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Emder Beiträgezum <strong>reformiert</strong>en ProtestantismusBand 2Herausgegeben vonMatthias Freudenberg, Alasdair I.C. Heron, Harm Klueting,Sigrid Lekebusch, Jan Rohls, Walter Schulzund Hans-Georg Ulrichsfoedus


Chronik desReformierten Studienhausesin Göttingen 1938 – 1947Herausgegeben von Matthias Freudenbergfoedus


InhaltVorwortIXGeleitwort von Jochen PitschXIIIEinführung 1Chronik des Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938-1947 13Wintersemester 1962/63 und Sommersemester 1963 85Anhang 1:Denkschrift von Friedrich-Wilhelm Bleske-Viëtor undJohann Adam Heilmann vom 22. Juni 1914 91Anhang 2Kirchliche Nachrichten aus dem Reformierten Bund vom Mai 1921 95Anhang 3:Johann Adam Heilmann: Das reformirte Studienhaus zu Göttingen 97Bibliographie zum Reformierten Lehrstuhl und Studienhausin Göttingen (Auswahl) 101


Foto: Gottfried Wehr


VorwortAls Bewohner des Reformierten Studienhauses in den 80er Jahren bin ich aneinem jener legendären Hausabende erstmals mit einem älteren, im ursprünglichenEinband schon etwas abgeschabten besonderen Buch in Berührunggekommen. Jedenfalls äußerlich verströmte es zunächst einmal den Charme einesverstaubten Bandes aus der Sparte Finanzverwaltung. Doch weit gefehlt! Tatsächlichhandelte es sich um die Chronik des Reformierten Studienhauses, und ihrInhalt erschien nicht nur mir hochinteressant. Die Abendlektüre – soweit siebedingt durch die z.T. schwer entzifferbare Schrift erfolgen konnte – vermittelteauf Anhieb den Eindruck, sowohl in den ernsten als auch in den nichtknapp bemessenen heiteren Passagen einem bewegenden Abschnitt des Studentenlebensim 20. Jahrhundert auf die Spur zu kommen. Wie unten in der Einführunggenauer beschrieben, eröffnet die Chronik einen Einblick in das Lebenund Lernen von Studierenden unterschiedlicher Fächer in einer Epoche, diedurch die Wirren der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit maßgeblich bestimmtwar. Einige Jahre später, nach Transkription der Semestereintragungenund orthographischer Bearbeitung, ist es nun gelungen, den Text einer breiterenÖffentlichkeit vorlegen zu können. Neben dem unbestreitbaren Unterhaltungswertder vorhandenen Semestereintragungen für Kenner und Nichtkennerdes Studienhauses liegt der Wert einer solchen Veröffentlichung vermutlichdarin, an einem freilich weit über sich hinausweisenden Fallbeispiel sowohldie Selbstwahrnehmung des Studentenlebens in schwieriger Zeit als auch dieAtmosphäre einer kleinen <strong>reformiert</strong>en Gemeinschaft mit ihrer spezifischen Binnenkulturauthentisch erkunden zu können.Der Zeitraum 1938-1947 erklärt sich durch den Umstand, daß die erste Phaseder Chronik eben diese zehn Jahre umfaßt. Erst 1962/63 wurde neben einemsummarischen Rückblick auf die dazwischenliegenden 16 Jahre eine zeitgenössischeSituationsbeschreibung angefügt. Nach einer weiteren langen Unterbrechungliegen dann seit 1979 weitgehend kontinuierlich bis heute wieder Aufzeichnungenvor, die einer späteren Publikation vorbehalten bleiben können.Wegen der inneren Konsistenz dieser durch den Krieg geprägten Epoche schienes ratsam, zunächst nur die Berichte aus dem Zeitabschnitt 1938-1947, ergänztum die Eintragung von 1962/63, zu veröffentlichen. In der Chronik, die imFormat 17 x 21 cm vorliegt, sind das die Seiten 1-269. Für die Veröffentlichungwaren einige redaktionelle Arbeiten notwendig: Zum einen wurde die Orthographiedem heute üblichen Sprachgebrauch angeglichen und offensichtlicheorthographische Irrtümer stillschweigend korrigiert. Zum anderen wurde – nachlängerem Überlegen – auf die zumeist jeweils den Semesterberichten vorangestelltenListen mit den Namen der Bewohner sowie auf die persönlichen Noti-


XChronik des Reformierten Studienhauseszen zu den Lebensläufen verzichtet, um das Private und Persönliche nicht zusehr gegenüber dem Einblick in die Existenz der Studienhausgemeinschaft inden Vordergrund treten zu lassen. Einzig die Namen derer, die die Semesterberichteabgefaßt haben, sollen – soweit durch direkte Hinweise und durch dieSchrift zu ermitteln – an dieser Stelle genannt sein:Sommersemester 1938: Friedrich Voget, stud. med.Wintersemester 1938/39: Friedrich Voget, stud. med.Sommersemester 1939: Friedrich Voget, stud. med.Herbsttrimester 1939: Friedrich Voget, stud. med.1. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med.2. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med.3. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med.Trimester 1941:Thomas Berron, stud. phil., med., rer. pol.Sommersemester 1941: Gerhard Brandt, stud. rer. pol.Wintersemester 1941/42: Otto Klingelhöffer, stud. med.Sommersemester 1942: Otto Klingelhöffer, stud. med.Wintersemester 1942/43: Otto Hövels, stud. med.Sommersemester 1943: Gisela v. Spankeren, stud. theol.Wintersemester 1943/44: Marianne Döring, stud. med.Sommersemester 1944: Elisabeth Neuser, stud. rer. nat.Wintersemester 1945/46: unbekanntSommersemester 1946: Elisabeth Neuser, stud. rer. nat.Wintersemester 1946/47: Ursula Schultheiss, stud. theol.Sommersemester 1947: Ursula Schultheiss, stud. theol.Daß mehrere Chronikeintragungen und die in ihnen verzeichneten Ereignisse,besonders die diversen Festivitäten, auch Fotographien als Beigaben haben,erwies sich für die Publikation als glücklicher Umstand – schließlich erhellensie auf ihre Weise die Atmosphäre des Studienhauses. Einige dieser Fotographiensind darum abgedruckt.In einem Anhang wird schließlich neben drei Dokumenten zur Studienhausgeschichteeine Aufstellung von Literatur zum Studienhaus und zum mit ihmaufs engste verbundenen Göttinger Lehrstuhl für Reformierte Theologie gegeben.Für die Ermöglichung der Drucklegung danke ich besonders dem Foedus-Verlag und seinem Leiter Jörg Schmidt. Der ehemalige Inspektor und langjährigeBegleiter des Studienhauses, Pastor i.R. Jochen Pitsch/Göttingen, hat freundlicherweiseein Geleitwort beigesteuert, für das ihm herzlich gedankt sei. Zudanken habe ich schließlich Doris Thal für das Korrekturlesen des Manuskriptsund der Druckfahnen sowie Ricarda Freudenberg für technische Hilfe im Vorfeldder Publikation.


VorwortXIDie Edition der Chronik ist all den ehemaligen Bewohnern des ReformiertenStudienhauses gewidmet, die sich – nicht zuletzt geprägt durch die Erfahrungendes Studierens in einer Hausgemeinschaft – in ihren vielfältigen BerufenGottes kräftigem Anspruch auf ihr ganzes Leben (Barmer These 2) verpflichtetwissen.Erlangen, Epiphanias 1999Matthias Freudenberg


GeleitwortDas Reformierte Studienhaus in Göttingen existiert seit bald 80 Jahren. ZumSommersemester 1921 wurde es in Anwesenheit des Rektors der Universität sowieVertretern der Theologischen Fakultät und der Stadt an seinem ersten Standort,dem früheren Gasthaus »Braunschweiger Hof«, am Waageplatz feierlich eröffnet.Es war ein wichtiges Ereignis, obwohl anfänglich nur drei Studenten unterder Obhut eines cand. theol. im Hause wohnten. Aber mit der Eröffnung desStudienhauses hatte zum ersten Mal in der Geschichte der Universität Göttingen<strong>reformiert</strong>e Theologie einen eigenen anerkannten Platz bekommen. Der entscheidendeAnlaß dafür war die erwartete Besetzung der neu eingerichteten Planstelleeiner Professur für Reformierte Theologie, die der Theologischen Fakultätzwar zugeordnet, aber nicht wirklich eingegliedert war. Ihr erster Inhaber wurdeKarl Barth, der zum Wintersemester 1921/22 seine Lehrtätigkeit in Göttingenaufnahm. Aus der ersten kleinen Studentengruppe wurde im Laufe der Jahreeine immer größere Gemeinschaft von Studierenden, bis schließlich, nachdemauch die letzten nichtstudentischen Mieter in andere Wohnungen gezogenwaren, 20 Studenten im Studienhaus lebten – die meisten von ihnen Theologen,aber nach Möglichkeit auch immer einige Studierende anderer Fakultäten.– Ich selbst bin dem Studienhaus seit dem Sommersemester 1948 verbunden –zunächst als Student, dann für einige Jahre als Inspektor, danach als Mitglieddes Kuratoriums und schließlich für viele Jahre als dessen Vorsitzender.Der Wandel der Zeiten ist nie spurlos an dem Studienhaus und seinen Bewohnernvorübergegangen. War es z.B. in den Kriegsjahren eine Notwendigkeit,um die Wirtschaftlichkeit des Hauses zu erhalten, auch Studentinnen in dieHausgemeinschaft aufzunehmen, so wurde das, nachdem das alte Haus am Waageplatzaufgegeben werden mußte, seit 1965 unter der neuen Adresse ObereKarspüle 30 zu einer absoluten Selbstverständlichkeit. Aber nicht allein die gesellschaftlichenVeränderungen hinterließen ihre Spuren. Auch die politischen Ereignissebeeinflußten den Lebensstil des Hauses und die Arbeit, die Diskussionenund die Gespräche der Studienhäusler.Matthias Freudenberg hat sich der Aufgabe unterzogen, anhand der glücklicherweisenoch erhaltenen von den Studienhäuslern geführten Hauschronik einelebendige Geschichte des Studienhauses während der letzten Jahre der HerrschaftHitlers und seiner Gefolgsleute und der unmittelbaren Nachkriegsjahrezu schreiben. Dem Leser wird es auffallen, daß in diesem Bericht nichts zu findenist über die Einstellung der Studienhäusler zu den damaligen Machthabernund ihren Untaten. Kein Wort über die Verfolgung und Entrechtung der jüdischenMitbürger, über den Gegensatz der Bekennenden Kirche und den Deut-


XIVChronik des Reformierten Studienhausesschen Christen. Nichts – oder doch nur wenig über den Krieg. Aber gerade diesesSchweigen ist aussagekräftiger, als jedes Wort es hätte sein können. Dennöffentliche kritische Stellungnahme oder gerade auch das Festhalten kritischerMeinungen in einer Semesterchronik hätte selbstverständlich die Gefährdungdes eigenen Lebens und des Lebens der Freundinnen und Freunde bedeutet.Matthias Freudenberg ist der Dank der »alten« Studienhäusler, aber auch derjüngeren und jungen, für seine Arbeit gewiß. Und auch der Dank der Göttinger<strong>reformiert</strong>en Gemeinde, deren männliche Jugendarbeit durch viele Jahre hindurchvon den Studenten des Hauses verantwortet und betreut wurde und dienach Jahrzehnten, in denen das Haus mit ihr zusammen auch vom ReformiertenBund, den <strong>reformiert</strong>en und einigen unierten Kirchen getragen wurde, jetzt wiederalleine die Verantwortung trägt.Göttingen, im Februar 1999Jochen Pitsch


EinführungBei der Untersuchung der Profile, die die deutschen Reformierten im Kirchenkampfund in der ihm nachfolgenden Zeit zeigen, ist die historische Forschungin besonderer Weise auch auf die Auswertung von Einzelbiographien angewiesen.Hinzu tritt die Beobachtung der Merkmale und Eigenheiten, die <strong>reformiert</strong>eGemeinden in einzelnen Territorien sowie bestimmte Gruppen vonReformierten ausgebildet haben 1 . Zur letztgenannten Kategorie gehört die Einrichtungvon Reformierten Studienhäusern. Darum sollen zunächst einige Hinweisezur Gründung von Reformierten Studienhäusern in Deutschland gegebenwerden.Die Gründung von Reformierten Studienhäusern in Deutschland ist untrennbarmit den Bemühungen des Reformierten Bundes Ende des 19. Jahrhundertsverbunden, die Ausbildung <strong>reformiert</strong>er Studenten – insbesondere <strong>reformiert</strong>erTheologiestudenten – zu fördern und auf diese Weise einen Beitrag zur Stärkungdes <strong>reformiert</strong>en Profils in den Gemeinden zu liefern. Dem Bedürfnis derdeutschen Reformierten, einen verbindlichen Zusammenschluß zur gegenseitigenStärkung der Gemeinden und zur Profilierung der eigenen Identität herzustellen,wurde bereits mit der Gründung des Reformierten Bundes imZwingli-Gedenkjahr 1884 Rechnung getragen 2 . Vom 19.-21. August tagte inMarburg eine Konferenz <strong>reformiert</strong>er Prediger, Ältester und Gemeindeglieder,die mit der »Stiftung des Reformierten Bundes« und der Abfassung von Statutenzu Ende ging. In § 2 der Statuten wird auf die Aufgabe des Bundes hingewiesen,die Güter der <strong>reformiert</strong>en Kirchen in Deutschland in der Lehre zu wahrenund zu pflegen, wozu im weiteren Sinn natürlich auch die Ausbildung <strong>reformiert</strong>erTheologiestudenten gehört. Ein Jahr nach der Gründung des ReformiertenBundes wurde deren erste Hauptversammlung für den 25.-27. August1885 in Elberfeld einberufen. Neben Fragen der Gottesdienstordnung und derdiakonischen Arbeit unter den Reformierten stand die Sorge um die Ausbildungder <strong>reformiert</strong>en Theologen im Zentrum der Beratungen. WeitreichendePläne, eigene Fakultäten zu errichten, waren aufgrund der politischen und kirchenpolitischenUmstände nicht zu realisieren. Nur Erlangen besaß einen Lehr-1 Vgl. Günther v. Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf. In: Profile des <strong>reformiert</strong>enProtestantismus aus vier Jahrhunderten. Hg. v. Matthias Freudenberg. Wuppertal1999 (Emder Beiträge zum <strong>reformiert</strong>en Protestantismus, Bd. 1), S. 71-86. Im gleichen Bandfindet sich mein Beitrag: Leben und Lernen. Reformiertes Studentenleben 1938-1947 imSpiegel der Chronik des Reformierten Studienhauses Göttingen, S. 141-159.2 Vgl. J.F. Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert desReformierten Bundes. In: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart.Hg. v. Joachim Guhrt. Bad Bentheim 1984, S. 12-37; Ulrich Weiß, 100 Jahre Refor-


2 Chronik des Reformierten Studienhausesstuhl für Reformierte Theologie, allerdings extra facultatem und ohne Promotionsrecht.Die Bemühungen, eine Professur in Göttingen zu errichten, bliebenzu jener Zeit erfolglos 3 .Im Zuge der Beratungen über die anzustrebende Vertretung der <strong>reformiert</strong>enTheologie über Erlangen hinaus an weiteren Universitäten wurde auch die Möglichkeitund Notwendigkeit erörtert, in den Universitätsstädten <strong>reformiert</strong>e Seminareim Rahmen von Studienhäusern bzw. Studentenkonvikten zu begründen.Man versprach sich von solchen Einrichtungen offenbar einen Beitrag zurFörderung des Zusammenschlusses der deutschen Reformierten. Ferner sah manin solchen Studienhäusern die Möglichkeit, gleichsam als Provisorium und imVorgriff auf zu errichtende Professuren eigene Kurse zu Themen der <strong>reformiert</strong>enTheologie, Kirchengeschichte und des Gemeindelebens zu veranstalten, um dasStudium an den zumeist lutherisch geprägten Fakultäten zu ergänzen. Letztlichstehen die in der Folgezeit errichteten Reformierten Studienhäuser und dievorhandenen oder in Aussicht genommenen <strong>reformiert</strong>en Professuren in der Traditionder bis 1822 aufgelösten <strong>reformiert</strong>en Universitäten (Heidelberg, Frankfurt/O.,Marburg, Duisburg) und illustren Gymnasien (Herborn, Bremen, Burgsteinfurt,Lingen, Hamm, Hanau) 4 . Ferner gelang in den zwanziger Jahren auchdie lang geplante Gründung der Theologischen Schule (1928) sowie des Predigerseminarsin Elberfeld (1929), wobei letztgenanntes schon seit 1904 in einemSammelvikariat seinen Vorläufer hatte. Diente das Predigerseminar der unmittelbarenVorbereitung auf den Pfarrberuf, so verstand sich die Elberfelder Schuleals Ergänzung im Studium zum Erwerb der fehlenden Sprachkenntnisse, derBibelkenntnis und der Kenntnis des Heidelberger Katechismus. Schließlich wurde1935 auf der Siegener Synode die Gründung der Theologischen Hochschulein Elberfeld beschlossen. Der Plan für ihre Errichtung wurde neben demWunsch nach einer fundierten Theologenausbildung vor allem mit den antikirchlichenEingriffen und Repressalien an den verschiedenen theologischenFakultäten begründet 5 .mierter Bund. Zielsetzung, Gründung und Weg. In: RKZ 126 (1985), S. 149-153.179-182.3 Zu den Anstrengungen, in Göttingen die Ausbildung <strong>reformiert</strong>er Theologen durch eineProfessur bzw. Dozenten sicherzustellen und so auch dem beklagten Mangel am wissenschaftlichenProfil der <strong>reformiert</strong>en Theologie abzuhelfen, vgl. mein Beitrag: Die Errichtungder Professur für Reformierte Theologie an der Georg August-Universität Göttingen. In:JGNKG Bd. 94 (1996), S. 237-257. Vom 22. Juni 1914 datiert eine Denkschrift, in derderen Verfasser Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor und Johann Adam Heilmann die Errichtungeiner Professur für Reformierte Theologie bzw. von Dozentenstellen fordern (PlessearchivBovenden); Abdruck im Anhang, Text Nr. 1.4 Ebd., S. 241f.5 Vgl. Helmut Aschermann/Wolfgang Schneider (Hg.), Studium im Auftrag der Kirche.Die Anfänge der Kirchlichen Hochschule Wuppertal 1935 bis 1945. Köln 1985 (SVRKG83); Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des ReformiertenBundes, des Coetus <strong>reformiert</strong>er Prediger und der <strong>reformiert</strong>en Landeskirche Hannover umden <strong>reformiert</strong>en Weg in der Reichskirche. Köln 1994 (SVRK 113), S. 222-233.


Einführung 3Vorreiter bei der Errichtung von Studienhäusern war das Reformierte Convictin Halle. Der Domprediger Gerhard Goebel begann dort 1889 mit theologischenKursen. Ein Jahr später wurde 1890 mit Unterstützung des ReformiertenBundes in einem angemieteten Haus das Convict eröffnet, an dem sodannalle drei Domprediger theologische Übungen anboten. Seit 1900 konntedurch die Stiftung eines Hallenser Gemeindegliedes sogar ein hauptamtlicherInspektor angestellt werden, was ab 1902 in die Tat umgesetzt wurde –ein gerade für die Gegenwart instruktives Beispiel für die Requirierung von Finanzmitteln(Sponsoring) im Bereich der Kirche. Schließlich konnte das Convictmit zwölf Studenten in der Kleinen Klausstraße 12 sein eigenes Haus beziehen.Es besteht bis heute und bietet Platz für bis zu 30 Studierende 6 . Ebenfalls1889 hat es auch in Berlin einen Versuch gegeben, ein Reformiertes Studienhauszu begründen. Allerdings ist dieses Unternehmen über die Veranstaltungvon Kursen nie hinausgelangt und bald wieder eingegangen. Für Erlangen istim Calvin-Jubiläumsjahr 1909 innerhalb des Reformierten Bundes der Plan einesStudienhauses erörtert worden. Doch erst 1920 wurde das auf privater Basisberuhende »Calvinhaus« zunächst mit vier Studenten im Mietshaus des <strong>reformiert</strong>enOrdinarius Ernst Friedrich Karl Müller eröffnet und hatte zunächst biszu dessen Tod 1935 Bestand. Nach langer Unterbrechung wurde 1967 erneutein Theologenkonvikt der Ev.-ref. Kirche in Bayern hinter der <strong>reformiert</strong>en Hugenottenkircheim ehemaligen Pfarrhaus mit 11 Plätzen eingerichtet 7 .In engem Zusammenhang mit den Bemühungen, eine <strong>reformiert</strong>e Professurzu errichten, stand die Initiative der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen und ihres PfarrersJohann Adam Heilmann, in Göttingen ein Reformiertes Studienhaus zu eröffnen8 . In gegenseitiger Ergänzung sollten Professur und Studienhaus einen Bei-6 Vgl. F.D. Plasan, Das Reformierte Convict in Halle/Saale. In: RKZ 133 (1992), S. 259.– Ich danke Hans-Georg Ulrichs für den Hinweis, daß die Konviktannalen des ReformiertenConvicts Halle eine in vielen Zügen ähnliche Diktion im Blick auf das Erleben der eigenenZeit aufweist wie die Göttinger Chronik; vgl. Hans-Georg Ulrichs, Heinz Otten. Einvergessenes Schicksal aus dem <strong>reformiert</strong>en Kirchenkampf. Bovenden 1994.7 Vgl. Karl Eduard Haas, Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Bayern. Ihr Wesen undihre Geschichte. 2. Aufl. Neustadt/Aisch 1982, S. 71-76.150; Ders., Der Lehrstuhl für <strong>reformiert</strong>eTheologie zu Erlangen. 2. Aufl. Erlangen 1987, S. 90-94.8 Vgl. Matthias Freudenberg, Karl Barth und die <strong>reformiert</strong>e Theologie. Die Auseinandersetzungmit Calvin, Zwingli und den <strong>reformiert</strong>en Bekenntnisschriften während seiner GöttingerLehrtätigkeit. Neukirchen-Vluyn 1997 (NTDH 8), S. 17-86; Ders., Die Errichtung derProfessur für Reformierte Theologie an der Georg August-Universität Göttingen. In:JGNKG Bd. 94 (1996), S. 237-257; Ders., »Auf gut <strong>reformiert</strong>em Boden«. Vor 75 Jahrenhielt Karl Barth seine erste Vorlesung. In: RKZ 137 (1996), S. 540-542; J.F. Gerhard Goeters,Reformierter Lehrstuhl und Studienhaus in Göttingen. In: Evangelisch-<strong>reformiert</strong>e Kirchein Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Elwin Lombergu.a. Weener 1982, S. 268-278; Ders., Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundertdes Reformierten Bundes. In: 100 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 2), S. 12-37; Karl Eduard Haas, Der Bund evangelisch-<strong>reformiert</strong>er Kirchen Deutschlands. Erlangen1982, S. 34-36.52f.111-113; Johann A. Heilmann, Das reformirte Studienhaus zu Göttin-


4 Chronik des Reformierten Studienhausestrag zur besseren Ausbildung der <strong>reformiert</strong>en Theologen leisten. Es ist bemerkenswert,daß die Göttinger Fakultät 1918 auf die Gründung eines Studienhausesdrängte, um so die neue Professur noch fester in Göttingen zu verankern.Der wahre Grund für diese Befürwortung lag jedoch eher darin, die in Aussichtgenommenen <strong>reformiert</strong>en Dozenturen auf Distanz zur Fakultät halten zu können9 . Nur so ist etwa die Haltung des Systematikers Carl Stange zu verstehen,die Errichtung einer Professur kategorisch aus konfessionellen Gründen abzulehnen,die Gründung eines Studienhauses hingegen vehement zu befürworten 10 .Im Juni 1920 konnte Heilmann das ehemalige Gasthaus »Braunschweiger Hof«am Waageplatz Nr. 3 zum Preis von RM 80.000,- erwerben – übrigens in ausgesprochenerAnlehnung an August Hermann Francke, der einst in Halle einWirtshaus für seine Anstalten gekauft hat 11 . Eine große Hilfe für dieses Projektbedeutete eine Spende von 1000,- holländischen Gulden, die von den GereformeerdenKerken der Niederlande zur Verfügung gestellt wurden. Für dieAusstattung der Räume mit Lazarettmöbeln für zunächst drei (Sommersemester1921), dann acht (Wintersemester 1921/22), später zwölf und ab 1928vorübergehend sogar zwanzig Studenten konnten amerikanische Spendenmittelmobilisiert werden. Zum Unterhalt des Hauses, das von einem Kuratoriumverwaltet wurde, und zur Versorgung der Bewohner leisteten später AmsterdamerStudenten, die Reformierte Kirche von Südafrika und mehrere <strong>reformiert</strong>e Gemeindenin Deutschland einen Beitrag 12 . Am 7. Mai 1921, also ein halbes Jahrvor der Besetzung der neu gegründeten Professur mit Karl Barth, wurde das Studienhausals milde Stiftung mit zunächst drei Studenten unter dem Inspektoratvon Heilmanns Schwiegersohn Ernst Rebermann seiner Bestimmung übergeben13 . Die Reformierte Kirchenzeitung berichtet: »Ein für die reformirte KircheHannovers, ja des ganzen Nordwestdeutschlands wichtiges Ereignis bedeutet dieEinweihung des reformirten Studienhauses in Göttingen, die am 7. Mai vor einerAnzahl geladener Gäste stattgefunden hat. Sie war zu gleicher Zeit eine Vorfeierfür die Errichtung der reformirten Professur an der alten Georgia-Augusta.« 14gen. In: RKZ 71 (1921), S. 152f. (Abdruck im Anhang, Text Nr. 3); Ders., Die Ausbildungder reform. Theologen. In: RKZ 73 (1923), S. 262-264; Theodor Kamlah, Der von denselbständigen ref. Gemeinden gegründete Bund Ev. Ref. Kirchen Deutschlands in der EKDin der Rückschau 1920-1967. Göttingen 1968, S. 94-102.9 Vgl. Heilmann an Troeltsch am 22.5.1919 (Archiv der ERK Leer) und Protokoll derSitzung des Presbyteriums der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen am 1.10.1919 (Archiv der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen).10 Vgl. Heilmann an Troeltsch am 22.5.1919 (wie Anm. 9).11 Vgl. Heilmann (wie Anm. 8), S. 152.12 Vgl. Goeters (wie Anm. 8), S. 272f.13 In § 2 der Ordnung des Studienhauses heißt es: »Der Zweck des Studienhauses ist, tüchtigeund brauchbare Diener der christlichen Gemeinde innerhalb der reformirten Kircheheranbilden zu helfen. Diesem Zweck dienen wissenschaftliche Übungen und tägliche Andachten.«;vgl. Heilmann (wie Anm. 8), S. 153.14 Kirchliche Nachrichten. In: RKZ 71 (1921), S. 130; Abdruck im Anhang, Text Nr. 2.


Einführung 5Im Studienhaus wurden in den folgenden Jahren Übungen von Rebermann(u.a. Calvins Institutio und Exegetica) und seinem Nachfolger im Inspektoratund Barths erstem Doktoranden Joachim Beckmann (u.a. Genfer Katechismusund Zwinglis Bekenntnisse) sowie von den emeritierten Pfarrern Nießmann(Exegetica) und Heilmann (u.a. Heidelberger Katechismus) abgehalten. AuchKarl Barth hat sich mit Übungen – so im Wintersemester 1921/22 mit derkursorischen Lektüre des Matthäusevangeliums, Hausabenden und gemeinsamenWanderungen – am Leben des Studienhauses beteiligt. Allerdings zeigt sichBarth von den <strong>reformiert</strong>en Studenten enttäuscht, da diese, für die die Professureigentlich errichtet wurde, ihm im Unterschied zu den lebhaft diskutierendenLutheranern zumeist als »etwas ›dämlich‹ uninteressiert und schülerhaft«erscheinen sowie »sich durch Schwänzen und schweigendes Dabeisitzen in denÜbungen« 15 auszeichnen. Speziell über die »<strong>reformiert</strong>en Conviktualen« urteilter, sie seien »leider meistens zu den ganz Ahnungslosen zu zählen, die nun aufeinmal gewahr werden, daß das ›<strong>reformiert</strong>‹ nicht so billig zu haben ist, wie manin Deutschland zu meinen gewohnt ist« 16 .Schon wenige Jahre später mußte indes das Studienhaus 1928 infolge finanziellerEngpässe vorübergehend wieder aufgelöst werden. Der Göttinger <strong>reformiert</strong>ePfarrer und für das Studienhaus verantwortliche »Stiftsvater« TheodorKamlah nahm noch im gleichen Jahr die Gelegenheit wahr, das Studienhausneu zu gründen und es von dem 1928 gegründeten Bund ev.-ref. KirchenDeutschlands bzw. den in ihm zusammengeschlossenen Gemeinden mittragenzu lassen. Eigentümerin blieb allerdings die Ev.-ref. Gemeinde Göttingen. OhneZweifel ging Kamlah damit in wirtschaftlich krisenhaften Zeiten ein hohesRisiko ein, um die Ausbildung <strong>reformiert</strong>er Studenten im Rahmen eines Studienhausesaufrechtzuerhalten. Kamlah ersteigerte die nötigen Möbel und richteteZimmer für zwanzig Studierende sowie eine kleine Wohnung für die Hausmutterein, die nun auch für die volle Verpflegung der Studienhausgemeinschaft zu sorgenhatte. Im Studienhaus, das nach der Besetzung eines ordentlichen <strong>reformiert</strong>enLehrstuhls durch Otto Weber 1934 einen weiteren Aufschwung erfuhr,wohnten in erster Linie <strong>reformiert</strong>e Studenten aus Lippe, Ostfriesland und demRheinland 17 . Außerdem fanden von Zeit zu Zeit auch einige lutherische StudentenAufnahme 18 . Neben den Theologen zogen immer wieder auch Studierendeanderer Fakultäten ein – so vor allem Mediziner, Juristen und Naturwissen-15 Barth an Thurneysen am 18.11.1921, in: Eduard Thurneysen (Hg.), Briefwechsel KarlBarth - Eduard Thurneysen, Bd. 2: 1921-1930. In: Karl Barth-Gesamtausgabe. Abt. V. 2.Aufl. Zürich 1987, S. 9.16 Barth an Spoendlin am 21.12.1921 (Karl Barth-Archiv Basel).17 Zu Otto Weber vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902-1966). Reformierter Theologeund Kirchenpolitiker. Göttingen 1999 (AKZG[B] 34).18 Vgl. Philipp Meyer (Hg.), Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation. Bde. 1-3 Göttingen 1941/1942.


