13.07.2015 Aufrufe

Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen - narr-shop.de

Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen - narr-shop.de

Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen - narr-shop.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Wolfgang Müller-Funk/Christa Agnes Tuczay(Hrsg.)<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong><strong>Diskurse</strong> <strong>zum</strong> <strong>Übersinnlichen</strong>


<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong>


Wolfgang Müller-Funk / Christa Agnes Tuczay(Hrsg.)<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong><strong>Diskurse</strong> <strong>zum</strong> <strong>Übersinnlichen</strong>


Bibliografische Information <strong>de</strong>r Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>de</strong>r DeutschenNationalbibliografie; <strong>de</strong>taillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.Gedruckt mit Unterstützung <strong><strong>de</strong>s</strong> Bun<strong><strong>de</strong>s</strong>ministeriums für Wissenschaft undForschung in Wien, <strong><strong>de</strong>s</strong> Lan<strong><strong>de</strong>s</strong> Nie<strong>de</strong>rösterreich und <strong><strong>de</strong>s</strong> Lan<strong><strong>de</strong>s</strong> Oberösterreich.Wir danken <strong>de</strong>r Stadt Wien für die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r redaktionellen Arbeiten.© 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 TübingenDas Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong>Verwertung außerhalb <strong>de</strong>r engen Grenzen <strong><strong>de</strong>s</strong> Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung <strong><strong>de</strong>s</strong> Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>de</strong>re fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.Internet: http://www.francke.<strong>de</strong>E-Mail: info@francke.<strong>de</strong>Umschlagabbildung: aus: Abraham Horodisch, Alfred Kubin als Buchillustrator.New York; Verlag <strong>de</strong>r Aldus-Buchcompagnie 1949, S. 36.Druck und Bindung: Laupp + Göbel, NehrenPrinted in GermanyISBN 978-3-7720-8259-7


InhaltWolfgang Müller-Funk/Christa A.Tuczay<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong>: Einleitung................................................................... 7Helmut BirkhanVom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge ............................................................................................. 11Willem <strong>de</strong> BlécourtDer Zauberer und sein Schüler –Die Erzählung und ihr historischer Ursprung ........................................................... 43Christa Agnes TuczayZabulons Buch – auf <strong>de</strong>r Suche nach verborgenen Geheimnissen ........................... 73Sabine SeelbachKathartischer Schrecken und a<strong>de</strong>ptio divinitatis. Metavernünftiges beiGrimmelshausen ........................................................................................................... 97Wolfgang Müller-FunkMesmerismus und Literatur....................................................................................... 115Andrea RudolphÜbergären<strong>de</strong> Naturkräfte in sozialer Perspektive. Politische Metaphernin Heinrich Laubes „Die Bernsteinhexe” (1844)....................................................... 131Ester Saletta„Dann wird <strong>de</strong>r Irrsinn zur Vernunft.” Brochs Roman „Die Verzauberung”zwischen Ursprung und Innovation eines christlich-satanischen Rituals.......... 153Barbara Hindinger„Männliche” Positionen in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m <strong>Okkulten</strong>.Zu Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen <strong><strong>de</strong>s</strong> Malte Laurids Brigge”......... 169Peter Mario Kreuter„Auf <strong>de</strong>m Karlsplatze war es still.” Die Inszenierung Prags als Ort <strong><strong>de</strong>s</strong><strong>Okkulten</strong> bei Leo Perutz und Paul Leppin............................................................... 187Hans Richard BrittnacherZeit <strong>de</strong>r Apathie. Vergangenheit und Untergang in Alfred Kubins„Die an<strong>de</strong>re Seite” ....................................................................................................... 201Franz RottensteinerDie „Seelenwan<strong>de</strong>rungen” <strong><strong>de</strong>s</strong> Paul Busson ............................................................ 219Angela Reinthal„Alchemie <strong><strong>de</strong>s</strong> Poeten“ John Dee (1527–1608) in Gustav Meyrinks Roman„Der Engel vom westlichen Fenster” (1927)............................................................. 235


6 InhaltRobert ZieglerThe Grammar and the Key: Magic, Literature, and Faith in Péladan’s„Le Vice suprême” ........................................................................................................257Marco FrenschkowskiCharles Godfrey Leland (1824–1903) und die Ursprünge <strong>de</strong>r Wicca-Religion.....273Christian StieglerMythenbildung, Fakten und <strong>de</strong>r Nationalsozialismus als politische Religion.Zum Einfluss okkulter Vorstellungen im Dritten Reich ........................................337Johannes HarnischfegerDer Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum:Die Prophetin Ngozi in Südostnigeria......................................................................349Peter MulaczIm Rotlicht erhebt sich ein Taschentuch – und „Fragwürdigstes“ geschiehtim „Zauberberg“...........................................................................................................365Zu <strong>de</strong>n Autorinnen und Autoren .............................................................................401


Wolfgang Müller-Funk/Christa A. Tuczay<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong>: Einleitung„Der 6. Sinn“, Geisterhäuser unterschiedlichster Provenienz, „Ghost – Nachrichtvon Sam“, Stephen Kings altmodische Genrebil<strong>de</strong>r <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Übersinnlichen</strong>,das sind vertraute Zeugnisse <strong>de</strong>r populären Kultur: Das Übersinnliche bewegteund bewegt alle Gemüter. Schon Gottfried Keller formulierte in „DerGeisterseher“:Desto ernster erneuerte sich <strong>de</strong>r Eindruck <strong><strong>de</strong>s</strong> Geschehens; die schnurrige und wi<strong>de</strong>rwärtigeSeite <strong><strong>de</strong>s</strong> Spuks trat zurück vor <strong>de</strong>r Ahnung <strong>de</strong>r endlosen Unruhe einerSeelensubstanz, für die sich, wenn dies Landhaus einst lange vom Erdbo<strong>de</strong>n verschwun<strong>de</strong>nsein wird, dasselbe stets wie<strong>de</strong>r aufbaut […] Erst jetzt, da ich keine Wahlmehr hatte, bescherte mich die übersinnliche Jenseitigkeit mit ihren dunklen Schatten,und ich empfand ein Heimweh wie nach einem Beichtvater. 1Schatten, Schimären, Unsichtbares, in dunklen Ecken Verborgenes o<strong>de</strong>ram Ran<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> Gesichtsfel<strong><strong>de</strong>s</strong>, nichts Greifbares, doch zuweilen laut polterndzerstörerisch eiskalte Gegenwart, ein kalter Hauch <strong>de</strong>r Toten. Was wir nichtsehen, zählt für uns nicht? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? DieGeisterwelt ist nicht verschlossen und es gibt mehr zwischen Himmel undEr<strong>de</strong>?Die thematische Verknüpfung von Okkultismus und Kunst und beson<strong>de</strong>rsdie Verschränkung von Okkultismus und Literatur wur<strong>de</strong>n erst in rezenterZeit vereinzelt wahrgenommen. Thematiken wie Esoterik und Okkultismusrücken mit <strong>de</strong>r populären Inflationierung endlich auch in <strong>de</strong>n Blickpunktverschie<strong>de</strong>ner kulturwissenschaftlicher Forschungen.Der Name Okkultismus, von lat. Occultus: „verborgen“ 2 , die Beschäftigungmit <strong>de</strong>m „natürlich nicht Erklärbaren“ ist in <strong>de</strong>r Occulta Philosophia <strong><strong>de</strong>s</strong>Agrippa von Nettesheim 3 vorweggenommen, jedoch in an<strong>de</strong>rem Sinne alsjener Okkultismus, <strong>de</strong>r das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt faszinierte. Im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt1Keller, Gottfried: Der Geisterseher. Eine Novelle. In: Sämtliche Werke Bd. 2. Frankfurt1985, S. 265.2Melton, J. Gordon [Hrsg.] Encyclopedia of occultism and parapsychologya compendium ofinformation on the occult sciences, magic, <strong>de</strong>monology, superstitions, spiritism, mysticism,metaphysics, psychical sciences, and parapsychology; with biographical and bibliographical notesand comprehensive in<strong>de</strong>xes; in two volumes. Detroit 2001.3Libri tres <strong>de</strong> occulta philosophia o<strong>de</strong>r Drei Bücher <strong>de</strong>r verborgenen Philosophie. Antwerpen1530, gedruckt Paris 1531, erweiterte Ausgabe Köln 1533.


