. Lun Yü XI, 2; XV, 1.Über den Tyrannen Dschou Sin, den letzten Königder 2. Dynastie (1154-1122), vgl. II, 18; VII, 3, 12;VIII, 1, 2; ferner Lun Yü XVIII, 1; XIX, 20. »Diedrei Vollkommenen« (San Jen) seiner Zeit sind: derHerr von We, ein älterer Halbbruder des TyrannenDschou Sin, der sich vom Hof zurückzog, der Herrvon Gi, ein Oheim des Tyrannen, der, um dem Tod zuentgehen, Verrücktheit fingierte, und Bi Gan, ebenfallsOheim des Tyrannen, der, als er ihm Vorwürfemachte, grausam hingerichtet wurde. Vgl. Lun YüXVIII, 1. Gi Dscha war der vierte und Lieblingssohndes Fürsten Schou Meng von Wu (585-561), demwegen seiner Heiligkeit von seinen älteren Brüdernder Thron abgetreten wurde. Doch nahm er ihn nichtan. Selbst nach dem Tode seiner drei älteren Brüderverzichtete er auf den Thron zugunsten des Sohns desältesten und zog sich von der Welt zurück.Die Dynastie des Staates Wu führt ihren Ursprungauf Tai Be, den Onkel des Königs Wen zurück, derauf die Nachfolge in Dschou verzichtete und sichdorthin zurückzog.Meng aus dem Geschlecht Tiän: Vgl. VII, 1; VIII,


28, 29. Er ermordete im Jahre 481 den Herzog Giänvon Tsi und setzte dessen Sohn Ping auf den Thron,während er die Regierungsgewalt unter dem Titeleines Kanzlers vollständig usurpierte.Über Be I und Schu Tsi, die beiden berühmtenPrinzen von Gu Dschu aus der Zeit der endenden Yin-Dynastie, die freiwillig den Hungertod erlitten, als dieDschou-Dynastie ans Ruder kam, vgl. VII, 1, 4; fernerLun Yü V, 22 und sonst.Das böse Haus Gi ist das bekannte Adelsgeschlechtim Staate Lu.Dschan Kin (oder Dschan Gi) – Liu Hia Hui – warein Beamter aus Lu, aus der Zeit vor Kung, der wegenseiner Reinheit sprichwörtlich war. Vgl. VII, 4.2 Allegorische Erzählung zum Beweis, daß dasSchicksal nicht von persönlichen Qualitäten abhängt.3 Historischer Beleg aus der Geschichte von Tsi fürdieselbe Wahrheit. Guan I Wu (Guan Dschung) istder berühmte Kanzler zur Zeit des Fürsten Huan vonTsi. Vgl. V, 7; VII, 1, 7; ferner Lun Yü III, 22; XIV,10, 17, 18. Bau Schu Ya ist sein Freund, der ihm zudieser Stelle verholfen hatte. Vgl. VII, 7.Die historischen Verhältnisse und die Verdienstedes Guan Dschung sind vorzüglich dargelegt in FriedrichHirth »The Ancient History of China« New-York


1908, pag. 201-218.Zu der zweiten Hälfte, der Empfehlung seines persönlichenFeindes Si Peng als Nachfolger durch GuanDschung, vgl. V, 7. In Wirklichkeit hat nach demTode Guan Dschungs der Herzog Huan weder BauSchu Ya, noch Si Peng zur leitenden Stellung berufen,sondern sich dem Einfluß von Kammerdienern undKöchen wie I Ya (VIII, 11) überlassen, was von dennachteiligsten Folgen war. Als er im Jahre 643 starb,stritten seine fünf Söhne um die Herrschaft, währendsein Leichnam unbeerdigt blieb. Der Herzog Huan isterwähnt in V, 7 und VI, 12.Vgl. zum Ganzen Dschuang Dsï XXIV.4 Dieser Abschnitt behandelt in ähnlicher Weise wieder vorherige das Verhältnis von Deng Si (IV, 11;VII, 8) und Dsï Tschan (VII, 8). Da die historischenAngaben mit Dso Dschuan nicht übereinstimmen, sowurde der Abschnitt hier weggelassen.5 Erinnert an V, 5; IV, 9. Der rhythmische Schluß desAbschnittes erinnert in der Form an den Taoteking,obwohl der Sinn, den er durch seine Umgebung bekommt,sehr stark vom Taoteking abweicht.6 Nachdem schon die bisherigen Abschnitte in ihremstark pessimistisch gefärbten Determinismus eine


