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Studia Neophilologica Von Euripides zu Christa Wolf. Die ...

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This article was downloaded by: [University of Tubingen]On: 10 April 2010Access details: Access Details: [subscription number 917352370]Publisher RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK<strong>Studia</strong> <strong>Neophilologica</strong>Publication details, including instructions for authors and subscription information:http://www.informaworld.com/smpp/title~content=t713699988<strong>Von</strong> <strong>Euripides</strong> <strong>zu</strong> <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>. <strong>Die</strong> Wiederbelebung des Mythos in Medea. StimmenLiliana MitracheTo cite this Article Mitrache, Liliana(2002) '<strong>Von</strong> <strong>Euripides</strong> <strong>zu</strong> <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>. <strong>Die</strong> Wiederbelebung des Mythos in Medea .Stimmen', <strong>Studia</strong> <strong>Neophilologica</strong>, 74: 2, 207 — 214To link to this Article: DOI: 10.1080/003932702321116217URL: http://dx.doi.org/10.1080/003932702321116217PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLEFull terms and conditions of use: http://www.informaworld.com/terms-and-conditions-of-access.pdfThis article may be used for research, teaching and private study purposes. Any substantial orsystematic reproduction, re-distribution, re-selling, loan or sub-licensing, systematic supply ordistribution in any form to anyone is expressly forbidden.The publisher does not give any warranty express or implied or make any representation that the contentswill be complete or accurate or up to date. The accuracy of any instructions, formulae and drug dosesshould be independently verified with primary sources. The publisher shall not be liable for any loss,actions, claims, proceedings, demand or costs or damages whatsoever or howsoever caused arising directlyor indirectly in connection with or arising out of the use of this material.


<strong>Studia</strong> <strong>Neophilologica</strong> 74: 207–214, 2002<strong>Von</strong> <strong>Euripides</strong> <strong>zu</strong> <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>. <strong>Die</strong> Wiederbelebungdes Mythos in Medea. StimmenLILIANA MITRACHE1. Literatur und WirklichkeitDownloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010<strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>s literarische Deutungen der Realität zielen auf die Verbesserung derLebensverhältnisse im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen ab.Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sindineinander verschmolzen im Bewusstsein des Autors. Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch (<strong>Wolf</strong>1980:41).<strong>Die</strong> inhaltlichen Leitmotive, die ihr Werk prägen sind u.a. Schuld, persönlicheVerantwortung und Humanisierung des Menschen. <strong>Die</strong> Protagonisten in <strong>Wolf</strong>s Prosa-Arbeiten sind hauptsächlich Frauengestalten, bei deren Darstellung die Autorinautobiographisches Material verwendet, wie z.B. in Nachdenken über <strong>Christa</strong> T (1968)und in Kindheitsmuster (1976).Frauengestalten stehen auch im Mittelpunkt der Prosawerke Kein Ort. Nirgends (1979),Kassandra (1983) und Medea (1996), in welchen die Autorin die Frage nach einemspezifisch weiblichen Weltbild und einer weiblichen Ästhetik behandelt. In allen dreiWerken ist die Handlung in die Vergangenheit versetzt, <strong>Wolf</strong> zieht aber die gegenwärtigeGesellschaft in Betracht. Während in Kein Ort. Nirgends die Handlung <strong>zu</strong>r Zeit derRomantik spielt und eine fiktive Begegnung der Künstlerin Karoline von Günderrode mitHeinrich von Kleist schildert, dient die Antike den beiden anderen Prosawerken als Folie.