6 Chronik des Reformierten Studienhausesschaftler. Kamlah schreibt im Rückblick zu seinen Absichten mit dem Studienhausund der engen Verbindung zwischen diesem und der Ev.-ref. Gemeinde:»Was ich ihnen (sc. den Bewohnern) für ihre spätere Arbeit gern helfend mitgebenwollte, waren Erfahrungen aus der Gemeindearbeit, die sich bewährt hatten.Einmal versuchte ich, ihnen vorzuleben, wie wir so plastisch predigen müssen,daß nicht nur Intellektuelle, sondern auch einfache Menschen es fassen können(...). Vor allen Dingen aber sollten sie die beglückendste Erfahrungmiterleben, daß wir über die immer prozentual so kleine Schar derer, die wirdurch die Wortverkündigung erreichen, hinaus alle Gemeindefamilien durchhelfende Liebe gewinnen können.« 19Unmittelbar vor Einsetzen der Aufzeichnungen in der Chronik 1938 trat1937 eine erhebliche Veränderung im Haus ein. Als die Ev.-ref. Gemeinde imHerbst 1937 infolge eines Erlasses der NS-Regierung nicht wie beabsichtigt einvon ihr gemietetes Lagerhaus erwerben durfte, sondern kurzfristig ausziehenmußte, war sie gezwungen, das Studienhaus für den Kindergarten und anderegemeindliche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Da zu diesem Zweck das gesamteErdgeschoß benötigt wurde, mußte man den verbliebenen Mietparteien kündigen.Küche, Aufenthaltsraum und Studentenzimmer wurden nach allerlei Umbautenin den anderen Etagen etabliert. Erhebliche Anstrengungen zum äußerlichenErhalt des Studienhauses mußte die Ev.-ref. Gemeinde 1945 aufbringen,als es durch in der Nähe niedergegangene Bomben schwer beschädigt wurde.Nach 1945 trat insofern eine neue Entwicklung ein, als nach jahrelangen Verhandlungen1954 in einem Vertrag zwischen Kamlah, Wilhelm Niesel (ReformierterBund) und Wilhelm Neuser (Lippische Landeskirche) ein Kuratoriumals Leitung des Studienhauses gegründet wurde. Diesem gehörten nun Vertreterdes Reformierten Bundes, der Landeskirchen von Nordwestdeutschland undLippe sowie der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen als den Trägern des Studienhausesan. Diese neue organisatorische und damit auch wirtschaftliche Basisermöglichte 1955 eine umfangreiche Renovation, an der sich auch das LandNiedersachsen beteiligte. Als 1964 das Studienhaus nach den Plänen der Stadtabgebrochen werden sollte, wurde mit der Planung eines Neubaus in der OberenKarspüle begonnen. Seit seiner Inbetriebnahme 1966 mit 23 Zimmern existiertdas Studienhaus bis heute, seit 1996 allerdings wieder in alleiniger Trägerschaftder Ev.-ref. Gemeinde Göttingen und mit nunmehr 16 Zimmern fürStudierende. Auf dem Hintergrund dieser wechselvollen Geschichte desStudienhauses trägt ein kürzlich publizierter Artikel über das Studienhaus durchauszutreffend den Titel »Eine kleine unverwüstliche Orchidee« 20 .19 Kamlah (wie Anm. 8), S. 97f.20 Bettina Rehbein, Eine kleine unverwüstliche Orchidee. Das <strong>reformiert</strong>e Studienhaus inGöttingen. In: RKZ 139 (1998), S. 6-8.


Einführung 7Zur Chronik selbst. Zunächst einmal verdient das literarische Genus einerStudienhauschronik besonderes Augenmerk. Es handelt sich dabei naturgemäßnicht um ein geschlossenes Werk, das in sich sprachlich, in den Proportionender Texte und in den inhaltlichen Akzentuierungen auch nur annähernd einheitlichkonzipiert wäre. Vielmehr verleiht die Individualität der jeweiligen Chronisteneines Semesters den Berichten einen eigenständigen und zudem wegender mangelnden Redigierung der Texte den vorläufigen und unabgeschlossenenCharakter von Impressionen. Insofern man das als Besonderheit der GattungChronik ansehen mag, ergibt sich daraus ihre Relativität und individuelle Bedingtheit,die deutlich ihre Grenzen nicht zuletzt für die Erschließung historischerVorgänge aufzeigt. Hinzu tritt die natürliche Tendenz, vor allem die herausragendenEreignisse zu dokumentieren und hinter ihnen den Alltag zurücktretenzu lassen. Diesen Einschränkungen steht indes eine ausgesprochene Stärkeder Gattung Chronik gegenüber. Denn in überaus authentischer Weise weißsie über das Milieu von Leben und Lernen in einer Studienhausgemeinschaftzu unterrichten, indem sie ein Licht auf die Mentalität von studentischem Lebenund Lernen wirft. Das Spannungsfeld von Studium, studentischem Leben, Kircheund Zeitgeschichte wird in einem Abschnitt der deutschen Historie erhellt,der unbestritten Interesse verdient und trotz mehrerer vorliegender wissenschaftlicherBeiträge zur Geschichte der Reformierten im Kirchenkampf noch der weiterenUntersuchung besonders im Hinblick auf einzelne Persönlichkeitenharrt 21 . Gerade die Individualität und Unabgeschlossenheit der Semesterberichteträgt dazu bei, einen unmittelbaren und authentischen Eindruck vom studentischenLeben und Lernen in schwieriger Zeit zu gewinnen. Das bedeutetfür die Beurteilung der Studienhauschronik, daß sie als aufschlußreiches Zeitdokumentund Zeugnis der Geschichte einer Epoche zu würdigen ist, derenwissenschaftliche Erfassung nicht zuletzt auch auf individuelle Berichte vonZeitgenossen angewiesen ist. Zusätzlich und gleichsam als Kommentar zu denTexten tragen die zahlreichen in die Chronik eingeklebten Fotographien, vondenen einige in der vorliegenden Edition abgedruckt sind, zur Deutung desLebens in der Studienhausgemeinschaft bei.Die Chronik des Reformierten Studienhauses wurde 1938 angelegt und reichtzunächst bis 1947. Offenbar war sie dann 16 Jahre lang verschollen und wurdeinfolgedessen nicht weitergeführt. Nachdem sie im Juli 1963 bei Aufräum-21 Vgl. Lekebusch (wie Anm. 5); Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer <strong>reformiert</strong>enKirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeitinnerhalb der Ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland. Göttingen 1961 (AGK 8); HermannVorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vordem Kirchenkampf. Neukirchen-Vluyn 1974 (BGLRK 37). Eine instruktive Studie zur Existenzim Kirchenkampf am Beispiel von Klugkist Hesse liegt vor von Gottfried Abrath, Subjektund Milieu im NS-Staat. Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936-1939. Analyse und Dokumentation. Göttingen 1994 (AKZG [B] 21).


8 Chronik des Reformierten Studienhausesarbeiten im Haus wiedergefunden wurde, vereinbarten die Hausbewohner, andie Tradition der Semesterberichte anzuknüpfen.Zunächst sei ein Blick auf die Hausordnung geworfen, die der »Stiftsvater«Kamlah am 1. November 1940 bekanntgab und jedem Bewohner zur Unterschriftvorgelegt hat. Die ersten Sätze lauten: »1. Das Studienhaus in Göttingenist eine Stiftung <strong>reformiert</strong>er Gemeinden, die mit ihren Gaben zunächstden theologischen Nachwuchs und dann auch junge, bewußte Gemeindegliederanderer Fakultäten fördern wollen. 2. Daraus folgt, daß die jeweiligen Insassendes Hauses es als ein Vorrecht zu schätzen wissen, wenn sie in den Genuß einessolchen Stipendiums gelangen und daß ihre innere Haltung und das äußereBenehmen entsprechend ausgerichtet ist. 3. Da es sich also weder um ein Hotelnoch um ein Pensionat ›möblierter Damen und Herren‹ handelt, ist jeder gehalten,die von Semester zu Semester zu bestimmende Hausordnung zu beachtenund nach ihr sich zu richten. 4. Die Insassen des Reformierten Studienhausesbilden sowenig einen Verein wie eine Verbindung oder eine Kameradschaft. Siesollen einen Freundeskreis darstellen, in dem alle bewußte Glieder ihrer Kirchesind, in dem jeder jedem völlig vertraut und jeder jedem hilft. Niemandsteht oder stellt sich außerhalb der Semester-Gemeinschaft.« Nähere Hinweisezum Alltag der Hausgemeinschaft finden sich am Schluß der Ordnung: »Verschlafenoder beim Senior nicht entschuldigte Verspätungen zu den Mahlzeitenwerden durch eine Geldbuße von 0,20 Mark in die Hauskasse geahndet.Andere Verstöße gegen die Grundsätze oder die Hausordnung können ebenfallsdurch Geldstrafen oder durch eine andere Buße geahndet werden.« Undschließlich heißt es: »Im Hause hat jeder auf den anderen und seine Arbeit Rücksichtzu nehmen und sich stets möglichst ruhig zu verhalten. Nach 22 Uhr hatabsolute Ruhe zu herrschen.«Wenn wir nun zunächst nach der Zusammensetzung der Hausgemeinschaftim Berichtszeitraum 1938-1947 fragen, so sind drei Auffälligkeiten zu nennen:Erstens nimmt bei Kriegsbeginn 1939 die Zahl der Theologiestudierendendeutlich ab, was umgekehrt zu einem Ansteigen der Zahlen von Studierendenanderer Fachrichtungen – in erster Linie Mediziner, daneben Juristen, Volkswirteund Naturwissenschaftler – führt. In den Jahren 1940-1944 wohnt zeitweisenur noch ein Theologiestudent im Haus. Erst im Wintersemester 1945/46 steigt die Zahl der Theologiestudierenden wieder deutlich an. Eine Übersicht,die eine Auswahl von Semestern berücksichtigt, mag das verdeutlichen:Sommersemester 1938: 11 Theologen, 3 Mediziner und 1 Philologe.3. Trimester 1940: 1 Theologe, 8 Mediziner, 1 Chemiker, 2 Volkswirte, 1 Med.Assistentin und 1 Philologe.Trimester 1941: 5 Theologen, 6 Mediziner, 1 Jurist, 1 Volkswirtschaftler, 1 Philologeund 1 Med. Assistentin.Sommersemester 1941: 1 Theologe, 2 Volkswirte, 6 Mediziner und 1 Philologe.


Einführung 9Wintersemester 1941/42: 1 Theologe, 1 Philologe, 7 Mediziner, 1 Volkswirt,1 Chemiker und 1 Jurist.Sommersemester 1942: 7 Mediziner, 1 Chemiker, 2 Juristen und 1 Naturwissenschaftlerin.Wintersemester 1942/43: 6 Theologen, 7 Mediziner, 1 Jurist, 1 Naturwissenschaftlerinund 1 Volkswirt.Sommersemester 1943: 2 Theologen, 9 Mediziner und 1 Volkswirtin.Wintersemester 1943/44: 1 Theologin, 10 Mediziner und 1 Volkswirtin.Sommersemester 1944: 1 Theologe, 8 Mediziner, 1 Volkswirtin, 1 Philologinund 1 Naturwissenschaftlerin.Wintersemester 1945/46: 13 Theologen, 1 Mediziner, 1 Philologe und 1 Jurist.Sommersemester 1946: 10 Theologen und 1 Jurist.Wintersemester 1946/47: 9 Theologen und 1 Jurist.Sommersemester 1947: 9 Theologen, 1 Naturwissenschaftler und 1 Jurist.Zweitens unterliegt die Zahl der Hausbewohner in den Kriegsjahren ständigSchwankungen, da immer wieder einzelne Studierende zum Wehrdienst andie Front und zu Wehrübungen eingezogen werden bzw. auf Urlaub oder fürlängere Zeit wieder in das Haus und damit ins Studium zurückkommen.Drittens wird im Bericht vom Sommersemester 1939 vermerkt, daß es »einengewaltsamen Einbruch in dieses Mönchskloster« mit dem Einzug einer Studentingegeben habe. Und ein Jahr später ist nach dem Einzug weiterer Studentinnensogar davon die Rede, daß das Semester »vollkommen unter dem Zeichen derFrauenemanzipation« gestanden habe und eine »frauliche Atmosphäre« sich ausgebreitethabe. Bedingt durch den Krieg und den damit verbundenen Einzugder Männer zum Wehrdienst befinden sich die Frauen in den Jahren 1942-1944eindeutig in der Majorität. Das soll durch eine Übersicht, die wiederum eineAuswahl von Semestern berücksichtigt, verdeutlicht werden:Sommersemester 1938: 15 Männer.Sommersemester 1939: 14 Männer und 1 Frau.Herbsttrimester 1939: 14 Männer und 1 Frau.1. Trimester 1940: 14 Männer und 1 Frau.2. Trimester 1940: 12 Männer und 3 Frauen.3. Trimester 1940: 9 Männer und 5 Frauen.Trimester 1941: 12 Männer und 3 Frauen.Sommersemester 1941: 9 Männer und 1 Frau.Wintersemester 1941/42: 11 Männer und 1 Frau.Sommersemester 1942: 8 Männer und 3 Frauen.Wintersemester 1942/43: 6 Männer und 10 Frauen.Sommersemester 1943: 4 Männer und 8 Frauen.Wintersemester 1943/44: 4 Männer und 8 Frauen.


10 Chronik des Reformierten StudienhausesSommersemester 1944: 3 Männer und 9 Frauen.Wintersemester 1945/46: 12 Männer und 4 Frauen (Aus- und Einzügewährend des Semesters).Sommersemester 1946: 8 Männer und 4 Frauen.Wintersemester 1946/47: 8 Männer und 3 Frauen.Sommersemester 1947: 10 Männer und 1 Frau.Leben und Lernen bedeutet im Spiegel der Chronik der Jahre 1938-1947 dieBemühung um eine Lebens- und Lerngemeinschaft, die in schwierigen Zeitenein erstaunliches Maß an Stabilität und Normalität vermitteln konnte. Das Haushat sich in jenen Jahren als Anlaufstelle und Heimat für <strong>reformiert</strong>e Studierendeaus unterschiedlichen Fakultäten erweisen können, was u.a. auch aus dembleibenden Kontakt zahlreicher ehemaliger Bewohner zum Haus zu schließenist. Bei der Formulierung des Gründungszwecks des Studienhauses 1921 standnoch die Zurüstung künftiger <strong>reformiert</strong>er Pfarrer im Zentrum. Ende der dreißigerJahre verschob sich bedingt durch die Zeitereignisse der Schwerpunkt zu einemHaus, das vornehmlich gemeinschaftsbildenden und persönlichkeitsförderndenCharakter besaß und diese Aufgaben nicht zuletzt auch durch dieVielfalt der Studienfächer und Interessen seiner Bewohner erfüllen konnte.Doch es ist auch kritisch zu fragen, ob sich in der Chronik ein spezifisch<strong>reformiert</strong>es oder zumindest protestantisches Profil des Studienhauses abzeichnet.Die Antwort lautet: eher nein. In den Chronikeintragungen der Jahre 1938-1947 leuchtet ein solches unverwechselbares Profil nur am Rande auf. Das giltetwa für den seltenen Hinweis auf die gemeinsame Bibellektüre im Rahmender Hausandachten oder die Erwähnung, daß sich in den Kriegsjahren der Mutder Väter bewährt habe, ein Reformiertes Studienhaus errichtet zu haben. Inkeinem Bericht ist jedoch davon die Rede, daß sich die Bewohner mit der gegenwärtigenSituation in den <strong>reformiert</strong>en Gemeinden, deren Belastungen durchdas Kriegsgeschehen, dem Kirchenkampf, der Bekennenden Kirche oder gar demWiderstand gegen die Diktatur des nationalsozialistischen Staates eingehenderbeschäftigt hätten. Einzig die vagen Notizen über Hausabende mit der Diskussionüber bewegende Fragen lassen erahnen, daß auch Grundsätzliches, wozudie angedeuteten Aspekte gehören, erörtert wurde. Gewiß darf das Schweigender Chronik über diese Aspekte des Zeitgeschehens nicht vorschnell beredtgemacht und der Schluß gezogen werden, daß es keine reflektierende Auseinandersetzungmit dem Zeitgeschehen gegeben habe. Es ist ferner zu bedenken,daß die zentralen Jahre des Kirchenkampfes im Zeitraum vor Beginn der Chronikaufzeichnungenliegen und somit bereits der Vergangenheit angehören. Ausgut verständlichen Gründen werden in den Berichten die Pflege der Gemeinschaftsowie kulturelle Unternehmungen ins Zentrum gerückt, um damit zudokumentieren, daß das Studienhaus inmitten der Kriegsereignisse die Funktionübernehmen konnte, vom Zeitgeschehen abzulenken und den Bedürfnis-


Einführung 11sen des Menschen nach Normalität, Stabilität und kultureller Aktivität zu entsprechen.Und so werfen die Eintragungen in der Chronik erneut ein Licht darauf,daß die Geschichte der Reformierten in jenen Jahren homine confusionekeinesfalls identisch ist mit der Geschichte der Bekennenden Kirche und desWiderstandes. Die zumal unter den Reformierten lange Zeit gepflegte Hagiographieihrer Geschichte 1933-1945 ist an ihr Ende gelangt und muß revidiertwerden 22 .22 Vgl. dazu auch den Beitrag von Eberhard Busch, Reformierte Tradition im Kirchenkampf.In: RKZ 139 (1998), S. 122-130.


Chronik des Reformierten Studienhauses inGöttingen 1938-1947Ordnung des Reformierten Studienhausesvom 1. November 19401) Das Studienhaus in Göttingen ist eine Stiftung <strong>reformiert</strong>er Gemeinden,die mit ihren Gaben zunächst den theologischen Nachwuchs und dannauch junge, bewußte Gemeindeglieder anderer Fakultäten fördern wollen.2) Daraus folgt, daß die jeweiligen Insassen des Hauses es als ein Vorrechtzu schätzen wissen, wenn sie in den Genuß eines solchen Stipendiumsgelangen und daß ihre innere Haltung und das äußere Benehmen entsprechendausgerichtet ist.3) Da es sich also weder um ein Hotel noch um ein Pensionat »möblierterDamen und Herren« handelt, ist jeder gehalten, die von Semester zuSemester zu bestimmende Hausordnung zu beachten und nach ihr sichzu richten.4) Die Insassen des Reformierten Studienhauses bilden sowenig einen Vereinwie eine Verbindung oder eine Kameradschaft. Sie sollen einen Freundeskreisdarstellen, in dem alle bewußte Glieder ihrer Kirche sind, in demjeder jedem völlig vertraut und jeder jedem hilft. Niemand steht oder stelltsich außerhalb der Semester-Gemeinschaft.5) Zur Aufnahme in das Haus ist ein schriftlicher Antrag mit kurzemLebenslauf zu stellen und einzureichen. Wird dieser Antrag vom Stiftsvatergenehmigt, so hat der Antragsteller durch Unterschrift hierunter zubekunden, daß er willens ist, obiges zu befolgen und die Hausordnungimmer zu halten.6) Dem Senior obliegt die Durchführung der Hausordnung, er ist Verbindungsmannzwischen dem Stiftsvater und der Corona. Er ist primusinter pares und jeder verpflichtet sich, seinen Anordnungen Folge zu leisten.7) Die Hausordnung, die in ihren Einzelheiten den Umständen entsprechendabgewandelt werden kann, besagt im Wesentlichen folgendes:a) Jeder ist im Besitz eines Hausschlüssels (der beim Auszug abgegeben werdenmuß) und hat freien und ungehinderten Ein- und Ausgang, hat sichaber in und außer dem Hause so aufzuführen, daß er dem Hause Ehremacht.b) Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Ausnahmen sind nurin begründeten und dringenden Fällen vom Senior zu gestatten, die Morgenandachthält der Senior oder ein von ihm dazu bestimmter.c) Der Tagesraum und die Zimmer sind peinlichst sauber zu halten, die


14 Chronik des Reformierten StudienhausesMöbel schonsam zu behandeln. An Sonntagen säubert jeder seine Stubeselbst.d) Die jeweilige Hausmutter ist von allen Insassen selbstverständlich zuachten, ihre viele Arbeit zu würdigen und ihre Wünsche, die sie dem Seniorvorträgt, zu respektieren.e) Beschwerden, Wünsche oder Anregungen sind zunächst dem Senior vorzutragen.f) Verschlafen oder beim Senior nicht entschuldigte Verspätungen zu denMahlzeiten werden durch eine Geldbuße von 0,20 RM in die Hauskassegeahndet. Andere Verstöße gegen die Grundsätze oder die Hausordnungkönnen ebenfalls durch Geldstrafen oder durch eine andere Buße geahndetwerden.g) Wer die Bibliothek benutzen möchte, hat sich an den jeweiligen Bibliothekarzu wenden. Dieser ist verantwortlich für alle Bücherei-Fragen.h) Im Hause hat jeder auf den anderen und seine Arbeit Rücksicht zu nehmenund sich stets möglichst ruhig zu verhalten. Nach 22 Uhr hat absoluteRuhe zu herrschen.Göttingen, am 1. November 1940Kamlah 1Pastor der ref. Gemeinde zu Göttingen und Stiftsvater1 Theodor Kamlah (1887-1968) war von 1920 bis 1958 Pfarrer der ref. Gemeinde Göttingen,1928 Mitgründer des Bundes ev.-ref. Kirchen Deutschlands und von 1929 bis 1964dessen Präses.


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20 Chronik des Reformierten StudienhausesKurzer RückblickBei Anlage dieses Buches befinden sich im Studienhaus noch Leute, die schonim Sommersemester 1938 hier gewohnt haben, und es sollen kurze Berichteüber die verflossenen Semester vom 1. April 1938 ab gegeben werden.Sommersemester 1938Es fanden sich elf Theologen, drei Mediziner und ein Philologe ein, die unterdem Seniorat von Vikar Eduard Haas ein Semester zusammen verlebten. Hierunten sind diese fünfzehn Männer im Bilde zu sehen.Die Theologen: Eduard Haas, Vikar bei Herrn Pastor Kamlah, Willi Born,Vikar bei Prof. Weber, ebenso Lutz Heinen. Sönke Habben und Edzard Klüversteckten in Examensarbeiten und bestanden am Ende des Sommers in Aurichihr 1. theol. Examen. Beide waren Ostfriesen, ebenso die drei Mediziner. Diesefünf tranken mit viel Liebe und Ausdauer ihren Tee.Dann kamen die übrigen Theologen: Otto Bode, Hermann Radtke, WernerBrölsch, Jürgenmeier, Wilhelm Dietrich und Wiemann.Die Mediziner waren Hermann Wübbena, sein Bruder Wilhelm, der nachherige»Onkel Paul« und Frieder Voget, der ausgiebig die eben errungene Freiheitvom Kommiß als sorgloses 1. Semester genoß. So ereignete sich nichtsAbsonderliches, das zu berichten wäre. Es wurde viel und mit gutem Examenserfolggearbeitet.


1938/39 21Wintersemester 1938/39Jetzt ging das Seniorat an Willi Born über, ein preußischer Wachtmeister, der denKreis unter seiner straffen Führung zu einer Einheit gestaltete und der eine Hausordnungaufstellte und auch für ihre Durchführung sorgte. Ein Bild gibt’s ausjenem Semester leider nicht mehr. Die Hausinsassen, Theologen: Ernst Willenberg,Wilhelm Voget, Heiner Bartling, Paul Freikunft, Gerhard Wallmann, OttoDohmeier – alles neue Gesichter. Ein Jurist, Hans-Jürgen Möseritz, zog ein.Auch dieses Semester sah fleißige Arbeiter: Weihnachten 1938 bestand HermannWübbena das medizinische Staatsexamen, am Ende des Studienabschnitts machtenHeiner Bartling und Paul Freikunft in Hannover ihre 1. theol. Prüfung. WilhelmWübbena und Frieder Voget bestanden in Göttingen das Vorphysikum.Otto Bode bestand in Aurich die 1. theol. Prüfung.Außer der Arbeit vereinten uns manche Kneipen und ein Tanzfest im Kindergarten2 , Willi Born sorgte für alles und für noch mehr. Ihm muß ein Denkmalgesetzt werden. Leider mußte er uns im Sommersemester 1939 verlassen.Sommersemester 1939Ihm wurde sehr nachgetrauert und sein Andenken gepflegt. Wilhelm Voget übernahmdas Amt des Seniors und führte es im Geiste von Willi Born weiter. Esgelang, diesen mit seiner Braut im Sommer als Gast hier zu haben. Auf dem»Waldschlößchen« 3 feierten wir ein Damen- und Tanzfest, zu dem wir im Autobusfahren durften. Der Stiftsvater »stiftete« in diesem Semester reichlich. Alsdie Corona abgekämpft war, wurde untenstehende Blitzlichtaufnahme gemacht:In der Mitte die jugendlichen Balleltern, über ihnen in der obersten Reihe WilliBorn und Braut. Dieses Fest veranlaßte Georg Buitkamp, einen neu eingezogenenTheologen, zu vielen lustigen Versen. Er war unser unvergessener WilhelmBusch.Willi Born und Arnold Küttner wetteiferten auf dem Klavier und auf derBierorgel. Ernst Willenberg und andere waren besondere Freunde der Polizeiund der Straßenlaternen. Einen gewaltsamen Einbruch in dieses Mönchsklo-2 Nachdem die Ev.-ref. Gemeinde Göttingen 1933 das alte Logenhaus in der Oberen Karspülefür Gemeindezwecke gemietet hatte, versuchte sie es 1937 zu erwerben. Der Kauf alsGemeindehaus mißlang, da von Staats wegen die Veräußerung von beschlagnahmten Immobilienan die Kirche verboten war. Um die Gemeindegruppen nicht auflösen zu müssen, wurdedas Reformierte Studienhaus für die Gemeinde genutzt. Am Eingang entstanden ein großerRaum für den Konfirmandenunterricht und daneben ein Raum für den bereits gegründetenKindergarten. Dafür mußte eine Wand herausgebrochen werden, die – wie sich sodannherausstellte – eine tragende Mauer war. In Eile wurde eine eiserne Säule eingebaut, die»Mazzebe« genannt wurde und um die herum die Studenten bei ihren Festen tanzten; vgl.Karl Eduard Haas, Der Bund evangelisch-<strong>reformiert</strong>er Kirchen Deutschlands. Erlangen 1982,S. 34f.3 Das »Waldschlößchen« war ein Ausflugscafé zwischen Reinhausen und Bremke südöstlichvon Göttingen.


22 Chronik des Reformierten Studienhausesster unternahm in jenem Semester Maria Zimmer, die »nie dafür kann«. IhrBruder Claus gab bald seine Erziehungsversuche auf. Unendlich viel Freude undBruderschaft brachte dieses an Festen, Kneipen und Ausflügen reiche Semester.Wer zählt die Zigarren, die der Senior weniger verteilte als selbst rauchte, wervergißt die ungezählten Tee- und Skatstunden, wer vergißt jene ernsten Abendeauf Arnold Küttners Bau?