8 Wolfgang Müller-Funk/Christa A. Tuczaythematisieren zeitgenössische Romane, Novellen aber auch die bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>Kunst die Dichotomie von Aberglauben und Okkultismus gegenüber Rationalismusund Aufgeklärtheit. Ausgehend von <strong>de</strong>r im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt von A.L. Constant alias Eliphas Levi 4 geprägten Definition von Okkultismus, voneinem Weltverständnis, das alle Erscheinungen <strong>de</strong>r Welt, die sichtbaren wiedie unsichtbaren, zueinan<strong>de</strong>r in notwendige Beziehungen setzt und außerhalbvon Zeit und Raum auf eine sinnvolle Einheit sich ausgerichtet <strong>de</strong>nkt.Mit <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt tritt mit <strong>de</strong>r von Frankreich ausgehen<strong>de</strong>n „Wie<strong>de</strong>rbelebung“bzw. Neu<strong>de</strong>finition <strong><strong>de</strong>s</strong> Okkultismus eine Wen<strong>de</strong> in seiner Geschichteein, da jetzt abstruseste Praktiken durch eine mehr o<strong>de</strong>r wenigerwissenschaftliche Aufarbeitung historischen Quellenmaterials wichtig genommenund von unterschiedlichen Gesellschaftskreisen und vor allem vonFrauen auch eingesetzt wer<strong>de</strong>n. Eine 1848 von Amerika ausgehen<strong>de</strong> Epi<strong>de</strong>mie<strong><strong>de</strong>s</strong> Tischrückens 5 löste auch in Europa ein massives Interesse am Spiritismusund <strong>de</strong>r Kontaktaufnahme mit <strong>de</strong>n Toten durch Medien aus. Für dieDepression <strong>de</strong>r Zurückbleiben<strong>de</strong>n, die an <strong>de</strong>r Nicht-Kommunikation mit <strong>de</strong>nToten litten, gab es endlich eine Arznei und daher wur<strong>de</strong> diese neue Optionfrenetisch begrüßt.Im Gegensatz zu Frankreich o<strong>de</strong>r England verhält sich die Rezeption <strong>de</strong>rGeheimwissenschaften in Deutschland und Österreich zurückhalten<strong>de</strong>r un<strong>de</strong>rlebt in <strong>de</strong>n Folgejahren <strong><strong>de</strong>s</strong> Ersten Weltkrieges einen Aufschwung. In <strong>de</strong>nzwanziger Jahren <strong><strong>de</strong>s</strong> 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt kristallisieren sich innerhalb <strong><strong>de</strong>s</strong> Spiritismuszwei Richtungen heraus, einerseits soll die Telepathie hinter jedwe<strong>de</strong>raußersinnlicher Wahrnehmung stehen und an<strong>de</strong>rseits die Überzeugung von<strong>de</strong>r Echtheit okkulter Phänomene an sich, entschie<strong>de</strong>n vertreten durch Albertvon Schrenck-Notzing.Joris Huysmans, <strong>de</strong>r sich zu allem <strong>Okkulten</strong> hingezogen fühlte, schreibtin seinem Schlüsselroman Tief unten:Welch bizarre Epoche […]. Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Augenblick, wo <strong>de</strong>r Positivismus mitvollen Backen bläst, erwacht <strong>de</strong>r Mystizismus, und die Narrheiten <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong> beginnenAber so ist es immer gewesen; die Jahrhun<strong>de</strong>rtsen<strong>de</strong>n ähneln sich. Alle4La science <strong><strong>de</strong>s</strong> esprits. Révélation du dogme secret <strong><strong>de</strong>s</strong> kabalistes, ésprit occulte <strong><strong>de</strong>s</strong> Evangiles,appréciation <strong><strong>de</strong>s</strong> doctrines et <strong><strong>de</strong>s</strong> phénomènes spirites. Paris 1976. Secrets <strong>de</strong> la magie. Paris2000. (Beinhaltet die Werke Dogme et rituel <strong>de</strong> la haute magie, Histoire <strong>de</strong> la magie undLa clef <strong><strong>de</strong>s</strong> grands mystères).5du Prel, Carl: Der Spiritismus. Leipzig: 2006; Zum ursprünglich amerikanischen Spiritismus:Bennett, Bridget: Transatlantic spiritualism and nineteenth century American literatureNew York 2007; vgl. <strong>de</strong>n Überblick zu „Spiritualism”. In: Encyclopedia of the Unusualand Unexplained. Bd. I Detroit 2003. S. 133f.


<strong>Faszination</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong>: Einleitung 9schwanken hin und her und sind verwirrt. Wenn <strong>de</strong>r Materialismus zu arg wird, erhebesich die Magie. Dieses Phänomen erscheint alle hun<strong>de</strong>rt Jahre wie<strong>de</strong>r. 6Die sich daraus ergeben<strong>de</strong>n Wahrnehmungsstrukturen und Handlungsmustervon <strong>de</strong>r Antike über das Mittelalter ins 18., 19. und 20. Jahrhun<strong>de</strong>rtsollen vor allem an Literatur und bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Kunst, aber auch an Fach- undGebrauchsliteratur in <strong>de</strong>r Analyse sichtbar wer<strong>de</strong>n. Der Bogen spannt sichvon <strong>de</strong>m mittelalterlichen Begriff <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Okkulten</strong> als einer Geheimwissenschaftund Magie einerseits und <strong>de</strong>r im 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt plötzlich literarisch fassbarenliterarischen Richtung <strong>de</strong>r Geisterdialoge 7 , über okkulte Praktiken <strong>de</strong>rBarockzeit, die Hochblüte im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt bis <strong>zum</strong> Okkultismus als Phänomen<strong>de</strong>r Pop-Kultur. Die epochenspezifische Uneinheitlichkeit <strong><strong>de</strong>s</strong> Begriffsverständnissesund die daraus resultieren<strong>de</strong>n unterschiedlichen Positionenim kreativen Schaffen sogar innerhalb einer Epoche wer<strong>de</strong>n zusätzlichgebrochen durch die verschie<strong>de</strong>nen Positionen <strong>de</strong>r Geschlechter in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzungmit <strong>de</strong>m <strong>Übersinnlichen</strong>. Dass ein so facettenreiches Phänomenkein homogenes Bild ergibt, steht außer Zweifel, macht aber gera<strong>de</strong><strong><strong>de</strong>s</strong>sen <strong>Faszination</strong> aus.6Huysmans, Joris: Tief unten. Zürich 1987, S. 269.7Vgl. Schmitt, Jean-Clau<strong>de</strong>: Ghosstss in the Middle Ages. The Living and the Dead inMedieval Society. University of Chicago 1998, S. 149ff.