<strong>Die</strong> Protagonistinnen in diesen drei Prosawerken sind durch das Wissen ihres Scheiternsschon von Anfang an geprägt. <strong>Die</strong> Autorin entwickelt hier die Fragen von Identität undEntfremdung des Individuums, seine Anpassung und das Verhältnis <strong>zu</strong>r Gesellschaft. Inder Erzählung Kassandra und später in dem Roman Medea beschäftigt sich <strong>Wolf</strong> mit derProblematik der Geschlechterbeziehungen. In Kassandra setzt sie die feministischpazifistischenVerhaltensweisen einer patriarchalen Ordnung entgegen, die macht- undkriegslüstern ist (siehe Gerdzen/Wöhler 1991). <strong>Die</strong> Erzählung Kassandra entsteht <strong>zu</strong>r Zeitdes “kalten Krieges”, <strong>zu</strong>r Zeit von weltpolitischen und atomaren Gefahren.Auch nach der “Wende” nimmt <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> Stellung <strong>zu</strong> den Veränderungen in derGesellschaft und besteht darauf, dass Kunst von Politik nicht <strong>zu</strong> trennen sind. Gerade inMedea sind die Übertragungen persönlicher Erfahrung auf die mythologische Frauengestalt<strong>zu</strong> erkennen. <strong>Die</strong> Erwartungen und die Enttäuschungen der Schriftstellerin nach der“Wende” sind deutlich <strong>zu</strong> erkennen.2. Medea – <strong>Die</strong> mythologische Geschichte<strong>Die</strong> Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit dem Mythos, den Ereignissen der Ur- und Vorzeit, derErzählung von Göttern, Dämonen und Helden bilden eine unerschöpfliche Quelle für dieKunstdichtung der letzten Jahrhunderte. Der Mythos ist erzählerisch erfahrbar und wird inGeschichten verarbeitet. Ein und derselbe mythologische Stoff erfährt unzähligeBearbeitungen und Varianten, die von dem ethischen und ästhetischen Bewusstsein derjeweiligen Epochen geprägt sind.<strong>Die</strong> Geschichte von Medea wird als Teil der griechischen Argonautensage betrachtet. Indieser alten Heldensage ist Jason, der rechtmäßige Erbe des Thrones von Jolkos, einer


208 L. Mitrache <strong>Studia</strong> Neophil 74 (2002)Downloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010thessalischen Küstenstadt. Sein Onkel Pelias zwingt ihn das Goldene Vlies aus dem fernenKolchis <strong>zu</strong> holen. Jason erbaut das Schiff Argo und besteigt es mit den besten Heldenseiner Zeit.Jenseits des Schwarzen Meeres, in Kolchis, herrscht König Aietes, Sohn desSonnengottes Helios. <strong>Die</strong> Königstochter Medea verliebt sich in Jason und hilft ihm dasGoldene Vlies <strong>zu</strong> gewinnen. Am schwierigsten ist die Erlegung des Drachens, der das Fellbewacht. Medea verlässt mit Jason ihr Vaterland, nachdem sie ihren Bruder, der sieverfolgt, erschlagen hat. In Jolkos wird der immer noch feindselige Pelias von Medeadurch eine List beseitigt. Jason und Medea müssen fliehen und finden bei König Kreon inKorinth Zuflucht.Korinthische Sagen erzählen, dass Jason und Medea über Korinth geherrscht haben unddass die Korinther die zwei Söhne des Herrscherpaars getötet hätten, um nicht von denLeibeserben einer Barbarin regiert <strong>zu</strong> werden (Buschor 1952:79).<strong>Die</strong> Geschichte von Medea fand in fast allen Epochen der DramengeschichteBearbeiter. Der griechische Dichter und Philosoph <strong>Euripides</strong> ist aber derjenige, der denMedea-Stoff mit großer Freiheit behandelt und Medea als eine Mörderin der eigenenKinder darstellt.3. <strong>Euripides</strong>’ MedeaIn <strong>Euripides</strong>’ Fassung, aufgeführt 431 v. Chr., ist Jason schon mit der Tochter Kreons,Glauke, verlobt. Medea, die Jason nach Korinth gefolgt ist, soll auf Befehl Kreons<strong>zu</strong>sammen mit ihren zwei Kindern aus Korinth verbannt werden.Medea plant die Ermordung Kreons und seiner Tochter. <strong>Die</strong> Zauberin schickt