1939 23Gewitterwolken hingen am Himmel, und von fernher vernahm man schonWaffengeklirr und Kriegsgeschrei. Dieser Sommer war wie ein letzter Abschiedvon friedlichen, sorglosen Zeiten, ein Genießen, bevor der bittere Ernst begann.In den Ferien waren »Onkel Paul«, Willi Koch, Frieder Voget zusammen inSchlesien im Landdienst. Gustav Bruns und Peter Hatig steckten in Examensnöten.Mitten in die Ferien hinein holte die Mobilmachung die ersten wiederin den grauen Rock. In alle Winde wurde der Kreis zerstreut, Willenberg undWilhelm Voget wurden nach Göttingen eingezogen und konnten noch als Soldatenihr Examen bestehen. Auch Peter Hatig und Gustav Bruns beendeten ihreStudien. Im Laufe des Krieges dann auch Werner Brölsch, Wallmann, Küttnerund Buitkamp und Claus Zimmer. Dann begann im Oktober 1939 das Herbsttrimester1939.Herbsttrimester 1939Ein Rückblick ist und bleibt immer eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseitsbehält man zwar nur das Schöne, andererseits vergißt man auch wiederviele kleine, nette Episoden, deren Ausfall der eine oder andere vielleicht bedauert.Schadet nichts, oder wie es in meinem ersten Haustrimester hieß: »Machtbitte fast gar nichts!«Und mit diesem Logon bin ich schon mitten im Geist des ersten Kriegstrimesters,das durch viele markante »Logien« sich auszeichnete. Da war oft die Redevon einem Herrn Leutnant, der die Front abreiten sollte und kein Pferd hatte,von dem Scheck, den ein gewisser Onkel »van Tragemich« hatte, und derglei-


24 Chronik des Reformierten Studienhauseschen schöne Dinge mehr. Es war eine lustige Corona, die ich, frisch dem Reichsarbeitsdienstentsprungen, hier antraf. Alle wurden überragt, zwar nicht anHaupteslänge, so doch an Körperfülle von unserem lustigen, lieben alten »OnkelPaul«, dem Mann des Studienhauses. Er war es auch, der dafür sorgte, daß diejunge Tradition der vielen Feste würdig fortgesetzt wurde. Ihm zur Seite standals »Supp-Senior« Wilhelm Koch, zwar ruhig, doch bei allem »Rabbatz« dabei.Günter Stub, klein, aber oho, sorgte als Fuchsmajor liebevoll dafür, daß wirFüchse anständig erzogen wurden, nebenbei war er Mensch und konnte sehr»tief denken«. Dann kommt Martin Immer, an dem ich unmöglich so kurz vorübergehenkann, da er soviel zu unserer Belustigung beitrug, zumal wenn erbei Tisch in hochgeistige Probleme verfiel, die er dann als Zweitsemester kurzeben löste. Er pflegte sich dann auch für seine geistigen Reden körperlich bestenszu präparieren, indem er, ehe er anfing, noch einmal eine gehäufte Gabel inden Mund spendierte, damit wir ihn besser verstehen konnten. Ein sicheres Indizauf seine Anwesenheit im Hause war sein Ofen. Brannte er, so war Martin sichernicht da. Glich sein Zimmer aber einem Eiskeller, dann saß Martin da,qualmte wie ein Schlot und arbeitete.Karl Heller, der Kraftmensch, brauchte auch dementsprechend Energie.Manchmal war er beim Essen kaum noch zu sehen. »Es will doch keiner mehrBratkartoffeln!?«, und fort waren sie.Und zwischen dieser rauhen Rotte und uns jungem Gemüse blühte ein zartes,junges Pflänzchen, damals noch die »filia hospitalis«.Das sind die markantesten Gestalten aus der damaligen Corona. Die besonderenEreignisse waren außer zwei Bierabenden, die einfach klotzig waren, leiderimmer nur Feste, die wir den Leuten gaben, die Vater Staat aus unserer Mitteholte: Rudorf, Immer und Koch, der aber bald wieder zurückkehrte, was dannein umso froheres Fest gab. Martins Abschiedsfeier wurde sogar so toll, daß erauf seinem Weg zur Bahn noch an der Polizeiwache Station machen mußte. Erwar beim Abtestat 4 auf dem Gänseliesel vom Schutzmann gefaßt worden. Schade,daß dieses Trimester nur so kurz war! Das neue Jahr brachte dann das 1.Trimester 1940.1. Trimester 1940Durch die vielen Abgänge zum Heer wurde viel Raum, so daß viele neue Leuteins Haus kamen. Bei vielen war der Begriff »neu« allerdings recht subjektiv, dennes handelte sich um alte Studienhäusler, die reumütig ins Stift zurückkehrten.So war die Zusammensetzung der Corona eine ganz andere. Es wurde mehrgearbeitet. Alle anderen an Arbeitskraft überragte Sebirowski. Man sah ihn eigentlichnie ohne Buch. Er saugte die Worte aus dem Munde der Professoren,4 Eigentlich Testat eines Hochschulprofessors am Ende des Semesters.


1940 25als ob sie eitel Honig wären. Darum starb er auch fast, wenn er einmal ein Kollegversäumte. Auch Eisenberg war ein wüster Arbeiter. Er kam sich eigentlichmehr als ein Apostel unserer lieben Freunde aus dem »Stillen Ochsen« 5 vor.Gegen Ende taute er allerdings ganz groß auf. Nicht zu vergessen ist auch unser»süßes Baby« und enfant terrible, der Knabe Möseritz (er kam aus der Schweizzurück). Wir wollen seiner rühmend gedenken. Denn er hat unserer Verspätungs-und Bierkasse das meiste zukommen lassen. Eine ganz markante Gestaltwar Werner Brölsch. Schon altes Haus, war er doch immer zu allen Streichenaufgelegt, nur Bier konnte er nicht trinken, denn er nippte immer nur am Glase.Zur Abrundung des Bildes müssen wir noch Schauer und Pagenkopf erwähnen,die als feindliche Freunde einander dauernd in den Haaren lagen und dochein Herz und eine Seele waren.Das erste große Ereignis, ich möchte fast sagen, das Ereignis, war »OnkelPauls« Physikum. Die Komplexe waren verschwunden, der Grund für eine tolleFeier war gegeben, »Hei, das war ein schönes Fest, wallera« ... Den Rest mögesich der geneigte Leser selbst ergänzen.Und dann kam ein einschneidendes Ereignis. Das Haus bekam Zuzug. Wochenlangwar schon die Rede davon und der Kampf hatte schon wüst getobt.Besonders Frau Schulz war schwer dagegen und versprach, den neuen Einwohnerhöchst eigenhändig umzubringen. Aber als er dann mit wippendem Öhrchenund wackelndem Schwanz herantrippelte, war aller Zorn verflogen. »Fifi« hießer und Maria bezeichnete ihn als ihren Sohn. Sie mußte es ja wissen. Fifi war5 Bezeichnung für das alte Theologische Stift in der Jüdenstraße, Ecke Mühlenstraße.


26 Chronik des Reformierten Studienhausesanfänglich noch unerzogen, vor allen Dingen pflegte er oft Drinnen und Draußenzu verwechseln.Daß er des öfteren fortlief, kann man wohl kaum als anfängliche Unerzogenheitbetrachten, denn das tut er heute noch. Unser Stiftsvater war jedenfallsmit dem neuen Insassen einverstanden, denn er sah seiner feierlichen Taufe wohlwollendzu. Und damit wäre ich beim zweiten Fest, dem Bierabend auf demHaus. Der Tagesraum war vor lauter Girlanden, Sesseln und bunter Beleuchtungnicht wiederzuerkennen. Es war ja auch »Onkel Pauls« Abschiedsfest. Der»wärmende Ofen« des Hauses zog aus, uns in der Kälte zähneklappernd zurücklassend.Aber zum Schluß haben wir uns noch ein ganz tolles Ding geleistet. Wir drangenin den »Stillen Ochsen« ein, sangen zackig einen Vers vom Polenmädchenund dann kam unser Gong. Erst ganz leise, dann immer mehr aufschwellend,bis sein Gedröhne von einem entsetzlichen Geschrei unsererseits übertönt wurdeund in dem Donnergepolter, mit dem wir die Treppen hinabstürmten, unterging.Mit diesem urigen Streich schied »Onkel Paul« von uns.Es war in einer Hinsicht ein ganz tolles Semester, nämlich im Hinblick aufdie Temperaturverhältnisse. Ein Semester in tiefstem Schnee und mit eisigsterKälte. Das waren noch Zeiten, als Lokus und Wasserleitung jeden Morgen zugefrorenwaren! Da kann man nur sagen: »Gut, daß man im Winter kein Obstbekommen kann!«Außer »Onkel Paul« machten dann noch Claus Zimmer und Schorse Buitkamp,zwei Studienhäusler im feldgrauen Rock, hier in Göttingen Examen.2. Trimester 1940Unterschied sich schon das vorige wesentlich vom 1. Kriegstrimester und damiterst recht vom Sommersemester 1939, so war dieses Trimester eine grundlegendeUmwandlung. Es stand vollkommen unter dem Zeichen der Frauenemanzipation,denn schon bald, zu bald, mußten uns Werner Brölsch und Karl Hellerverlassen, und an ihre Stelle traten zwei Mädchen: Inge Georgi und »Klein-Eki«.Das Ereignis war da. Maria war entthront. Nur schwer konnte sie sich darangewöhnen. An die Stelle des männlichen Tons trat nun das »betont« Weibliche.»Unmöglich« wurde ein geflügeltes Wort bei uns. Die frauliche Atmosphäre,von der man bei Maria nicht gerade sehr viel gemerkt hatte und die auch Klein-Eki nicht wesentlich verstärkte, »säuselte« sanft durch unseren Tagesraum.Manchmal säuselte sie auch schon vom Wall bis hinauf in Wilhelm Immers Zimmer.Leute waren nicht mehr viel da. Günter Strub war wieder zurückgekehrt,um sein Examen zu machen. Wilhelm Immer, ein Vetter des berühmten Martin,hatte sich auf Anraten ebendesselben auch hierher begeben. Dann war danoch Kurt Petersen, ein »Hamburger Junge«, und besagter Möseritz, der wiederebensoviel zur Vermehrung unserer Bierkasse als zu unserer Heiterkeit


1940 27beitrug, wenn er – um 7.28 Uhr den Federn entsprungen – um 7.32 Uhr untenerschien. Zu Oberhemd und Schuhen hatte es dann meist nicht gereicht. AlsHemdersatz diente dann ein malerisch um den Hals geschlungenes Handtuch,an den Füßen hingen vorn ein paar Schlappen, die er – fama est –, um schnellerdie Treppe herunterzukommen, erst unten anzog.Zeitweise wohnte dann auch noch Wilhelm Dietrich hier, der während eineskurzen Urlaubs sein Studium zu Ende bringen wollte.Trotz des ewig-weiblichen Etwas, das sich unter uns breit gemacht hatte, wirduns die Stiftsbowle, die uns unser lieber Waldmeistervater (ich wollte sagen: ...– na, Ihr wißt schon) gab, unvergessen bleiben. Die hatte es in sich. Das kannman wohl sagen.Ein großes Hallo gab der Besuch der »Stillen Ochsen«, die bei uns nächtlicherweiseeingedrungen waren und Budenzauber veranstaltet hatten. Ein sofortigerRacheakt unsererseits war die Folge. Er hat gewirkt, denn schon am nächstenTage kamen Abgesandte, die um Frieden baten.Sonst ist eigentlich nichts weiter zu bemerken, als daß das Semester höchst»gefühlvoll« verlief, so daß der gute alte Geist, der sowohl im ersten als auchim zweiten Kriegstrimester geherrscht hatte, zurückgedrängt war. Daß er abertrotzdem nicht tot ist, wird uns hoffentlich das nächste Trimester zeigen.3. Trimester 1940Und wieder eine völlig neue Zusammensetzung! Mitte September 1940 fandensich allerlei bisher im Hause nicht gesehene Leute ein. Lauter Leute, wel-


28 Chronik des Reformierten Studienhausesche die Gewähr bieten, daß das Haus auch in Zukunft »das Haus von allen Häusern«bleibt. Acht Männlein und sechs Weiblein waren’s anfänglich! Mit denfünf Gemeindedamen und dem Mittagsgast und Dauerredner Enno Bartels einerecht ansehnliche Haus- und Tischgemeinschaft. Inge Georgi und Jürgen Beckerverließen uns am 1. November, und Karl Heller und Heinz Rudorf zogen ein.In diesem Trimester überwiegt bei weitem die medizinische Fakultät. Sie drücktdie beiden Volkswirte Heller und Petersen, die Chemikerin Hanni Ochlich andie Wand. Nur ein Theologe zeugt von vergangener und hoffentlich auch werdenderPracht: Heinz Rudorf. Ihm wurde unsere Bibliothek zur Aufsicht undzur Instandhaltung anvertraut.Unser Plutokrat Adolf Kraushaupt, ein Sanitätsfeldwebel der Luftwaffe mitunverschämten »Studiengebühren« von Seiten des Kommiß sah sich zu unserergroßen Freude genötigt, seinen Einstand in Form einer Bowle zu geben.Ansonsten gibt er im Verein mit dem Senior Frieder Voget Abend- und wohlauch Nachtkurse im »positiven Schwätzen«. Es soll auch schon negativ verlaufensein, und es finden sich immer Leute, die ihren weisen Reden lauschen oderauch ihnen das Wort aus dem Munde nehmen.Nachdem sich die Gesellschaft berochen und für gut befunden hatte, stiegauf dem Waldheim die Semesterantrittskneipe. Unsere »Buben« (Pitt Schmidt,Willi Bär und Tom) zogen das Faß auf einem christlichen Gemeindehandwagenin die Berge. Vorher nahm der Stiftsvater beim Antreten die Parade ab. ImBilde sieht man den Stifter vor seinen Stiften.Die Leute standen an den Straßen still und sahen zu, wie da eine laut-lustigeGesellschaft mit einem Bierfaß auf dem Wagen – Fifi war vorgespannt, auf


1940 29dem Faß Maria als Bacchantin – durchs Städtchen zog. Und sie sahen so aus,als ob ihnen ganz langsam aus ihrer frühesten Jugendzeit dämmerte, daß es inGöttingen ja Studenten gab und – tatsächlich! – noch gibt. Berge steigen machtSchwitzen, und Schwitzen ist Wasserverlust, und Wasserverlust bringt Durst,und Durst macht trinken. Als wir oben waren, hatte eine Flasche Steinhägerbereits ihr kostbares Leben lassen müssen. Wenn auch der Kran und das »Gestänge«zum Faß nicht mitgekommen waren, es sprudelte doch und – ihr werdetlachen – wir haben’s doch auf und alle bekommen.Gemeinsame Unternehmungen wurden des öfteren getätigt. An einem SonntagNachmittag fuhren wir in größerem Kreise weniger ins Grüne als ins Nasse.Die Zeiten und Künste der Pfadfinder sind lange dahin, das haben wir gemerkt,als wir nach langen Irr- und Umwegen über »die Gleichen« nach Gelliehausenwanderten, allwo wir den Wirt um seine letzten Würste und die Kühe um ihreletzte Vollmilch brachten. Nur gut, daß er gleichzeitig Postagent war, sonst hätteer gewiß unseren Bedarf an Karten nicht decken können!Ein andermal waren wir zu einem Orgelkonzert, zu einem Bachabend, wouns Fräulein Lena Heim – sie kommt immer noch zu spät zum Essen! – bedachte,und sie bezweifelte wohl etwas unsere Orgelkenntnisse, deswegen mußtenwir’s fachfraulich des öfteren hören, daß eben das »Rückpositiv« nicht so zurGeltung käme. Bei der Reformationsfeier diente sie an der Orgel und wir mitder Stimme, wobei wir sie aber mit unserem frischen Gesang weit hinter unsließen!Eines Nachts wurden verschiedene Leute durch den wohlbekannten Haus-Husten – diesmal im Original – in ihrem süßen Schlummer gestört. Auf dem


30 Chronik des Reformierten StudienhausesWall stand der Sanitätsgefreite Wilhelm Wübbena alias »Onkel Paul«, der Einlaßbegehrte und auf seinem Heimaturlaub die Stätte seines ruhmvollen Wirkensaufsuchte. War das eine Freude! An diesem Abend haben wir dem Kellnerim »Schwarzen Bären« das Laufen beigebracht. Eine sangesfreudige Corona(oder heißt es doch: Carona, wie Frau Schulz sagt?) feierte hier ein fröhlichesWiedersehen. Auch der Stiftsvater fühlte sich in seinem Element und meintezu wiederholten Malen: Es sei ja »sooo niedlich!«.Von kleineren Unternehmungen soll nicht weiter berichtet werden, auchmöge man nicht abfällig die Nase rümpfen, wenn immer nur von Festen undFeiern die Rede ist. Es geschah und geschieht auch allerlei, das sehr erfreulichist und sich doch nicht eignet, erzählt und erredet zu werden.Jeder weiß, daß ein Semester und eine Gemeinschaft nicht nur aus Festenund weithin hör- und sichtbarer Fröhlichkeit besteht. Eine Neuerung habenwir eingeführt: Auch – oder gerade! – samstagsmorgens ist gemeinsame Andachtund gemeinsames Frühstück.Unser Kreis hat bei solchen und ähnlichen Anlässen auch wohl mal Lücken,da wir Leute unter uns haben, die von drohenden Examensnöten und eingebildetemNichtwissen geplagt werden: Adolf Kraushaupt beginnt allmählich, sichan den Gedanken zu gewöhnen, daß er im Februar-März sein Staatsexamenmachen will, Maria, die den Stoff von drei Semestern nachholt, ebenfalls. Ottound Klein-Eki sehen ihrer schweren Stunde am Ende dieses Semesters entgegen.Sie wollen im Physikum alles bisher Dagewesene schlagen, und Koch brütet überseiner Doktorarbeit. Die andauernden Veränderungen in den Donau- und Balkanländernlassen seine Wirtschaftsarbeit über diesen Raum nie ganz befriedigendfertig werden. Wenn sich grad’ ein einigermaßen klares Bild ergeben hat,dann ist der »status quo ante« bereits wieder über den Haufen geworfen.Es geht aber nicht nur jeder seiner Arbeit nach, die Corona ist nicht nur feiernderweisevereint, sondern auch – hört und seht – in gemeinsamer Arbeit.Der Himmel weinte, und die Leine schluckte nicht mehr. Unser Keller war ihreletzte Rettung, und er bot leider nur allzuviel Platz für ungeheure Wassermengen.War das ein Hallo, als stundenlang Eimer nach Eimer die lange Kette passierte!Stiefelbewehrte Leute standen unten im »Kesson«, und nach harter, mitstarkem Humor gewürzter Arbeit, war der Keller nicht mehr schwimmenderweise,sondern wieder trockenen Fußes zu passieren.An diesem Abend – es war der 5. November – erschien glücklich und unerwartetder Herr des Hauses, Leutnant Willi Born. Wir »improvisierten« malwieder in der Junkernschänke. Ein müder Krieger und stellenloser und sorgenvollerVater wurde wieder jung und freute sich, daß es immer noch Fröhlichkeitim Hause gab, wie er sie gefördert und miterlebt hatte. Diese Chronikund der Zustand des Hauses fanden seine Anerkennung und volle Billigung.Am folgenden Tage – auch der 6. November muß behalten werden – griffder Stiftsvater tief in die Tasche und erstand zur Verschönerung des Speise-


1940 31zimmers und zu unserer Gemütlichkeit einen Tisch und zwei Sessel, die nunvor dem »Plüsch« stehen. Ein Markstein in der Geschichte der Stiftungen undein verheißungsvoller Anfang! Wir sind dem edlen Spender dafür und für vielesandere sehr dankbar!Der 7. November hatte es auch »in sich« oder vielmehr: Wir hatten es abendsin uns. Und auch das muß verbessert werden: Wir hatten sie in uns, die Bowlenämlich, die Pastor Kamlah mit Frau und Töchtern für uns in seiner Wohnungbereitet hatte. Zum Abendessen fand man sich teils ohne Schlips, teils noch ingestreiftem Hemd, teils auch im passenden dunklen Anzug ein. Als es dann soweit war, zog man in freudiger Erwartung zur Unteren Karspüle. Der Seniormit dem unvermeidlichen Blumen-Rosenstrauß (und dafür sind wir nun immerzu spät zum Essen gekommen!), und Otto Hövels schleppte einen vielversprechendenKoffer mit sich. Herzlicher Empfang bei den Gastgebern, nur MariaZimmer und Sohn fehlten noch. Als sich dann jeder in seinem Sessel niedergelassenhat, kommen die unvermeidlichen Reden. Sie werden glücklich überstanden,und jeder freut sich, der ganz vorzüglichen Zitronenbowle zusprechenund alle Ehre antun zu dürfen. Die angeregte und fröhliche Stimmung ließ auchnicht lange auf sich warten, Scherze und Lieder in stetem Wechsel. Fast jederwußte etwas zu bieten. Zunächst wurde unser »Fürst« mit einem Lied geehrt,stahlhelm- und säbelbewehrt stand er erhöht und ließ sich die Huldigung seinerVölker darbringen (»aus seinem Munde sollte er riechen, ein Riesenroß sollteer sein, und aufhängen wollte man ihn« usw.). Die Studierstube sollte »unseresGeistes reinen Hauch« verspüren, so drückte Pastor Kamlah sich aus – unddas hat sie auch. »Dat magste wohl sagen!« Tom reicht Fifis Lebenslauf nachfür die pastörlichen Akten, auch in der Chronik soll dieses Machwerk eingefügtwerden. Dann tritt Otto als reizendes Mädchen auf und läßt uns in dasgemarterte Herz einer versetzten Landbraut blicken. Gleich hinterher deklamiert


32 Chronik des Reformierten Studienhausesselbiger Otto das Lied von der Glocke, zuerst als Dichter, dann als preußischerFeldwebel, als Schuljunge, als beschäftigter (!) Soldat, der das Gedicht in derZeitung findet usw. Ein heiterer Männerchor verursacht Freude und trockeneKehlen. Die Buben Pitt und Willi treten in einem lustigen Spiel auf. Sie singenzwei Zeilen eines Schlagers, wer sich getroffen fühlt, muß aufstehen. Waswettet ihr, wer aufstand, als gesungen wurde: »Auch ich war ein lockerer Jünglingmit Haar!«? Wir wußten noch gar nicht, daß Pastor Kamlah eine Glatzehatte. Es wird spät und niemand verspürt Lust, den gemütlichen Abend abzubrechen.»Die Bowle ist aber auch wirklich gut« meint Karl Heller und läßtsich noch schnell ein Glas einschenken. Nun ist es aber soweit, der Senior beugteinem Rausschmiß vor, verabschiedet sich und dankt im Namen der Corona,hier an dieser Stelle noch einmal: unser Dank sind keine leeren Worte!Der Wohltaten waren noch nicht genug geschehen, am nächsten Tage durftenwir uns für unseren Tagesraum noch zwei weitere Sessel holen, damit auchjeder seine Gemütlichkeit habe. Wir wurden durch so viel Güte recht beschämt.Bald gaben uns die Stiftseltern die Ehre ihres Besuches zu einem Linsenessen.Sie sahen sich unsere also verschönte Ecke an und bewunderten eine weitereNeuerung: Karl Heller hatte seine zeichnerischen Fähigkeiten in Betrieb gesetzt,und über der Plüsch-Ecke hängen jetzt die getreuen Konterfeis und markantenGesichter der »Stiftler«. Wir hoffen, daß sich auch in späteren SemesternLeute finden, die zeichnen können, oder die sich auf Scherenschnitte verstehen.Ein guter Fotograf (als die Menschen noch Griechisch konnten, schriebman Photograph) ist auch stets notwendig!Unser Dauerredner Enno Bartels wohnte zwar nicht im Haus, aber er hatsich hier die bürgerlichen Kräfte für fleißige Examensarbeiten geholt: »summacum laude« – ist das was? Wir gratulieren, Herr Doktor!Am Donnerstag, dem 14. November, durften wir die Gönner und Erhalterunseres Hauses beherbergen. Der Präses des Bundes <strong>reformiert</strong>er Gemeindenhatte zu einer Tagung und Presbyter-Versammlung eingeladen. 40 Menschenfüllten unseren Tagesraum, D. Michaelis 6 , Prof. Jeremias 7 und Prof. Weber 8 hieltenausgezeichnete und anregende Vorträge. Zwischendurch fand eine Hausbesichtigungstatt. Wir haben uns bemüht, einen möglichst guten Eindruck zumachen und wir glauben, daß das auch gelungen ist. Herr Lic. Schlier/Leipzig9 z.B. bot uns an, unsere Bibliothek zu bereichern, auch in medizinischer Hin-6 Curt Walter Michaelis (1866-1953), seit 1919 Dozent an der Theologischen HochschuleBethel und Vorsitzender des Gnadauer und deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflegeund Evangelisation.7 Joachim Jeremias (1900-1979), seit 1935 Ordinarius für Neues Testament an der UniversitätGöttingen.8 Otto Weber (1902-1966), seit 1934 Ordinarius für Reformierte Theologie an der UniversitätGöttingen.9 Heinrich Schlier (1900-1978), seit 1945 Ordinarius für Neues Testament undGeschichte der Alten Kirche an der Universität Bonn.


1940 33sicht. Er hat gute Beziehungen zu Leipziger Verlagen. Abends war eine große»<strong>reformiert</strong>e Familie« im gemütlichen Kreis in der »Krone« 10 versammelt. Tomerzählte aus seinem wildbewegten Kriegserleben im französischen Heer. PastorKamlah wurde als ein Zwitter von Vater und Onkel gefeiert, worin wir einstimmenkonnten. Ein Film von Spiekeroog, wo die Göttinger Gemeinde einHeim hat, ließ große Sehnsüchte wach werden, doch dort einmal wieder seineFerien verleben zu können 11 .Zwei Geburtstagskinder hatten wir in diesem Trimester zu befeiern. WilliBär und Kurt Petersen konnten nicht umhin, »sich etwas merken zu lassen«.Aus sehr eigennützigen – daher wohl auch zu verständlichen – Gründen darfdas Rezept der Bowle nicht verraten werden. Das Renommierzimmer des Hauses,Adolfs Bau, war als Spielzimmer für uns große Kinder hergerichtet, besser:ausgeräumt, und in Kurt Petersens Räumlichkeiten fand der feuchte Teil dieserOrgie statt. Einzelheiten zu schildern erübrigt sich – wer weiß nicht, wie’sbei solchen internen Festen zugeht? Der soll sich bei mir melden, er wird nächstesMal eingeladen. Unsere Hanni – das muß aber doch eben erwähnt werden– übertraf sich selbst. Bis zum Schluß (weiß noch jemand, wann der war?)hat sie ausgehalten und hat sich sinnlos an ungezählten Gläsern herrlichsterBowle berauscht, die sie den anderen einschenkte. Dank sei Dir, Hanni, daß10 Gaststätte in der Weender Straße.11 Im Jahr 1928 wurde das »Haus Spiekeroog« von der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen erworbenund 1964 neu erbaut. Mehrfach wurden Bewohner des Studienhauses als Begleiter vonJugendfreizeiten eingesetzt.


34 Chronik des Reformierten StudienhausesDu Dich so für uns geopfert hast, was das Einschenken und was die Abstinenzangeht. Obwohl La Jana 12 in die ewigen Filmgründe eingegangen ist, durftenwir sie an diesem Abend unter uns sehen. Pitt gab in vollendeter Meisterschaftihre Tänze zum Besten. Die Corona war froh und ausgelassen.Je weiter wir in den Advent hineinkamen, je näher Weihnachten und die Ferienrückten, desto mehr wurden verschiedene Gemüter von Fleißprüfungen undExamensnöten geplagt. Kurt gab seine Dissertation ab und fuhr dann mit Ennoins Allgäu nach Oberkirchen zum Wintersport und zur Erholung. Bevor unsauch Eki und Hanni verließen, versammelte Pastor Kamlah seine Völker nochzu einem Semesterschluß- und Abschiedsabend. Unser Tagesraum war festlichhergerichtet, Adventskerzen, Buntpapier umwundene Stehlampen, kleine Tischeund große tiefe Sessel, im Hintergrund ein ansehnliches Faß.Der Nikolaus erschien, brachte jedem ein Spielzeug, kleine Aufmerksamkeiten,die aufmerksam machen sollten. Wie’s gemeint war und die Nutz- undGebrauchsanweisung hatte der Nikolaus (Otto Hövels) in lustigen Versen ausgedrückt.Willi Bär hatte den Faust nach passenden Zitaten durchgeackert, undJohannes Röslers Geschichten machten auch Spaß. Ein Schreib- und Zeichenspielsah die Frauen im Ziel vor den Männern.Ein Trimester ging zu Ende, das uns allen viel Freude und Gewinn gebrachthat. Wir sind um eine schöne Erinnerung reicher geworden. Kurt, Eki undHanni werden uns wohl verlassen. »Onkel Paul«, Werner Brölsch und BrunoDory, drei »Ehemalige«, haben ihr Kommen in Aussicht gestellt.Beim Schluß des 3. Trimesters 1940 und am Jahresschluß sind wir dankbarfür so viel Frieden in so ernster Zeit. Wir gehen auseinander, jeder mit gutenWünschen für alle anderen. Auf Wiedersehen und Gott befohlen!Trimester 1941Wenn wir jetzt – am Anfang des Wintersemesters 1941 – das Buch aufschlagen,das eine Chronik des Studienhauses sein sollte, so starren uns gähnendleere Seiten an. Wie kann man nur so pflichtvergessen sein, Ihr Herren Senioren!Man hätte nun angesichts dieser leeren Seiten die Wahl zwischen dreiMöglichkeiten: 1. Den Herren das Buch nachschicken, aber da muß man zuerstdas Buch verpacken, dann auf die Post damit stürmen, es aufgeben und werweiß, wann es dann wieder zurückkäme! – und in welchem Zustand?! MöglichkeitNr. 2: Die beiden Semester einfach überspringen. Aber nein! Das darf dochnicht sein. Es gibt so vieles, das festgehalten werden muß und das wir festhaltenwollen. Greifen wir also zu der dritten Möglichkeit: selbst schreiben. So will12 La Jana, eigtl. Henriette (Jenny) Hiebel (1905-1940) war eine beliebte Tänzerin undFilmschauspielerin. Sie spielte Hauptrollen in Filmen wie »Der Tiger von Eschnapur« (1938),»Das Indische Grabmal« (1938) und »Der Stern von Rio« (1940).