deutliche Abweichung von der Stimmung des bisherigenStoffes zeigen, tritt von diesem Abschnitt anYang Dschu und sein Skeptizismus in den unmittelbarenGesichtskreis. Es läßt sich kaum ein beißendererSarkasmus denken, als der in dieser Geschichtedargestellte, und gerade die Wiedergenesung des hoffnungslosenPatienten wirkt als besonders grelle Dissonanzund beleuchtet blitzartig die Sinnlosigkeit desLebens wie Yang Dschu es sieht.Über den Freund Yang Dschus, Gi Liang, vgl. IV,9. Die Namen der drei Ärzte Kiau, Yü, Lu sind allegorischzu nehmen, weshalb sie in der Übersetzungverdeutscht sind. Kiau, der »Doktor Eisenbart« ist dermedizinische Fachmann, der unter der wissenschaftlichenTerminologie seiner Zeit seine Unwissenheit gewandtzu verbergen weiß. Yü, der Ja-Sager, Herr»Einverstanden«, sucht sich der Anschauung des Patientenanzupassen, während bei Lu (Schwarz) der Pessimismusrein zutage tritt. Die Nutzanwendung imSinne Yang Dschus betont die vollkommene Sinnlosigkeitdes Lebens, aus der sich nicht einmal allgemeineRegeln abstrahieren lassen.7 Zwei Zitate, das eine von Yu Hiung, dem sagenhaftenLehrer des Königs Wen (vgl. I, 10; II, 17; VII,19) aus der Dschou-Dynastie (ca. 1200 v.Chr.), daszweite aus dem Taoteking aus Abschnitt 73, die hier


charakteristischer Weise als Gespräch Laotses mitGuan Yin zitiert wird. Die Schlußanwendung weichtebenfalls sehr stark von Laotse ab.8 Über den jüngeren Bruder Yang Dschus, Yang Bu,vgl. VIII, 24. Als einziges Mittel, in dem undurchdringlichenDunkel des Lebens möglichst wenig anzustoßen,wird absolute Passivität den inneren undäußeren Antrieben gegenüber empfohlen.9 Ein Zitat aus dem »Buch des Herrn der gelbenErde«. Da dieses Zitat sich im Taoteking nicht findet,muß noch eine andere Quelle vorliegen.10 Die psychologischen Verschiedenheiten, ebenfallsunter den Gesichtspunkt des striktesten Determinismusgerückt.11 Auflösung des Scheins der inneren Freiheit durchHinweis auf die Unfähigkeit des Menschen, die allmählichenÜbergänge der an sich festbestimmten Differenzender psychischen Komplexe zu durchschauen,wodurch der Schein eines So- und Anders-könnensentsteht. Die gänzliche Erfolglosigkeit aller Berechnungenläßt nur den absoluten Skeptizismus übrig.12 Eine Geschichte voll grimmigen Humors.


Der Herzog Ging von Tsi regierte 547-489. Vgl.über ihn Lun Yü XII, 11; XVI, 12; XVIII, 3.Über den Geschichtsschreiber Kung und Liang KiuGü ist nichts zu sagen.Meister Yän (Yän Ping Dschung) ist ein bekannterMinister des Staates Tsi. Er ist gebürtig aus Kaumibei Tsingtau, wo sein Grab noch erhalten ist. SeinemEinfluß ist es zu verdanken, daß der alte HerzogGing, der einen Augenblick daran gedacht hatte, Konfuziusanzustellen, diese Absicht wieder aufgab. Esexistiert ein Buch unter seinem Namen unter demTitel »Tschun Tsiu« (Frühling und Herbst), nicht zuverwechseln mit dem gleichnamigen Werk Kungs unddem hier mehrfach zitierten Lü Schï Tschun Tsiu.Eine Stelle aus diesem Werk findet sich in I, 8. Vgl.über ihn Lun Yü V, 16. »Der große Herzog« (TaiGung) ist der Lehrer der Könige Wen und Wu ausdem Hause Dschou, der mit dem Staate Tsi belehntund der Stammvater der Herzöge von Tsi wurde. Vgl.VIII, 7.Herzog Huan ist der bekannte in V, 7 und VI, 3 genannteHerzog.Herzog Dschuang ist der Vater des Herzogs Siang;er regierte 794-731.Herzog Ling ist der Sohn des Herzogs King581-554.


13 Der Mann Wu von We ist Dung Men Wu, der Ministerdes Staates war.14 Eine Ergänzung zu Abschnitt 1.


Buch VIIYang DschuDieses Buch enthält ebenso wie das letzte Aufzeichnungenaus der Schule des Pessimisten Yang Dschu.Auch die Abschnitte, die ihn nicht direkt redend einführen,sind ganz in seinem Geiste gehalten.1 Die Familie Meng ist bekanntlich eins der dreiAdelsgeschlechter in Lu. Ein Mitglied dieser Familie,namens Meng Sun Yang, der offenbar auch hier gemeintist, war Jünger des Yang Dschu. Vgl. VII, 10.11; VIII, 23. Die Auffassung des Ruhms als Mittel zuReichtum, Ehre und Sorge für die Nachkommen istder orthodoxen Auffassung diametral entgegengesetzt.Vgl. Hiau Ging Abschnitt 1, wo es unter anderemheißt: »Den Leib mit Haut und Haaren haben wir vonVater und Mutter empfangen. Ihn nicht zu verderbenoder zu beschädigen wagen, das ist der Ehrfurcht Anfang.Aufrechten Sinns den rechten Weg wandeln, seinenNamen bekannt machen bei der Nachwelt, umVater und Mutter zu Ehren zu bringen, das ist derEhrfurcht Schluß.« Während so der Blick des Konfuzianersnach oben, nämlich auf die Vorfahren, gerichtetist, und er nur ideale Motive für den Ruhm zuläßt,