durch ihreKinder der Braut ein Gewand und einen goldenen Kranz, die Glauke anlegt und daran<strong>zu</strong>grundegeht; auch Kreon, der seine Tochter umarmt hat, muss sterben.Medeas Racheplan schließt auch den Mord an ihren eigenen Kindern ein. Einerseitswerden sich die Feinde nicht mehr an den Kindern vergreifen können und andererseits sindsie in Gefahr, da der Mord an der Königstochter schon durchgeführt worden ist.Indirekt übt sie Rache auch an Jason, den sie als den eigentlichen Schuldigen betrachtet.Jason verliert den Zugang <strong>zu</strong>m politischen Leben und wird durch seine Verbindung mitder Schuldigen in der Gesellschaft isoliert. Bewusst ist ihr auch die Tatsache, dass Kinderaus Mischehen im kultivierten Griechenland keine Rechte haben und damit auch keineZukunft. Medea entflieht schließlich mit ihren toten Kindern auf dem Drachenwagen.<strong>Euripides</strong> entwirft eine leidenschaftliche und selbstbewusste, in ihrem Ehrgefühlgekränkte Medea. Sie agiert und verteidigt sich nach den in der Gesellschaft geltendenmännlichen Werten. Ihre Heimat und damit ihre soziale Stellung hat sie schon verloren,als sie Kolchis verließ. Als Prinzessin und Priesterin war sie hochgestellt, hatteBewegungsfreiheit und Macht. Sie steht im Gegensatz <strong>zu</strong>r gehorsamen und kindlichenGlauke, die vom Vater verheiratet wird.<strong>Euripides</strong> zeichnet Jason mit stark negativen Zügen. Zynisch und opportunistischnimmt er Medeas Hilfe entgegen und verlässt sie nachher, um seine soziale Stellung <strong>zu</strong>fördern. <strong>Die</strong> zweite Heirat betrachtet er als reine Vernunftheirat.Solidarisch mit Medea zeigt der Frauenchor, durch seine handlungsbezogenen Lieder,seine Anteilnahme am Schicksal der Heldin und drückt die Emotionen aus, die von Medeaals Frau nicht geäußert werden.Obwohl <strong>Euripides</strong> Medea mit Empathie darstellt, fehlt es in der Verwandlung derProtagonistin <strong>zu</strong> einer Kindesmörderin an Überzeugungskraft. <strong>Die</strong>se Motivationsschwächewird trotzdem vom griechischen Publikum akzeptiert, denn als Fremde, als“Barbarin” gestattet sie ihm, sich von ihr <strong>zu</strong> distanzieren (siehe Lütkehaus 2001:24).<strong>Euripides</strong>’ originelle Interpretation des mythologischen Stoffes hat von allen Werkendes Dichters den nachhaltigsten Einfluss auf die Literatur und Kunst der Folgezeitausgeübt.


<strong>Studia</strong> Neophil 74 (2002) <strong>Die</strong> Wiederbelebung des Mythos in Medea 211Downloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010eigentlich ein Gespräch mit dem Leser ist. <strong>Wolf</strong> entscheidet sich für die Form desMonologs, weil diese ihr “eine größere Intensität und eine stärkere Identifikation mit derFigur brachte, die sich vielleicht auf den Leser überträgt” (<strong>Wolf</strong> 1984:108).<strong>Die</strong> Reihenfolge der Stimmen, die den Kapiteln im Roman entsprechen, ist folgende: 1.Medea, Kolcherin und Tochter des Königs Aietes und der Idya; 2. Jason, Argonaut; 3.Agameda, Kolcherin, gewesene Schülerin von Medea; 4. Medea; 5. Akamas, Korinther,erster Astronom des Königs Kreon und Ratgeber; 6. Glauke, Tochter des Königs Kreonund Merope; 7. Leukon, zweiter Astronom des Königs Kreon; 8. Medea; 9. Jason; 10Leukon und 11. Medea.Das Erzählte wird somit aus verschiedenen Blickwinkeln vermittelt. <strong>Die</strong> Perspektivierungbzw. die Fokalisierung des Erzählten ist auf die Wahrnehmung der erlebendenFiguren begrenzt. <strong>Die</strong> Fokalisierung wechselt im Rahmen eines im wesentlichenchronologisch fortlaufend präsentierten Geschehens zwischen diesen Figuren/Stimmenund wird als variable interne Fokalisierung definiert.Gleichzeitig wird die Geschichte nicht nur fortlaufend präsentiert, Teile desselbenGeschehens werden aus der Perspektive mehrerer Figuren rekonstruiert, also unter Formeiner multiplen internen Fokalisierung (Martinez/Scheffel 1999:66).Um den Oberbegriff von Stanzel <strong>zu</strong> benutzen, realisiert der Text den Typusmultiperspektivischen Erzählens (Stanzel 1995:38).