1941 35ich denn in meinem Gedächtnis »entrümpeln«. Vielleicht findet sich darin nochso manches.Das Trimester 1941 sah im Studienhaus ganze fünf Theologen! Recht erfreulicheTatsache, umso erfreulicher, als dies seit langer Zeit nicht mehr der Fallwar. Prächtige Kerle, von denen wir »Laien« noch so manches zu lernen haben.Kommen wir aber zu dem, was passiert ist. Es ging – glaube ich – mit einerBowle bei Adolf Kraushaupt los, und zwar am 13. Januar. Nettes, gemütlichesGelage, bei dem wir erst mal richtig warm wurden und uns wappneten für dienächsten Feiern.Am 20. Januar 1941 steigt im Haus die von Pastor Kamlah gestiftete Antrittskneipe.Als Gäste waren da: Claus Zimmer, Gerd Wallmann, Heinz Pauschert.So viele alte und ehemalige Senioren waren wohl selten zusammen. Es war einfrohes Wiedersehen. Die alten und älteren Sachen wurden aufgefrischt. Wie vieleErinnerungen gab es doch! Anschließend an dem Abend (es war bald zu Ende,denn bei so vielen »Alten« vom Studienhaus wird das Bier schnell alle!) machtePastor Kamlah einen Rundgang durch das Haus. In so mancher Bude hattesich vieles geändert. So fand z.B. Heinz Rudorf seinen »Hundestall« vollständigleer vor. Ein einsames Brikett lag noch in der Mitte der Bude. Nach langemSuchen fand Rudorf endlich sein Bett. Es hing an dem Fenster und hatte – wienachträglich festgestellt wurde – bei Familie Berg ein Fenster eingeschlagen.Am 19. Januar 1941 war Claus Zimmer auf Besuch gekommen. Er fand seinSchwesterlein aber nicht vor. Dieses war – beim Reiten! Wo denn auch sonst?Kurz entschlossen wurde die Tür zu Marias Gemächern gewaltsam geöffnet.Es ist eben Krieg.


36 Chronik des Reformierten StudienhausesAm 23. Januar 1941 wurde die Hochzeit von Helmut Schulz, Zahlmeister,gefeiert. Inzwischen hat uns die schmerzliche Nachricht erreicht, daß HelmutSchulz in Rußland gefallen ist. Alle die ihn kannten, wissen, was unsere Hausmutteran ihm verloren hat.Erika Schmidt und Otto Hövels feierten am 27. Januar 1941 ihr glänzendbestandenes Physikum (mit 1). Wir versammelten uns zu fröhlichem Trunkim »Schwarzen Bären«. Unser Stiftsvater war auch dabei. Fräulein Wilkens, einoft und gern gesehener Gast im Haus, feierte auch mit. Hatte sie doch auchihr Physikum mit 1 bestanden. Beim Nachhausegehen landete die Gruppe: Wilkens,Brölsch, Elsmarie Bär, Willi Bär, Pitt, Tom auf der Polizeiwache! Sie hattenKrach gemacht auf der Straße. Es war ein lustiges Hin und Her auf derWache und blieb ohne Folgen. Aber das mußte auch mal sein. So steht nunein Teil der Studienhäusler im Notizbuch eines Wachtmeisters der GöttingerPolizei.Am 1. Februar 1941 stieg das Damenfest! Als Gäste waren da: Herr und FrauPastor Kamlah (Frau Pastor als Ballmutter), Herr und Frau Hövels (Ottos Eltern),Erika Schmidt, Fräulein Wilkens, Töchter Kamlah, Herr und Frau Pauschert,Hanneli Voget (Frieders Schwester), Kurt Schmidt (Anschrift: Deutschland, AdolfHitlerstraße), Fräulein Hela Siemers (»Onkel Pauls« Braut). Helen und Mariahatten es sich nicht nehmen lassen, den Kindergarten mit einer Serie von Bildernauszuschmücken. Überhaupt war der Kindergarten nicht wiederzuerkennen.Er sah geradezu phantastisch aus. Wir waren sehr stolz auf ihn. Sogar eineBar war da! Pitt machte seine Sache als Barmixer ausgezeichnet! Aber der Betrieban der Bar ging erst richtig los, als die Gläser kostenlos gefüllt wurden.


1941 37Früh am Morgen saß noch eine kleine Gruppe beisammen, die zur Erholungsich einen starken Bohnenkaffee gebraut hatte. Die Tassen und Teller, siebenan der Zahl, wurden in einem Papiertaschentuch verstaut. Selbiges aber zerrißund die ganze Ladung ging in die Brüche. Das war der mit Humor getrageneAbschluß eines herrlichen Festes.Am 2. Februar 1941 machten wir einen Bummel nach Nikomonte 13 . Eis undSchnee! Wir vertilgten dort oben Massen von Kuchen. Die Rückkehr vollzogsich auf dem ... na ja ... es war halt so glatt! Rudorf – ein ganz Schlauer – hattesich ein Tablett zu eigen gemacht, auf dem er mehr oder weniger stilvoll denBerg hinuntersauste.Leider konnten an diesem Fest Kurt Petersen und Enno Bartels nicht teilnehmen.Sie wären uns liebe Gäste gewesen.Am 13. Februar 1941 besuchte uns Ferdinand Immer, genannt Immo. Esgab ein frohes und gründliches Zechen im Ratskeller. Die arme Elsmarie hattealle Mühe, drei blaue Männer (wer?) nach Hause zu schaffen.Als am 15. Februar 1941 30 Flaschen Sekt ankamen, fühlte man im Hauseine festliche Stimmung. Pitt hatte sie besorgt.Am 18. Februar 1941 versammelte sich die Corona in der Junkernschänke,wohin auch zu kommen uns die Familie Kamlah die Freude machen. Es warein gemütliches Beisammensein bei einer Flasche Wein. Als wir nach Hausekamen, waren wieder mal einige Buden durcheinander, aber die Täter warennicht zu ermitteln.13 Ortschaft Nikolausberg bei Göttingen.


38 Chronik des Reformierten StudienhausesAm 26. Februar 1941 wurde bei dem jungen Glück Leni Schulz-Mallon einPolterabend veranstaltet. Mit dem unmöglichsten Material bewaffnet zog dieCorona zur Franz Seldtestraße 23/6. Hauptsache war: Es machte Krach. So hattensich einige mit einer blechernen Waschbütte bewaffnet, in der unzähligeSteine lagerten. Damit zogen sie durch die Straßen. Alle drei Schritte setztensie sie auf der Straße auf: Eins – zwei – drei – Rums! Eins – zwei – drei – Rums!Solchen Radau hatte man in Göttingen schon lange nicht mehr erlebt. Nachdemdie Gesellschaft bei Frau Schulz reich bewirtet worden war, begab sie sich(samt Waschbütte) in den Ratskeller. Ungeheueres Aufsehen. Mit einem Schlagwar man bekannt. Aber schön war’s!Tags darauf, am 27. Februar 1941, luden Herr und Frau Pastor Kamlah unszu einer Bowle ein. Es war wieder mal ein Fest, wie wir es gern feiern. Herrlichgemütlich, mit viel Humor. Husmann hatte sich Weine geleistet, die Herzund Seele erfreuten. Kurz aber treffend waren alle karikiert. Doch namentlichder gute Bruno sah sich als »alten Eheknochen« von aller Welt beschrien. Selbstverständlichspielte auch sein Sohn, auf den wir alle ein wenig stolz waren, einekleine Rolle mit.Am 4. März hatte die Fischerin – unser guter Küchengeist – Geburtstag. Erwurde am 5. März 1941 gefeiert. Zu gleicher Zeit feierten wir die Hochzeitvon Frau Mallon-Schulz. Ja, ja, es stimmt schon. Sogar getanzt wurde dabei.Es ist ja, ach ja, so schön gewesen! Wenn man an den Kaffee und an den Kuchendenkt, der nie aufgehen wollte! Da hatte Frau Schulz wieder mal was für ihreJungen gemacht, das sich sehen lassen konnte.


1941 39Am 18. März 1941 fuhr Pitt in die Ferien – als erster! Der Abschied wurdegebührend gefeiert. Das Gelage fand im Ratskeller statt. Wieder mal »total blau«.Und dann kam noch unsere Schlußkneipe. Als Gäste waren da: Willi Lohr,Werner Hensel. Die beiden »Luftiküsse« sollten bald in unsere Gemeinschaftaufgenommen werden. Die Bilder nebenan zeugen von dem schönen Abend.Er vollzog sich im Tagesraum des Studienhauses.Das wären so ziemlich alle Feste, die wir zusammen feierten. Aber noch vielesandere hat sich ereignet. »Noch?«, wird man wohl fragen. Ja nun, es warhalt wieder mal ein ereignisreiches Semester. Das Stöhnen aus Frauenmund: »Fifiist weg« ... war an der Tagesordnung. Fifi’s Mutti machte gegen Schluß des Semestersdann ein glänzendes Examen – es war ja auch nicht anders zu erwarten(!).Daß aber selbige Mutti uns nach ihrem Examen verlassen hat, dürfte bis heutenoch nicht verschmerzt worden sein. Sie zog nach Berlin. Die besten Wünschefür eine Zukunft, wie sie sich sie selbst wünscht, begleiten sie.In Elsmaries, genannt Riebschen, Leben trat auch ein großes Ereignis. Siedurfte unter starker und lieber Bewachung nach Kassel fahren und versank dortfür einen Abend in dem sündhaften Treiben einiger Bars.Auch in Adolfs sensibler Junggesellenseele spielte sich so manches ab. Tatort:Hainberg. Daß er dann später sein Staatsexamen bestand, lag wohl daran,daß im Sommer die Nächte kürzer sind, daß der Mond in diesen Nächten alsonicht so lange scheint, was zur Folge hat, daß Mondscheinspaziergänge nichtso lang ausgedehnt werden können. Aber auch sein Eifer (Arbeitseifer, natürlich!)und seine Begabung sind maßgebend an seinem Examenserfolg beteiligt[gewesen].


40 Chronik des Reformierten StudienhausesErwähnen wir noch kurz: Zwei Mädchen waren mit zwei Luftiküssen ausgegangen.Aber, ach!, sie hatten ihre Schlüssel vergessen. So hätte man denn einenLuftikus sein Rad auf die Schultern schwingen sehen können – , sich aufdem Wall aufstellen und das Rad mit dem Dynamo in Bewegung setzen, umauf diese Art Licht zu erzeugen, [das] war die Frucht eines langen Nachdenkens.Währenddessen half sein Genosse den beiden Mädels über die Mauer, sonsthätte am nächsten Morgen Frau Schulz Elsmaries und Annemaries Zimmer nichtzu machen brauchen.Husmann ließ sich auf Toms Kosten seinen Anzug samt Hemd und Krawattereinigen. Tom hatte ihm aus Versehen einen halben Teller Suppe darüber geschüttet.Frieder verbrachte einen großen Teil des Semesters in der Klinik, wo ihn einNierenleiden auf das Lager zwang. Er vertrieb sich die Zeit mit Skatspielen, lesen,arbeiten.Karl Heller erwarb sich große Verdienste durch Zeichnungen. Er setzte dieSerie der Ahnengalerie fort.Das war das Trimester 1941! Es gab viel Verdruß, aber noch viel mehr Freude.Wir denken alle mit Dankbarkeit an diese Zeit zurück. Viele haben uns verlassenund stehen im Felde. Unsere Gedanken weilen bei ihnen. Wir wollenversuchen, das Haus in ihrem Geist weiterzuführen.Sommersemester 1941Man ist so gütig gewesen, mir als »Neuem« den Bericht über dieses Semesterzu überlassen. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Vielleicht kommtdie Freude, wenn ich in den alten Erinnerungen schwelge, von selbst. Wennman neu in eine Gemeinschaft aufgenommen wird, hat man ja viel schärfereAugen für das, was vor sich geht, als andere.Gleich zu Beginn ist da nun eine lustige Begebenheit zu verzeichnen. »Held«war Adolf (er stand ja fast immer im Mittelpunkt). Adolf hatte ja vor, in diesemSemester Examen zu machen. Wie das nun so kommt: Wenn man viel arbeitet,braucht man etwas Schlaf. Das dachte auch Adolf, als er beschloß, nachdem Essen »etwas zu ruhen«. Er hatte aber das Pech, genau über dem Tagesraumzu wohnen. In besagtem Tagesraum weilte zur selben Zeit ein lustiger Vereinunter Führung Elsmaries. Man kann nicht verlangen, daß sowas leise ist.Adolf dachte das auch, und »man ist ja schließlich Kavalier«. Er schluckte seinenÄrger herunter und haute sich aufs andere Ohr. Als nach einer Viertelstundedas Klavier unter kundigen Händen zu »hämmern« begann, wurde jemand imZimmer drüber langsam unruhig. Es gab noch einen Trost, das Wort »Benehmenist Glückssache«. Unser Adolf würgte also seinen aufsteigenden Groll herunter.Dadurch wurde es aber nicht ruhiger unten. Im Gegenteil: Man kam inStimmung. Frau Schulz tat ihr übriges und schloß von außen den Raum ab.


1941 41Das reizte zu neuen Taten: Pitt und Willi sprangen unter allgemeinem Beifallsgeheulaus dem Fenster auf den Wall. »Jetzt platzt mir der Kragen«, dachte obender also Aufgestörte und steckte seinen Kopf zum Fenster raus. Er bat um Ruhe:– nichts!! Er drohte: – nichts!! Er wurde ein Mann und schritt zur Tat. Mit einemGlas Wasser schlich er zum Flurfenster. Das bemerkte Frau Schulz und fandsich mit Frau Fischer als Schlachtenbummler ein. Adolf holte tief Luft, schwangdas Glas und – die hinter ihm stehende Frau Schulz stand wie weiland Moses(»der aus dem Wasser Gezogene«) da. Das war für Adolf zu viel. Er beschloß,endlich schlafen zu gehn. Falsch!!! Unten ging es weiter. Willi trat als Retter aufund versuchte, die eingeschlossene Corona zu befreien. Das gelang auch nachlangen Verhandlungen mit Frau Schulz. Als Bekräftigung aber warf die »Fischerin«einen »Kappeskopp«, der Elsmarie traf. Leise ging das nicht zu. Das dachteauch Adolf und sprang wutschnaubend die Treppe hinunter. Das war Pech:Im selben Augenblick schleuderte Elsmarie nämlich besagten »Kappeskopp«zurück, der dann prompt den heranstürmenden Adolf an das zermarterte Hirntraf. Adolf sah rot, Adolf vergaß seine gute Erziehung, Adolf schleuderte »Riebschen«auf das Sofa und – ward nicht mehr gesehen. Es war inzwischen ½3Uhr geworden, und oben im Zimmer vollführte Adolf einen Parademarsch.So begann das Semester, viele lustige Geschichten schlossen sich an. Ich greifeeinige heraus. Da ist das Stichwort »Fräulein Penzin« (alle Beteiligten brechenjetzt schon in ein Schmunzeln aus). Ob ich will oder nicht: Das muß ichberichten.Alldieweil Frau Schulz sich unter Männern wohler fühlt als unter Damen,beschloß sie, uns nach nämlichen Wesen im Hause Herberge zu gewähren. Kam


42 Chronik des Reformierten Studienhausesda eines Tages ein Fräulein Penzin und wollte im Haus wohnen. Abgelehnt!!! Sonebenbei erfuhr die Corona von diesem Vorgang und war gar nicht damit einverstanden.Schon aus »erzieherischen« Gründen ging das nicht. Also wurde derPlan gefaßt, Fräulein Penzin herbeizuschaffen, koste es, was es wolle!! Noch amselben Abend sollte das geschehen. Göttingen ist groß, man mußte also systematischvorgehen. In Grüppchen zu zweien zog man los: In allen Hotels, Gaststättenund Kaffees wurde die Frage nach »Fräulein Penzin« laut. Selbst in Kinoswurde es ausgerufen. Nichts!! Zwei besonders Schlaue (Werner Hensel und HeinzRudorf) »kämmten« die Straße der S.A. 14 ab. Jedes einigermaßen gut aussehendeMädel wurde angesprochen: »Ach verzeihen Sie, sind Sie Fräulein Penzin?«Alles hatte keinen Erfolg. Da – in einem Hotel fand sich der Name, aber »heuteMittag ausgezogen, neue Wohnung nicht bekannt«. Tom rief das Einwohnermeldeamtan. Die wußten auch nichts. Es war zum Tollwerden. Am anderenMorgen ging es weiter. Endlich!!! Durch den »studentischen Zimmernachweis«wurde die Adresse ermittelt. Nach zwei Besuchen, bei denen Fräulein Penzin nichtzu Hause war, wurde sie schriftlich ins Haus bestellt. Sie kam auch, aber daß estrotzdem nichts wurde, lag nicht an uns und nicht an ihr. Dafür kann keiner.Am 1. Mai war ein gemeinsamer Ausflug nach den »Gleichen«. Auch daswar sehr nett. Besonders auf der Rückfahrt, als die Sportler Wettrennen mitder Bimmelbahn machten.Ich denke ferner an den Mondscheinabend, an dem Pitt auf dem Wall »LaJana« machte. Oder ich denke an die Zeit im Freibad mit dem 10 m-Turm,14 Weender Straße in Göttingen.


1941/42 43der es ja besonders Adolf angetan hatte. Da tauchten dann auch die Worte »Papierkorbfurchen,Pigmentflecken, Finchensekt« usw. auf. Alle diese Worte sindzu Begriffen geworden. Ich denke auch an den sehr gelungenen Tanzabend, derfür Adolf so unheilvoll wurde. Er hat sich bis heute noch nicht davon erholt.Man könnte Bände schreiben, so viel ist damals geschehen. Auch der Durst kamzu seinem Recht. Besonders sind da die Antrittskneipe und der Bowleabendbei Pastor Kamlah zu erwähnen. Daß trotzdem Adolf und Karl Heller, unserSenior, ihre Examen bestanden, muß man ihnen hoch anrechnen. Am 23. Juliwar dieses ereignisreiche Semester vorüber.Wintersemester 1941/42Als Neuem ist mir die weniger angenehme Aufgabe zuteil geworden, der ehrwürdigenTradition der Semesterchroniken ein weiteres Glied anzuhängen.Zuvor sei sogleich noch bemerkt,daß ich infolge meinesLeidens leider nichtüberall mit dabei sein konnte.Deshalb mußte ich inmeinen Bericht andere alsZitat kenntlich gemachteSchilderungen mit heranziehen.Beginnen wir einmalzunächst mit der Antrittskneipeam 21. November1941. Schauplatz ist unserTagesraum. Nach einer würdigenRede unseres Stiftsvaters (der auch das ausgezeichnete Münchener Bier gestiftethatte) wurden wir fünfNeuen in die Hausgemeinschaftaufgenommen, indemwir feierlich die Hausordnungunterzeichneten. Indem dann folgenden inoffiziellenTeil des Abends wurdenwir dann sehr fröhlich,und manche drolligen Scherzewurden da zum Bestengegeben, ich erinnere da nuran Willis »Befehlsausgabe inRunxendorf« oder an das


44 Chronik des Reformierten StudienhausesLied vom Mondenschein in Göttingens schöner Umgebung, das von Elsmarie(die gerade für einige Tage im Haus auf Besuch weilte) meisterhaft vorgetragenwurde.Anfang Dezember kam Werner Brölsch von der Ostfront und übernahm dasbis dahin von Tom verwaltete Seniorat.Am 15. Dezember 1941 stieg die Weihnachtsfeier mit Herrn Pastor Kamlah,Frau Schulz und Frau Fischer. Frau Pastor war leider verhindert und konntedeshalb nicht an der Feier teilnehmen. Unser Tagesraum war festlich von derFa. Greiner & Co hergerichtet. Gerd Brand hatte als Vertreter guten mütterlichenGeschmacks einen wirklich schönen Baum besorgt. Werner Hensel endlichhatte die dramaturgische Ausgestaltung des Abends übernommen, wobeier köstlich verkleidet als Weihnachtsmann (sprich Wahnachtsmann) erschienund jedem eine mehr oder weniger deutliche, stets sehr ulkige Gardinenpredigthielt. Frau Fischer kam dabei besonders schlecht weg.Kurz darauf am 18./19. Dezember 1941 veranstalteten wir in kleinerem Kreise(einige waren schon in die Weihnachtsferien abgereist) einen netten Abend imRatskeller. Schon Toms Kommen war mit heiteren Begebenheiten verknüpft: Inseiner Eigenschaft als Lektor hatte er eine Vorlesung zu halten. Um eher aufhörenzu können, beorderte ihn »Stabsarzt Lohr« in einer dringenden Angelegenheit inden Ratskeller ... somit konnte Tom noch rechtzeitig in den Ratskeller kommen.Keiner von uns wird den Glücksmann vergessen, dessen Lose reißenden Absatzfanden. Besonders Otto schien diesmal Glück zu haben, denn er zog gleich einmal10,- [Mark], aber der erhoffte Fünfhunderter blieb aus, obwohl wir den Kastenausräumten. Im ganzen hatten wir etwa 70 Lose gezogen. Zu Hause gab esnoch einen besonderen Spaß, als nämlich Klein Eki in den Schiwinskyschen Kinderwagengesetzt und damit im Tagesraum ein »Hebammenflachbahnrennen«veranstaltet wurde. Frau Schulz war allerdings von dieser nachmitternächtlichenSportveranstaltung wenig erbaut, ihro Gnaden wurden nämlich im Schlaf gestört.Niemand wird die zeitweise alltäglichen, oft hitzigen, aber stets unfruchtbarenDebatten über das Thema »Deutschland – Holland – England und dieKriegsschuld« vergessen, bei denen Hänschen Ottenheym den dickköpfigengrundsätzlich unbelehrbaren Holländer vertrat. Trotzdem nie ein Ergebnis erzieltwurde – es gab ja nie einer nach –, waren sie stets sehr witzig.Ende Januar wurden wir einigen von den alten Freunden des Studienhausesvorgestellt. Zu diesem Zweck versammelten wir uns nach gemeinsamem Besucheines ausgezeichneten Vortrages über »Gottes- und Christusdarstellungen imWandel der Jahrhunderte« in der Junkernschänke. Leider versiegte die Quelledes köstlichen Nasses schon nach dem ersten Glas, so daß unseres Bleibens dortnicht lange währte. Anschließend wurden alle diejenigen, die zu Hause gebliebenwaren, »besucht«. Dabei kam es in Hans Ottenheyms Gemach zu einemRingkampf zwischen ihm und Tom, bei dem neben anderen schweren Beschä-


1941/42 45digungen auch die Waschschüssel samt Inhalt sich in den Raum ergoß. Währenddie Corona ihre »Visite« fortsetzte, rächte sich Hänschen besonders an Tomdurch »Umkehren« von Toms Schlafzimmer. Aber auch Gerd Brand und WernerHensel bekamen ihren Teil ab. Tom sagte dazu nur immer: »So was Billiges,nein, wie ist das billig!«, aber er mußte, wollte er sich zur Ruhe begeben,wohl oder übel das »Billige« mit nicht ganz »billiger« Mühe in seinen rechtenund »billigen« Normalzustand zurücküberführen.Am 8. Februar 1942 stieg die große Fahrt nach Waterloo 15 – Willi, HänschenOttenheym und Rembrandt mußten wegen Examensnöten, Otto aus gesundheitlichenGründen zu Hause bleiben. Über diesen Tag berichtet Gerd Kanfolgende Einzelheiten:Am zu Ruhe ladenden Sonntag raus in aller Frühe. Auf nach Waterloo mitFinches und holden Pastor Kamlah-Sprößlingen. Die ganze Woche warenSchlitten organisiert. Sogar zwei Nobelpreisträger-Gleitapparate (zu deutsch:von Prof. Windaus) 16 hatten sich eingefunden. Gott sei Dank hatten sich inletzter Minute auch alle Angehörigen des zarteren Geschlechts eingefunden,so daß das Bähnle lospfauchen durfte. Unterwegs mußte es auf freier Streckezwar eine Verschnaufpause einlegen, die Gelegenheit gab, uns nach draußenins schlachtenladende Weiß zu stürzen. Die ersten Ballneckereien begannen.Beim Weiterfahren gab’s plötzlich an der Decke platzende Schneebomben mitnachträglich reizenden Spritzern und Tropfen. Die holde Weiblichkeit rächtesich mit zugenähten Ärmeln in Waterloo. Wir raus und im Renngalopp zur15 Ausflugsort und Haltestelle der Gartetalbahn südöstlich von Göttingen.16 Der Göttinger Chemiker Adolf Windaus (1876-1959) erhielt 1928 den Chemie-Nobelpreis.


46 Chronik des Reformierten StudienhausesPension die Madeln geschleift. Den anschließenden Anstieg zur Rodelbahnerleichterte uns ein im Sturm genommener Pferdeschlitten. Die Herren derSchöpfung übten sich in neckischem Schneesprühen, die Damen antwortetenmit entzücktem, aufmunterndem Gezwitscher. Oben angelangt, Ausschaunach »der« Rodelbahn. Nach halbstündigem Marsch unter ... torhafterFührung wurde nur skihaftes Gelände erkundet. Da der Kopf der Expeditiontête à tête zum erfolgreichen Rückzug sich begeben hatte, stürzten sich die Glieder,straffe und zartere, in schneestiebenden Abgrund durch ritzende Distelnund Sträucher, über junge Bäume hinweg in phantastischer blickraubenderFahrt. Viel Hallos ob der Katastrophen und Schneemänner und -frauen. Pastor


1941/42 47Kamlahs 17 mutig an die Front. Hunger und feuchte Füße drängten zu mittaglicherRückkehr. Der Senior wurde bei dieser Gelegenheit unterwegs wiedergefunden.Tolle Abfahrt von der Kate. Dreißig Meter mit Sprüngen, Rollen, Lattengekrach.Der Clou des Tages war das Mittagsmahl. »Wer möchte da immer nochmal?«, bei diesem geradezu schlaraffischen Dinner. Eine gute Stunde erquickendenRuhens, faul gekuschelt, war vonnöten. Wieder raus zur »Bobbahn«,auf der es hoch durch die Kurven ging. Der Senior rückte immer wieder aus,um auf Suche nach »der« Bahn zu gehen. Nachdem es die letzten Verstauchungenund Blutergüsse auf vermaulwurftem Acker gegeben hatte, ging es in Konvoisdie »Raus aus Deutschland-Straße« hinab. Rekorde wurden gefahren. Ein PastorKamlah-Mann verfolgte die heimziehende Gesellschaft in Bauchlage aus derKnieperspektive. Das Auge des Gesetzes wacht überall, aber vermutlich wie ...siehe Ahnengalerie! Kaffee und herrlicher, unerschöpflicher Kuchen (ein Hochauf den Geburtstag von Frau Pastor Kamlah!). Gesellige, unterhaltsame Stundemit Zeichenwettkampf Adams gegen Evas, Ballonaufstieg und Flaschenorakel... Heim ratterte uns das dunkle, ausgekühlte Bähnlein, das mit dem nicht endenwollenden (meist Refrain-) Gesang erfüllt ward. Der aufopferungsvolle Türplatzeinnehmergab unserem Kreis eine Ahnungsprobe seiner sonntäglichen Konzerte.Ja, und die Hände wollten trotz aller eingehenden Bemühung gar nichtwarm werden. Göttingen! Heim ins Reich! Soweit Gerd Kan.Am folgenden Tage besuchte uns »Onkel Paul« (zu deutsch Wilhelm Wübbena).Zur Feier dieses Ereignisses versammelte sich die Corona einschließlichPastor Kamlah mit zwei Töchtern im »Schwarzen Bären«. Dort stellte »OnkelPaul« seine Braut, die Tochter eines Generals der Flieger, vor. Die Stimmungstieg sehr schnell, woran der gute von Pastor Kamlah gestiftete Glührotweinauch nicht ganz unschuldig war.Am Sonntag 22. Februar 1942 war dann der harmonische Abend bei unseremStiftsvater. An diesem Abend weilte unser Werner Brölsch zum letzten Malein diesem Semester unter uns. Pastor Kamlah würdigte in einer in herzlichenWorten gehaltenen Ansprache das Verdienst Werners, das er sich mit seiner unermüdlichenArbeit in der <strong>reformiert</strong>en Gemeinde und im Studienhaus, besondersaber in der Jugendarbeit, erworben hat. Wir wurden auch daran erinnert,wie Rufe im Hause laut wurden, z.B.: »Werner kommt, Werner kommt!«. Undwie wir ihn dann freudig empfingen, als er noch einmal im Februar auf 14 Tagezu uns kam (sein Urlaub war nämlich schon etwa um den 20. Januar abgelaufen).Pastor Kamlah schloß seine Rede mit den Worten, daß Werner mit Gottesreichstem Segen wieder hinausziehen möge, und verlieh der Hoffnung Ausdruck,daß es dann hoffentlich im nächsten Wintersemester ein frohes Wiedersehengeben möge. Darauf stießen wir unsere mit köstlichem Glühweingefüllten Gläser an und tranken auf Werners ferneres Wohlergehen. In dersel-17 Selbstbezeichnung der Studienhausgemeinschaft.