gibt Yang Dschu hier eine rein praktische, eudämonistischeBegründung; denn auch die Sorge für dieNachkommenschaft fällt nach chinesischer Auffassungunter den erweiterten Egoismus. Man sieht, auchin den scheinbar harmlosen Worten Yang Dschussind allenthalben geheime Bosheiten versteckt.Über Guan Dschung, den Kanzler in Tsi unter demHerzog Huan, vgl. V, 7 und namentlich VI, 3. Manmacht ihm in China den Vorwurf, daß er den Fürstennicht zum Guten zu beeinflussen vermocht, weshalbjener nach seinem Tode gänzlich haltlos gewordensei.Der Mann Tiän ist Tiän Heng oder Tiän Tschang,der den Fürsten Giän ermordet und die Regierungsgewaltusurpiert hat. Vgl. VI, 1; VIII, 28.Hü Yu und Schan Küan, denen Yau, bezw. Schunden Thron angeboten, die aber beide dankend abgelehnt,um ihre Person frei zu halten von aller Verwicklungmit Weltgeschäften, werden auch vonDschuang Dsï, Buch XXIX erwähnt.Über Be I und Schu Tsi vgl. VI, 1.2 Die Schilderung der Misère des Lebens kann sichmit den entsprechenden Ausführungen Schopenhauersmessen, nur die Schlußfolgerung ist prinzipiell verschieden.Sie ist bei Schopenhauer ethisch gewandt,während Yang Dschu widerstandsloses Sichtreiben-


lassen von inneren und äußeren Einflüssen empfiehlt.Diese Technik des Lebens ist taoistisch, nur sind diePrämissen von denen Laotses prinzipiell verschieden.3 Hier ist ein Versuch gemacht, vom Individuum, daswehrlos von seinem inneren und äußeren Schicksaldahingetrieben wird, zur Gattung »Mensch«, als demgleichzeitigen Träger der verschiedenen Einzelschicksaleaufzusteigen, eine Konzeption, die an GoethesErdgeist in Faust, I. Teil, erinnert:»In Lebensfluten, im TatensturmWall' ich auf und ab,Wehe hin und her!Geburt und Grab,Ein ewiges Meer,Ein wechselnd Weben,Ein glühend Leben,So schaff' ich am sausenden Webstuhl derZeitUnd wirke der Gottheit lebendiges Kleid.«Über Yau und Schun, »die beiden Patriarchen«, undGiä und Dschou Sin, »die Tyrannen«, vgl. I, 12.4 Über Be I vgl. VI, 1.Über Dschan Gi (Liu Hia Hui) vgl. ebenfalls VI, 1.


Er war wegen seiner Keuschheit berühmt.5 Yüan Hiän (Yüan Sï) war ein Schüler Kungs, bekanntwegen seines Strebens nach Wahrheit, verbundenmit großer Sorglosigkeit in Beziehung auf weltlicheVorteile. Vgl. Lun Yü VI, 3; XIV, 1.Über Dsï Gung (Duan Mu Sï) vgl. I, 6. 7; III, 8;IV, 1. 4. Wie auch aus VII, 9 hervorgeht, hatte er sichin seinem Heimatsort We durch kommerzielle Unternehmungenein großes Vermögen erworben.6 Die Art, wie Yang Dschu hier das Mitleid als nützlicheEinrichtung in der menschlichen Gesellschaftanerkennt, ist nicht ohne Humor. Vgl. dagegen diekonfuzianische Auffassung, wie sie im Hiau Ging,Kap. 18 zum Ausdruck kommt: »Man mache für dieEntschlafenen einen Sarg und einen Sarkophag, kleidesie an, hülle sie in Tücher und lege sie hinein. Manstelle die Opfergeräte und Opfergefäße der Ordnungnach auf und traure klagend um sie. Die Frauen sollenan die Brust schlagen und die Männer sollen schleppendgehen. Unter Weinen und Schluchzen zeige sichdie Trauer beim Geleite. Man frage das Orakel nachVorbedeutung für ihren Begräbnisplatz und bringe siedementsprechend zur Ruhe. Man baue Ahnentempelfür sie und bringe ihnen Ahnenopfer dar. Im Frühlingund Herbst opfere man ihnen; zu seiner Zeit gedenke