Helmut BirkhanVom Schrecken <strong>de</strong>r DingeDas Märchen Nr. 41 <strong>de</strong>r Grimmschen Sammlung „Der Herr Korbes“ lautet: 1Es war einmal ein Hühnchen und ein Hähnchen, die wollten zusammen eine Reisemachen. Da baute das Hähnchen einen schönen Wagen, <strong>de</strong>r vier rote Rä<strong>de</strong>r hatte, undspannte vier Mäuschen davor. Das Hühnchen setzte sich mit <strong>de</strong>m Hähnchen auf, undsie fuhren miteinan<strong>de</strong>r fort. Nicht lange, so begegnete ihnen eine Katze, die sprach:„Wo wollt ihr hin?“ Hähnchen antwortete:„Als hinausNach <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn Korbes seinem Haus.“„Nehmt mich mit“, sprach die Katze. Hähnchen antwortete: „Recht gerne, setz dichhinten auf, daß du vornen nicht herabfällst.Nehmt euch wohl in acht,Daß ihr meine roten Rä<strong>de</strong>rchen nicht schmutzig macht.Ihr Rä<strong>de</strong>rchen, schweift,Ihr Mäuschen, pfeift,Als hinausNach <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn Korbes seinem Haus.“Danach kam ein Mühlstein, dann ein Ei, dann eine Ente, dann eine Steckna<strong>de</strong>l undzuletzt eine Nähna<strong>de</strong>l, die setzten sich auch alle auf <strong>de</strong>n Wagen und fuhren mit.Wie sie aber zu <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn Korbes Haus kamen, so war <strong>de</strong>r Herr Korbes nicht da. DieMäuschen fuhren <strong>de</strong>n Wagen in die Scheune, das Hühnchen flog mit <strong>de</strong>m Hähnchenauf eine Stange, die Katze setzte sich ins Kamin, die Ente in die Bornstange, 2 das Eiwickelte sich ins Handtuch, die Steckna<strong>de</strong>l steckte sich ins Stuhlkissen, die Nähna<strong>de</strong>lsprang aufs Bett mitten ins Kopfkissen, und <strong>de</strong>r Mühlstein legte sich über die Türe.Da kam <strong>de</strong>r Herr Korbes nach Haus, ging ans Kamin und wollte Feuer anmachen, dawarf ihm die Katze das Gesicht voll Asche. Er lief geschwind in die Küche und wolltesich abwaschen, da sprützte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Er wollte sich an <strong>de</strong>mHandtuch abtrocknen, aber das Ei rollte ihm entgegen, zerbrach und klebte ihm dieAugen zu. Er wollte sich ruhen und setzte sich auf <strong>de</strong>n Stuhl, da stach ihn die Steckna<strong>de</strong>l.Er geriet in Zorn und warf sich aufs Bett, wie er aber <strong>de</strong>n Kopf aufs Kissen nie<strong>de</strong>rlegte,stach ihn die Nähna<strong>de</strong>l, so daß er aufschrie und ganz wütend in die weiteWelt laufen wollte. Wie er aber an die Haustür kam, sprang <strong>de</strong>r Mühlstein herunterund schlug ihn tot.Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein.1Zitiert nach: Brü<strong>de</strong>r Grimm, Kin<strong>de</strong>r– und Hausmärchen. Nach <strong>de</strong>r Großen Ausgabevon 1857, textkritisch revidiert, kommentiert und durch Register erschlossen, hg. Hans–Jörg Uther, 2 München 1996, [= KHM] I, 212f.2Anscheinend soviel wie bornrohr ‘Brunnenrohr’ als Wasserzufluß in <strong>de</strong>r Küche (?).


12 Helmut BirkhanDas Märchen KHM 41 gehört vor<strong>de</strong>rgründig zu AaTh 210 „Tiere aufWan<strong>de</strong>rschaft“, so wie auch KHM 10 „Das Lumpengesin<strong>de</strong>l“, KHM 27 „DieBremer Stadtmusikanten“ und KHM 58 „Der Hund und <strong>de</strong>r Sperling“. In gewisserWeise läßt sich auch KHM 18 „Strohhalm, Kohle und Bohne“ vergleichen,obwohl die darin auftreten<strong>de</strong>n Aktanten keine Tiere sind.Ich möchte in dieser kleinen Studie jedoch nicht die Tiere in <strong>de</strong>n Mittelpunktstellen, son<strong>de</strong>rn die sonst als unbelebt angesehenen Objekte, die ja, wieauch in KHM 18, autonom han<strong>de</strong>ln. Also Ei, Steckna<strong>de</strong>l, Nähna<strong>de</strong>l, Mühlstein,Bohne, Strohhalm und Kohle. Während sich für die letzten bei<strong>de</strong>n dieAutonomie fatal auswirkt und bei <strong>de</strong>r Bohne <strong>de</strong>r Untergang nur durch dasDazwischentreten <strong><strong>de</strong>s</strong> Schnei<strong>de</strong>rs verhin<strong>de</strong>rt wird, triumphieren die erstgenanntenvier Dinge durchaus. Das Wirken <strong>de</strong>r ersten drei läßt sich noch alsSchabernack bestimmen, so auch in KHM 10, <strong>de</strong>r stürzen<strong>de</strong> Mühlstein wirdaber gewissermaßen <strong>zum</strong> „Mör<strong>de</strong>r“. Spätestens hier erkennen wir, daß dasautonome Dingwirken keineswegs geheuer ist. Wie die Varianten bei Bolte-Polívka zeigen, 3 gehört öfters auch ein kneifen<strong>de</strong>r Krebs <strong>zum</strong> „Lumpengesin<strong>de</strong>l“,<strong>de</strong>r Mühlstein ist zwar auf die <strong>de</strong>utsche Tradition beschränkt, dafürerscheinen aber in <strong>de</strong>n fernöstlichen ähnliche schwere Gegenstän<strong>de</strong>, welchedie böse Alte – die Funktion <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn Korbes als „Opfer“ fällt hier meisteiner alten Frau zu – erschlagen. So im indischen Märchen, wo Ei, Reisschälerund Reismörser die Untat vollbringen, im malaiischen Märchen ziehen Maus,Garnele, Tausendfuß, Laufhuhn, Aal, Na<strong>de</strong>l und Amboß auf Abenteuer aus.Im japanischen Märchen rächen ein Ei, die Biene, <strong>de</strong>r Seetang, <strong>de</strong>r Reismörserund die Mörserkeule die Mißhandlung <strong>de</strong>r Krabbe am Affen. 4 Die mitwirken<strong>de</strong>nDinge o<strong>de</strong>r Tiere sind oft relativ unbe<strong>de</strong>utend und klein: Ei<strong>de</strong>chse,Schlange, Kalajatfisch, ein Weichtier, Ameise, Feuerstein, Ferkelkot,Schleifstein.Das Unheimliche mancher Dinge tritt beson<strong>de</strong>rs bei AaTh 334 „Haushalt<strong>de</strong>r Hexe“ hervor. Dazu gehören KHM 42 „Der Herr Gevatter“ und KHM 43<strong>de</strong>r Ausgaben vor 1837 „Die wun<strong>de</strong>rliche Gasterei“ 5 , in <strong>de</strong>r eine Leberwursteine befreun<strong>de</strong>te Blutwurst besucht und im Treppenhaus ähnlich erstaunlicheDinge wahrnimmt, wie <strong>de</strong>r Besucher <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn Gevatter. Die jeweiligenBesucher sehen <strong>de</strong>n Zank zwischen Schippe und Besen, einen verwun<strong>de</strong>tenAffen (in <strong>de</strong>r „Gasterei“), eine Menge toter Finger, ein Haufen toter Köpfe,und sich selbst braten<strong>de</strong> Fische in KHM 42. Wichtig ist dabei, daß die Leichenteileebenso wie die Fische sinnvolle Auskunft geben, d. h. verständighan<strong>de</strong>ln können. Die dahinterstehen<strong>de</strong> Dämonengestalt (<strong>de</strong>r Gevatter, bzw.die mör<strong>de</strong>rische Blutwurst) versucht <strong>de</strong>n Argwohn <strong><strong>de</strong>s</strong> Besuchers zu zerstreuen,in<strong>de</strong>m sie rational-hausbackene Erklärungen abgibt, die das Ge-3Anmerkungen zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r– und Hausmärchen <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r Grimm, neu bearb. vonJohannes Bolte und Georg Polívka, I, Leipzig 1913, 75f.4Ibid. I, 77–79.5Abgedruckt ibid. I, 375f.