<strong>Die</strong> facettenreiche Erzählung erlaubt der Schriftstellerin die Psychologie der Gestaltenaus<strong>zu</strong>leuchten, ihre persönlichen Gefühle authentisch wieder<strong>zu</strong>geben. <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>verwandelt die rachsüchtige, antike Halbgöttin Medea in eine leidenschaftliche Frauund liebevolle Mutter, die den Machtkämpfen am Königshof <strong>zu</strong>m Opfer fällt.Medea zieht eine Parallele mit ihrem Heimatort Kolchis, die Machtkämpfe undmenschlichen Opfer waren auch dort üblich. <strong>Die</strong> selbstbewusste Medea unterscheidet sichvollkommen von den Frauen der Korinther, die sie für “sorgfältig gezähmte Haustiere”hält. <strong>Die</strong> Heldin versteht, dass sie durch ihre Unabhängigkeit und ihren Eigensinnungewöhnlich und unbequem für die Korinther ist: “Ich bin keine junge Frau mehr, aberwild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihremKopf besteht” (<strong>Wolf</strong> 1996:18).<strong>Die</strong> Unterschiede zwischen den zwei Welten, Kolchis und Korinth, die zweiunterschiedliche Zivilisationen vertreten, die eine barbarisch und ungeschliffen, dieandere fortgeschritten und raffiniert, bilden im Roman einen durchlaufenden Kontrast.Das barbarische Reich erscheint durch die Gleichberechtigung der Geschlechter, deseinfachen Lebens und der Naturnähe entwickelter als das skrupellose und arroganteKorinth, wo der Wert der Menschen in Gold gemessen wurde und die jungen Leute ohneMitgefühl sind.Kolchis ist humaner als Korinth, Männer wie Frauen können ihren Gefühlen freien Lauflassen und öffentlich weinen, während in Korinth das den Frauen vorbehalten bleibt. <strong>Die</strong>Anspielungen der Schriftstellerin auf die gegenwärtige Gesellschaft sind nicht <strong>zu</strong>übersehen.Es gibt eine gewisse Parallelität mit den von <strong>Wolf</strong> dargestellten Kolchern, den Barbarenaus dem Osten und den Korinthern aus dem Westen mit der Lage Deutschlands nach der“Wende”. <strong>Die</strong> Vereinigung der zwei unterschiedlichen Welten, den Ostdeutschen undWestdeutschen ist nicht ohne Opfer verlaufen.In dem Essay von 1994 “Abschied von Phantomen – Zur Sache: Deutschland” drückt<strong>Wolf</strong> diese Gedanken direkt aus:Auch ich begriff es erst allmählich: Für viele im Westen, und keineswegs nur für das Establishment, warenund sind die Ostdeutschen Menschen auf einer niedrigen Zivilisationsstufe […] (<strong>Wolf</strong> 1994:329).<strong>Wolf</strong> hat doch Vertrauen in die Zukunft und hofft, dass sich die Deutschen von Vorurteilenbefreien und an gemeinsamen Projekten teilnehmen können.<strong>Die</strong> Autorin identifiziert sich mit der Gestalt der Medea, die <strong>zu</strong> einer Art


212 L. Mitrache <strong>Studia</strong> Neophil 74 (2002)Downloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010“Entlastungszeugin” für sie wird (<strong>Wolf</strong> 1999:11). Wie Medea, aus dem Osten stammend,fühlt sich die Schriftstellerin fremd in der neuen Heimat.Durch die antagonistischen Gefühle, die in Zusammenhang mit Medeas Beschreibungvon den Stimmen ausgelöst werden, schafft die Schriftstellerin ein dynamisches undspannungsvolles Porträt der Heldin.Jason erscheint als schwach und opportunistisch, er ist der hochmütigen Medea nichtgewachsen. Machtlos sieht er <strong>zu</strong>, wie Medea in Ungnade am Korinther Hof fällt. ImGegensatz <strong>zu</strong> dem farblosen Charakter Jasons steht die rachsüchtige Agameda. EhemaligeSchülerin von Medea, hasst sie diese und trägt <strong>zu</strong> ihrer Vernichtung bei. Medeas‘Schicksal bzw. ihr Niedergang ist von Anfang an bestimmt. <strong>Die</strong> Stimmen im Romanbegründen und erläutern das unvermeidbare Ende der Heldin.Im Rahmen des Aktualisierungsprozesses der mythologischen Geschichte führt <strong>Christa</strong><strong>Wolf</strong> einen neuen Aspekt ein. Medea wird nicht nur von den fremden Korintherngefürchtet und verurteilt, sondern auch von Landsleuten verraten. Als Flüchtlinge inKorinth, leiden sie jetzt an Heimweh und halten Medea dafür verantwortlich.