man ihrer!«7 Statt Bau Schu Ya steht im Text immer bis auf dasletztemal Yän Ping Dschung, nur das letztemal heißtes: »Da blickte Guan I Wu den Bau Schu Huang Dsïan.« Bau Schu Huang Dsï ist ohne Zweifel identischmit Bau Schu Ya. Offenbar muß es auch in allen früherenStellen Bau Schu Ya heißen, da Yän PingDschung wesentlich später lebte als Guan I Wu. ÜberGuan I Wu oder Guan Dschung, den Kanzler aus Tsi,vgl. V, 7 und die dort gegebenen Stellen.Die Methode des Sichauslebens, die hier alsSumme der Lebensweisheit gegeben ist, steht ebenfallsim striktesten Gegensatz zur Lehre Kungs, fürwelche Sittlichkeit und Pflicht die obersten Grundsätzesind. Über das Schicksal nach dem Tode drücktsich Dschuang Dsï einmal ähnlich, wenn auch wenigerzynisch aus. Vor seinem Tode verbot er seinenAngehörigen, ihn zu beerdigen, indem er sprach:»Himmel und Erde sind mein Sarkophag, Sonne undMond sind meine Totenlampen, und alle Kreaturensind die Leidtragenden bei meinem Leichenbegängnis.«Als seine Verwandten widersprachen, indem siesagten, daß dann ja die Vögel unter dem Himmel seinenLeichnam zerreißen würden, da antwortete er:»Was tut das? Oben sind die Vögel unter dem Himmel,unten sind die Würmer und Ameisen. Die einen


zu berauben, um die anderen zu füttern, ist keine Ungerechtigkeit.«Vgl. dazu das Heinesche Gedicht:»Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhestättesein« usw.8 Über den Kanzler Dsï Tschan von Dscheng vgl. VI,6.Über Deng Si, der sich hier Dsï Tschan gegenüberin seiner ganzen Infamheit zeigt, vgl. IV, 11 und VI,4.9 Duan Mu Schu ist ein Nachkomme oder sonstigerVerwandter von Dsï Gung. Es ist nichts Näheres überihn bekannt. In der Art, wie er mit seinem Gelde umgeht,erinnert er an den ungerechten Haushalter(Lukas 16). Wie dieser verstand er es, sich Freundezu machen mit dem ungerechten Mammon. Die verschiedeneBeurteilung, die er erfährt von Kin Gu Li,dem Schüler des Mo Di, und Duan Gan Scheng, demtaoistischen Anachoreten, ist bezeichnend für denStandpunkt der beiden. Von Duan Gan Scheng (DuanGan Mu) ist die ebenso bezeichnende Geschichteüberliefert, daß der Fürst Wen von We (425-387) ihnneben dem Konfuzianer Dsï Hia als Lehrer anstellenwollte, er aber über die Mauer kletterte, um dem zuentgehen.


10 Meng Sun Yang ist ein Schüler Yang Dschus.Vergl. den nächsten Abschnitt sowie VIII, 23. OhneZweifel ist er auch derselbe wie der in Abschnitt 1dieses Buches erwähnte.Trotz der Wertlosigkeit des Lebens ist Selbstmordnicht zu empfehlen, wenn kein zureichender Grunddafür vorhanden ist. Vgl. Kierkegaard: »Entweder –Oder«, Teil I: »Hänge dich auf, du wirst es bereuen;hänge dich nicht auf, so wird's dich auch gereuen.Dieses, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit!«11 Be Tscheng Dsï Gau war wohl ein Anachoret desAltertums. Meister Kin ist Kin Gu Li, der Schüler desMo Di. Vgl. V, 14; VII, 9. Von den Leuten, die er alsZeugen für die verschiedenen Anschauungen anführt,ist Lau Dan gleich Laotse, Guan Yin gleich Guan YinHi, dem Grenzwart vom Han Gu-Paß (vgl. II, 4).Über Mo Di vgl. II, 21.Über den großen Yü vgl. V, 2. 5. 6 sowie dennächsten Abschnitt.12 Eine ähnliche Geschichtsbetrachtung wie die inVI, 1. 3 über Guan Dschung.Schun, der Nachfolger des bekannten HerrschersYau, war der Sage nach der Sohn des Gu Sou (blinderGreis), der sich nach dem Tode von Schuns Mutter


wieder verheiratete. Da seine Eltern seinen StiefbruderSiang viel lieber hatten als ihn, suchten sie ihnverschiedene Male umzubringen. Er entging aberallen Gefahren und ließ sich in seinem pietätvollenVerhalten nicht irremachen. Nach einer anderen alsder im Text genannten Sage mußte er das Feld bestellenauf dem Berge Li Schan (südlich von Tsinanfu).Tiere und Vögel kamen herbei, um seinen Pflug zuziehen und seine Felder von Unkraut zu reinigen. Erfischte im Donnersumpf »Le Dsche« und bildete Tongefäßean den Ufern des gelben Flusses. Seine Elternstellten ihm immer noch nach dem Leben, indem siesein Haus anzündeten und ihn in einen tiefen, gefährlichenBrunnen hinabsteigen ließen. Doch entging erall diesen Gefahren. Der Kaiser Yau berief ihn zu sichund gab ihm später seine beiden Töchter zur Ehe. DaYaus Sohn Dan Dschu unwürdig war, so trat er dasReich an Schun ab.Yü war der Sohn von Gung, der vom Kaiser Yaubeauftragt worden war, die Wasserläufe der großennordchinesischen Ebene zu regulieren. Da er damitnicht zustande kam, so wurde er lebenslänglich nachdem Flügelberg (Yü Schan) verbannt, und Yü wurdedamit beauftragt, das Werk zu Ende zu führen. ImLauf von 9 Jahren gelang es ihm unter äußersten Anstrengungen.So sehr war er beschäftigt, daß er aufKleidung und Nahrung keine Rücksicht nehmen