48 Chronik des Reformierten Studienhausesben Nacht noch mußte er abreisen, ein paar ganz Unentwegte brachten ihn trotzgroßer Kälte am 23. Februar 1942 gegen 2.00 Uhr morgens an die Bahn.Kurz darauf hatten wir einen wohl einzigartigen Gast für kurze Zeit im Haus,Kollegen Ziegenmaier von der Eresburg. Seine behäbige, breite a-reiche Spracheerregte »allgeman Haterkat«, sogar Otto konnte da nicht mit, wie allgemeinfestgestellt wurde. Von seinen eigenen geistigen Fähigkeiten offenbar nicht sehrüberzeugt, bat Ziegenmaier jeden, der ihm über den Weg lief, seine schriftlichenArbeiten zu lesen und zu begutachten, selbst die unmöglichsten TagesundNachtzeiten waren ihm dazu recht. Das tat jedoch niemand gern, deshalbentzog man sich meist solchen Aufforderungen, indem man sich »hohe Fahrtlaufend vom Gegner absetzte«.Am 1. März 1942 erlebte Göttingen unter der Stabführung Doormanns 18eine ausgezeichnete Darbietung von Bachs »Matthäuspassion«. Es war ein großesEreignis, so daß ich es hier erwähnen möchte, zumal zwei Hausinsassen mitwirkten:Hans-Werner Gensichen und Otto. Ein weiterer Teil der Corona beteiligtesich passiv als andächtige Hörer.Am selben Abend veranstalteten wir unseren letzten Bierabend im Ratskeller,wo Willi Lohrs gut bestandenes Physikum gebührend gefeiert wurde. Esging an diesem Abend sehr fröhlich zu, zumal es diesmal nicht an Stoff fehlte,so daß unsere »Bierkasse« wie beabsichtigt ihr Leben lassen mußte.Am 9. März 1942 bestand unser »Master of Theology« und Leutnant Hans-Werner Gensichen sein Examen, das ihn berechtigt, den Titel »Licentiat« zutragen, mit »sehr gut« 19 . Die meisten von uns erinnern sich sicher noch daran,wie man nicht davon erbaut war, daß das letzte noch freie Zimmer mit einem»Herrn« besetzt werden sollte. Ein Mädel sollte dahin, so hatte die Coronabeschlossen, damit Klein Eki nicht das einzige Mädchen im Hause wäre. Niemandjedoch dachte noch daran, als nun der »Herr« unter uns weilte und wirmerkten, wen wir vor uns hatten. Wir gaben unsern Licentiaten nur ungernwieder her, doch auch ihn ruft wieder das Vaterland, wie so viele. Gott der Herrsei ihm nahe auf allen seinen Wegen und schenke ihn uns fröhlich und unversehrtwieder.Noch eines sei erwähnt, daß nämlich auch die Kunst im Hause vertreten war:Hans-Baldung Greiner schuf neben einigen seiner Plastiken eine Reihe neuerwohlgelungener gezeichneter Porträts, die die Ahnengalerie um wertvolle Gliederbereicherte. Otto vertrat die Musik und betreute den musikalischen Teil derMorgenandachten und sorgte für die Lichtbildkunst im Hause.Das war in großen Zügen das Wintersemester 1941/42. Trotz mancherleiSchwierigkeiten äußerer Art als auch leider öfter innerer Art kann das Haus auf18 Kirchenmusikdirektor an der Göttinger St. Johanniskirche.19 Hans-Werner Gensichen (1915-1999) wurde 1952 Dozent für Kirchengeschichte an derDivinity School der tamilischen Ev.-luth. Kirche in Tranquebar, 1956 Dozent in Madras/Indienund 1957 Professor für Religionsgeschichte und Missionswissenschaft in Heidelberg.


1941/42 49ein schönes, erfolgreiches Semester zurückblicken. Eines aber wollen wir undalle künftigen Bewohner unseres Hauses stets vor Augen halten, daß wir einevangelisch-<strong>reformiert</strong>es Studienhaus waren, sind und bleiben müssen. An dieserStelle möchte ich besonders auf Punkt 4 der Hausordnung hinweisen, derbesagt, daß wir ein Freundeskreis bewußter Glieder unserer Kirche darstellensollen. Der allmächtige Gott gebe, daß dieser echte Geist des Hauses in Zukunftin ungeahnter Größe aufblühen möge.Sommersemester 1942Wieder soll ich einen Semesterbericht schreiben, der leider auch mancherlei Unerfreulichesnicht ganz verschweigen kann. Aber alle künftigen Hausbewohnermögen diese Worte so lesen, daß ihnen dabei klar wird, wie es sein bzw. nichtsein soll.In der Belegschaft hatte sich, leider, manches grundlegend geändert. Von demallen war besonders schade, daß der Senior, unser Senior Werner Brölsch, fehlte.Werner [war] noch zunächst in seiner Garnison in Herford, um dann AnfangJuli wieder an der Ostfront im mittleren Frontabschnitt bei Rschew 20 eingesetztzu werden. Das Amt des Seniors bekam Hans-Baldung Greiner übertragen, dersich aber leider für andere Dinge mehr interessierte, als für das Wohl und denZusammenhalt der Hausgemeinschaft. Da wir keinen Theologen im Hause hattenund der Senior es für richtiger hielt, auf Morgenandachten zu verzichten,fanden solche nicht mehr statt. Ich bedaure das umso mehr, als gerade das unterdie Gemeinschaft unter das Wort Gottes Stellen alle jungen Menschen brauchen,sie mögen es zugeben oder nicht. Ich verweise in diesem Zusammenhangnoch besonders auf die letzten Sätze meines Berichtes über das Wintersemester1941/42. Diese äußere und vor allem innere Haltung ist und bleibt der Sinnund Zweck dieses Hauses. Deshalb möchte ich an dieser Stelle nochmals meinerHoffnung Ausdruck geben, daß in Zukunft wieder ein Reformiertes Studienhauserstehen möge, das nicht nur von seiner Kirche gestützt, sondern selbstvor allem seiner Kirche durch aktive Beteiligung an ihrer evangelischenGemeindearbeit eine zuverlässige Stütze werde.Das Semester begann mit gemeinsamem Theaterbesuch in Hans Hömbergs»Kirschen für Rom«, wo uns Staatsschauspieler E.F. Fürbringer aus Münchensehr ergötzte. Anschließend wurde im »Schwarzen Bären« Brüderschaft getrunken.Singend zog zu später Stunde die Corona über die Wälle nach Hause.Am 1. Mai um 0.00 Uhr brachten wir unserem Pastor Kamlah, nachdemwir alle Hindernisse der pfarrhäuslichen Gartenmauer siegreich bezwungen hatten,in seinem Garten auf der Terasse ein Maiständchen, bei dem sich beinaheder Gesang in allgemeine Heiterkeit aufgelöst hätte, hätten nicht einzelne unbe-20 Stadt im Gebiet Kalinin an der Wolga, im 2. Weltkrieg heftig umkämpft.


50 Chronik des Reformierten Studienhausesirrt ihre Stimmen durchgehalten und somit den Gesang gerettet. Als Auftaktwurde der Kanon »Wacht auf ihr faulen Schläfer« und anschließend der schöneMai, der angeblich gekommen sei, gesungen. Das Wetter war allerdings allesandere als maimäßig, es war kalt und es rieselte leise der heißgeliebte GöttingerLandregen.Am 18. Mai 1942 stieg das erste und letzte kleine Hausfest, das gut vorbereitetwar und dementsprechend auch sehr harmonisch verlief. Unser lieber Stiftsvaterhatte für Wein gesorgt, konnte aber leider nicht mit dabei sein, da eineunaufschiebbare Dienstreise ihn fernhielt. Anwesend waren sechs Paare, die fehlendendrei Damen waren eingeladen worden: Gerd, Traude Moebius; Werner,Elf; Baldung, Gisela; Heinz, Uschi; Hänschen, Marlene; Otto, Eki. Zum Anfangwurde ein nettes nach einem Volkslied geschaffenes Schattenspiel geboten undspäter dann getanzt. Frau Schulz hatte eine vorzügliche Maibowle aus dem Weingebraut und etwas zum Knabbern gebacken, was natürlich beides großen Beifallerntete. Zuletzt sei noch auf die unvermeidliche gemeinsame Aufnahme verwiesen,die zu später Nachtstunde entstand. Dieser nette Abend blieb, obwohldas Semester erst begonnen hatte, die erste und letzte gemeinsame Veranstaltungdes Studienhauses.Am Vortage machte ein großer Teil der Corona einen Kirmesausflug nachWeende, wo vor allem das Kettenkarussel die Allgemeinheit lebhaft interessierte.Hier entstanden auch einige Bilder, mit denen sonst das Semester nicht so sehrreich gesegnet war. Das umstehende Bild zeigt alle Beteiligten außer Otto, derdie vom Rummelplatz heimziehende Corona von seinem fahrenden Rade ausals Reformiertes Studienhaus-Propagandakompanie-Mann aufnahm. Der Spaßendete dann damit, daß Uschi in Familie Berys Kinderwagen landete. NebenstehendesBild zeigt diese Begebenheit.


1942 51Von nun an fanden nur noch Teilveranstaltungen statt, die sich aber meistenszu sehr netten Stunden gestalteten. Ich denke da z.B. an die Feier anläßlichdes von Hänschen siegreich bestandenen Examens (1. Juli 1942), wo sichnach und nach in Heinz Wietings Bude eine fröhliche Runde zum Eierlikör(erstklassiges Präparat, von Hänschen hergestellt und gestiftet) zusammenfand.Gerd war gerade wenige Stunden zuvor zum Feldwebel befördert worden, sodaß dieses Ereignis sofort in würdiger Form mitgefeiert werden konnte. Außerihm und Hänschen saßen Heinz, Werner, Otto, Uschi und Traude Moebius infröhlicher Runde beisammen. Gegen Ende zu später Nachtstunde stiftete Heinznoch zum Abschluß neue Kartoffeln, die er mit Uschi in viel Speck gebratenhatte. Im dritten Kriegsjahre war das eine wunderbare Delikatesse, die dementsprechendgebührend gewürdigt wurde.Einiges nicht alltägliche hat sich auch im Hause abgespielt, woran eigentlichkeiner gedacht hatte. Als die Pfingstferien zu Ende gingen, blieb jemandvon uns aus: Eki kam nicht. Statt dessen flog sehr bald ein Brieflein aus Itzehoeins Haus, und Eki hatte sich verlobt. Und zwar mit dem damals in seinerGarnison weilenden Hans-Werner Gensichen. Mit erheblicher Verspätung kamdann das glückliche Paar im Hause an, wo wir unseren beiden Verlobten vonHerzen gratulierten. Nach ein paar sonnigen Tagen mußte dann Hans-Wernerwieder zurück nach Itzehoe und rückte kurz darauf zu GeneralfeldmarschallRommel nach Nordafrika ab.Aber damit nicht genug: Noch zwei weitere Herzen zogen einander an undwurden sich sehr schnell einig, ohne daß es jemand so recht bemerkte. Am20. Juni 1942, an einem Sonnabend, kam wie ein Blitz aus heiterem HimmelWerner Brölsch angebraust und hatte sich auch schon, ehe es einer begriff,mit Marlene verlobt. Nach ein paar glücklichen Tagen jedoch schlug auch


52 Chronik des Reformierten Studienhauseshier die Trennungsstunde, und Werner zog kurz darauf wieder hinaus nachRußland.Einen Abend möchte ich zum Abschluß noch erwähnen. Es war der letztegemeinsame Abend, an dem allerdings die Soldaten fehlten. Otto machte endlichsein Versprechen wahr, dem Studienhaus »privatissime und gratis« ein Orgelkonzertin St. Marien zu geben. Heinz, Uschi, Marlene, Eki und Otto zogenbei strömendem Regen zur Marienkirche hinaus. In dem stillen, nächtlichenGotteshaus ließ Otto manches große und schöne Werk von Johann SebastianBach und verwandten alten Meistern vor jungen hörenden Menschen erklingen,denen die Musik des großen Meisters zu einem wertvollen Besitz gewordensein möge, der sie auf ihren ferneren Wegen ihr Leben lang begleiten möge.Dieser Bericht wurde im November 1942 in der Reichshauptstadt in großenkriegerischen, ereignisvollen Tagen geschrieben und am 26. November 1942abgeschlossen. Gerade in dem Augenblick, wo man dem Studienhaus fernbleibenmuß wie eben Otto, der im Winterhalbjahr seinen studentischen Ausgleichsdienstin Berlin ableistet, fühlt man erst richtig, wie das Studienhaus allen jungenMenschen, die ihm einmal angehören, zur Heimat geworden ist, nach deres sie immer wieder zieht. Deshalb wollen wir alle in Dankbarkeit derer zumSchluß gedenken, die das Reformierte Studienhaus erst, uns zum Segen, ermöglichthaben.Wintersemester 1942/43Wieder einmal stehe ich vor der ernsten, jedoch nicht hoffnungslosen Aufgabe,den Semesterchronisten abgeben zu müssen. Allem voran möchte ich sagen,daß das, was mein Herr Vor-»schreiber«, der doch etwas sehr dunkel gesehenhat, sich so sehr gewünscht hat, eingetroffen ist: Wir sind wirklich wieder ein»Reformiertes Studienhaus« geworden, eine Hausgemeinschaft, die sich bewußtzu ihrer Kirche bekennt.In diesem Buche ist schon mehrmals vom zweifachen Geist des Hauses dieRede gewesen, und ich brauche wohl nicht zu betonen, daß auch die fröhlichenSeiten unseres Lebens nicht zu kurz gekommen sind, wenn sie auch aufeiner anderen Basis ruhten als etwa vor drei Jahren.Der geneigte Leser wird zunächst mit Entsetzen bemerkt haben, daß in diesemSemester das weibliche Element zum ersten Male überwiegt. Die Frauenemanzipationist geglückt: Der Kampf, den Maria Zimmer einst einsam begann,scheint zu Gunsten der holden Weiblichkeit entschieden und [die] Männerfrage,denn eine solche ist mittlerweile aus der Frauenfrage von einst geworden,scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.Ferner möge man noch eine Besonderheit dieses Semesters ins Auge fassen,die auch nicht gerade zur Verstärkung des männlichen Einflusses dient. Erstmaliggehörte ein Ehepaar zur Corona. Und da der Ehemann ausgerechnet der


1942/43 53Herr Senior ist, ergibt sich zwangsläufig der Posten der Seniorita. Ich bitte unsereMädchen herzlichst um Verzeihung, wenn ich sage: Es war trotzdem ein schönesSemester. Warum trotzdem? Nun, als ich im September noch im Kaukasussaß und von Pastor Kamlah die Nachricht erhielt, daß er sich sehr freuenwürde, mich als vierten Mann unter sieben Mädchen, davon noch drei Theologinnen,zu begrüßen, vermochte ich mich nur sehr schwer zu fassen und kammit trübsten Erwartungen hierher. Wer konnte das auch vorausahnen, daß sichdiesmal die Richtigen gesucht und gefunden hatten?Zunächst soll einmal von unserer gemeinsamen Semesterarbeit, dem Laienspielvon den drei Männern im Feuerofen, berichtet werden, das bereits vorWeihnachten geplant war. Wir wollten damit, als mit einer besonderen Art derWortverkündigung, den pfarrerlosen Gemeinden auf dem Lande zu einem Gottesdienstverhelfen. Daß wir nur einmal dazu gekommen sind, liegt an der Kürzedes Semesters. Aber wenn alles klappt, bleibt ja die Zusammensetzung der Coronaim nächsten Semester noch ungefähr die gleiche. Zum anderen wollten wirunserer Gemeinde, die uns eigentlich nur von den präsentierten Rechnungenher kannte, zeigen, daß wir auch bereit sind, auf unsere Weise an der Gemeindearbeitmitzuhelfen. Wir alle hatten zu Anfang wohl kaum oder nur eine geringeAhnung von den Schwierigkeiten, die sich uns in den Weg stellen würden,denn erst mit der Zeit stellte sich heraus, daß es nicht mit dem leichten Auswendiglernengetan war, sondern daß zu einer einheitlichen Spielgestaltung vieleProben nötig waren. Das wäre noch nicht ganz so schlimm gewesen, wenn nichtdauernd Umbesetzungen in den Rollen der drei Männer nötig gewesen wären


54 Chronik des Reformierten Studienhausesund auch die Stärke des Chores nicht immer gleich war. Dann kam uns auchlangsam die große Verantwortung, die wir mit der Verkündigung auf uns nahmen,zum Bewußtsein, und es wird mir keiner bestreiten, daß kurz vor der erstenAufführung keiner ernstlich böse gewesen wäre, wenn alles doch noch an einerletzten Klippe gescheitert wäre. Daß es doch anders kam, ist nicht zuletzt einVerdienst unseres haushohen Seniors Werner. Als wir uns dann vor sein unerbittliches:Ihr müßt spielen! gestellt sahen, da tat jeder von uns sein Äußerstes,und als wir am 6. Februar 1943 zum ersten Male in unserer eigenen Gemeindevor die Öffentlichkeit traten, da war außer einigen technischen Feinheitennichts mehr gegen unser Spiel zu sagen. Es war wirklich eine Verkündigung undkein Theaterspiel. Wer diesen Gottesdienst miterlebt hat, der weiß, daß auchdie Gemeinde von dieser neuen Verkündigungsart beeindruckt war. Wir dürfenihr von Herzen dafür danken, daß sie uns für unsere weiteren Spielfahrteneine Kollekte von 205 RM zur Verfügung stellte.Anläßlich dieses Spiels bekam das Haus einen Ehrenbürger, Werner Rustebergaus dem Jungenkreis der ref. Gemeinde, der trotz aller Schwierigkeiten nochin letzter Minute die dritte Männerrolle übernahm.Durch den Erfolg wurde das moralische Fundament der Spielschar gestärktund der finanzielle Grundstock gelegt. Gleich nach der ersten Aufführung erfülltenwir zwei weitere Angebote. Pastor Kropatschek, der Leiter des »Stillen Ochsen«(Theologisches Stift), bat uns herzlich darum, auch in seiner Gemeindezu spielen und Superintendent Gittmeyer wollte uns gern für die Studentengemeindehaben. Wir sagten beiden zu, weil wir durch das erste Angebot wirklichin eine Landgemeinde kamen. Und daß wir in der Studentengemeinde spielten,war ja klar, weil wir doch selbst dazu gehörten.So zogen wir am 14. Februar 1943 trotz Sturm und Regen auf der Landstraßevon Hardegsen, Ellierode, dem Kirchdorf von Pastor Kropatscheks Gemeindezu. Diesmal waren die drei Männerrollen sogar, wie ursprünglich vorgesehen,besetzt, da der Kommiß Martin Kunze Urlaub erteilt hatte. Außerdem hattenwir noch zwei Gäste mit: Kuschmi (Kurt Schmidt, Europa), Werners DuisburgerFreund, und Uschi (Elsmarie Bär), den Lesern dieser Chronik als »Riebschen«bekannt. Im Pfarrhaus wurden wir sehr nett aufgenommen, tranken Tee,verzehrten unsere Butterbrote und luden dann durch Hausbesuche die Gemeindezu unserem Spiel ein.Nach einem ausgezeichneten Mittagessen haute sich jeder aufs Ohr, wobeiman die herrlichsten Studien machen konnte. Dann war es urplötzlich Zeit zumKirchgang, und wir mußten uns sehr beeilen, daß wir noch zur rechten Zeitkamen. Nun merkten wir deutlich die Gefahren der zweiten Aufführung. DasNeue ist vorbei, die Routine ist größer, und so waren wir, zumal durch die rechtfröhlich verlaufene Fahrt angeregt, nicht so ganz bei der Sache, wie es wünschenswertgewesen wäre. Wenn die Wirkung nach außen hin auch gut undbesonders der Chor gegen das letzte Mal deutlich besser war, so waren wir inner-


1942/43 55lich nicht so restlos befriedigt. Die Gemeinde, die einem »Theaterspiel in derKirche« sehr kritisch gegenübergestanden hatte, war sehr angenehm enttäuscht.Zum Schlusse möchte ich das Urteil eines biederen Ellieroders nicht vorenthalten,der von seinem Pastor nach seiner Meinung über unsere Spielgewänder befragt,treuherzig antwortete: »Na, Herr Pastor, wenn die so in Göttingen herumlaufen,warum sollen sie nicht auch so zu uns in die Kirche kommen dürfen!«Durch diese Ellieroder Erfahrung nicht mehr so selbstsicher, begannen wirmit einer sehr eindringlichen Vorbereitung auf die Jakobikirche, wo wir am 25.[Februar] vor die Studentengemeinde treten sollten. Wir wollten nun zum erstenMal in einer großen Kirche spielen, was hinsichtlich der Sprachtechnik einigeSchwierigkeiten hatte. Auch konnten wir von dieser Gemeinde die am meistenkritische Haltung erwarten. Wir gaben wirklich unser Bestes und durften dannaus dem Dank, den man uns für unser Spiel aussprach, mitnehmen, daß es auchden Leuten, die an diesem Abend den Weg in die Jakobikirche gefunden hatten,ein wirklicher Gottesdienst gewesen war. Die Kirche war sehr gut besetzt,und die Kollekte dementsprechend, so daß wir nun getrost die etwas kostspieligeFahrt nach Kassel unternehmen konnten.Kassel. Den Abschluß unserer Laienspiele bildete eine Fahrt nach Kassel mitdem Spielabend in der Kirchditmolder Gemeinde und dem Spiel in der Adventskirche.Wie schon gar nicht mehr anders gewohnt, mußten erst einige Umbesetzungenvorgenommen werden, da Eki bereits nach Hause gefahren war, umihren Mann zu erwarten. Für Martin Kunze, der wieder eingezogen war, spielteErhard Kamlah. Der Kirchditmolder Abend stand unter einem etwas unglück-


56 Chronik des Reformierten Studienhauseslichen Stern, da wir alle von der Fahrt sehr müde waren und außerdem geradevor dem Gottesdienst von den schweren Angriffen auf unser Ruhrgebiet hörten,die unsere Rheinländer sehr stark beunruhigten. Außerdem waren die räumlichenVerhältnisse vor dem Altar sehr ungünstig für unsere Spielbewegungen.Trotzdem war das Spiel gut, wenn auch die Spielschar nicht ganz so geschlossenwar wie in der Jakobikirche. Ganz besonders beeindruckte uns, daß im Verhältnissehr viel Jugend im Gottesdienst war, Jungen und Mädchen zwischen14-18 Jahren, die man in anderen Gemeinden nicht gerade sehr zahlreich trifft.Ein sehr schöner Abschluß war das Spiel in der Adventskirche. Trotz der ungünstigenZeit war die Kirche gut besetzt. Auch war sie baulich hervorragendgeeignet. Es war uns wirklich eine Freude, aus der wir neue Kraft zu weitererArbeit schöpfen konnten, wie herzlich sich die Leute bei uns für unser Spielbedankten. So fand unsere Spielarbeit im Wintersemester ihr Ende. Sie warmanchmal nicht leicht, denn bei allem Neuartigen müssen Erfahrungen gesammeltwerden, aber sie legte den Grundstock, auf dem wir im nächsten Semesterhoffentlich weiterbauen können.Nun, wenn das Studienhaus schon ‘mal ausfliegt, dann werden Humor undFrohsinn nicht daheim gelassen. Schon in der Bahn ging’s los, als MöpschensVortrag, der eigentlich mehr ein belehrender als humoristischer hätte sein sollen,stieg. Mops war überhaupt die Heldin der Kasseler Tage. Als geographischeReiseleiterin wurde sie nach allen unmöglichen Sachen gefragt, die sie natürlichprompt nicht wußte. Es sei ihr aber nicht vergessen, daß sie weder Mühenoch Kosten gescheut hat, um (treu nach Mops) uns in die Geschichte undSehenswürdigkeiten Kassels einzuführen. Wer mit war, der sieht sie noch heuteauf des Wilhelmshöher Schlosses Stufen über die Köpfe der unten versammeltenCorona hinweg ihren Vortrag halten. Auch hat sie den Schatz der geflügeltenWorte großer Männer um etliches bereichert: »Der Kasselaner ist freundlich,verschwiegen ... und vorwiegend evangelisch.« Oder: »Der Habichtswaldschwingt sich in sanftem Bogen in die Vorstädte Kassels.« Wer möchte nichtseinen Kindern eine solche Geographielehrerin wünschen? Leider enttäuschteuns das Kasseler Theater dadurch, daß nicht die »Walküre«, auf die wir unsbereits durch klassische und höchst moderne Einführungsvorträge vorbereitethatten, sondern Dostals »Ungarische Hochzeit« auf dem Spielplan stand. Nun,es war nicht so schlecht, wie einem hätte danach werden können. Jedenfallswurde dadurch in vielen von uns zum ersten Mal die Sehnsucht nach WagnerschemMusikdrama erweckt.Ein gutes Abendessen mit gemütlicher Tischrunde im Ratskeller brachte unswieder in das seelische Gleichgewicht. Am nächsten Morgen [fuhr] dann derganze Haufen nach Hause.Daß wir als Insassen des Reformierten Studienhauses zur Studentengemeindegehören, ist klar. Allerdings haben wir es abgelehnt, etwa als Haus in der Studentengemeindeaufzugehen, was von der Studentengemeinde verschiedentlich


1942/43 57angeregt worden war. Das, was die Studentengemeinde dem evangelischen Studentengeben will, Gemeinschaft unter dem Wort Gottes, die sich auch nochauf das Zusammenleben erstrecken soll, haben wir durch unser Haus in einemMaße, wie es in der Studentengemeinde gar nicht möglich ist. Es ist wohlverständlich, daß wir, da wir doch dauernd beieinander sind, nicht so sehr dasBedürfnis haben, einen gemeinsamen Sonntag zu verleben, wie etwa Leute, diedie Woche hindurch allein auf ihrer Bude hocken, ganz abgesehen davon, daßein Teil der Sonntage ohnehin für uns durch gemeinsame Veranstaltungen belegtist. So muß es jedem Einzelnen von uns selbst überlassen bleiben, ob er überdie Hausgemeinschaft hinaus noch in der Studentengemeinde mitarbeiten will.Weiterzugehen halte ich im Interesse des Hauses für nicht ratsam.Um so erfreulicher war es, daß wir zum größten Teil doch zu den Bibelstundender Studentengemeinde gingen. Ein besonderer Höhepunkt war nebendem Laienspiel in der Studentengemeinde der Nachmittag mit Prof. Hertzberg 21in Gelliehausen. Bei strahlendem Frühlingswetter zog fast das ganze Haus insGartetal. Studenten- und Fahrtenlieder verkürzten den Weg, und so kamen wirim passendsten Moment dort an, nämlich gerade, als der Kuchen serviert wurde.Daß wir vorher bereits einen großmütig gestifteten Honigkuchen (er war so hart,daß man sich damit Löcher in den Kopf werfen konnte) mühsam zerstückeltund verzehrt hatten, verschwiegen wir bescheiden. Danach hielt Prof. Hertzbergeine Bibelarbeit über 1. Mose, die die Bedeutung dieses Buches sehr klarerkennen ließ. Die Freizeit schloß mit einer Andacht in der Kirche. Mit derKleinbahn ging es dann nach Göttingen zurück, wobei Mops vergeblich ihreMütze suchte, auf der sie selber saß.Zum Schluß noch einige bemerkenswerte Ereignisse des Semesters, die bishernicht erwähnt wurden. Da die Corona verhältnismäßig spät vollständig war,hielten wir erst am 15. Dezember unseren Semesterantrittsabend, der mit einerAdventsfeier unter dem Weihnachtsbaum verbunden war. Wir hörten die Weihnachtsgeschichte,die von Weihnachtsliedern und Flötenspiel unterbrochenwurde. Danach kam die Begrüßungsrede des Stiftsvaters, und dann nach alterTradition der Weihnachtsmann, der trotz Warenverknappung für jeden eine kleineGabe mitbrachte, die mit einigen Verschen überreicht wurde. Mit gemütlichemKlönen bei Tee und Plätzchen, die ganz hervorragend schmeckten, durchsetztmit mancherlei Spielen und Vorführungen, aus denen besonders die »Frühstückspausebei Karstadt« und »Wallensteins Tod« herausragten, ging der Abendzu Ende. Bald darauf lichtete sich die Tafelrunde immer mehr, da man allgemeinin Weihnachtsferien fuhr. Was so die eifrigen Leute und die Soldaten waren,die nicht anders konnten, die kamen schon früher wieder und fanden Göttingenim weißen Winterkleide. Was lag näher, als rodeln zu gehen, zumal noch21 Hans Wilhelm Hertzberg (1895-1965), seit 1936 Studiendirektor des PredigerseminarsHofgeismar und seit 1947 Ordinarius für Altes Testament und Palästinakunde an der UniversitätKiel.