Vom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge 13schaute als Sinnestäuschung entlarven und bagatellisieren sollen. Als dieLeberwurst sich nach <strong>de</strong>n seltsamen Dingen erkundigte, tat die Blutwurstaber, „als hörte sie es nicht o<strong>de</strong>r als sei es nicht <strong>de</strong>r Mühe wert, davon zusprechen, o<strong>de</strong>r sie sagte etwa von <strong>de</strong>r Schippe und <strong>de</strong>m Besen: ‘Es wird meineMagd gewesen sein, die auf <strong>de</strong>r Treppe mit jemand geschwätzt’ undbrachte die Re<strong>de</strong> auf etwas an<strong>de</strong>res.“ In gleicher Weise erklärt <strong>de</strong>r Herr Gevatterdie seltsamen Dinge einfach weg: Schippe und Schaufel waren Knechtund Magd, die miteinan<strong>de</strong>r sprachen. Die toten Finger waren Skorzenerwurzeln,die Totenköpfe Krautköpfe und als gera<strong>de</strong> die sich selbst braten<strong>de</strong>nFische als „normal“ erklärt wer<strong>de</strong>n sollen, „kamen die Fische und trugen sichselber auf.“ 6Auch KHM 43 „Frau Tru<strong>de</strong>“ läßt sich vergleichen, wenn auch die Wesenim Stiegenhaus schreckliche Männer sind, die das fürwitzige Mädchen, dasdie Frau Tru<strong>de</strong> besuchte, erbleichen lassen: <strong>de</strong>r schwarze Mann soll ein Köhler,<strong>de</strong>r grüne ein Jäger und <strong>de</strong>r rote ein Metzger gewesen sein. Während dieLeberwurst vor <strong>de</strong>r blutgierig das Messer wetzen<strong>de</strong>n Blutwurst und <strong>de</strong>r Besucher,<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Herrn Gevatter durch das Schlüsselloch gehörnt gesehenhatte, noch rechtzeitig flüchten können, verwan<strong>de</strong>lt Frau Tru<strong>de</strong> das Mädchenin einen Holzblock, <strong>de</strong>n sie ins Feuer wirft. Sie wärmt sich an <strong>de</strong>r Glut undspricht: „’Das leuchtet einmal hell!’“ 7Daß die seltsamen Erscheinungen hier in Stiegenhäusern mör<strong>de</strong>rischero<strong>de</strong>r dämonisch-teuflischer Wesen auftauchen, erhöht <strong>de</strong>ren Horrorwirkung,wäre aber auch sonst gegeben. Sie tritt ganz <strong>de</strong>utlich auch bei Franz Kafkas„Odra<strong>de</strong>k“ in <strong>de</strong>r „Sorge <strong><strong>de</strong>s</strong> Hausvaters“ (1919) 8 zu Tage. Es ist eine absur<strong>de</strong><strong>Faszination</strong>, die von <strong>de</strong>m stelzbeinigen Garnstern mit <strong>de</strong>n verfitzten Zwirnresten,seiner Launenhaftigkeit und seinem „lungenlosen“ Lachen ausgeht.So lächerlich Odra<strong>de</strong>k für sich genommen sein könnte, seine unberechenbarePermanenz, die Vorstellung, daß Odra<strong>de</strong>k vielleicht Generationen überdauernkann, macht <strong>de</strong>m Hausvater Sorgen und ist ihm „eine fast schmerzliche“.Stark ist die Horrorwirkung, wenn losgelöste Körperteile auftreten. Wirkönnen dies in Josef Haslingers „Opernball“ beobachten, wo leberkäsesemmelkauen<strong>de</strong>Polizisten einen abgetrennten kleinen Finger in <strong>de</strong>r Wiener O-pernpassage fin<strong>de</strong>n. Der Autor erzählte mir, daß bei seinen Romanlesungendieses Detail beson<strong>de</strong>re Emotionen auszulösen pflegte. Diese <strong>Faszination</strong>ließe sich noch steigern, wenn <strong>de</strong>r Finger nicht nur in unangemessener Weiseisoliert daläge, son<strong>de</strong>rn etwa noch zuckte. Das hätte freilich nicht in <strong>de</strong>n völligrealistischen Roman Haslingers gepaßt und bliebe etwa <strong>de</strong>m Horrorfilmvorbehalten, wo mitunter dahinkriechen<strong>de</strong> abgeschlagene Hän<strong>de</strong> erscheinen,6KHM I, 215.7KHM I, 216.8In: Ein Landarzt, in: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hg. Wolf Kittler, Hans-GerdKoch, Gerhard Neumann, Frankfurt/Main – New York, 1994, 282-284.


14 Helmut Birkhano<strong>de</strong>r wenn bei „Neithart Fuchs“ von <strong>de</strong>n abgeschlagenen Fingern <strong>de</strong>r Bauerngesagt wird, daß sie wie Heuschrecken im Gras hüpfen (2028): 9so hacken wir die vinger, daz si springen,vnd das man si sicht über alsam die heischreckel hupfen in <strong>de</strong>m graß…Daß die Hän<strong>de</strong>, wie übrigens auch an<strong>de</strong>re Organe, von sich aus eine charakteristischeLebenskraft besitzen, zeigte Maurice Renard in <strong>de</strong>m psychologischenHorrorroman „Les Mains D’Orlac“ (1921). Darin verliert ein Pianistbei einem Unfall bei<strong>de</strong> Hän<strong>de</strong>. Jedoch ein Chirurg näht <strong>de</strong>m Bewußtlosen dieHän<strong>de</strong> eines eben guillotinierten Mör<strong>de</strong>rs an. Nicht nur, daß die Hän<strong>de</strong>nunmehr <strong>zum</strong> Klavierspiel kaum zu gebrauchen sind, sie scheinen auch einschreckliches, mör<strong>de</strong>risches Eigenleben zu entwickeln. Am Höhepunkt <strong>de</strong>rStummfilmzeit wur<strong>de</strong> 1924 das Werk von Robert Wiene verfilmt, <strong>de</strong>r schon„Das Cabinett <strong><strong>de</strong>s</strong> Dr. Caligari“ gedreht hatte. Die Rolle <strong><strong>de</strong>s</strong> Chirurgen spieltehier Fritz Kortner. In <strong>de</strong>r zweiten Verfilmung (USA 1935) durch KarlFreund wur<strong>de</strong> sie von Peter Lorre verkörpert.Unter <strong>de</strong>n Grimmschen Märchen gehört natürlich KHM 118 „Die dreiFeldscherer“ dazu, in <strong>de</strong>m das Problem <strong>de</strong>r Organtransplantation anklingt.Als die von <strong>de</strong>n Feldscherern <strong>de</strong>r Wirtstochter zur Aufbewahrung übergebenenOrgane von <strong>de</strong>r Katze gefressen wer<strong>de</strong>n, muß sie die Hand durch dieeines gera<strong>de</strong> am Galgen hängen<strong>de</strong>n Diebes, die Augen durch die einer Katzeund das Herz durch ein Schweineherz ersetzen. Das Ergebnis ist leicht vorhersehbar.Die eingesetzten falschen Augen kommen schon in <strong>de</strong>n Gesta Romanorum(En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> 13. Jh.s) und in einem m#re <strong><strong>de</strong>s</strong> Strickers „Das Katzenauge“10 vor. Ein König, <strong>de</strong>r ein Auge verloren hat, erhält von einem Arzt einKatzenauge eingesetzt. Doch nun stellt sich heraus, daß <strong>de</strong>r König grußlosseine treuesten Vasallen übersieht, weil das Katzenauge ständig Mäuse aufspürenwill. 11Der Stricker sagt in diesem Zusammenhang: die natur ist <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>r got, alsodie „zweite Gottheit“, die eben die Dinge – in diesem Fall das Katzenauge –aus sich heraus so han<strong>de</strong>ln läßt, wie die Natur es vorgesehen hat. Der „An<strong>de</strong>-9Narrenbuch, hg. Felix Bobertag (= Deutsche Natinal Litteratur 11), Berlin Stuttagrt 1884(Nachdruck: Tokyo – Tübingen 1974), 223. Dazu: Die Historien <strong><strong>de</strong>s</strong> Neithart Fuchs.Nach <strong>de</strong>m Frankfurter Druck von 1566, in Abb. hg. Erhard Jöst (= Litterae 49), Göppingen1980, 46v-47r. Der Holzschnitt auf 46r zeigt eine im Gras liegen<strong>de</strong> abgeschlageneHand mit gespreizten Fingern, die tatsächlich einen Sprung anzu<strong>de</strong>uten schein.10Die Kleindichtung <strong><strong>de</strong>s</strong> Strickers, hg. von Wolfgang Wilfried Moelleken, Gayle Aglerund Robert E. Lewis (= GAG 107), Göppingen 1973–1978, I, Nr. 2.11Es wäre erstaunlich, wenn die gelegentliche Verwendung tierischer Organe (vor allemvom Schwein und Affen) in <strong>de</strong>r Transplantationsmedizin keine mo<strong>de</strong>rnen Sagen diesesTyps hervorbringen wür<strong>de</strong>n. Ich muß jedoch einräumen, keine solche Tradition bishergefun<strong>de</strong>n zu haben.