konnte und dreimal an seinem Hause vorbeikam, ohneZeit zu finden, einzutreten, obwohl er seinen ihm inzwischengeborenen Sohn weinen hörte. Da SchunsSohn Schang Gün sich unwürdig erwies, wurde er mitder Nachfolge auf dem Thron betraut und wurde derBegründer der Hia-Dynastie. Auf ihn wird die alteEinteilung des Reichs in 9 Provinzen zurückgeführt,die er durch 9 bronzene Dreifüße repräsentieren ließ.Die Stelle »Er wohnte in einer ärmlichen Hütte mitprächtiger Kleidung und Krone« ist mit einem satirischenSeitenblick auf Lun Yü VIII, 25 geschrieben.Dort heißt es: »Der Meister sprach: ›An Yü kann ichkeinen Makel entdecken. Er war sparsam in Trankund Speise, aber er war fromm vor Gott. Er trugselbst nur schlichte Kleidung, aber beim Gottesdienstwar er in Purpur und Krone zugegen. Er wohnte ineiner geringen Hütte, aber er verwandte alle Mittel aufdie Regulierung der Gewässer. An Yü kann ich keinenMakel entdecken‹«.Der Herzog von Dschou, mit Namen Dan, war dervierte Sohn des Königs Wen, des Begründers derDschou-Dynastie, und der Berater seines ältesten BrudersFa, der die Yin-Dynastie stürzte und als KönigWu den Thron bestieg. Nach dessen Tod führte er fürden unmündigen Thronerben Tscheng die Regierung.Seine beiden Brüder erregten Mißtrauen gegen ihn,als wolle er die Herrschaft an sich reißen. Infolge


davon mußte er drei Jahre lang sich ferne vom Hofehalten, um derartige Gerüchte zu entkräften. Beieinem Aufstand, den nun die beiden Brüder anzuzettelnversuchten, griff er energisch durch. Der einewurde hingerichtet, der andere verbannt. Er ist derAhnherr des Fürstenhauses von Lu.Kung Dsï: Über die Gefahr in Sung vgl. Lun YüVII, 22. Er kam auf den Wanderungen durch denStaat Sung, da ruhte er mit seinen Schülern untereinem großen Baum und übte mit ihnen die heiligenGebräuche ein. Diese Gelegenheit benützten dieSendlinge eines dem Meister übelwollenden Beamtenvon Sung, Huan Tui, und suchten ihn zu töten, indemsie den Baum fällten.Mit der Szene in We ist wohl die in Lun Yü XV, 1erwähnte gemeint.Schang ist gleichbedeutend mit Sung.Der Mißerfolg in Dschou bezieht sich wohl aufseine Unterhaltung mit Laotse.Über Tschen und Tsai vgl. VI, 1.Über die Familie Gi, das herrschende Adelsgeschlechtin Lu, vgl. die verschiedenen Stellen in LunYü.Über sein Zusammentreffen mit dem UsurpatorYang Hu (Yang Ho) und die brüske Art, wie dieserihn behandelt, vgl. Lun Yü XVII, 1.Der Tyrann Giä ist der letzte Herrscher der Hia-Dy-


nastie; er ist berüchtigt wegen der Brutalität, mit derer herrschte. Besonders seine Gattin Me Hi hat ihnnoch zu allerlei Extravaganzen angestachelt. Vorihrem prächtigen Schloß war ein großer Park miteinem See von Wein, aus dem 3000 Menschen aufdas Zeichen einer Trommel trinken mußten. An denBäumen war allenthalben Fleisch aufgehängt. Giäwurde von Tang gestürzt. Eine Dublette zu seiner Geschichteist die Geschichte des Tyrannen Dschou Sinaus der Schang- oder Yin-Dynastie, nur daß diesmaldie Genossin seiner Frevel Ta Gi heißt und der Befreierder König Wu aus der Dschou-Dynastie ist.Während Giä jedoch bei dem Thronwechsel mit demLeben davonkam, floh Dschou Sin nach seiner Niederlagein sein prächtiges Schloß Lu Tai, wo er in denFlammen, die er selbst entfacht, zugrunde ging.13 Liang ist die Hauptstadt des Staates We im heutigenSchan-Si. Vgl. II, 15; VIII, 19.Bekanntlich hat auch Menzius mit dem Fürsten vonLiang Unterhaltungen geführt. Der Erzvater Yau undder Erzvater Schun sind die beiden berühmten Herrscher.Das Wort »Erzvater« ist dem Sinne nach beigefügt.»Die gelbe Glocke« ist der Name des Grundtons c,während »die große Flöte« dem Ton cis entspricht.Die beiden liegen also eine kleine None auseinander.