58 Chronik des Reformierten Studienhauseskeine Vorlesungen waren. Zwei Schlitten waren bald organisiert, wenn auchschon leicht beschädigt. Es waren die Kamlahschen Familienvehikel, auf denenwir schon so manches Mal abwärts geglitten waren. Nach einigen Probefahrtenam Wall wagten wir uns auf die Schillerwiese, die vollständig vereist war.Zunächst ging es im Geleitzugsystem, doch da wir immer um die Verbindungsachsender Schlitten rotierend abwärts sausten und allermeist schmählichim Schnee endeten, gingen wir zur Einzelfahrt über. Nach einigen gut gelungenenAbfahrten machten sich Senior und Seniorita startbereit, sausten in rasenderFahrt zu Tal, sprangen phantastisch über die Straße hinweg, krachten aufund ... kamen jeder mit einer Schlittenhälfte bewaffnet wieder oben an. AlsoStellungswechsel auf eine weniger anspruchsvolle Bahn. Doch auch hier gelanges unserer enormen Vitalität (da Damen dabei waren, schickt sich der AusdruckSchwergewicht auch da nicht, wo er evtl. am Platze gewesen wäre), den restlichenSchlitten am Boden zu zerstören. Ob dieser Untaten war der in den nächstenTagen erscheinende Rest der Corona sehr erbost, denn nun war’s mit demRodeln Essig. Nun, daß man auch auf seiner Erziehungsfläche oder auf denSchuhsohlen (es fragt sich, was mehr zu empfehlen ist) Hänge überwinden kann,bewies sich am nächsten Sonntag bei unserem Spaziergang nach Nicomonte,zu deutsch: Nikolausberg. Nachdem man sich hinreichend mit Kuchen, Brotenund Kaffee gestärkt hatte, tobten, denn anders läßt sich das kaum nochbezeichnen, wir los. Leider kam dann die allgemeine Schneeballschlacht infolgeder Neutralitätspolitik einzelner Leute nicht in Gang. Nichtsdestowenigertollte der andere Haufen gewaltig umher. Besonders Maria-Barbara leistete darinErhebliches. Ohne Rücksicht auf Verluste griff sie jeden an. Es ist natürlich keinWunder, daß sie dann als allgemeiner Ruhestörer am meisten vorgenommenwurde. Und obwohl sie vollkommen durchnäßt war (diese Feststellung beruhtallerdings auf ihren eigenen und nicht auf objektiv nachgeprüften Angaben),behauptete sie, noch nicht genug zu haben. Ein Zitronenpunsch bei FamilieBrölsch wärmte das Volk wieder auf und diente gleichzeitig den NeuankömmlingenAgnes und Waltraud, alias Mops, zum Debut im Studienhaus.Diese beiden Damen hatten sich schon vor Weihnachten angemeldet, aberkamen erst jetzt. Auf ihre Persönlichkeit einzugehen, muß ich mir versagen.Dafür verweise ich aber auf ihren handgeschriebenen Lebenslauf und auf dieAnlagen zur Chronik, worin beide gebührend gewürdigt werden. Kurz vorherhatte sich übrigens noch ein Pärchen masculini generis ins Haus eingeschlichen.Leider wurden die beiden, Martin Kunze und sein Freund Wolfgang Wicke,sehr bald wieder vom Kommiß einkassiert.Martin hatte jedoch das Glück, noch einmal beurlaubt zu werden. Die Zeit,die er dann im Hause verbrachte, reichte hin, sich hier einen gewaltigen Rufund sogar das Hebraicum zu erwerben. Er verstand es nämlich meisterhaft, zuden unmöglichsten Anlässen Feiern zu veranstalten. So haben wir beispielsweisedreimal seinen Abschied gefeiert. Nun, es war trotzdem manchmal recht nett.


1942/43 59Aber auch der Semesterbudenzauber fehlte nicht. Von Kleinigkeiten abgesehenwaren diesmal in der Hauptsache Gerd und Heinz die Leidtragenden (MopsensBudenzauber fand leider erst nach Abschluß dieser Chronik statt, kann dahernicht mehr gebührend gewürdigt werden). Während wir Gerd nur so ziemlichalles auf den Kopf gestellt hatten, wofür er der gesamten Corona die Türen verbarrikadierte,war es bei Heinz noch doller. Nicht nur, daß alles durcheinanderwar, man opferte sogar mehrere Kilo Kohlen, um sein Zimmer zu einem Backofenzu machen, legte ihm einen fremden Mann ins Bett, der über seinem BGB undBierflaschen sanft entschlafen war. Das Gemeinste war ja ohne Zweifel, daß mandie Füße seines Schrankes so oben auf diesen setzte, daß es aussah, als ob selbigerauf dem Kopfe stünde. Dann erschien man hämisch grinsend und stellte sichauf Heinzens Schimpfen gern zur Verfügung, selbigen Zustand sogleich zu beheben.Dann wurde der Schrank unter den Augen und der Assistenz seines Besitzerswirklich umgedreht. Ja, ja, es gibt schlechte Völker! Daß man seine Bierflaschemit Wasser gefüllt hatte, bemerkte Heinz erst am Geläster eines Kollegen,den er zu einem soliden Trunke eingeladen hatte. Er selbst landete zum gutenSchlusse noch in einer Luftschutzbadewanne. Dieser Zauber reihte sich würdigan alle seine Vorgänger an (das kann man wohl sagen).Dem allgemeinen Wunsche nachkommend wurde Ottos Beförderung zumAnlaß genommen, einen Studentenliederabend steigen zu lassen, wobei, obwohldie Teilnehmer zum größten Teil dem weiblichen Geschlechte zurechneten, ganznette Bierquantitäten konsumiert wurden. Auch hier gab, wie überall in diesemSemester, der alte Hausgeist den Ton an. Schnell hatte man sich eingesungenund an das Trinken gewöhnt, so daß selbst »Onkel Paul« sich gewiß »wie inalten Tagen« gefühlt hätte, als der Kurfürst Friedrich stieg. Agnes setzte Ekisruhmreiche Tradition mit einer sehr geistreichen und treffenden Herrenrede fort,wogegen der Vertreter des männlichen Geschlechts zwar einiges einzuwenden,jedoch nichts Grundsätzliches abzuändern vermochte. Eine dolle Singerei aufdem Waageplatz, die vor allem von Dores warmem, gefühlvoll tönendem Organbeherrscht wurde, schloß den Abend ab.Beinahe hätte ich noch ein Ereignis vergessen: Klein Eki wurde in diesemSemester Frau Pastor Gensichen und ziert nun als zweite Frau die Tafelrundedes Studienhauses.Bemerkenswert ist noch, daß ein bisher in dem Maße noch nicht dagewesenerHang zur »klassischen Halbbildung« in dem Studienhause auftrat. Dreimalfand sich der größte Teil der Corona zu Literaturabenden zusammen, an denender Prinz von Homburg und Empedokles mit verteilten Rollen gelesen wurden.Ferner war ein lustiger Gedichtabend Christian Morgenstern gewidmet.Leider mußten wir mit zunehmendem Semester infolge allgemeinen Zeitmangelsdiese Arbeit einstellen. Vielleicht geht’s im Sommer.Auch die Musik kam in jeder Weise in diesem Semester voll zur Geltung,das darf ich als Nachbar des Tagesraumes, oder besser gesagt, des Klaviers und


60 Chronik des Reformierten Studienhausesdes Radios wohl mit gutem Gewissen behaupten. Die Konzertveranstaltungenfanden bei uns rechten Zuspruch. Ein ganz besonders eindrucksvolles Erlebniswar der gemeinsame Besuch der Hohen Messe in h-moll von J.S. Bach, die dieStadtkantorei in der Johanniskirche zur Aufführung brachte. Da wir uns auchdes öfteren im Theater wiederfanden, darf man wohl behaupten, daß es sichlohnen würde, dem Haufen für die nächste Theater- und Konzertsaison zweibis drei Dauermieten zu stiften.Sommersemester 1943Am Ende des Wintersemesters waren wir in der Hoffnung auseinandergegangen,uns im Sommer alle wieder zusammenzufinden, außer Gertraud, die nach Erlangenmußte, und Heinz, der zum Kommiß kam. Als dann das Sommersemesterwirklich begann, sah die Zusammensetzung unseres Hauses doch anders aus, alswir vorher gedacht hatten. Agnes und Mops erschienen einfach nicht wieder. Siehielten es nicht einmal für nötig, ihre Sachen abzuholen, sondern gaben verschiedenenLeuten im Haus die Gelegenheit, sich verdienstlich zu machen durchKoffer und Pakete Packen und Wegschleppen. Allerdings darf es nicht unerwähntbleiben, daß später jede von ihnen eine großzügige Stiftung für die Kasse des Studienhausesmachte, die wieder – wie im Winter – bei Ingrid in treuen Händenist. In den Osterferien muß sich die Corona entweder gut erholt oder lobenswerteVorsätze zur Pünktlichkeit gefaßt haben. Jedenfalls hatte Ingrid in den erstenWochen des Semesters keine Gelegenheit, mit mahnendem Gesicht die obligaten20 Pf einzukassieren. Auf ihre Beschwerde hin kam das Geschäft langsam inGang, und in den letzten Wochen hat sie wohl keinen Grund mehr, sich überEbbe in ihrer Kasse zu beklagen. Vielleicht hat die anfängliche Pünktlichkeit auchnoch einen anderen Grund. Ende März saßen wir an Ottos Geburtstag bei Kuchenund Tee zusammen und malten uns aus, wie es im Sommer werden würde. IrmgardMeyer aus Frankfurt sollte die einzige Neue sein. Die mußte würdig empfangenund in den Geist des Hauses eingeweiht werden. Wie das, was da ausgedachtwurde, sich dann verwirklichte, mag Otto erzählen:Schon lange hatte »die Meyersche« in den Köpfen des Studienhauses herumgespukt,und wir glaubten, es ihr und unserem ohnehin schon leicht lädiertenRuf schuldig zu sein, einmal so recht als »Reformiertes« Studienhaus aufzutreten.Also wurde ein teuflischer Plan ausgeheckt, zu dem sich sogar der Stiftsvaterverbündete, indem er die zu diesem Zweck angefertigte Hausordnungdurch seine Unterschrift legalisierte. Sie verdient es wirklich, hier auf alle Zeitenfestgehalten zu werden.»Hausordnung«Das Reformierte Studienhaus dient der Beherbergung bewußt evangelischer Studentenund Studentinnen, die ihrer Haltung nach in den Rahmen eines sol-


1943 61chen Hauses hineinpassen. Wer in die Hausgemeinschaft aufgenommen wird,hat sich der Hausordnung und den Anordnungen des Herrn Seniors unbedingtzu unterwerfen.1) Um eine Auswahl unter den Bewerbern zu gewährleisten, müssen sichNeuaufgenommene in den ersten 8 Tagen einer Probezeit unterziehen. Esist erwünscht, daß sie sich in diesen 8 Tagen einige Kenntnisse über diehauptsächlichsten Bekenntnisschriften der ev. Kirche aneignen, da bei denvon Zeit zu Zeit stattfindenden Vortragsabenden die Kenntnis dieser Dingevorausgesetzt wird. Über die endgültige Aufnahme in die Hausgemeinschaftentscheidet der Stiftsvater auf Vorschlag des Seniors.2) Es wird von den Hausgenossen erwartet, daß sie sich dem Ernst undder Würde des Hauses entsprechend betragen, kleiden und frisieren.3) Ferner wird ein eifriges Betreiben des Studiums vorausgesetzt, worüberam Ende des Semesters durch Fleißprüfungen in zwei Hauptfächern Rechenschaftabzulegen ist.4) Einmal wöchentlich findet fakultätsweise unter Leitung des ältestenSemesters ein Repetitorium des Lehrstoffes der Woche statt, wozu entsprechendeVorbereitung erwartet wird.5) Der Besuch von Lichtspielhäusern und Lokalen ist verpönt. WertvolleFilme werden vom Herrn Senior angegeben.6) Das Klavier- und Radiospiel ist nur in der Zeit nach dem Abendessenerlaubt. Man wähle möglichst Stücke, die der allgemeinen Erbauung dienen.7) Sonn- und Feiertage werden möglichst gemeinsam verbracht. Für diewürdige Ausgestaltung sorgt der Herr Senior.8) Besuche während der Arbeitszeit sollen tunlichst vermieden werden.Ganz besonders wird auf das Unzulässige des Herrenbesuchs bei Damenund des Damenbesuchs bei Herren hingewiesen.9) Das Zimmer muß stets sauber und aufgeräumt sein. Etwaiger Bilderschmuckist dem Charakter des Hauses anzupassen.10) Verstöße gegen die Hausordnung ziehen in kleineren Fällen eine Geldbuße,in größeren einen Tadel des Herrn Seniors nach sich. Wer sich ineinem Semester drei Tadel zuzieht, wird aus der Hausgemeinschaft ausgeschlossen.Tageslauf:7.10 Uhr: Beim ersten Gongen ist unverzüglich aufzustehen. Bis zur Andachtist das Zimmer aufzuräumen und auszufegen.7.30 Uhr: Andacht und Kaffeetrinken.8.00-13.00 Uhr: Vorlesungen. Hierzu ist dem Herrn Senior baldmöglichst einStundenplan einzureichen, damit semester- und fakultätsweise zu Arbeitsstundeneingeteilt werden kann.


62 Chronik des Reformierten Studienhauses13.15 Uhr: Mittagessen, bis15.00 Uhr: Bettruhe, danach bis18.45 Uhr: Arbeitsstunden. Für Nachmittagsvorlesungen und Kurse ist beimHerrn Senior Urlaub zu holen.19.15 Uhr: Abendessen. Hierzu wolle man sich bitte umziehen. Ab20.00 Uhr: Arbeitszeit.22.30 Uhr wird das Haus abgeschlossen und das Licht gelöscht.Der Stiftsvater (gez.) Kamlah.Die ganze Sache hatte nur den einen Haken, daß Fräulein Meyer, für die diesesschwere Geschoß gedacht war, nicht – wie vorgesehen – am Sonntag Abend,an dem sie schon mutterseelenallein ihren schweren Koffer von der Bahn geholthatte und daher solchen Anschlägen zugänglicher gewesen wäre, sondern erstam Montag Morgen diese Hausordnung fein säuberlich getippt an ihremSchrank hängen fand. Trotzdem traf sie der Schlag noch hart genug. Selbstverständlichwaren wir auch <strong>reformiert</strong> gekleidet, vorwiegend dunkel, tragischerFrack, und wer das nicht vermochte, der hatte wenigstens seine Frisur auf sturzurechtgemacht. Otto gelang das sogar so gut, daß man ihm später einstimmigversicherte, so etwas Saublödes wie ihn habe man überhaupt noch nicht gesehen.Es wurde uns wirklich herzlich schwer, den sturen Ton am Tisch zu wahren.Trotzdem gelang es, Irmgard so einzuschüchtern, daß sie überhaupt nichtvon ihrem Teller aufsah. Als jedoch Otto erschien und sich stotternd »Hö-Hö-Hövels« vorstellte und anschließend bedeutende Worte zur Arbeitsstundeneinteilungstotterte, blieb kein Auge tränenleer. Irmgard gab einige Stunden späterauf Pastor Kamlahs Frage, wie ihr denn die Leute gefielen, die köstliche Antwort:»Es sind sie noch nicht alle da.«Daß so eine Hausordnung auch auf die Pünktlichkeit günstig wirkte, ist jadurchaus denkbar.Irmgard blieb doch nicht die einzige Neue. Es zog noch Ottos Freund HermannSchall ein, der im Winter in Ottos Bett in der Kaserne geschlafen hatte,damit Otto bei uns im Studienhaus wohnen konnte. Und dann wurde auchdie Corona noch um ein zweites Ehepaar vermehrt. Eigentlich kann man nursagen, dreiviertel eines Ehepaars, denn vorläufig wohnt nur Ursel Müller imHaus, während ihr Mann Arnd noch im Theologischen Stift schläft und nurmittags und abends bei uns ißt. Für jeden Studienhausbewohner ist es äußerstlehrreich, in Ursel und Arnd ein Ehepaar mit völlig anderen Sitten als Wernerund Marlene zu beobachten. Die Kühle ihres Umgangs beschränkt sich nichtnur auf den Ton, in dem sie miteinander reden, wenn wir dabei sind (das könnteman ja allenfalls noch vornehme Zurückhaltung nennen), sondern sie habendie absonderliche Gewohnheit, sonntags abwechselnd fortzufahren, einmal sieund einmal er. Der andere bleibt dann friedlich hier und läßt merken, daß ihm


1943 63das nicht nur gar nichts ausmacht, sondern daß ihm das sogar ganz angenehmzu sein scheint.Da aus Werners Studienurlaub leider nichts werden konnte, mußte er AnfangMai wieder zum Kommiß und kam zum Reichsbahnfahndungsdienst nachEssen. Otto sagte mit Recht, daß man da den Bock zum Gärtner gemacht hat.Zu Marlenes und unserer Freude erlaubte es ihm sein Dienst häufig, für einoder zwei Tage hierher zu kommen. So konnte er auch bei unserem Semesteranfangsfestmit dabei sein, das im Waldheim gefeiert wurde.Das Seniorat übernahm Otto, der väterlich über seinen Haufen wachte undauch die Einzelbetreuung so ernst nahm, daß er z.B. den Kranken sein Radioeinschaltete und der Dore, die »bäh!« schreiender Weise im Wasser zappelte oder


64 Chronik des Reformierten Studienhausesnoch nicht einmal das tat, das Schwimmen beibrachte. Für seine Pflicht als Seniorhielt er es auch, sich gemeinsam mit Eki um die Physikumskandidaten zukümmern, anspornend oder beruhigend, je nach dem, was gerade nötig war, undsie mit unermüdlicher Geduld über seine Zeit und Kraft hinaus abzuhören.Überhaupt das Physikum! Eigentlich war ja nur Maria-Barbara so weit. Aberim Lauf des Semesters ergab sich für Ingrid und für Marlene die Möglichkeit,noch in diesem Sommer das Vorphysikum zu machen. Da begann dann diegroße Lernerei. Das ganze Haus geriet mit in Aufregung. Unsere Tischgesprächewandelten sich erheblich. Im vorigen Semester wurden zur Hauptsache unästhetischemedizinische Definitionen des Puddings versucht und mit Heinz juristischeSpitzfindigkeiten erörtert. In diesem Semester war man im Banne desPhysikums wesentlich gebildeter. Die Mediziner warfen nur so um sich mit ihrenmedizinischen Fachausdrücken, daß kein vernünftiger Mensch etwas verstehenkonnte. Die Theologen drohten schließlich, zur Rache bei Tisch in ZukunftGriechisch zu reden, waren aber zu gutmütig oder zu träge 22 , diese Drohungwahr zu machen.Im Anschluß an die Tischgespräche und die Puddingdefinition des vorigenSemesters muß noch ein trauriges Ereignis vermerkt werden. Eines Tages ist unsergeheimnisvoll springender Serviettenring spurlos verschwunden, nachdem er sich– von Otto sorgsam gelenkt – ein paar Mal heißhungrig in Dores Puddinggestürzt hatte. Das ist ihm anscheinend nicht bekommen. Nun haben wir einenanderen. Aber dem alten trauern wir noch immer nach.Den Physikumsleuten muß noch ein besonderes Lob gespendet werden dafür,daß sie soweit das nur irgend möglich war, an den gemeinsamen Abenden sichnicht ausgeschlossen haben, nicht einmal Marlene, trotz des Bambino. DiesesLob gilt ebensosehr für Dore, die am Anfang der Semesterferien das Graecummachen wird.Von ihr ist noch ein Kuriosum zu berichten, das der staunenden Mit- undNachwelt nicht verborgen werden darf: Sie präsentierte sich uns eine zeitlangals Griechisch redendes Wickelkind. Man denke, dies mitten in Deutschland!Daß sich eine so abnorme Erscheinung nicht lange halten konnte, ist ja klar(Eki und Ursel, die das Kind abwechselnd wickelten, obwohl keine Wickelkommodezur Verfügung stand, werden wohl froh gewesen sein, als die Bronchitisgeheilt war). Daß ein Wickelkind, auch wenn es Griechisch redet, eine etwassonderbare Rolle spielt im ehrsamen Studienhaus, liegt wohl auf der Hand. DiesesWickelkind versöhnte uns aber in seinem erwachsenen Zustand dadurch,daß es bei unseren Andachten den Kantor spielte und auch bei den übrigenSingereien das Klavier bearbeitete.Die Pflege des gemeinsamen Singens gehört zu den Besonderheiten diesesSemesters. So konnten wir unseren Stiftsvater nach der Rückkehr aus seinem22 Ergänzung von anderer Hand: »wahrscheinlich aber zu dumm«.


1943 65Urlaub ein Ständchen bringen und auch Ekis Geburtstag festlich dadurch einleiten.Den Höhepunkt fand unser Singen aber am Semesterabschlußabend.Eine besondere Liebhaberin von Dores morgendlichem Klavierspiel war FrauSchulz, auf die in unserem Bericht notwendigerweise noch ein Loblied gesungenwerden muß. Sie hat es in diesem Semester mal wieder fertiggebracht, unterAssistenz von Frau Fischer und Frau Mallary, Ruthchen nicht zu vergessen, allunsere hungrigen Mäuler zu stopfen, wenn das auch der Zeit entsprechendimmer schwieriger wurde und besonders das Einkaufen immer mehr Mühemachte. Aber jedes Mal, wenn sie besorgt fragte: »Na, seid er denn auch allesatt jeworden?«, konnten wir ihr beruhigend versichern: »Natürlich, Frau Schulz,wir können überhaupt nicht mehr.« Ein paar Mal sind sogar Reste geblieben.


66 Chronik des Reformierten StudienhausesDas hat sie uns ordentlich übel genommen. Allen künftigen Studienhausbewohnernsei es darum gesagt: »Laßt nichts übrig, vor allem keine Erbsen!« ZumLob von Frau Schulz könnte noch vieles geschrieben werden. Zweierlei will ichwenigstens noch erwähnen: 1. Mit welch’ strahlendem Gesicht sie uns Bratkartoffelnnachbrachte, auch dann, wenn die erste Portion eigentlich hätte reichensollen. 2. Mit welcher Fürsorglichkeit sie darauf bedacht war, denen, die abendsspäter kommen mußten, das Essen zu sichern.Zu den rühmlichsten Taten von Frau Schulz gehört aber ihre Mitwirkung aneinem Abend, an dem mal wieder alle Geister des Studienhauses los waren. IrmgardsBett wurde samt ihrem Waschtisch in den Tagesraum befördert, und FrauSchulz machte ein wunderschönes Himmelbett daraus. Dem verschwundenenBett wurde in Irmgards Zimmer eine Gedenkstätte errichtet mit Blumen undeinem Poem von Otto. Was sonst noch an diesem denkwürdigen Abend geschah,z.B. die Suche mit dem Rad von Gerds Brigitte und wie denn Frau Noffke 23 meinte,die Polizei käme zu ihr (sie muß wohl ein schlechtes Gewissen gehabt haben)und wie Dore Ottos Stöhnen und den Krach hörte, der Irmgard im Tagesraumgalt, und nun einen Gespensterbesuch in ihrer Bude erwartete, das alles wird vondenen, die dabei waren, nicht so leicht vergessen werden.An dieser Stelle soll der Bericht Ottos vom Budenzauber bei Gisela eingefügtwerden:Der schönste Budenzauber, den ich überhaupt im Hause erlebt habe, warder bei Gisela, die wahrlich schon längst an der Reihe war. Überaus dekorativwirkte der Mann, den man ihr, um ihren guten Ruf nicht allzusehr zu beeinträchtigenund die Atmosphäre ihrer jungfräulichen Stube nicht zu sehr zu schädigen,dann doch noch vors Fenster gehängt hatte. Da saß er nun in strahlendemMondenschein und wartete als wohlerzogener junger Mann, bis sie ihnherunterholen würde. Heimtückischerweise stellte man ihr auch noch das Bettauf den Kopf, machte es hübsch einladend zurecht, ohne dabei zu verraten, daßes bei der leisesten Berührung wie ein Kartenhaus zusammenklappte, was dennauch prompt eintrat. Das Ganze wurde durch eine haarscharf auf den Türspalteingerichtete Wasserkanne gekrönt. Nun wurde aber aus unserer Wohlanständigkeitdoch ein Verhängnis: Frau Schulz nämlich, den Mann sehen, die Treppeheraufeilen und sich an dem Budenzauber zu freuen war eins. Leider hattesie nicht daran gedacht, daß sie eventuell vor Gisela ankommen könnte, wasihr natürlich sehr zum Nachteil geriet. Wir dürfen aber abschließend feststellen,daß der Guß ihrer guten Laune keinesfalls geschadet hat.Nach solchen Schilderungen wird keiner bezweifeln können, daß der alteGeist des Studienhauses noch lebendig ist. So haben wir dann auch die Verbindungmit den »Alten« nicht abreißen lassen, und einige von ihnen fühlten23 Friedgard Noffke wohnte im Studienhaus und war Gemeindehelferin in der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen.


1943 67den Drang, die Stätte ihrer einstigen Schandtaten mal wieder aufzusuchen. Daswaren: Gerd Brandt, Otto Klingelhöffer, Martin Kunze und Adolf Kraushaupt,der mit seiner Braut einen ganzen Abend bei uns war und alte Zeiten wiederlebendig werden ließ. Heinz ist übrigens auch wieder im Lande, d.h. er lebt inder Kaserne und wird als Rechnungsführer ausgebildet. Das muß eine sehrgemütliche Sache sein. Denn er hat viel Zeit, um zu uns ins Haus zu kommen.Zu einem unserer Leseabende, von denen noch die Rede sein wird, hatten wirHerrn Pastor Harbsmeier 24 eingeladen, um auch die Verbindung mit der allerältestenZeit des Studienhauses aufzunehmen, die noch vor dem Beginn unsererChronik liegt. Da gerade von den Alten die Rede ist, soll auch nicht vergessenwerden, daß bei Hellers im Mai ein zweites Mädelchen angekommen ist.Pfingsten teilte sich die Corona, einige fuhren nach Hause, und was der kümmerlicheRest anstellte, wird Ursel erzählen:Ein trauriger – nein, sondern vielmehr ein sehr fröhlicher – Rest blieb zuPfingsten von der Belegschaft des Hauses zurück. Am Sonnabend machte einTeil von diesen einen anstrengenden Bergaufstieg, nämlich auf die Plesse.Nachträglich mußten wir der Vorsehung danken, daß sie wohlbehalten trotzeiniger Abstürze wieder bei uns erschienen sind.Der Pfingstsonntag vereinte uns alle schon früh zu großen Taten. Bei strahlendemSonnenschein fuhren wir alle – sogar die, deren erste längere Radfahrtes werden sollte – mit unseren Rädern Richtung Ludwigstein los. Endlich einmalfrei von allen Studien, Doktorarbeits-, Examens- und ähnlichen Sorgen! InWitzenhausen erste Station. Nach einigen vergeblichen Versuchen fanden wirsogar ein Lokal, in dem für unsere hungrigen Mägen gesorgt wurde. Der Ludwigsteinselbst brachte uns Enttäuschung. Wir durften nur bis zur Mauer vordringenund uns am Exerzieren der Jungenmannschaft des Wehrertüchtigungslagersbegeistern. Dafür lockten uns dann die Werrawiesen umso mehr. Auf einer Deckebrüderlich vereint, Kopf auf Bauch, lagen wir und versuchten, unseren Nachmittagsschlafzu halten, der aber immer wieder durch neue Erschütterungen allerseitsgestört wurde. Außerdem trat noch ein schreckliches Ereignis ein: Das Augedes Gesetzes hatte einen Blick auf uns geworfen. Drüben am anderen Ufer ging’sam Arm seiner Frau auf und ab. Selbst diese deutete durch ihr Fingerzeigen deutlichihre Mißbilligung über unser sittenloses Benehmen mit. Müssen wir nichtgerade über diese Straße, wenn wir uns einen großen Umweg ersparen wollen?Otto und Arnd sind für männlich entschlossenes Vorgehen, aber der weiblicheTeil ist mehr für den Umweg. Der männliche Geist siegt: Mutig und sittsamfahren wir brav einer hinter dem anderen an dem gefürchteten dicken Grünrockvorbei, und nichts, aber auch nichts geschieht.24 Götz Harbsmeier (1910-1979), 1936 Pastor in Wilhelmshaven, 1943 Pastor in Reiffenhausen,1952 Ordinarius an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und 1962 Ordinariusfür Praktische Theologie an der Universität Göttingen.