Vom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge 15re Gott“ ist das sich aus seinem Wesen artikulieren<strong>de</strong> Seinsprinzip <strong><strong>de</strong>s</strong> Dinges,eben seine „Natur“.Wir können zusammenfassend sagen, daß die bisher berührten Erzählungeneinen mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r großen Schock- und Horroreffekt bewirkenkönnen, und zwar durch die <strong>de</strong>n dinglichen Gegenstän<strong>de</strong>n, nie<strong>de</strong>ren Tieren,bzw. abgetrennten Körperteilen innewohnen<strong>de</strong> charakteristische Kraft, diesich in eigenständigem Han<strong>de</strong>ln manifestiert, und die ich in Anlehnung andie Strickersche Formulierung eine spezifische Manifestation <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>renGott“ nennen wer<strong>de</strong>. Ein an<strong>de</strong>rer – gleichfalls sehr treffen<strong>de</strong>r – von Karl SigismundKramer verwen<strong>de</strong>ter Begriff ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „Dingbeseelung“. 12 Gemeintist stets ein jeglichem Ding inhärentes Wesensprinzip im Sinne von Eigenschaft-Habens,das sich immer wie<strong>de</strong>r autonom äußern und unsere Pläne mit<strong>de</strong>n Dingen konterkarieren kann. Wie das Märchen vom Herrn Gevatterzeigt, ist zwischen autonom han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n (Besen und Schippe)und organischen Elementen wie abgetrennten Fingern und Köpfen keingrundsätzlicher, son<strong>de</strong>rn, wie <strong>de</strong>r dreistufige Aufbau lehrt, nur ein Intensitätsunterschied.Dabei ist gleich zu sagen, daß frei agieren<strong>de</strong> abgetrennteKörperteile nicht eo ipso als Horrorelemente angesehen wer<strong>de</strong>n müssen,son<strong>de</strong>rn daß dieses Element kontextuell bedingt ist.Bei unserem Kin<strong>de</strong>rvers: „Das ist <strong>de</strong>r Daumen, <strong>de</strong>r schüttelt die Pflaumen,<strong>de</strong>r hebt sie auf …“ fehlt das horrorkonstituieren<strong>de</strong> Element, weil die Fingernicht abgetrennt sind und keine negativen Funktionen ausführen. Daß man<strong>de</strong>n Fingern ein gewisses sogar dämonisches Eigenleben zubilligt, geht aus<strong>de</strong>m „Jeman<strong>de</strong>m-<strong>de</strong>n-Daumen-Halten“ hervor, was die Römer, wie wir vonPlinius wissen, pollicem premere nannten und ganz in <strong>de</strong>m ange<strong>de</strong>uteten Sinnverstan<strong>de</strong>n. 13 Wenn die dämonische Manifestation <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>ren Gottes“ von<strong>de</strong>r Hand eingeschlossen wird, kann sie we<strong>de</strong>r direkt noch per AnalogiezauberUnheil stiften. Erst vor kurzem wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Lebenshilfe-Seiten <strong><strong>de</strong>s</strong> Boulevard-Blattes„Die Kronenzeitung“ empfohlen, Wutanfälle und an<strong>de</strong>re starkeErregungen dadurch nie<strong>de</strong>rzukämpfen, daß man <strong>de</strong>n Mittelfinger mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>renHand umfängt und so eine Zeit lang festhält. Der Mittelfinger galt <strong>de</strong>mMittelalter als <strong>de</strong>r „freche“ o<strong>de</strong>r „ungezogene“, weil er beim Anfassen eines12Die Dingbeseelung in <strong>de</strong>r germanischen Überlieferung (= Beiträge zur Volkstumsforschung5), München 1940. Vgl. Karl Sigismund Kramer, Dingbe<strong>de</strong>utsamkeit, -beseelung,in: Reallexikon <strong>de</strong>r Germanischen Altertumskun<strong>de</strong> 5 (1984), 465f. Dort auchweitere Literaturhinweise. Kramer ersetzte später <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r „Dingbeseelung“durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r „Dingbe<strong>de</strong>utsamkeit“, um <strong>de</strong>r Einengung auf animistische Vorstellungenvorzubeugen. In <strong>de</strong>m von mir diskutierten Zusammenhang <strong><strong>de</strong>s</strong> autonomen Dinghan<strong>de</strong>lnsist jedoch „Dingbeseelung“ durchaus brauchbar, so lange wir nicht an einebestimmte eingeengte Seelenvorstellung <strong>de</strong>nken.13Im Film „The Night of the Hunter“ (Charles Laughton 1955) hat <strong>de</strong>r verbrecherischePrediger Harry Powell seine Hän<strong>de</strong> mit „Hate“ und „Love“ markiert und beeindrucktseine Zuseher, in<strong>de</strong>m er Haß und Liebe miteinan<strong>de</strong>r ringen läßt.


16 Helmut BirkhanObjektes dieses gewöhnlich als erster berührt. 14 In <strong>de</strong>m Gespielinnenlied Nr.XV singt Burkhart von Hohenvels: 15ich hân fun<strong>de</strong>n mir ein spil:<strong>de</strong>r mir mînen vinger bin<strong>de</strong>t,sô wünsch ich doch swaz ich will.‚Ich hab mir ein Spiel erdacht: auch wenn man mir <strong>de</strong>n Finger festbin<strong>de</strong>t,so wünsch ich mir doch, was ich will.’ Der frei bewegliche Finger erscheint indiesem Kontext als das magische Organ, das Wunsch (und Wunschverwirklichung?)ermöglicht.Auch wenn Körperteile autonom han<strong>de</strong>ln, löst das nicht immer Horroraus; beim Penis ist diese „Autonomie“ <strong>de</strong>r Normalfall und <strong>de</strong>r in ihm wirken<strong>de</strong>„An<strong>de</strong>re Gott“ war <strong>de</strong>n Theoretikern <strong>de</strong>r „Paradiesehe“ ein Dorn imAuge. Hätte es keinen Sün<strong>de</strong>nfall gegeben und wären wir noch im Paradies,so hätten sich die Menschen mittels willkürlich bewirkter und von keinererotischen Sensation begleiteten Erektion <strong><strong>de</strong>s</strong> Penis fortgepflanzt. 16 Die Unberechenbarkeit– und auch Unzuverlässigkeit – <strong>de</strong>r Erektion war bekanntlichAnlaß zu vielen magischen Praktiken, <strong>zum</strong> Vorwurf magischer Verzauberungdurch Hexen, zu vielen Metaphern, Witzen und <strong>de</strong>rgleichen.Berühmt sind die autonom han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n von ihren Besitzern losgelöstenGenitalien in mittelhoch<strong>de</strong>utschen Schwankmären wie „Gold und zers“ 17 aus<strong>de</strong>r Zeit um 1300. Einst hätte <strong>de</strong>r zers, <strong>de</strong>r damals noch zwei Augen hatte,mitangehört, wie sich die Frauen im Streit, ob ihnen Gold o<strong>de</strong>r zers lieberwären, für ersteres entschie<strong>de</strong>n. Erst als <strong>de</strong>r beleidigte zers das Land verlassenhatte, merkten die Frauen, wie sehr sie auf ihn angewiesen waren. Als ernun zurückkehrt, reißen ihm die Frauen die Augen aus, damit er – nunmehrblind – nicht mehr davonlaufen könne. Allerdings hängt sich eine fürwitzige14So sagt die „Wiener Genesis“:<strong>de</strong>r dritte heizet ungezogen,wan<strong>de</strong> er ilit sich furnemen:suare diu hant reichet,allereriste er iz pegrifet.‘Der dritte (Finger) heißt <strong>de</strong>r „Ungezogene“ (besser: „Unbeschei<strong>de</strong>ne“), weil er vorauseiltund als erster berührt, wonach die Hand reicht.’15Carl v. Kraus, Deutsche Lie<strong>de</strong>rdichter <strong><strong>de</strong>s</strong> 13. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Bd. I (Text), Tübingen 1952,47.16Michael Müller, Die Lehre <strong><strong>de</strong>s</strong> hl. Augustinus von <strong>de</strong>r Paradiesehe und ihre Auswirkungenin <strong>de</strong>r Sexualethik <strong><strong>de</strong>s</strong> 12. und 13. Jahrhun<strong>de</strong>rts bis Thomas von Aquin, Regensburg1954. Im „Lucidarius“ antwortet <strong>de</strong>r Meister auf die Frage <strong><strong>de</strong>s</strong> Schülers, wiesich die Menschen fortgepflanzt hätten, wenn sie im Paradies geblieben wären: alse menzwo hen<strong>de</strong> zesamene sleiht ane gelust un<strong>de</strong> ane sun<strong>de</strong>; Lucidarius, hg. Felix Heidlauf (=DTM 28), Berlin 1915, 7.17Hg. Hanns Fischer (Hg.), Die <strong>de</strong>utsche Märendichtung <strong><strong>de</strong>s</strong> 15. Jahrhun<strong>de</strong>rts (MTU 12),München 1966, Anhang Nr. 3a, 3b, 431-443; dazu: Werner Williams-Krapp, ‘Gold undZers’, in: Die <strong>de</strong>utsche Literatur <strong><strong>de</strong>s</strong> Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. K. Ruh et alii, 3,Sp. 76f.