Daher auch der Ausspruch »sie stehen sich zu fern«.14 Im Text findet sich hinter dem Satz: »Die Zahl derJahre vom grauen Altertum bis auf unsere Tage entziehtsich aller Berechnung« die gewissenhafte Bemerkungeines gelehrten Kommentators: »aber von FuHi an sind's mehr als 300000 Jahre«, die wir in derÜbersetzung unterdrückt haben.In diesem Skeptizismus in Beziehung auf die historischenTatsachen, den ihm mancher Moderne nachfühlenkann, steht Yang Dschu im striktesten Gegensatzzu der orthodoxen Lehre, die ganz auf der Geschichtedes Altertums basiert ist.16 Die vier Güter des Lebens sind die traditionellenchinesischen Glücksgüter, zu denen Kindersegen alsfünftes in der Regel hinzutritt.17 Die humorvolle Art, wie hier das Bauernglück gelobtwird, zeigt die Verbindungsfäden, die trotz allemvon der Lehre Yang Dschus zu Laotse hinüberführen.18 Vgl. Laotse, Taoteking, Abschnitt 18 und 19. BeiYang Dschu ist jedoch alles viel bösartiger gemeint.19 Enthält eine Kritik einer Äußerung Yü Hiungs,des sagenhaften Lehrers von König Wu aus der


Dschou-Dynastie (I, 10; II, 17; VI, 7), und des Laotse.Die Äußerung findet sich so jedoch nicht im Taoteking.Möglicherweise kann herangezogen werdendie Stelle in Abschnitt 44: »Der Name oder das Ich,was steht näher?« oder Abschnitt 42: »Wenn Fürstenund Könige sie (die Einfalt) zu wahren verstehen, sostellen sich alle Geschöpfe als Gäste zur Seite.«


Buch VIIIZusammentreffen der VerhältnisseDie Überschrift »Ho Fu« heißt wörtlich: zusammenpassende»Fu«. Fu sind eigentlich zwei ineinanderpassendeSiegelhälften, die nur zusammen einen Sinngaben und als Erkennungszeichen dienten.Im Yin Fu Ging, dem »Buch von der verborgnenSiegelhälfte« (vgl. Einl.) ist der Ausdruck bildlichverstanden von der zum Verständnis der irdischenVerhältnisse notwendigen geheimen Ergänzung derLehre. Der Titel dieses Buches ist offenbar im Hinblickauf den Yin Fu Ging gewählt. Die Überschriftbezieht sich darauf, daß im Lauf des Buches eineganze Anzahl von eigenartigen Verhältnissen geschildertwerden, die, je nachdem man sich ihnen anzupassenvermag, Erfolg oder Mißerfolg mit sich führen.Das Buch bringt zunächst von Abschnitt 1-6 einenNachtrag zu den <strong>Liä</strong> Dsï-Erzählungen. Dann kommeneine Reihe einzelner Beispiele über die Macht derVerhältnisse von Abschnitt 7-21, von Abschnitt22-25 wieder Erzählungen und Äußerungen von YangDschu, von 26 bis zum Schluß eine Anzahl kleinererGeschichten in mehr oder weniger engem Zusammenhangmit dem Hauptthema des Buchs.


1 Dieser Abschnitt führt uns <strong>Liä</strong> Dsï in der Unterhaltungmit seinem Meister Hu Kiu Dsï Lin vor. Wasman vom Schatten lernen kann, ist die Wahrheit, dieim Taoteking durchgehend verkündigt ist: daß wersich hinten hält, vorne weilt. Im Anschluß daran eineUnterredung mit Guan Yin Hi, in der das Schicksalund der Name des Menschen als Echo und Schattenseiner eignen Reden und Taten bezeichnet wird – imdenkbar striktesten Gegensatz zu dem, was im letztenBuch von Yang Dschu in dieser Beziehung gesagtwurde.Tang ist der Begründer der Schang- oder Yin-Dynastie,der den Tyrannen Giä vom Throne stieß.Wu ist der erste König der Dschou-Dynastie, derden Tyrannen Dschou Sin von der Yin-Dynastie beseitigte.Zu dem Satz: »Wer Messen und Richten beidesversteht, aber ohne den SINN, der gleicht einem Menschen,der hinausgehen wollte, aber nicht durch dieTür« vgl. Lun Yü VI, 15.Der König von Yü ist Schun, der auch den TitelYu Yü führte. Das chinesische Zeichen ist von demZeichen »Yü« des großen Yü verschieden.Hia ist die von dem großen Yü begründete Dynastie,Schang die von dem vorhergenannten Tang begründeteDynastie und Dschou die von den Königen


Wen und Wu begründete Dynastie.2 Unterredung des Meisters <strong>Liä</strong> Dsï mit seinem SchülerYän Hui (nicht zu verwechseln mit dem LieblingsjüngerKungs. Die chinesischen Zeichen sind verschieden,nur der Laut stimmt überein).Die Verurteilung des brutalen Kampfes ums Daseinals menschenunwürdig steht im strikten Gegensatzzu Yang Dschu.3 <strong>Liä</strong> Dsï lernt das Bogenschießen bei Guan Yin Hi.Die Erzählung scheint eine Parallele zu II, 5, nur daßdort Be Hun Wu Jen der Lehrer ist. Vgl. auch die Geschichtezwischen Gi Tschang und Fe We V, 15.4 Zum Schluß des Abschnittes vergleiche Lun Yü I,16.6 Vgl. Dschuang Dsï XXVIII. Eine der wenigen Stellen,die etwas aus der Lebensgeschichte <strong>Liä</strong> Dsïs enthalten.Die Ermordung des Ministers Dsï Yang vonDscheng, der hier erwähnt ist, fällt in das dritte Jahrdes Königs An von der Dschou-Dynastie (399). Darauswürde folgen, daß <strong>Liä</strong> Dsï ungefähr um 450v.Chr. geboren sein muß, wenn man die Zeitangabenvon I, 1 mit heranzieht.