68 Chronik des Reformierten StudienhausesAm 2. Pfingsttag wurde der Weg zur Kirche genommen, in der Herr PastorMüller predigte. Nach gemeinsamem Mittagessen im Deutschen Hof führtenunsere Räder uns ins Bremker Tal. Gerade hatten wir einen schönen Steinbruchals Raststätte ausfindig gemacht, da überraschte uns ein wolkenbruchartigerRegen. Doch unsere gute Laune konnte er nicht vertreiben. Dicht unter eineüberhängende Felswand gehockt, haben wir gesungen, gelesen und – nicht zuvergessen – Mengen an Kuchen verspeist. Kurz ehe wir gingen, entdeckten wirim Moos ein Nest mit fünf kleinen Grasmücken. Der Regen hatte sich so überunsere Nichtachtung geärgert, daß er sich schließlich verzogen hatte und unstrocken nach Hause kommen ließ. Auf diesem Heimwege wurde ein bedeutendesBündnis geschlossen: Die Achse – später zum Dreierpakt erweitert – entstandals Schutz- und Trutzbündnis gegen die holde Weiblichkeit. Zu Haus walteteunsere Hausmutter Dore wieder sorglich ihres Amtes und machte wie immerin diesen Tagen all ihre hungrigen Mäuler satt. Noch heute bewahren wirihr derhalben ein rühmendes Angedenken!Zu diesem Bericht kann sich die Chronistin eine Anmerkung nicht verkneifen,nämlich: Einen besseren Beweis ihrer Schwäche als dieses Achsenbündniskonnte die werte Männlichkeit unseres Hauses wohl wirklich nicht geben.Wenn so etwas nötig ist, muß es ja schon schlimm gekommen sein. Im übrigenist der Abschluß des Paktes ihre einzige Heldentat geblieben, auf die weiterenwarten wir noch. Und wir – d.h. die Frauen – sind stark genug, dies in Gelassenheitzu tun. Sollte da jemand sein, der immer noch nicht an unsere Überlegenheitglauben will, dem sei gesagt, daß wir nun auch eine der letzten Positionenden Männern entrissen haben: Die Feder des Chronisten wird in diesemSemester von einem Mädchen geführt. Die Mühen des Senioramtes dagegenüberlassen wir gern den paar harmlosen Männern, die übrig geblieben sind.Damit mögen die sich plagen, das ist ganz recht so.Daß über all dem vergnügten Treiben die Arbeit nicht vernachlässigt wurde,beweisen allein schon die vier Examina und Dores, Ekis und Irmgards Fleißprüfungen.Im übrigen aber ist das ja, wie schon früher, nur die eine Seite unseresLebens im Studienhaus.Um dieses Bild zu ergänzen, ist vor allem zu sagen, daß der Hang zur klassischenHalbbildung, von dem im letzten Semesterbericht die Rede war, immerstärker wurde – trotz der Examina und obwohl der Sommer für so etwas dochmeist weniger günstig ist. So haben wir an zwei Abenden mit verteilten RollenShakespeares »King Lear« gelesen, ein andermal ebenfalls an zwei Abenden trotzverschiedener äußerer Hindernisse den »Tasso« und schließlich Hebbels »Gygesund sein Ring«. Außerdem hatten wir eine kleine Feierstunde, die Hölderlingewidmet war aus Anlaß seines 100. Todestages.Wie beherrschend dieser Drang gewesen ist, zeigt sich so ganz aber nun erstam Ende des Semesters. Zum ersten Mal steht unser Abschiedsabend im Zeicheneines Dichters. Nicht zufällig ist es Matthias Claudius, der Mann, in des-


1943 69sen Werk die verschiedenen Seiten gerade unseres Lebens im Studienhaus soharmonisch vereinigt sind.Bei ihm finden wir neben der dankbaren Freude an der Natur und dem Sinnfür die kleinen heiteren Dinge auch den Ton des Glaubens, von dem wir sogerne möchten, daß er bei uns als in einer christlichen Hausgemeinschaft derGrundton sei. Daß wir wirklich so eine christliche Hausgemeinschaft sein durften,macht uns besonders dankbar und hat uns untereinander wohl mehr undtiefer verbunden als irgendetwas anderes. Es ist fein, wie diese innerste Verbundenheitbei allen Fehlern und Unzulänglichkeiten und auch bei den nie zuvermeidenden Spannungen doch uns alle getragen hat. Sichtbar wurde das inden gemeinsamen Andachten, für die wochenweise abwechselnd (wie das schonfrüher war) immer jemand anders verantwortlich war, der dadurch gezwungenwurde, sich besonders gründlich mit dem Schrifttext auseinanderzusetzen.Gerne hätten wir unsere Laienspielarbeit fortgesetzt, aber dies scheiterte ausverschiedenen Gründen, vor allem an der Gewänderfrage.Zur Studentengemeinde gehörten wir nicht nur gleichsam als gelegentlicheZuschauer, sondern wir fühlten uns als mitverantwortliche Glieder – wie dasja selbstverständlich ist für eine Hausgemeinschaft evangelischer Studenten. Daszeigte sich am deutlichsten, als wir an Stelle der ausgefallenen Kurrende einefünf Mann starke Abordnung nach Sudheim schickten, um zu helfen, die Ehreder Studentengemeinde vor den Sudheimer Bauern zu retten. Daß wir bei dengemeinsamen Sonntagen der Studentengemeinde nicht immer ganz dabei seinkonnten, ergibt sich aus der besonderen Art unseres Zusammenwohnens undaus praktischen Gründen. Daß wir dafür in der Studentengemeinde Verständnisfanden, freut uns besonders. Als ganz bescheidenen positiven Beitrag zumLeben der Studentengemeinde dürfen wir wohl unsere Mitarbeit an dem Kreisbezeichnen, der mit Pastor Harbsmeier und dann mit Professor Gogarten 25zusammenkam, um über Fragen zu sprechen, die sich aus dem Thema »Glaubeund Wissenschaft« ergeben. Wir hatten uns, weil das ja für uns leichter istals für andere, die einzeln auf ihrer Bude hocken, zwei Abende zusammengesetztund die von Pastor Harbsmeier aufgestellten Thesen gründlich durchgesprochen.Dabei wurde deutlich, daß das nicht um des interessanten Gesprächeswillen geschah, sondern weil uns diese Fragen wirklich bewegen. Ebenso ist esmit den Gesprächen, die ausgingen von der politischen und der geistigen Lageunseres Volkes und die oft so brennend waren, daß sie stundenlang auf der Treppeverhandelt wurden, obgleich eigentlich keiner Zeit dafür hatte.In den letzten Wochen bewegte uns die Brölsch’sche Kinder- und Zimmerfrage,aber wir hoffen, daß die sich nun so gelöst hat, daß unsere Gemeinschaftkeinen Schaden dadurch leidet.25 Friedrich Gogarten (1887-1967), von 1935 bis zu seiner Emeritierung 1955 Ordinariusfür Systematische Theologie an der Universität Göttingen.


70 Chronik des Reformierten StudienhausesEs wird wohl immer so gewesen sein, daß die Studienhäusler am Ende einesSemesters viel Grund hatten zum Danken. Schon daß man nicht alleine irgendwoin einer ungemütlichen Gaststätte essen muß, sondern sich im Haus, woman wohnt, an den gedeckten Tisch setzen darf, ist ein großer Vorzug. Dazukommt jetzt noch, daß man sich nicht abzugeben braucht mit zeit- und kraftraubendenEinkäufen. Ungleich schwerer als diese äußeren Vorteile wiegt derSegen der Gemeinschaft, die den einzelnen trägt und erzieht. Es ist schon etwasganz besonderes um so eine Gemeinschaft, in die man sich ohne Vorbehalt einfügenkann. Jetzt im Krieg haben wir nun noch mehr Grund zur Dankbarkeitfür ein Semester wie das vergangene. Es ist beschämend, in froher Gemeinsamkeitall das zu haben, was so vielen Soldaten draußen fehlt: die Verkündigungdes Evangeliums, das Lernen und Arbeiten für den eigenen Beruf, die Schätzeder Dichtung und der Musik, die sorglose Freude an der Schönheit der Natur,die unbeschwerte Hingabe an heitere Stunden und den fruchtbaren Austauschmit Gleichgesinnten. Auf dem Hintergrund der Not unseres Volkes bekommendiese Dinge ein ganz anderes Gewicht für uns. Wir können uns auf die Dauernur wirklich an ihnen freuen, wenn wir sie annehmen als Gaben Gottes undsie so verwalten, daß sie Frucht bringen für uns und andere. Unseres Fröhlich-Seins müssen wir uns schämen im Angesicht all des Leides unserer Zeit, wennwir nicht wissen um die christliche Freude, die nicht an dem Dunklen vorbeisieht,sondern bestehen kann und darf und soll trotz und in alledem, was unsAngst und Traurigkeit macht.Wintersemester 1943/44Die zunehmende Zeitverknappung macht sich auch diesmal beim Chronikschreibenbemerkbar. Mehr als sonst ist diesmal die Semesterchronik eineGemeinschaftsarbeit, aber das Entscheidende bleibt ja, daß die mehr oder wenigerstaunende Nachwelt erfährt, was sich bei uns in diesem Semester zugetragenhat, und daraus ermessen kann, ob der alte Geist auch weiterhin wachblieb.Zunächst gibt uns Irmgard einen kleinen Überblick über unsere Festlichkeiten:Wie wohl in jedem Semester, so fehlte es auch in diesem nicht an Feiern. Ineiner Scharade, die den Begriff »Kaninchenstallbaufachmann« darstellte, tratOtto Klingelhöffer ganz genial hervor. Er spielte die Rolle eines Schwerhörigenausgezeichnet, nur vergaß er das Wort auszusprechen, auf das es ankam.In einer anderen Scharade spielten Maria-Barbara und Arnd ein Liebespaar sorealistisch, wie wir es kaum im Film sehen können. Zu diesem künstlerischenGenuß kam dann die »Fox, tönende Wochenschau«. Wir sahen die Befreiungdes Duce. Otto Klingelhöffer war als Duce im Schrank eingesperrt und wurdedaraus von Fallschirmtruppen befreit, die Otto Hövels darstellte, indem er voneinem Stuhl, der auf dem Tisch stand, mit einem geöffneten Regenschirm einen


1943/44 71gewagten Sprung tat. Der Duce fuhr dann im Auto in Form eines Kinderwagensdurch die jubelnde Volksmenge, die von Dore dargestellt wurde. Unvergessenbleibt uns auch der Vorbeimarsch der gesamten italienischen Hausmachtvor ihrem Herrn und Gebieter. Die Kavallerie machte einen erheblichenEindruck. Wer das gesehen hat, weiß, warum man mit solchen Truppen keinenKrieg gewinnen kann.In einer einzigartigen Damenrede »schmeichelte« Arnd uns Mädchen. Daraufwurde in einer gegen die Achse gerichteten Herrenrede, die ganz gespenstischim dunklen Zimmer von Marianne und Anne in Versform (vor-)gebracht[wurde], geantwortet. Den Achsenpartnern konnte davon beinahe angst undbange werden.Heiß geworden vom vielen Lachen erquickten wir uns am selbstgebrauten,köstlichen Kirschlikör. Dabei hatte sich Otto, der geniale Schnapsbrauer, einenhäßlichen Scherz erlaubt. Er schenkte unter feierlichem Zeremoniell zunächstKirschsaft aus, der, nachdem ihn der Stiftsvater als guten Likör lobte, allgemeinbewundert wurde. Peinlich, daß es dann doch keiner war. Aber der Genuß desdarauf folgenden wirklichen Likörs tröstete auch die Hereingefallenen. Der alteStudienhäusler Frieder Voget, der gerade hier in Urlaub war, konnte an diesemfröhlichen Abend unter uns weilen.Da das Semester sehr spät angefangen hatte, folgten schon bald die Vorbereitungenfür die Weihnachtsfeier. An manchem Abend saßen wir zusammen,um die dreistimmigen Weihnachtslieder zu proben. Schöne Weihnachtsgeschichtenund -gedichte wurden vorgelesen. Danach trat mit großem Gepolterder Weihnachtsmann ins Zimmer, der jedem ein Verslein zu sagen hatteüber die Besonderheiten, die sich an ihm im Laufe des Semesters herausgestellthatten. Pastor Kamlah bekam zu seiner ungeheueren Freude als Ersatzfür sein entlaufenes Kaninchen ein von Marianne gebasteltes Stoffkaninchen.Ein Mordsschlager waren auch Ingrids Knieschoner, die sie beim Fallen vorStrumpfverletzungen schützen sollten. Stellte es sich doch heraus, als es sichder Weihnachtsmann nicht nehmen ließ, ihr diese höchstpersönlich zu verpassen,daß es sich unverkennbar um die unteren Teile einer Kommißunterhosehandelte. Auch Arnd wurde reichlich bedacht. Allerdings muß ein objektiverBeobachter feststellen, daß sich fast jeder der Hausherren in gleichem Maßeum das »Fernrohr zur besseren Betrachtung weiblicher Reize« verdient gemachthatte.An leiblichen Genüssen fehlte es auch an diesem Abend nicht. Frau Schulzhatte eine Menge Plätzchen gebacken. An einem schön geschmückten Weihnachtsbaumerfreuten wir uns alle sehr.Die Tradition des vorigen Semesters wurde auf dem Gebiete der kulturellenVeranstaltungen nicht nur fortgesetzt, sondern durch die Ausnutzung des Lichtbildapparatesund die Einladung von vortragenden Gästen wesentlich erweitert.Dore berichtet darüber:


72 Chronik des Reformierten StudienhausesDie kulturellen Veranstaltungen waren in diesem Semester besonders verschiedenartig.Der Tradition folgend lasen wir ein Drama mit verteilten Rollen,und zwar Shakespeares »Hamlet«. Ein anderer literarischer Abend führteuns in die Welt von Wilhelm Busch. Marianne gab uns eine Einführung undlas uns aus seinen Werken vor. Gleichzeitig wurden die entsprechenden Bilderim Lichtbild gezeigt, so daß Wort und Bild, die ja bei Wilhelm Busch untrennbarmiteinander verbunden sind, vor uns erstanden.Ein zweiter Lichtbildervortrag wurde von Maria-Barbara gehalten über dasThema »Romanische und gotische Baukunst in Europa«. Lichtbilder von französischen,spanischen, italienischen und deutschen Kirchen und die Ausführungen,die Maria-Barbara dazu gab, verschafften uns einen Eindruck vonden Baustilen der Romanik und Gotik.Eine besondere Freude war uns das Zusammensein mit Heinz WietingsFreund, dem Intendanten der Werkbühne in Hannover. Er gab uns zunächsteinen geschichtlichen Überblick über die Entwicklungsstufen des Theaters,sprach dann über den Alltag des Schauspielers, den sich wohl keiner so realistischvorgestellt hatte, und berichtete schließlich über die Entstehung einesFilms, über ungeahnte Schwierigkeiten, die die unscheinbarsten Aufnahmenbereiten, und über die aufregenden Sekunden vor den Großaufnahmen. ZumSchluß machte er mit uns kleine schauspielerische Übungen, wie sie etwa vonAnwärtern auf Schauspielschulen in den Aufnahmeprüfungen verlangt werden.Es sollten z.B. einige kleine scheinbar ganz leichte Vorgänge aus dem täglichenLeben dargestellt werden, wo bei uns die Schwierigkeit aufging, natürliche Dingenatürlich darzustellen, wenn man sich beobachtet weiß. Nach diesen Versuchenhatten wir alle den Eindruck, daß es wohl keiner von uns zu einem Filmstarbringen werde.Ganz andersartig war einer der letzten Abende dieses Semesters. Wir hattenHerrn Prof. Weber zu uns gebeten, um mit uns über Probleme zu sprechen,die uns bewegen. Es handelte sich vor allem um die Frage der Spaltung in dieeinzelnen Konfessionen und um die Zukunft der evangelischen Kirche. Ausgangspunktder Diskussion war eine Übersicht von Arnd über die Entwicklungder Kirche von ihrem Ursprung an bis zur Gegenwart. Diese Diskussionsabendesollen im nächsten Semester fortgesetzt werden.Wenn die Chronistin des vorigen Semesters glaubte, daß die Achse, einemtiefen Zusammengehörigkeitsgefühl unserer Hausherren entsprossen, lediglichein Tischgespräch sei, so war dieser Schluß ein Trugschluß. Schon bald solltesie ihre Wirksamkeit deutlich werden lassen. Selbstverständlich blieb die Gegenseitenicht untätig, und so wurde unser Haus oft zum Schauplatz wilder Kämpfe.Ingrid und Arnd wollen davon singen und sagen:Als wir uns im vorigen Semester zur Achse zusammenschlossen, um den Übermutder weiblichen Übermacht des Hauses zu dämpfen, wußten wir wohl, daßunser Kampf kein leichter sein würde. Aber jetzt am Ende dieses Semesters kön-


1943/44 73nen wir wohl ruhig mit aller uns zur Verfügung stehenden männlichen Überheblichkeitbehaupten, daß wir diesen Kampf ruhm- und siegreich beendethaben. Zwar ist die holde Weiblichkeit mit Macht in unsere Reihen eingebrochenund hat unsere stärkste Säule durch zarte Bande in Beschlag genommen.Aber Otto ist uns trotzdem nicht untreu geworden. Er hat es meisterhaft verstanden,sich durch diese Bande nicht wehrlos machen zu lassen. Dagegen wardie Haltung unseres vierten Verbündeten nicht immer ganz einwandfrei. Vielleichtwar Otto zu sehr Kavalier, um nicht doch immer mal wieder dem verführerischenAugenblinzeln gewisser Damen zu erliegen. Doch wir nehmen an,daß auch er noch eines Tages von der Notwendigkeit des Zusammenschlussesaller Männer – sei es nun in einem Kegelclub oder in einer Achse – überzeugtsein wird.Wenn man uns nach unseren Heldentaten fragt, so können wir vor allemauf eine glorreiche Tat hinweisen. Eines Tages fanden alle Damen – die Verheiratetenausgeschlossen, da wir an sie nicht so schnell ohne allzu nachteiligeFolgen herankonnten – ihre Betten der Federpfühle beraubt vor. Nach einementsetzten Erstaunen fiel ihr Verdacht auf die Achse. Aber Otto und Arnd saßenmit ihrem Raub sicher in Ottos Bude. So blieb der aufgeregten Damenherdenichts weiter übrig als vor der Tür der beiden Helden ein jämmerliches Konzertzu bieten. Als ihnen das selbst zu langweilig wurde, versuchten sie, die Türeinzudrücken, was ihnen selbst unter Mitwirkung ihrer gewichtigsten Mitgliedernicht gelang. Und als die Achse dann durch Hermanns Zimmer einen Ausfallunternahm, war die lärmende Herde derartig erschrocken, daß sie Hals überKopf die Flucht ergriff. Nachdem aber die Achse so ihre Vorherrschaft großartigaller Welt vor Augen geführt hatte, zeigte sie sich großmütig und gab dieBeute wieder heraus. Die Weiblichkeit schwor zwar Rache, allerdings richtetesich ihr Zorn vor allem auf den armen Otto. Mit einer geradezu großartigenGewissenhaftigkeit suchten sie sich eine Nacht aus, in der Otto ganz besondersmüde war und sich vorgenommen hatte, morgens auszuschlafen und schon imVoraus 0,50 RM bezahlt hatte. Mitten in der Nacht versammelte sich dieDamenwelt vor seiner Kammertür, um ihm ein Ständchen zu bringen. Um ihnzu versöhnen, überreichten sie ihm Rosinen, ganz nebenbei aber verstecktensie währenddessen einige Wecker in seinem Zimmer, mit der schändlichenAbsicht, ihn alle Stunde grausam aus Morpheus Armen zu reißen. Zu allemÜberfluß wälzten sie dann noch, als er gerade wieder entschlummert war, einengewaltigen Kürbis auf seinen edlen Leib. So rächte sich das zarte Geschlecht!Nach der alten Parole: Divide et impera! nahmen sie immer nur einen Achsenpartnerjeweils vor.Ihr nächstes Opfer war Hermann. Als er sich eines Abends nach vollbrachtemschweren Tagewerk zur wohlverdienten Ruhe begeben wollte, fand er sichselbst plötzlich unter den Trümmern seines zusammengebrochenen Bettes wieder.Er rächte sich zwar, indem er sämtliche Türen der weiblichen Kammern


74 Chronik des Reformierten Studienhausesverriegelte, aber der weitaus größte Teil der Damen bemerkte es nicht einmal,da sie wie gewöhnlich die Zeit verschliefen und von den Vertretern der Achse,die sie nicht an der Arbeit hindern wollten, schon morgens früh wieder befreitworden waren. Einmal allerdings brachte eine solche Gefangensetzung der Achsedoch etwas ein. Maria-Barbara hatte sich eines Tages in Ottos Zimmer verirrtund war dort eingesperrt worden. Als es ihr schließlich zu langweilig wurde,verlegte sie sich aufs Bitten und dann aufs Handeln. Dore bot für ihre Freilassung20 Blatt eines gewissen, hinterlistigen Zwecken dienenden Papiers. Da dasungefähr Maria-Barbaras Wert entsprach, wurde der Bitte entsprochen.Leider hinderte Überarbeitung und die erwähnten zarten Bande eine stärkereAktivität der Achse, doch steht zu erwarten, daß im Sommer der Kampfum die Macht erfolgreich für die Achse weitergeführt wird.Außerdem wollen wir nicht vergessen, daß dieses Semester manch biederenStudienhäusler, der einst »ohne Moos bei Bier und Wein dem Herrn der Erdeglich«, unter das Ehejoch oder zumindest seine Vorstufe gezwungen hat. Auchder gute Adolf Kraushaupt mußte daran glauben. Aus unserer Mitte waren es chronologischgeordnet: Marianne, Dore, Irmgard [und] Otto, die den ersten Schrittzur mehr oder weniger schnell folgenden Ehe getan haben. Auch die Zahl derStiftsenkel wurde um drei vermehrt. Bei Brölschens wurde der Sohn doch eineTochter. Auch der sagenhafte »Onkel Paul« trat aus der Reihe der bevölkerungspolitischenBlindgänger aus. Ursel und Arnd bekamen ein kleines Mädchen.An Alten waren bei uns zu Besuch: Frieder Voget, Adolf Kraushaupt, Marleneund Werner und häufig der das Göttinger Land schützende Heinz Wieting.Sommersemester 1944Was ich nach 4½ Jahren vom Sommersemester 1944 noch weiß, soll hierniedergeschrieben werden. Wir waren eine durchaus fröhliche Gesellschaft. Deshalbwill ich gerade von dieser Seite des Semesters berichten. Da die »Herren«in Anbetracht ihrer Minderheit nicht vorhatten, die »Damen« tonangebend seinzu lassen, gestaltete sich das Leben im Studienhaus sehr »reizvoll«. Das betrafvor allem Otto und Arnd. Jedoch wurden die verschiedenen Budenzauber inEinigkeit ausgeführt. Es gab daran eine stattliche Anzahl, nämlich sechs. Es fingan bei Marianne, die bei Pastor Kamlah wohnte. Dann kam Ingrid dran, dieanschließend wochenlang das Käsepapier unter der Tischplatte nicht fand undihr kostbares Parfüm verspritzen mußte, damit sie es in ihrem Zimmer aushaltenkonnte. Wir unterließen es aber auch boshafterweise nicht, jedesmal naserümpfendzu schnüffeln, wenn wir bei ihr waren. Der Budenzauber bei Hildburgbestand hauptsächlich in einer Kanne Wassser, die ihr vom Schrank herunterentgegenkam. Bei Elisabeth dagegen war das Zimmer total leergeräumt. Siemußte in dieser Nacht auswärts schlafen. Am schönsten war der Budenzauberbei Otto. Er soll hier folgen:


1944-1946 75Anne und Otto waren wieder einmal im Kino (was – wie immer – keinerwissen sollte). Mit Hilfe von Frau Schulz drangen wir in Ottos Zimmer. Dannbegann man eifrigst, Ottos Schreibtisch gegen Annes Tisch auszutauschen; ebensodie Schränke, Bücherregale und Waschtische. Dabei fiel den Transporteureneiner von Ottos dicken Aktenheftern in die Hände, den einzuschließen ervergessen hatte. Es war allgemein bekannt, daß Otto seine ganze Korrespondenzund sämtliche Kinobesuche genau registrierte. Ja sogar über jeden seinerBekannten – miteinbezogen natürlich die Insassen des Studienhauses – hatteer eine Karteikarte mit Bild, Charakteristik, Erlebnissen mit denselben usw. Nunwar uns also die Sammlung über Kinobesuche in die Hände gefallen. Otto hattefein säuberlich die abgerissenen Kinokarten aufgeklebt, daneben stand das Datumund die Begleitung des Besuches, Handlung, Bilder aus Programmen undwährend der Vorführung selbst geknipste Photos. Das war gefundenes Fressenfür die Corona. Sie dekorierte kunstvoll Ottos Wände mit beschrifteten undbebilderten Bogen, vor allem mit den vielen Kuß-Großaufnahmen. Der Anblickwar erhebend! Anne und Otto verloren kein Wort, aber ihre verschnupften Mienensprachen Bände.Zu vermerken ist noch, daß Eki in diesem Semester ihr Staatsexamen mit»sehr gut« bestand. Marianne schied aus dem Verein der Jungfern aus und heirateteihren Leutnant (sie heißt jetzt Hammerschmidt). Ottos Geburtstag feiertenwir feucht-fröhlich mit Wein und Radiomusik auf dem Dach.Das sind so meine Erinnerungen aus diesem Semester. Ich habe es – wie gesagt– als ein sehr fröhliches in Erinnerung.Die Weiterführung der Chronik in den Nachkriegsjahren ist leider unterblieben,weil von den letzten Kriegssemestern, Sommersemester 1944 und Wintersemester1945, keine Berichte vorlagen. Um aber die Aufzeichnungen nichteinschlafen zu lassen, soll nun von den ersten 5 Nachkriegssemestern ein Nachtraggegeben werden, in der Hoffnung, daß sich auch für die noch ausstehendenSemester dereinst ein Chronist finden werde.Wintersemester 1945/46Für eine allgemeine Charakteristik dieser Semester wird es notwendig sein daraufhinzuweisen, daß es das erste Nachkriegssemester war, denn manche Schwierigkeitenin der Corona lassen sich nur von hier aus erklären. War es doch imgroßen und ganzen so, daß die meisten noch zu sehr unter dem Eindruck derWirren der letzten Kriegsmonate und zeitweise auch der Gefangenschaft standen,als daß sie sich hätten reibungslos zu einer geordneten Gemeinschaft zusammenfindenkönnen. So war es leicht erklärlich, daß sich einzelne Gruppen bildeten,und dieses wurde auch noch durch den strengen Winter und die Brenn-


76 Chronik des Reformierten Studienhausesstoffknappheit insofern gefördert, [als] daß sich je drei oder vier zusammentaten,um gemeinsam eine Bude zu heizen und dort zu arbeiten. Hinzu kam weiter,daß außer Otto, Adolf, Dieter, Dore und Traude alle im Anfangssemesterstanden und auf ihr Hebraicum und einige außerdem noch auf ihr Graecumhinarbeiteten.Durch den Winter und die Kriegsgebärden riß die Arbeit für die Corona nichtab. Das erste, was in Angriff genommen werden mußte, war, die Fenster desHauses wieder mit den ihnen gebührenden Fensterscheiben zu versehen. Dakeine Scheiben käuflich erhältlich waren, war man auf Selbsthilfe angewiesen,und die Scheiben der Kellerfenster, Innentüren und Bilder mußten herhalten.Der vorhandene Bestand an Glühbirnen reichte nicht aus und mußte durcheigene Vorräte ersetzt werden. Das defekte Mobiliar des Hauses verwandelte sichin Wärme und Rauch. Holzaktionen nach Roringen und zum KerstlingeroderFeld 26 wurden gestartet, ein Hausdienst (Holzhacken, Kartoffelnschälen etc.)wurde eingerichtet.Um der Ernährungslage auszuhelfen, erließ Pastor Kamlah einen Aufruf andie umliegenden Gemeinden (Weende und Bovenden) zu einer Lebensmittelspende.Dadurch wurde der größten Not begegnet. Fräulein Finke (WilhelmVoget nannte sie in stereotyper Verwechslung von Fauna und Flora »FräuleinFichte«) hatte als Hausmutter die schwere Aufgabe, die hungrigen Mägen zufüllen und tat dazu ihr Möglichstes. In Anbetracht dieser Tatsache wurden auchihre Kartoffelschalenplätzchen als Unika in Kauf genommen.Wenn nun auch in diesem Semester gearbeitet wurde wie wohl selten zuvorund hernach, blieb dennoch nicht das Zwerchfell vor erheblichen Erschütterungenbewahrt. Wer würde je die von Malte komponierte »Hungersymphonie«vergessen, die aber ein Torso blieb, weil sich nach den ersten 15 Taktendie düsteren Wolken der Ernährungslage ein wenig verzogen. Wer würde dieStunde vergessen, in der Gottlieb uns von seiner neuen Kollegiatenaktivierungsmethodeberichtete, bei der man auf audiodicentischem Wege »ungeheuer viel«lernen konnte. Kurt Halwers seinerseits fand die Ausführungen im NT Deutsch 27durchaus mit seinen Gedanken übereinstimmend und las demgemäß anläßlicheiner Morgenandacht ganze drei Seiten aus besagtem Werke vor, währenddessender Kaffee kalt wurde und die Corona auf heißen Kohlen saß. Aber auchan größer angelegten Unternehmen fehlte es nicht.Da war einmal der Budenzauber bei Wolfgang Nauck. Wolfgang bewohnteim 3. Stock das Doppelzimmer links neben der Treppe gegenüber dem Luftballon.Wenn er fortging, schloß er – wie alle – seine Bude ab. Es blieb nur dieMöglichkeit, durch die Verbindungstür vom Nebenzimmer her einzudringen.26 Ortschaften östlich bzw. südöstlich von Göttingen.27 Kommentarreihe zum Neuen Testament, erschienen im Göttinger Verlag Vandenhoeck& Ruprecht.