Vom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge 17Nonne die zers-Augen an einer Schnur <strong>zum</strong> Schmuck um <strong>de</strong>n Hals. Dawachsen sie fest und seit<strong>de</strong>m haben die Frauen Brüstchen mit Brustwarzen.Daß dies richtig ist, läßt sich dadurch erweisen, daß sich <strong>de</strong>r zers sogleich in<strong>de</strong>r Hoffnung, seine Augen wie<strong>de</strong>r zu erlangen, aufrichtet, wenn ein Manndie Brüste anfaßt. Noch burlesker ist das mære vom „Nonnenturnier“, 18 wo<strong>de</strong>r abgetrennte zagel unter <strong>de</strong>n Nonnen eines Klosters Verwirrung stiftet,bevor er zu seinem früheren Besitzer „heimkehrt“.Umgekehrt verstößt im „Rosendorn“ 19 eine Frau ihre vut nach einer langenDebatte mit ihr. Diese schweift nun allein durch die Welt, wird aber wegenihrer Häßlichkeit oft für eine Kröte gehalten und getreten. Sie kehrt gernewie<strong>de</strong>r zu ihrer Herrin zurück, die inzwischen auch gemerkt hat, daß sieohne vut bei <strong>de</strong>n Männern keinen Anwert besitzt. Die re<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Vulva erscheintdann wie<strong>de</strong>r im „Ring“ <strong><strong>de</strong>s</strong> Heinrich Wittenwiler (um 1415).So berechtigt es ist, die groteske Vorstellung <strong>de</strong>r eigenständig han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>nGenitalien als eine Form <strong>de</strong>r Dämonisierung <strong>de</strong>r Geschlechtlichkeit 20 anzuseheno<strong>de</strong>r nach Michail Bachtin aus <strong>de</strong>m „karnevalistischen Weltempfin<strong>de</strong>n“ 21zu erklären und als eine Art von Gegenentwurf zur strengen religiösen Konzeption<strong>de</strong>r Kirche aufzufassen, die abenteuern<strong>de</strong>n Pu<strong>de</strong>nda gehören auchzu <strong>de</strong>n dahinkriechen<strong>de</strong>n abgetrennten Hän<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n re<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n abgeschlagenenKöpfen! Auch hier scheinen „Dinge“ autonom zu han<strong>de</strong>ln, wasdurchaus als Horror empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n könnte, wenn <strong>de</strong>r Schrecken nichtdurch die Lust am Pikanten paralysiert wäre. Die dämonische Komponente<strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>ren Gottes“ <strong><strong>de</strong>s</strong> autonomen Dinges ist durchaus vorhan<strong>de</strong>n undkann sich mitteilen, allerdings hier nicht in spezifischer Weise, <strong>de</strong>nn diephantasierten Bewegungen <strong>de</strong>r wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Pu<strong>de</strong>nda gehören nicht zu ihrenüblichen „motorischen“ Aktionen.Daß abgetrennten Körperteilen noch etwas von <strong>de</strong>r Lebenskraft <strong><strong>de</strong>s</strong> Körpers,von <strong>de</strong>m sie genommen sind, innewohnt, ist zwar phantastisch – aberdoch nicht so schwer vorstellbar. Denken wir an ein Bein <strong><strong>de</strong>s</strong> Weberknechts,das – ausgerissen – noch stun<strong>de</strong>nlang nachzuckt! Die im Körperteil gespeicherteLebenskraft läßt ihn als Apotropaion geeignet erscheinen, wobei <strong>de</strong>r„vernünftige“ Gedanke, daß die Böses abwehren<strong>de</strong> Lebenskraft wie dieSpannung einer Batterie allmählich aufgebraucht wer<strong>de</strong>n müßte, interessan-18Hg. Hanns Fischer (1966) Nr. 3, 31-47.19Zugänglich in: Gesammtabenteuer. Hun<strong>de</strong>rt alt<strong>de</strong>utsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären,Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke, Wun<strong>de</strong>rsagen und Legen<strong>de</strong>n …meist <strong>zum</strong> erstenmal gedruckt und herausgegeben von Friedrich Heinrich von <strong>de</strong>r Hagen,3 B<strong>de</strong>, Stuttgart – Tübingen 1850. III, Nr. 53, 21-28. Dazu: Werner Schrö<strong>de</strong>r, ‘DerRosendorn’, in: Verf.–Lex. 8, Sp. 182-185.20Dazu Helmut Birkhan, Sozialer Umbruch in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur <strong><strong>de</strong>s</strong> Spätmittelalters,in: Wissenschaft und Weltbild 29, Wien 1976, S. 43-55.21Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus <strong>de</strong>mRussischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexan<strong>de</strong>r Kaempfe, München1969, 25ff.