<strong>Die</strong> komplizierten und raffinierten Intrigen am Königshof verleihen dem Roman einenThriller-Charakter. Der Verlauf der Handlung wird jetzt dynamisiert und erreicht seinenHöhepunkt mit Medeas‘ Verbannung.<strong>Die</strong> Frage nach dem Sinn eines Menschenopfers, nach der ewigen Suche derMenschheit nach Sündenböcken, beschäftigt die Autorin und erscheint wie ein Leitmotivim Roman. Sogar Medea scheint in <strong>Wolf</strong>s Roman <strong>zu</strong> einer Opferfigur reduziert worden <strong>zu</strong>sein, eine Märtyrerin, welche die Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt ist, ohne großenWiderstand <strong>zu</strong> leisten, akzeptiert. Sie spielt sogar für die krankhafte, hässliche Glauke, dieTochter Kreons und ihre <strong>zu</strong>künftige Rivalin die Rolle der Heilerin und der Mutter. Neuund unerwartet ist Medeas’ Darstellung im Verhältnis <strong>zu</strong> der Königstochter. Medeas’Hilfsbereitschaft passt aber <strong>zu</strong> der gesamten Darstellung der Protagonistin, ihreMenschlichkeit tritt in den Vordergrund.Durch die negative Gestalt Agamedas, die skrupellos gegen Medea komplottiert, wirddie Handlung lebendiger und spannender. Auch die Gestalt Akamas’, des oberstenAstronomen des Königs, wirkt als eine interessante Figur. Es herrscht eine gewisseÄhnlichkeit und sogar Sympathie zwischen Akamas und Medea. Jedoch entwickelt er sich<strong>zu</strong>m Feind Medeas, der <strong>zu</strong>m Untergang der Heldin beiträgt. Weniger prägnant erscheintder Freund Medeas, Leukon, zweiter Astronom am königlichen Hof. Er erfüllt mehrdie Funktion eines Erzählers, der Medeas Untergang mit Teilnahme, aber machtlosschildert.<strong>Die</strong> Handlung erreicht den Höhepunkt als die Priesterin die feindliche Stadt verlassenmuss. <strong>Wolf</strong> kehrt <strong>zu</strong> dem alten Mythos <strong>zu</strong>rück, wenn sie schildert, dass Medea und ihrezwei Kinder im Tempel der Hera die Göttin beschwört, sie <strong>zu</strong> schützen. Auch die Racheder Korinther an Medeas Kindern ist eine Wiederherstellung des alten Mythos. Medeafindet keine Erklärung für die grausamen Taten der Korinther. Sie fragt sich nach ihremPlatz in der Welt. <strong>Wolf</strong> stellt mit diesen Worten auch ihre eigene Rolle als Schriftstellerinin Frage. Enttäuschung, die fast <strong>zu</strong> einer Identitätskrise führt, geht aus dem letztenAbschnitt des Romans hervor: “Wohin mit mir. Ist eine Welt <strong>zu</strong> denken, eine Zeit, in dieich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort” (<strong>Wolf</strong>1996:236).Wie Medea, die sich zwischen zwei Wertesystemen bewegt, vertreten durch ihreHeimat Kolchis und ihren Fluchtort Korinth, so muss sich auch <strong>Wolf</strong> mit den Werten deralten DDR und des neuen vereinigten Deutschlands auseinandersetzen. Medea muss aberuntergehen, da sie die Mentalität in ihrer neuen Heimat nicht versteht oder nicht verstehenwill. <strong>Wolf</strong> problematisiert die Frage nach dem Humanem. Medea ist nicht fähig, sich denneuen, fortgeschritteneren Verhältnissen an<strong>zu</strong>passen, die nicht unbedingt auch diehumaneren sind: “<strong>Die</strong> Frage nach dem Maß dieses Humanen wurde mir immer mehr<strong>zu</strong>m Leitfaden für meine Figur und meine Erzählung” (<strong>Wolf</strong> 1999:167).