7 Die beiden Familien aus Lu und ihre Schicksalesind nur von allegorischer Bedeutung. Es handelt sichnicht um historische Tatsachen. Nur daß die beidenStaaten Tschu und Tsin als kriegerisch und der StaatWe als friedlich geschildert ist, entspricht den tatsächlichenVerhältnissen jener Zeit. Die Arten, wie diebeiden Söhne des Meng in Tsin und We verstümmeltwerden, sind damals übliche Strafen. In der Rede desMannes Schï ist mit Kung Kiu eben Kung Dsï gemeint,das Muster der Gelehrsamkeit, während LüSchang ein andrer Name für den VI, 12 genanntenGroßen Herzog (Giang Tai Gung) ist, der als Feldherrdes Königs Wen sich große Verdienste erwarb undmit dem Land Tsi belehnt wurde. Die Sage erzählt,daß König Wen von der Dschou-Dynastie, ehe er sicheinst auf die Jagd begab, vorher das Orakel befragte,was er fangen werde. Die Antwort war: »Weder Tigernoch Drachen, weder Bären noch Leoparden, sondernden Ratgeber eines Königs«. Als er an den Fluß Wekam, traf er einen alten Mann, der statt mit einem Angelhakenmit einer Nadel angelte. Befragt, wie esmöglich sei, auf diese Weise etwas zu fangen, sagteer: »Die großen Fische kommen schon von selbst«.Im Laufe der Unterhaltung entdeckte der Fürst in ihmeinen verborgenen Weisen und fand in ihm die Prophezeiungseines Großvaters, daß wenn ein Weiser


sich zu dem Hause Dschou geselle, dessen Blütezeitbeginnen werde, erfüllt. Daher hat Lü Schang oderGiang Dsï Ya auch den Titel Tai Gung Wang (GroßvatersHoffnung), der dann vielfach in Tai Gung(Großer Herzog) abgekürzt wurde.8 Herzog Wen von <strong>Dsi</strong>n (636-628) war einer derReichsfürsten, die zur Zeit des Verfalls der Dschou-Dynastie die Hegemonie im Reiche hatten. Er war indieser Stellung der Nachfolger des Herzogs Huan vonTsi.9 Die Geschichte spielt unter dem Fürsten Dau von<strong>Dsi</strong>n (572-558), dessen Kanzler Dschau Wen Dsï war(Dschau Wen Dsï ist der Großvater des VIII, 27 genanntenDschau Giän Dsï).10 Eine Wiederholung der Geschichte II, 9, im Wortlautetwas abweichend. Es ist als Zeitangabe dieRückkehr Kungs aus We nach Lu (am Abschluß seinerWanderzeit) genannt, und als Moral der Geschichtewird die Macht des Glaubens angegeben.11 Der weiße Prinz (Be Gung) war ein Enkel des KönigsPing von Tschu. Er mußte infolge einer Verleumdung,die seinem Vater, dem Kronprinzen Giän, dasLeben kostete, nach dem Staate Dscheng fliehen, wo


er Rache plante an seinen Feinden. Er wollte vonKonfuzius im geheimen einen Rat erbitten, hat aberden Rat, den ihm Konfuzius erteilte, nämlich sich stillzu halten, doch nicht verstanden. Seine Unternehmungschlug dann auch fehl, und er kam dabei um.Vgl. VIII, 33. Er erinnert in seinem Schicksal (seineMutter hatte schwere Schuld auf sich geladen) und inseinem Charakter an Hamlet.Der Koch I Ya war der Leibkoch des Fürsten Huanvon Tsi, der, als der Fürst einmal keinen Appetithatte, seinen eignen Sohn schlachtete und als Mahlzeitauftrug. Er war wegen seines feinen Geschmackesbekannt. Nach Guan Dschungs Tode bekam er Einflußauf die Regierung.12 Dschau Siang Dsï, Kanzler von <strong>Dsi</strong>n unter demFürsten Ai (456-439) ist der Urenkel des in VIII, 9genannten Dschau Wen Dsï, derselbe, der die in II, 12genannte Feuerjagd unternahm. Seine Nachkommenhaben nach der Auflösung des Staates <strong>Dsi</strong>n ein Dritteldavon als Fürsten überkommen. Sein Benehmen nachdem Sieg ist eine direkte Befolgung der im TaotekingNo. 31 aufgestellten Grundsätze. In seiner Motivierungzitiert er Taoteking No. 23 in wenig abweichendemWortlaut.Die Staaten Tsi, Tschu, Wu, Yüo, die Siege erlangt,ohne sie festhalten zu können, sind alles Mili-