18 Helmut Birkhanterweise nicht <strong>zum</strong> Tragen kommt. Die im White Tower befindliche tête coupée<strong><strong>de</strong>s</strong> kymrischen mythischen Hel<strong>de</strong>n Bendigeitvran hat von seiner Installationbis zur Zeit Arthurs nichts an apotropäischem Vermögen eingebüßt undalle Invasoren aus <strong>de</strong>m Osten von Britannien ferngehalten. 22 Auch die Körperteilreliquien<strong>de</strong>r Heiligen lassen in ihrer Wirkung nicht nach. SteinerneGenitalien am romanischen Kirchenportal von St. Stephan in Wien haltenauch heute noch das Böse fern und notorische Lebensträger wie Blut undSputum verlieren im Märchen ihre Kraft nicht.Bei <strong>de</strong>n leblosen Dingen o<strong>de</strong>r Sachen im engeren Sinn ist die wirkmächtigePräsenz <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>ren Gottes“ schon schwerer nachzuvollziehen, obwohlsich die „Lebendigkeit“ ganz alltäglich z. B. in <strong>de</strong>r Benennung, sowohl<strong>de</strong>r appellativischen als auch <strong>de</strong>r onomastischen, ausdrücken kann. Der erstgenannteTyp begegnet in dt. Jacke und Jackett, wienerisch Janka, franz. jacqueund jacquette, engl. jacket (alle zu Jakob), wiener. Joschi ‘Mantel’ (zu Josef), dt.Heinzelbank (zu Heinz als vertrauliche Benennung), wiener. Doschnfeidl ‘min<strong>de</strong>rwertigesTaschenmesser’ (nach Veit), <strong>de</strong>r letztgenannte als Eigenname in<strong>de</strong>r feierlichen Benennung o<strong>de</strong>r „Taufe“ bestimmter Dinge wie Fahrzeuge(vor allem Schiffe) o<strong>de</strong>r Glocken o<strong>de</strong>r auch in Augenblicksbildungen, wiewenn ein Schweizer Senn seinen Bergstock Joggili nennt 23 o<strong>de</strong>r man vom Geschirrspülerals Minna spricht. Daneben ist die positiv o<strong>de</strong>r neutral geseheneDingbeseelung ein beliebtes literarisches Motiv. Wir brauchen nur an Goethes„Wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Glocke“ o<strong>de</strong>r bekannte Morgenstern-Gedichte erinnern,wie das vom durch Angst belebten Butterbrotpapier o<strong>de</strong>r das vom spukhaftennächtlichen Treiben <strong>de</strong>r Kleidungsstücke, die allerdings gebil<strong>de</strong>t genugsind, nicht re<strong>de</strong>n zu wollen („… ohne Mund entsteht kein Ton/ lernten sieals Kin<strong>de</strong>r schon/ und so re<strong>de</strong>n Rock und Weste/ lediglich in stummer Geste…“),bis dann eine Spitzenbluse in ihrer Not, doch zu wimmern und zuschreien beginnt. 24Beson<strong>de</strong>rs in Grenzsituationen vermeint ein Beobachter ein gewisses,meist als gespenstisch empfun<strong>de</strong>nes Eigenleben <strong>de</strong>r Dinge zu beobachten:Obwohl Jonas, <strong>de</strong>r Held <strong><strong>de</strong>s</strong> Romans „Die Arbeit <strong>de</strong>r Nacht“ schon erkannthat, daß außer ihm selbst alles animalische Leben von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> getilgt ist, hater doch <strong>de</strong>n Eindruck, daß sich bestimmte Dinge (wie etwa Schuhe), währen<strong>de</strong>r sie nicht beobachtet, in ihrer Position verän<strong>de</strong>rn und stellt eine Mengevon Vi<strong>de</strong>okameras auf, die <strong>de</strong>r Sache auf <strong>de</strong>n Grund gehen sollen. 2522Die Annahme liegt nahe, daß eine vergleichbare apotropäische Wirkung auch sonst von<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich zur Schau gestellten têtes coupées (etwa in Roquepertuse o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n picardischenOpferheiligtümern) ausgehen sollte.23Kramer (1940), 72.24Christian Morgenstern, Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, III. HumoristischeLyrik, hg. Maurice Cureau, Stuttgart 1990, 136f., 145-147. Belebte Dinge sind aber in <strong>de</strong>rgrotesken Lyrik Morgensterns auch sonst keineswegs selten.25Thomas Glavinic, Die Arbeit <strong>de</strong>r Nacht, München – Wien 2006.


Vom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge 19Höchst eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang H. C. Artmanns Gedicht„wos unguaz“:host nix bemeagt?<strong><strong>de</strong>s</strong> messa dohod se alanechgaunz fon söwagriad ..fon köla bis zun dochka mensch ka kozzka maus en hausund <strong><strong>de</strong>s</strong> farfluachte messahod se gaunz fon söwagriad .. 26Nun ist auf ein Werk einzugehen, das sich mit beachtlicher Breite <strong>de</strong>rbösartigen Seite <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>ren Gottes“ widmet: Der Roman „Auch einer. EineReisebekanntschaft“ (1879) 27 von <strong>de</strong>m Hegelianer und Universitätsprofessorfür Ästhetik Friedrich Theodor Vischer (1807–1887). Die schrulligeHauptperson Albert Einhart (meist „A. E.“ genannt) ist durch die Spannungzwischen <strong>de</strong>n ewig gültigen ethischen Normen im Großen – Einharts Lieblingssatzlautet: „Das Moralische versteht sich immer von selbst“ – und <strong>de</strong>mLei<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n Teufeleien <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>ren Gottes“ im „kleinen Zufall“ geprägt.Ausdruck <strong><strong>de</strong>s</strong> (noch) nicht bösartigen Treibens <strong>de</strong>r Dingnatur ist eineNotiz, die Einhart in sein Tagebuch schreibt. Ein Knabe habe im Traum einenSee gefragt: „Herr See, womit beschäftigen Sie sich?“ Da habe <strong>de</strong>r See erwi<strong>de</strong>rt:„Ich beschäftige mich damit, naß zu sein“, was <strong>de</strong>r Fragen<strong>de</strong> als „einwenig grob“ empfand. 28 Natürlich fühlte er sich genasführt, <strong>de</strong>nn die Antwortist, wie um ihn zu verhöhnen das banalste analytische Urteil von nullwertigerInformation. Das ist die harmlose und übliche Seite <strong><strong>de</strong>s</strong> „An<strong>de</strong>renGottes“, die wir für selbstverständlich nehmen und nicht beachten. Daranerinnert zu wer<strong>de</strong>n, empfin<strong>de</strong>n wir als Fopperei. An<strong>de</strong>rs wäre es gewesen,wenn <strong>de</strong>r See erwi<strong>de</strong>rt hätte: „Ich beschäftige mich damit eine Überschwemmungvorzubereiten“ o<strong>de</strong>r „auszutrocknen“. Dann wäre die Antwortin die Kategorie <strong>de</strong>r bemerkenswerten Teufeleien gefallen. So gehörtzweifellos zur „Natur“ <strong><strong>de</strong>s</strong> Mühlsteines seine segensreiche Tätigkeit <strong><strong>de</strong>s</strong>Mahlens, wobei seine Schwere nebst Rundheit und an<strong>de</strong>rem dazu die Voraussetzungist. Wenn er nun <strong>de</strong>n Herrn Korbes erschlägt, so ist dies die Aktioneines einzelnen Aspektes seines „An<strong>de</strong>ren Gottes“, <strong><strong>de</strong>s</strong>sen Absolutset-26h. c. artmann, med ana schwoazzn dintn, 5 Salzburg 1958, 20.27Ich zitiere nach meiner Ausgabe <strong>de</strong>r Schreiterschen Verlagsbuchhandlung (Berlin W50), s. a. Das Werk ist aber jetzt im Rahmen <strong><strong>de</strong>s</strong> Gutenberg-Projektes unterhttp://gutenberg.spiegel.<strong>de</strong>/vischer/aucheinr/aucheinr.htm im Internet bequem zugänglich.28S. 462 meiner Ausgabe = http://gutenberg.spiegel.<strong>de</strong>/vischer/aucheinr/auchei26.htm