<strong>Studia</strong> Neophil 74 (2002) <strong>Die</strong> Wiederbelebung des Mythos in Medea 213<strong>Die</strong> Schilderung der mythologischen Geschichte enthält bei <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> mehrereKonnotationen:1. <strong>Die</strong> Wiederherstellung des ursprünglichen Bildes des Medea-Mythos (als Antwortauf <strong>Euripides</strong>’ Version);2. <strong>Die</strong> Mythologie erlaubt der Autorin die Gegenwart, bzw. die heutige Gesellschaft auseiner neuen Perspektive <strong>zu</strong> betrachten;3. <strong>Die</strong> Autorin identifiziert sich mit der Heldin, die autobiographische Züge enthält;4. Anhand der Hauptfigur wird nicht nur der Gesellschaftsbe<strong>zu</strong>g, sondern auch dasGeschlechtsbewusstsein problematisiert.<strong>Wolf</strong>s Umgang mit dem Mythos ist nicht im aufklärerischen Sinn, der die Fixierung vonStrukturen hervorhebt, <strong>zu</strong> verstehen. <strong>Die</strong> Autorin erkennt die Entfaltungsmöglichkeitendes Mythos, als Vergleich der Antike mit der Moderne.Downloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010Das Lesenlernen des Mythos und seine Aktualisierung kann aber weder die Wiederholung des patriarchalenDiskurses noch die Regression <strong>zu</strong>r archaischen Mutter bedeuten, sondern führt <strong>zu</strong>r Umwertung undNeuinterpretation, also <strong>zu</strong> etwas Neuem (Hilzinger 1986:133).<strong>Wolf</strong>s Aufgreifen des Medea Stoffes steht somit im intertextuellen Verhältnis <strong>zu</strong><strong>Euripides</strong>’ Medea, <strong>Wolf</strong> geht von dem antiken Text aus, den sie als Prätext verwendetund schafft einen neuen Text mit einer neuen Sinnkonstruktion (Lachmann) oderSinnkonstitution (Broich/Pfister).Der Text behandelt aber ein mythologisches Motiv und sprengt dadurch die Grenzen derstrukturalistischen Theorie der Intertextualität, die sich auf eine spezifische Eigenschaftvon Texten bezieht, die <strong>zu</strong> vorliegenden Texten oder Textgruppen in Beziehung stehen.<strong>Die</strong> mythologische Thematik verleiht dem Text, bei seiner Rezeption, eine gewisseUniversalität, wie im Sinne des poststrukturalistischen Konzepts der Intertextualität, daseinen Text als offen und reproduzierbar, als einen Teil des universalen Intertextesbetrachtet (siehe Mitrache 1999). Es gibt eine unendliche Kette von Korrespondenzenzwischen den Texten, die sich bis jetzt mit diesem Mythos-Motiv beschäftigt haben. “<strong>Die</strong>Texte wiederholen Strukturen, die <strong>zu</strong>letzt im Mythos vorgeschrieben sind” (Lachmann1997:806).<strong>Wolf</strong> argumentiert mit ihrer Medea-Version gegen <strong>Euripides</strong>’ Variante und hofftdadurch sich der mythologischen Wirklichkeit genähert <strong>zu</strong> haben. <strong>Euripides</strong>’ Medeaäußert nicht ihre Gefühle, handelt nach der männlichen Heldenethik und wird durch ihreRache <strong>zu</strong> einer Dämonin. Sie ist göttlicher Abstammung und kann am Schluss fliehen, dasPublikum hat damit die Möglichkeit, die Verantwortung auf die göttliche Ebene <strong>zu</strong>schieben.<strong>Wolf</strong>s Medea entfaltet sich hauptsächlich auf der psychologischen Ebene, ihreWünsche, Hoffnungen, Gefühle und Überzeugungen bestimmen das Verhalten derHeldin. <strong>Die</strong> Gestalt wird aus einer menschlichen Perspektive betrachtet. Medea erfülltmehrere Rollen: als Mutter, Tochter, Schwester, Geliebte, Freundin und letztendlich alsHeilerin und Priesterin.<strong>Die</strong> Autorin erzählt die Geschichte Medeas aus der Perspektive der Heldin.Jahrtausende lang war die Überlieferung der Sagen über Frauen, wie die über Medeaoder Kassandra, ein Monopol der Männer:Sie hatten es nur in der Hand, ob und wie diese Geschichten weitererzählt, umgeformt, umgedeutet und indie Geschichte der immer stärker sich herausbildenden gesellschaftlichen Hierarchie […] des herrschendenPatriarchats eingebaut und aufgehoben wurden (<strong>Wolf</strong> 1999:162).<strong>Wolf</strong> geht von der besonderen Beziehung von Frauen <strong>zu</strong>r Wirklichkeit aus, bestimmt vonsozialen, historischen und psychologischen Vorausset<strong>zu</strong>ngen und fragt sich sogar nach derExistenz eines “weiblichen Schreibens” (<strong>Wolf</strong> 1983:144f). <strong>Die</strong> Dichtung des RomansMedea könnte als Beispiel eines “weiblichen Schreibens” gelten, oder – wie Kritiker