tärstaaten aus der Zeit der streitenden Reiche.Die Erwähnung der Körperkraft des Konfuzius istwohl durch ein Mißverständnis von seinem Vater aufihn übertragen. In Dso Dschuan IX, 10, 2 wird erzählt:»Die vereinigten Truppen der Nordstaaten belagertendie Stadt Be Yang, die zu Tschu gehörte.Die Stadt öffnete zum Schein ein Tor, durch dasdie Angreifenden eindrangen. Da ließ man die schwereeiserne Gitter-Falltür herunter, um auf diese Weisedie Eingedrungenen abzusperren. Konfuzius Vaternun war so stark, daß er allein die Falltür emporhebenkonnte, so daß die Abgesperrten sich retten konnten«.Die Geschichte des Mo Di, der die Hauptstadt vonSung gegen Gung Schu Ban (Ban Schu, vgl. V, 14,aus Lu, der damals im Dienste des Staates Tschustand) erfolgreich verteidigte, enthält eine Anzahlspannender Details von Minen und Gegenminen, diedie beiden geschickten Mechaniker gegeneinanderausspielten.13 Die hier erzählte erbauliche Geschichte, die ebenzur Zeit jener Belagerung der Hauptstadt des LandesSung spielte, könnte mit leichten Namensänderungenin jedes christliche Traktätchen Aufnahme finden.14 Eine etwas abgemilderte Parallele zu VIII, 7.Herzog Yüan von Sung regierte von 531-517.


15 Herzog Mu von Tsin regierte von 659-621.16 Die Geschichte zeigt den genau entgegengesetztenStandpunkt zu der Yang-Dschu Geschichte VII, 13.König Dschuang von Tschu regierte 613-591.Dschan Ho ist derselbe Anachoret, der in V, 9 diePrinzipien seiner Angelkunst darlegt.17 Sun Schu An war Minister in Tschu zur Zeit desKönigs Dschuang (613-591).18 Die Geschichte ist eine pessimistische Ergänzungvon VIII, 7. 14.19 Das erwähnte Spiel scheint ein Zwischending vonSchach- und Würfelspiel gewesen zu sein.Die Art, wie dieser Aufruhr veranlaßt wurde, ist typischfür chinesische Verhältnisse. Eine ganze Reihevon fremdenfeindlichen Unruhen verdanken ähnlichenAnlässen ihre Entstehung.22 Dieser Abschnitt gehört wohl mit Abschnitt 25 zusammen.In der sarkastischen Art, wie er das Gutestunals unratsam hinstellt, paßt er ganz zum WesenYang Dschus.


23 Über Meng Sun Yang vgl. VII, 10 und 11. Erzeigt sich hier noch nicht so bewandert in der LehreYang Dschus wie sein Mitschüler Sin Du Dsï.Die Geschichte von den drei Brüdern enthält eineVerhöhnung der verschiedenen Schulen, die vonKung ausgingen und sich alle für orthodox hielten,obwohl sie in ihren Konsequenzen einander entgegengesetztwaren.24 Über Yang Bu, den jüngeren Bruder YangDschus, vgl. VI, 8.25 Siehe Abschnitt 22 dieses Buchs.26 Gibt ähnlich wie der Abschnitt I, 11 eine dreifacheBeurteilung desselben Tatbestands.Die Namen der drei Philosophen: Tsi (allgemein),Fu (reich), Hu (was?) sind allegorisch zu verstehen.27 Noch jetzt ist namentlich in der Umgebung vonbuddhistischen Klöstern die Sitte üblich, als gutesWerk lebende Tiere freizulassen mit demselben praktischenErfolg wie der, den hier der Gastfreund erwähnt.Dschau Giän Dsï, der Enkel des VIII, 9 genanntenDschau Wen Dsï war Kanzler unter dem FürstenDing von <strong>Dsi</strong>n (511-474). Gan Dan im südlichen


Tschili war sein Hausbesitz.28 Die Familie Tiän war das herrschende Adelsgeschlechtim Staate Tsi, dessen Thron es schließlichusurpierte.Die Geschichte könnte beinahe bei Mark Twainstehen.29 Zu der Schätzung, die der Roßarzt im alten Chinagenoß, vgl. II, 6. Er hatte wohl das Geschäft desSchinders mit zu versehen.30 Geldsummen: wörtlich »er zählte die Kerben«.Der Kontrakt war offenbar auf eine Holztafel eingeritzt.31 Der genannte Baum, genau »Papiermaulbeerbaum«,gilt als glückliches Vorzeichen. Ihn abgedorrtstehen zu lassen, würde auf Verdorren des Glücksschließen lassen.Die Geschichte soll das unnötige Mißtrauen desBesitzers charakterisieren.33 Über den weißen Prinzen (Be Gung) vgl. VIII, 11.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!