20 Helmut Birkhanzung nun <strong>de</strong>n Eindruck <strong>de</strong>r Bosheit bewirkt – die für die Funktion <strong><strong>de</strong>s</strong> Mühlsteinswichtige Rundheit ist für <strong>de</strong>n Mord an Herrn irrelevant.Derselbe A. E. entwirft das Libretto zu einer „Singtragödie“, 29 in <strong>de</strong>r esum die Liebe <strong><strong>de</strong>s</strong> schönen Jünglings Hilario zur „selbstbewußten Jungfrau“A<strong>de</strong>lai<strong>de</strong> geht. 1. Akt, Szene 3 spielt in einem Park. Als Personen treten einePfütze und ein Hühnerauge auf. Das Exposé sieht vor: „Arie mit einem gewissenklebrigen Etwas in <strong>de</strong>r Tonfärbung vorgetragen von <strong>de</strong>r Pfütze, entsprechendvon Instrumenten begleitet. Ein weißlicher Punkt schwebt herbei;<strong>de</strong>rselbe erweist sich, näher sichtbar, als Hühnerauge (äußerst giftiger Blickund Gesamtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv brennen<strong>de</strong>r Ton. Text offenbartteuflische Absichten. Verschwörungsduett zwischen bei<strong>de</strong>n.“ Die folgen<strong>de</strong>Szene bringt Hilario, A<strong>de</strong>lai<strong>de</strong> und Vögel auf die Bühne: „Hilario trittauf, heiter gespannt, das Hühnerauge schwebt, einen feurigen Fa<strong>de</strong>n durchdie Luft ziehend, nach ihm hin, verschwin<strong>de</strong>t in seinem Lackstiefel. Er winselt,hinkt, fällt in die Pfütze, wird sehr dreckig. In diesem Augenblick erscheintA<strong>de</strong>lai<strong>de</strong>. Lacht sehr, verhöhnt ihn bitterlich. Bei<strong>de</strong> ab. Triumphchorgenannter Objekte, vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeschaut.“War das Wasser im See <strong>zum</strong> Befrem<strong>de</strong>n Einharts neutral, so hat es nun alsPfütze einen scheinbar viel spezifischeren, aber auch ganz einseitigen Charakter,<strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>m „klebrigen Etwas“ in ihrer Stimme äußert. Zusammenmit <strong>de</strong>m Hühnerauge bewirkt sie das jämmerliche Scheitern <strong><strong>de</strong>s</strong> i<strong>de</strong>alischenJünglings. Was wir hier erlebten, war schon <strong>de</strong>r zweite AnnäherungsversuchHilarios. Die „Singtragödie“ Einharts sollte so beginnen:Akt I, Szene 1: Schreibzimmer; Personen: Ein Härchen, Tinte, eineSchreibfe<strong>de</strong>r, ein Buch.„Das Härchen, mikroskopisch klein, in einem Tintenfaß befindlich, trägtim dünnsten Sopran eine Arie vor, Text gerichtet an die danebenliegen<strong>de</strong>Schreibfe<strong>de</strong>r, welche <strong>de</strong>n ausgedrückten bösen Absichten Entgegenkommen<strong><strong>de</strong>s</strong>in einer Antistrophe spitz vorträgt, hierauf entsprechen<strong><strong>de</strong>s</strong> Duett.Demnächst Rezitativ, Baßstimme, ausgehend von einem Buch auf <strong>de</strong>m Bücherbrettüber <strong>de</strong>m Schreibtisch. Kichern<strong>de</strong> Antwort von Geistern in <strong>de</strong>r Tinte.Duett von Tinte und Buch vereinigt sich mit Härchen und Fe<strong>de</strong>r zu einemgefühlten Quartett.“ Szene 2: „Man hört Schritte, genannte Geister verstummen.Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt aufs äußerste eine Jungfrau A<strong>de</strong>lai<strong>de</strong>.Ist schüchterner Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beschließt zuschreiben. Tunkt ein. Härchen und Fe<strong>de</strong>r vereinigen sich innig, Hilario wirdnach mehreren Versuchen, mit <strong>de</strong>m verfluchten Pinsel zu schreiben, sehrwild, schreibt Grobheiten statt Zärtlichkeiten. Neue Fe<strong>de</strong>r. Fängt von vornan. Es geht spießend vorwärts. Beschließt [mit] Zitat aus Petrarka. Will <strong>de</strong>nBand herabnehmen, er fällt aufs Tintenfaß, das ganze Schreiben wirdschwarz übergossen. Hilario beschließt in Verzweiflung, es doch mit <strong>de</strong>m29S. 290–292 meiner Ausgabe =http://gutenberg.spiegel.<strong>de</strong>/vischer/aucheinr/auchei16.htm


Vom Schrecken <strong>de</strong>r Dinge 21lebendigen Worte zu versuchen. Er hofft, <strong>de</strong>r Geliebten im Park zu begegnen,will wagen, sie anzure<strong>de</strong>n. Hinter ihm her höllischer Lachchor genannterPersonen <strong>de</strong>r ersten Szene.“ Was dann kommt wissen wir bereits. Bis auf dasHühnerauge haben alle dramatis personae in einer Weise gehan<strong>de</strong>lt, die sozusageneinen Abusus ihrer Natur bil<strong>de</strong>t. Das Hühnerauge als eine Art „krankhafter“Hornhautverdickung allein hat durch seinen „An<strong>de</strong>ren Gott“, <strong>de</strong>r eoipso negativ ist, in je<strong>de</strong>r Hinsicht wesensgemäß gehan<strong>de</strong>lt.Schon als das Erzähler-Ich <strong><strong>de</strong>s</strong> Romans A. E. kennenlernt, kann es dieWirkung <strong>de</strong>r Dingdämonen und <strong>de</strong>ren Bestrafung kennenlernen. So schreit<strong>de</strong>r Zimmernachbar frühmorgens laut hörbar: „Meine Brille, meine Brille!Die Canaille hat sich wie<strong>de</strong>r einmal verkrochen – vom Schlüssel, <strong>de</strong>m kleinenTeufel, vorerst nicht zu re<strong>de</strong>n!“ Vom Ich über <strong>de</strong>n Grund für <strong>de</strong>n übermäßigenZorn befragt, antwortet Einhart: „‘Sie können doch wissen, daß die elen<strong>de</strong>nObjekte, diese Igel, 30 diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wirdie höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nötig und vernünftig ist!Elen<strong>de</strong>r Bettel, nichtswürdiger Knopf o<strong>de</strong>r Knäuel eines Bän<strong>de</strong>ls, Lorgnettenschnur,die sich um meinen Westenknopf wickelt, just, wenn es auf <strong>de</strong>rEisenbahn aufs äußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen…’“ Danach: „Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wütendim Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern aufdie arme Brille. Ich suchte inzwischen am Bo<strong>de</strong>n herum; ich hob ein paarHem<strong>de</strong>n weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick fiel aufein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte darin etwas schimmern zusehen, strengte meine Augen an … und die Ent<strong>de</strong>ckung war gemacht; ichnahm <strong>de</strong>n schwergeärgerten Mann leicht am Arm und <strong>de</strong>utete schweigendauf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: ‘SehenSie recht hin! Bemerken Sie <strong>de</strong>n Hohn, die teuflische Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> indiesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit <strong>de</strong>m ertappten Ungeheuer!’Es war nicht leicht, die Brille aus <strong>de</strong>m Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklichim Mißverhältnis <strong>zum</strong> Werte <strong><strong>de</strong>s</strong> Gegenstands, endlich war es gelungen,er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: ‘To<strong><strong>de</strong>s</strong>urteil!Supplicium!’ hob <strong>de</strong>n Fuß und zertrat sie mit <strong>de</strong>m Absatz, daß dasGlas in kleinen Splittern und Staub umherflog. ‘Ja, jetzt haben Sie aber ja keineBrille,’ sagte ich nach einer Pause <strong><strong>de</strong>s</strong> Staunens. ‘Wird sich fin<strong>de</strong>n, dieseTeufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit…’“31Dieses autonome Hervortreten und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r negativen Seite einesGegenstan<strong><strong>de</strong>s</strong>, bzw. <strong><strong>de</strong>s</strong> „beseelten“ Dings, nennt Vischer die „Tücke <strong><strong>de</strong>s</strong> Objektes“.Dies wäre nie <strong>zum</strong> geflügelten Wort gewor<strong>de</strong>n, wenn die Bosheit <strong>de</strong>rDinge nicht auch von vielen an<strong>de</strong>ren beobachtet wor<strong>de</strong>n wäre.30Gemeint ist Egel, so wie später Blutigel für Blutegel steht. Also eine höchst lästige Tierart.31S. 15f. = http://gutenberg.spiegel.<strong>de</strong>/vischer/aucheinr/aucheinr.htm

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!