214 L. Mitrache <strong>Studia</strong> Neophil 74 (2002)(Michielsens 1992:132) <strong>Wolf</strong>s Schreiben beschrieben haben – für ein “geschlechtlichesDenken” stehen.Uppsala UniversitetTyska institutionenBox 527SE-75120 UppsalaSchwedenDownloaded By: [University of Tubingen] At: 11:57 10 April 2010LITERATURHINWEISE:Broich, Ulrich und Manfred P ster (Hrsg.) 1985: Intertextualität. Formen, Funktionen anglistische Fallstudien.Tübingen: Niemeyer.Buschor, Ernst 1952: “Zur Heldensage”. In: <strong>Euripides</strong> 1952: Medeia. Hippolytos. Herakles. Drei Tragödienübertragen und erläutert von Ernst Buschor. München: Beck. S. 74–87.<strong>Euripides</strong> 1972: Tragödien. Erster Teil. Medeia. Berlin: Akademie-Verlag.Gerdzen, Rainer und Klaus Wöhler 1991: Matriarchat und Patriarchat in <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>s “Kassandra”.Würzburg: Königshausen.Harder, Ruth E. 1993: <strong>Die</strong> Frauenrollen bei <strong>Euripides</strong>. Untersuchungen <strong>zu</strong> “Alkestis”, “Medeia”, “Hekabe”,“Erechtheus, “Elektra”, “Troades” und “Iphigeneia in Aulis”. [Diss. 1991/92. Zürich]. Stuttgart: M und P,Verl. Für Wiss. und Forschung.Hilzinger, Sonja 1986: <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>. Stuttgart: Metzler.Ketzer Umbach, Rosani 1997: Schweigen oder Schreiben. Sprachlosigkeit und Schreibzweifel im Werk <strong>Christa</strong><strong>Wolf</strong>s (1960–1990). Diss. Berlin: Univ.Lachmann, Renate 1997: “Intertextualität”. In: Ricklefs, Ulfert (Hrsg.) 1997: Das Fischer Lexikon. Frankfurt amMain: Fischer Taschenbuch. S.794–809.Lütkehaus, Ludger (Hrsg.) 2001: Mythos Medea. Leipzig: Reclam.Martinez, Matias und Michael, Scheffel 1999: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck.Michielsens, Magda 1992: “Das Geschlecht des Denkens. <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> und der Unterschied”. In: Vanhelleputte,Michel (Hrsg.) 1992: <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> in feministischer Sicht (Europäische Hochschulschriften : Reihe 1, DeutscheSprache und Literatur; Bd. 1301), Frankfurt am Main: Peter Lang. S 127–133.Mitrache, Liliana 1999: Intertextualität und Phraseologie in den drei Versionen der ‘Panne’ von FriedrichDürrenmatt. Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis.Stanzel, Franz K. 1995: Typische Formen des Romans. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht .Wilke, Sabine 1992: “Kreuz- und Wendepunkte unserer Zivilisation nach-denken : <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong>s Stellung imUmfeld der zeitgenössischen Mythos-Diskussion”. In: Wilke, Sabine 1992: Poetische Strukturen der Moderne.Zeitgenössische Literatur zwischen alter und neuer Mythologie. Stuttgart: Metzler. S. 81–118.<strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1980: Lesen und Schreiben. Neue Sammlung: Essyas, Aufsätze, Reden. Darmstadt: Luchterhand.<strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1983: Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag.[<strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> 1984]: “Gespräche mit <strong>Christa</strong> <strong>Wolf</strong> über Kindheitsmuster, Kassandra u.a. 1983”. In: GermanQuarterly 1/1984, 91–115.<strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1994: “Abschied von Phantomen – Zur Sache: Deutschland”. In: <strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1994: Auf dem Wegnach Tabou. Texte 1990–1994. Köln: Kiepenheuer und Witsch. S. 313–339.<strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1996: Medea. Stimmen. Hamburg: Luchterhand.<strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1999: “<strong>Von</strong> Kassandra <strong>zu</strong> Medea”. In: <strong>Wolf</strong>, <strong>Christa</strong> 1999: Hier<strong>zu</strong>lande. Andernorts. Erzählungenund andere Texte 1994–1998. München: Luchterhand. S. 158–168.

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