1945/46 77Wir legten ihm also eine Dame aufs Sofa, die zwischen dem Gehege der Zähneihres – von Otto entliehenen – Totenschädels eine Zigarre hielt. Die Deckenlampewurde mit einem roten Tuch so umwunden, daß ihr fahler Schein gespenstischdie Idylle beleuchtete. In einer Ecke verbarg sich ein Grammophonapparat,und eine von der Abspielvorrichtung ins Nebenzimmer führende Schnurermöglichte es, zu gegebenem Augenblick schaurigen Jazz erklingen zu lassen.Die Tür wurde mit einem auf Kante gestellten Sessel und einem vollen Kohleneimerverbarrikadiert. In seinem Schlafzimmer tummelten sich zu selbigerZeit die sieben Stallhasen von Pastor Kamlah, während im Nebenzimmer dieCorona Wolfgangs Ankunft erwartete. Er kam, schloß die Tür auf: EntsetzlichesGepolter, die Schallplatte krächzte und die Dame auf dem Sofa rauchteihre Zigarre. Alles klappte, Wolfgang war begeistert und lud die Corona zumTee ein. Als sich die Gemüter beruhigt hatten und alle bei dampfenden Gläsernum den Tisch saßen, sog Dore mit unschuldsvollem Gesicht die Luft vielsagendein, schnüffelte, machte Bemerkungen über einen eigenartigen Geruch.Wolfgang, dem solches naturgemäß peinlich sein mußte, wollte für frische Luftsorgen und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer – und sah die Bescherung.Die Hasen waren ausgeschwärmt: Der eine hatte es sich im Bett bequem gemacht,der andere in der Waschschüssel, der dritte saß auf der Zahnbürste, dervierte – na, schweigen wir.Bernhard Mumm kam erst im Dezember, und nach einstimmigem Beschlußsollte er »würdig« empfangen werden. Zum Mittagessen erschien er zum erstenMal. Die Älteren hatten sich auf älter und die Jüngeren auf jünger zurechtgemacht.Vatermörder und Schusterkragen, Mittelscheitel und Glatze, Bärte undglänzende Jünglingsgesichter wechselten in bunter Folge. Und da keiner eineAusnahme machte, mußte Bernhard sich für den einzig Vernünftigen halten.Die Klippe der Vorstellung bereitete zwar einige Hindernisse, wurde aber dennochglücklich umschifft. Fatal wurde es erst bei der Mahlzeit, wo Otto – nachdemDieter mit stoischer Ruhe den Tischspruch hatte erklingen lassen: »In derWelt ist’s dunkel, leuchten müssen wir: du in deiner Ecke, ich in meiner hier!«– stotternd um Erlaubnis bat, seine »Di-Di-Diätsuppe« holen zu dürfen unddaraufhin mit einem Teller ankam, den drei Löffel wässriger Hafersuppe füllten.Gottlieb kam verabredungsgemäß später, hatte sich einen dicken Schal umden Kopf gebunden und markierte Ziegenpeter. »Bultmann!« stellte er sich Bernhardvor. »Mumm!« erwiderte dieser freundlich. Gottlieb: »Wie?« Bernhard:»Mumm!« Gottlieb: »Ich verstehe nicht!« Bernhard: »Mumm!« Gottlieb: »Ichhöre immer nur: Mumm!« Es kostete schon Mühe, ernst zu bleiben bei demTischgespräch, in welchem man sich mit »Bruder« und »Schwester« anredeteund den Film »Die Feuerzangenbowle« als unmoralisch verwarf. Daß hin undwieder einer herausplatzte, konnte Bernhard nur als Mangel an Reife ansehen.Zum Schluß ist da noch von einem kleinen Racheakt gegen Wilhelm Vogetzu berichten, und der kam so: Wilhelm wohnte die erste Zeit im neuen Pfarr-


78 Chronik des Reformierten Studienhauseshaus und mußte sich zu den Mahlzeiten in das Studienhaus bemühen. Wennjemand außerhalb wohnt, ist er in der Regel pünktlicher als der, der an Ortund Stelle wohnt und sich auf das Gongen verläßt. So konnte es Wilhelm leichtin Brast bringen, wenn einer von den Hausinsassen das Gongen zum Morgenkaffeeverschlief. Dann kam der Tag, an dem Wilhelm die »verheiratete Hilfspredigerbude«bezog. Am Abend dieses Tages saß Wilhelm in seinem Zimmerund arbeitete, als ihn Siegfried besuchte und während eines ausgedehnten Gesprächesden Schlüssel zu Wilhelms Schlafzimmer in seine Tasche gleiten ließ.Die Nacht um 3.00 Uhr schrillte bei Adolf der Wecker. Dieser erhob sich undtrat leise in Wilhelms Gemächer, schloß dessen Tür von außen zu, klopfte solange,bis er Wilhelm aus Morpheus Armen gerissen hatte und erklärte ihm sarkastisch,daß es gerade 3.00 Uhr geschlagen habe und er demgemäß noch vierStunden schlafen könne. Dieses wiederholte sich um 3.15 Uhr, 3.30 Uhr, 3.45Uhr. Dann begab sich Adolf wieder zu Bett und an seine Stelle trat Elisabeth,die das Werk viertelstündlich weiterführte, und ihr folgten Wilhelm und Siegfried.Am Morgen erschien der Senior ganz verkatert, doch erklärte er auf teilnahmsvolleFragen, daß er gut und störungslos geschlafen habe.Um auch die allgemeine Bildung zu ihrem Recht kommen zu lassen, lud dieCorona Prof. Herlin ein, der uns einen Lichtbildervortrag über chirurgische Fragenhielt. In der Adventszeit sahen wir auch Prof. Weber in unserer Mitte undendlich wurde das »Käthchen von Heilbronn« mit verteilten Rollen gelesen.Gegen Ende des Semesters war die Corona zweimal im Auffanglager Friedlandzum Hilfsdienst. Das dort herrschende namenlose Flüchtlingselend führte unsden Ernst unseres Studiums besonders eindrücklich vor Augen.Das Semester ging offiziell Mitte Februar zu Ende, doch wurden noch bisin den März hinein Vorlesungen gehalten, um einer Beschlagnahme der Zimmerwährend der Semesterferien vorzubeugen.Sommersemester 1946Es war also jeder durch die Entnazifizierung hindurchgekommen. Wir wurdenbeköstigt von Fräulein Finke. An ihrer Seite stand unser Faktotum, Frau Krauseaus Berlin – was man ihrem Dialekt entnehmen konnte. Übrigens blieb sienicht mehr lange, denn: »Ich will mir verbessern!«.Das Semester begann gleich mit »Arbeitsdienst« im »<strong>reformiert</strong>en« Garten 28 .Jeder setzte sich kräftig ein, die einen machten einen Teil der »<strong>reformiert</strong>en«Wiese urbar, andere setzten Kartoffeln, die dritten pflanzten Salat und Porree.Auch wurde den ganzen Sommer über der weite Weg dorthin nicht gescheut,wenn gegossen werden mußte. So wurde der schlechten Ernährungslage desReformierten Studienhauses entgegengearbeitet.28 Gartengrundstück der Ev.-.ref. Gemeinde Göttingen


1946 79Als besonderes Ereignis dieses Sommersemesters ist Bernhards und DietersReise nach Basel zu verzeichnen, die sie als Vertreter der Göttinger Studentengemeindeunternahmen. Mit Interesse hörten wir von ihnen, wie es jenseits derGrenzen aussah. Bernhard fand sich zwar nach seiner Rückkehr aus der Fakultätrausgeschmissen, da er am Tag der Kontrolle nicht da war. Doch gelang esihm, wieder hineinzukommen.Pastor Kamlah war in diesem Semester sehr tätig und brachte es fertig, wiederin Spiekeroog Freizeiten zu halten. Drei Wochen die Jungen und drei Wochendie Mädchen der Gemeinde. Anschließend – und das war für uns das Herrliche– durften die erholungsbedürftigen Studenten des Reformierten Studienhauses14 Tage sich in Spiekeroog erholen. Bevor ich jedoch diese Zeit beschreibe,muß noch ein tragischer Vorfall berichtet werden.Frau Noffke und Fritz weilten in Spiekeroog, während wir ihren Bollerwagenbenutzten, der wohlverwahrt im Kindergarten eingeschlossen stand. Siegfried warder Held der Tragödie. Er mußte nämlich mit Noffkes Wagen Kartoffeln holen.Er ging ins Geschäft – er kam wieder heraus – er nahm den Bollerwagen – erzog nach Hause – nicht ahnend, daß der Wagen ein anderer war. Niemand bemerktedies – außer Noffkes, die einige Tage später heimkehrten. Frau Noffkewar einer Ohnmacht nahe. Voller Schrecken ließ sie sofort in Spiekeroog anrufen,wodie Corona bereits weilte: »Wo ist unser Wagen?« – Antwort: »Im Kindergarten.«– »Nein, das ist ein anderer!« Wo war Fritzens guter Wagen?! Zwarwar der verwechselte neuer und besser, doch Familie Noffke grollte der Corona,vor allem aber Siegfried. Schließlich löste sich alles zu allgemeiner Befriedigung,als Fritz eines Tages jemanden auf der Straße mit seinem Wagen antraf.Er wurde eingetauscht, und die Corona konnte aufatmen. Doch durfte Siegfriednie wieder etwas von Noffkes entleihen.Ein anderes Ereignis fand ebenfalls vor der Spiekeroogreise statt: Budenzauberbei Wilhelm Voget. Der arme Wilhelm! Alle seine Möbel wurden kunstvollim Schlafzimmer der verheirateten Hilfspredigerwohnung verstaut. Dann zog manden Schüssel der verschlossenen Tür ab und hängte ihn mittels einer Drahtschnurunter der Decke des Wohnzimmers auf, wobei besagter Draht kreuz und querdurchs Zimmer gespannt wurde. Den Anfang desselben zu finden war ein Preisrätsel.Darunter saß Wilhelms Ebenbild, wunderbar ausgestopft, und tat einenlangen Zug aus einem Bierkrug. Sein linker Zeigefinger wies dabei neben sichauf den Boden, wo ein Stoß aufgeschlagener Bücher kreuz und quer verstreutlag. Das oberste zeigte die Überschrift: »Von der Priester Ehe«. GeheimnisvollesDunkel erhöhte die Schönheit der Szene. Na, Wilhelm wird sich gefreut haben!Und nun Spiekeroog: Herrliches Wetter, rauschende See, Krankenhausverpflegung– wen lockt das nicht? Uns gefiel es herrlich! Baden, am Strand liegen,Muscheln suchen, Seehundsjagd – es war wunderbar! Fräulein Finke undFrau Gliemeroth versorgten uns. Gut erholt und dankbar dampften wir wiederab. Ein herrlicher Semesterschluß!


80 Chronik des Reformierten StudienhausesWintersemester 1946/47Es wird dem Chronisten vom Dienst nicht leicht, für dieses Semester einenBericht zu schreiben. Denn es liegt in doppelter Hinsicht dunkel vor seinemgeistigen Auge. Einmal wegen der langen Zeit, die seitdem verflossen ist. Es istschwer – das müssen alle zugeben, die einmal Säuglinge an den Brüsten einerAlma mater gewesen sind –, sich später noch auf Einzelheiten zu besinnen. Wasnicht gerade extraordinär unter den Geschehnissen eines Semesters ist, geht baldspurlos im Strome der Lethe unter. Wichtiger aber ist noch der zweite Grund:Es war wirklich ein »obscurum in circulo illustrorum«, dieses Wintersemester1946/47. Wohl nie in der Geschichte unseres Studienhauses hat man sich untersoviel Widerwärtigkeiten, Schwierigkeiten und Mißerfolgen bemüht, eineGemeinschaft zu sein im Sinne von Mt. 23,8! 29 In medias res!Es fehlte uns in diesem Semester so ziemlich alles an äußeren Mitteln, umein reges Leben der Gemeinschaft zu pflegen. Wie wir nachträglich feststellenmüssen, war dies ja auch der bisher härteste und kälteste Winter in der Nachkriegszeit.Die Kälte setzte 14 Tage vor Weihnachten schlagartig ein und hieltsich volle drei Monate hindurch ohne größere Schwankungen. Wir standen demrecht machtlos gegenüber und hatten kaum Mittel der Abhilfe. Solange es nochmöglich war, ohne Brennmaterial einen Raum zu bewohnen, haben wir in gewohnterWeise im Tagesraum gemeinsam die Mahlzeiten eingenommen undauch sonst soviel Gemeinschaft gehabt, wie in anderen Semestern. Mit zunehmenderKälte setzte dann unsere Not ein. Während es uns im vergangenen Wintergelungen war, uns in Zimmer Nr. 8 (über dem Tagesraum) kleiner zu setzen,war das in diesem Semester nicht möglich, weil unser verheirateter Seniorda schlecht ausziehen konnte. Wohin auch? Das Haus war ja gerappelt voll!Eine Zeit lang, bis zu den Weihnachtsferien, war es noch möglich, durch abwechselndeBenutzung der größeren Buden die Tischgemeinschaft aufrechtzuerhalten.Nach den Ferien jedoch beschloß man angesichts der zu Ende gehenden Vorrätean Lebensmitteln und Brennmaterial, einem jeden freizustellen, wo er seinenMittags- und Abendtisch halten wollte. Die meisten gingen in die Volksküchein der Geiststraße, andere schafften es, bei der Mensa am Wilhelmsplatzunterzukommen. Auch die Heizung der Stuben machte bei den geringen Kontingentenimmer größere Schwierigkeiten und war meistens nur stundenweisedurchzuführen. Die Folge davon war ein Einfrieren sämtlicher Wasser- und Kanalisationsleitungen.Unter diesen Umständen sehnten wir das Ende des Semestersherbei und waren heilfroh, als es endlich kam.Ansonsten sei doch wenigstens noch ein frohes Ereignis aus dieser Zeit derSchwierigkeiten berichtet: Im Januar erhielt die Hausgemeinschaft Zuwachsdurch zwei stud. vitae im ersten Semester. Sie hießen Christa Bartsch und Justus29 Mt. 23,8: »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihraber seid alle Brüder.«


1946/47 81Voget. Das gab ein Hallo, als zweimal in einer Woche Sondermeldungen ausgegebenwerden konnten! Zwischen den Semestern hatte Irmgard Hövels einemJungen, Christoph, das Leben geschenkt. Bald »flatterten« in allen Ecken desHauses »Friedensfahnen!« Chronista hofft, daß diese akademischen Neubürgerinzwischen mit dem Studium der hebräischen Sprache begonnen haben!Sommersemester 1947Dieses Semester sollte das der Peripetie genannt werden. Mit ihm begann dieParabel des studienhäuslichen Lebens, die so sehr im vergangenen Semesterabgesunken war, sich wieder steil in die Höhe zu erheben gleich dem Phönix,der sich mit kräftigen Schwingen aus der Asche erhebt und nun der Sonnezustrebt.Der Bericht über das vorige Semester zeigt ein wenig von den Schwierigkeiten,die eine volle Haus- und Lebensgemeinschaft so ungeheuer erschwerten. Nundürfen wir – Chronista – aber berichten, daß ein rechtes sonniges Sommersemesterüber uns hereinbrach. Nicht nur, daß in diesem Jahr besonders viele Sonnentagezu verzeichnen waren, so daß der Dachboden unseres Heims wie niesonst zum Sonnenbaden einlud. Auch drinnen unter den Bewohnern war eslichter geworden. Neue Leute brachten neue Gedanken, neues Leben, neuenSchwung in das alte Haus!Da wäre zunächst die neue Hausdame vorzustellen, die nun unserem Ensemblevorzustehen begann, Fräulein Ruth Monsehr, ehemals wohnhaft in Ostpreußen,nahe Elbing. Sie löste Fräulein Finke ab, die wieder in den Schuldienstging, aus dem sie hervorgegangen.Unser Senior Wilhelm Voget wurde bald nach Beginn des Semesters wiederin den Dienst seiner Heimatkirche gerufen, machte mit Bravour sein 2. Examenund residiert nun als Pastor in Mülheim-Ruhr. Sein Nachfolger wurde Friedrich-Wilhelm Esche.Es war ein Arbeitssemester. Man ging hinein, um etwas klüger und erfahrenerwieder herauszugehen. Prof. Jeremias goldene Regel, zu jedem Semesterbeginnneu gesagt: »Nulla dies sine linea«, jeden Tag wenigstens zwei Verse AltesTestament und ein Kapitel Neues Testament übersetzen! stand obenüber. Hoffentlichaber auch die Regel des alten Biblizisten Bengel, die ja den Introituszum Nestle-Text 30 bildet.Indessen nehme niemand an, wir hätten das Studienhaus in eine Paukbudeverwandelt. Dazu war wirklich kein Grund, denn niemand stand im Examen.Man wußte aber vielleicht etwas mehr als die vergangenen Semester davon, daß30 Dem Vorwort von E. Nestles Novum Testamentum Graece vorangestellt ist folgenderSatz von J.A. Bengel: »Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te« (Wende dichganz dem Text zu, beziehe seinen ganzen Inhalt auf dich); vgl. J.A. Bengel, Novum TestamentumGraece manuale (1734), Praefatio.


82 Chronik des Reformierten Studienhausesman schon als Student und besonders als stud. theol. in Verantwortung steht,und richtete sich danach.Dem dienten besonders die Abende mit Herrn Professor Weber, der alle 14Tage bis 3 Wochen in unser Haus kam, um mit uns die mancherlei Fragen, dieuns bewegten, durchzusprechen. Er verstand es meisterhaft, uns zur rechten Antworthinzulenken. Niemand von uns kehrte von diesen Ausspracheabenden, andenen auch unser Stiftsvater teilzunehmen pflegte, ohne Bereicherung auf seineStube zurück.Aber auch die Freuden des Studentenlebens kamen ohne Einschränkung zuihrer Geltung. Das zeigte sich besonders auf unserer Weserfahrt, die wohl alsder Semesterhöhepunkt bezeichnet werden muß. Davon Näheres.Wohlbelastet mit einem Emailleeimer voller Kartoffelsalat – mit der näherenBestimmung, reihum getragen zu werden – bestiegen wir an einem Sonntaggegen 6 Uhr den Zug und fuhren über Dransfeld nach Hann.-Münden,kurz vor die zerstörte Eisenbahnbrücke. Hartmut spielte Financier und Reiseleiter.Er lancierte uns geschickt durch das Gewirr der Gassen hin zum Dampferanliegeplatz.Dort war schon alles schwarz vor Menschen. Es wurde einemhimmelangst bei dem Gedanken, daß die alle mitsollten. Um halb 8 Uhr begannder Sturm auf diesen Süßwassersonntagskreuzer, nicht ohne daß dabei einigeder Gondellustigen sich auf unliebsame Weise ins Wasser gedrängt sahen – zumGlück niemand von uns. Der Kapitän schimpfte und drohte, jeden mit seinemFernglas zu erschlagen, der sich nicht sittsam auf seinen Dampfer zu begebengedächte. Zu seinem persönlichen Wohlergehen sah er vom »Erschlagen« ab.Sein schwimmendes Hotel wurde voll belegt wie eine Heringstonne. Kein Wunder,daß er ein paarmal mit seinem Bug die Steine polierte, denn die Weser hatteherzlich wenig Wasser. Wir ließen die schöne Weserlandschaft an uns vorüberziehenund stiegen in Bodenfelde aus, um uns dort in einem Restaurant am Kartoffelsalatezu laben. Dann gingen wir an ein ruhiges Fleckchen am Flusse undkühlten uns in den Fluten. Als allmählich die Zeit zur Rückfahrt gekommen war,zogen wir zum Landungssteg, aber der Dampfer erlaubte sich eine halbe StundeVerspätung. Diese erhöhte sich bis zu unserem Endziel Bursfelde 31 auf eineganze Stunde. Nun galt es noch auf irgendeine Art und Weise den Zug in Dransfeldzu erwischen, 12 km entfernt, in etwa 1 Std. 50 Min., sonst hätten wir weitere14 km per pedes absolvieren dürfen. Mit langen Schritten und besorgtenBlicken auf die Uhr ging es durch den Wald immer bergauf, durch Löwendorfbis auf die Höhe von Dransfeld. Man hatte sich auf dem Marsche in zwei Gruppen,etwa 500 m voneinander entfernt, aufgeteilt. Da! Etwa 1000 m vor demBahnhof kam der Zug angefahren. Nun galt es noch einmal alle Kraft zusam-31 Benediktinerabtei an der Weser, gegründet 1093, in der Reformationszeit evangelischgeworden und in der Säkularisation aufgelöst; der Senior der Göttinger Theologischen Fakultätträgt den Titel »Abt von Bursfelde«.


1947 83menzunehmen, »die Lust und auch den Schmerz«, damit die ersten im Schweinsgaloppauf dem Bahnhof wenigstens den Versuch machten, »des Schaffners steinernHerz zu rühren«. Ob es wohl die hintere Gruppe noch schaffen würde,Fräulein Monsehr, wahrhaft keine Langstreckenläuferin, Martin mit kriegsbeschädigtemBein, Hans-Werner mit seiner empfindlichen Lunge? Der Zeigerder Uhr rückte unerbittlich vorwärts, der Mann mit der roten Mütze zeigtesichtlich keine Neigung mehr, sich unsere Beteuerungen anzuhören. Da endlicherschienen sie, waren unter abgestellten Wagen hindurchgeklettert undschwangen sich mit letzter Kraft auf die Puffer und Außenbretter, und heimgings in sausender Fahrt nach Göttingen. Noch im Studienhause – der Zugwindhatte schon manchen Tropfen getrocknet – hätte man die Hemden auswringenkönnen! Mit Wasser ging man an diesem Abend nicht sparsam um.Gewiß, auf das Ende gesehen eine Strapaze, aber schön war’s doch!


84 Chronik des Reformierten Studienhauses


Wintersemester 1962/63und Sommersemester 1963VorbemerkungBei Aufräumungs- und Wiederherstellungsarbeiten wurde diese Chronik am 30.Juli 1963 nach jahrelangem Verlust von Studenten des Reformierten Studienhauseswiedergefunden (vgl. 2. Kön. 22) 32 . Am 1. August baten die noch imHaus gebliebenen Studenten den scheidenden Inspektor, die Chronik weiterzuführen.Dieser Auftrag ist nicht zu erfüllen. Es ist unmöglich, über sechzehnJahre zu berichten, die man nicht miterlebt hat, über die noch nicht einmal einigermaßenvollständige Unterlagen greifbar sind. Es wäre zu fragen, ob mannicht erst nach Errichtung des geplanten Neubaus die Chronik weiterführensollte, weil damit eben ein ganz deutlicher Abschnitt in der Geschichte des Studienhausesmarkiert ist. Doch würde das den Verzicht auf die Wahrung der Kontinuitätim Wandel der Zeiten bedeuten. Da sich hoffentlich im neuen Hausund unter veränderten Umständen wieder ein Reformiertes Studienhaus bildenwird, dürfte es interessieren, wie wir im alten Haus vor seinem Abbruchgelebt haben. Daß dabei in dieser Chronik ein harter Bruch entsteht, daß sichunmittelbar an die Erinnerungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit die Schilderungdes Lebens in einer Wohlstandsgesellschaft anschließt, läßt sich nichtvermeiden. Daß wir aber auch unter den veränderten Umständen mit ihrenHemmnissen und Möglichkeiten versucht haben, die eine und unwandelbareAufgabe eines Reformierten Studienhauses wahrzunehmen, wird hoffentlichdeutlich werden.Die äußere Struktur des StudienhausesDie äußeren Gegebenheiten im Haus haben sich gegenüber der Zeit der letztenChronisten gründlich verändert.1. Mit Überraschung stellten wir fest, eine wie dominierende Rolle weiblicheHausbewohner in der Vergangenheit gespielt haben. Heute sieht dasanders aus: die einzigen Personen weiblichen Geschlechts sind Hausmutterund Küchenhilfe. Daß keine Kommilitoninnen bei uns wohnen, empfindenwir nicht als Mangel: einmal weil wir außerhalb – und privatissimeauch innerhalb – des Hauses genug von ihnen haben; zum anderenweil wir eben Fräulein Schmidt und Fräulein Bärbel haben.2. Die Hausbewohner sind ausschließlich Studenten, die im Haupt- oderals Nebenfach Theologie studieren. Das gemeinsame spätere Ziel, der32 2. Kön. 22 berichtet von der Auffindung des Gesetzbuches im Tempel zur Zeit des Königtumsvon Josia.


86 Chronik des Reformierten StudienhausesDienst für Gottes Wort, bildet das eigentliche Zentrum unseres Zusammenlebens,indem es uns an die gemeinsame theologische Arbeit bindet. Darüberspäter mehr.3. Das Verhältnis zur Reformierten Gemeinde Göttingen ist nicht mehrso unmittelbar, wie es früher gewesen zu sein scheint. Unser Haus wirdgeleitet von einem Kuratorium, das zweimal jährlich zusammentritt unddem zwei Vertreter des Reformierten Bundes, je ein Vertreter der LippischenLandeskirche und der Ev.-<strong>reformiert</strong>en Kirche in Nordwestdeutschlandund vier Vertreter der Gemeinde angehören. Beratendes Mitglied undProtokollführer ist der Inspektor. Die beteiligten Kirchen sind für den finanziellenUnterhalt des Hauses verantwortlich. Von daher ist es auch zu verstehen,daß sie zunächst einmal ihre künftigen Diener am Wort in das Hausaufnehmen. Daß trotz äußerlicher Gebrochenheit des Verhältnisses zurGemeinde eine enge Verbindung besteht, ist zurückzuführen auf die Tatsachen,daßa) der Gottesdienst der Gemeinde mit ihren tüchtigen Predigern den Studentenräumlich und geistig am nächsten liegt;b) ein Presbyter der Gemeinde, nämlich Professor Otto Weber, Ephorus ist;c) die Pastoren an der homiletischen Arbeitsgemeinschaft und anderenHausveranstaltungen, z.B. den Hausabenden, teilnehmen;d) der Inspektor zugleich Vikar der Gemeinde ist.4. Mit der Leitung des Hauses beauftragt das Kuratorium einen Studieninspektor,der sich im ersten theologischen Examen und durch charakterlicheEignung seinen Aufgaben entsprechend qualifiziert haben muß. Erist für die Organisation, für die hausinternen wissenschaftlichen Übungen,die Führung der Geschäfte und der Korrespondenz verantwortlich.Seine Hauptaufgabe ist es, die Studenten bei ihrer theologischen Arbeitanzuleiten und zu fördern.Diese Aufgaben kann er nur erfüllen, wenn ihm eine tüchtige Hausmutterzur Seite steht, die nicht nur »schmidty« kocht, sondern auch zu einerguten Atmosphäre im Haus beiträgt. Wie viel Glück man dabei habenkann, wird noch deutlich werden.5. Eine Hausordnung, auf die alle Studenten verpflichtet werden, habenwir nicht und brauchen wir nicht. Eine so kleine Gemeinschaft von Menschen,die durch gemeinsame gegenwärtige und künftige Aufgaben verbundensind, besteht und gedeiht am besten ohne Normismus. Die unmittelbareBindung an die anderen Hausbewohner muß besser als jede äußereOrdnung zur Rücksichtnahme auf den Zimmernachbarn und das gesamteHaus führen. Falls jemand in vitalen Interessen beschnitten wird, nimmtman sich gegenseitig, notfalls durch den Inspektor, in Zucht.6. Fast alle Studenten erhalten, je nach Charisma und Wunsch, ein kleinesoder größeres Aufgabengebiet. So werden von einem Bücherwart, der auch


1962/63 87Wünsche der Hausbewohner entgegennimmt, dem Inspektor Vorschlägefür Bücherkäufe unterbreitet, für Etikettierung und Einordnung der Büchergesorgt (Wintersemester 1962/63: Christoph Busch; Sommersemester 1963und Wintersemester 1963/64: Dieter Miege). Ihm steht ein »Büttel« zurSeite, der vor allem die Bibliotheksgebühren von monatlich 0,50 DM »einzutreiben«hat (Wintersemester 1962/63 und Sommersemester 1963: DieterRötterink). Das Ansehen des Zitschministers, der außer viel Bier auchApfelsaft und Coca Cola umsetzt, steigt besonders in warmen Sommermonaten(mehrere Semester Helmut Schulten, ab Sommersemester 1963Ingo Sengebusch). Das Duschgeld verwaltet Ernst Bösch, während HelmutBallis (Wintersemester 1962/63) und Detlef Ostkamp (Sommersemester1963) das Telefongeld kassierten. Weiterhin sind die Leiter der Arbeitsgemeinschaften,die entsprechend den Wünschen der Studenten gebildet werden,zu nennen. Im Winter: Gottfried Beesk (Bibelkunde: Synoptiker);Wolfgang Engels (NT-Kursorik: Teile der Paulusbriefe), Christoph Busch,der sich in einem kleinen Kreis mit Bultmanns Johanneskommentar befaßte;die hebräische Kursorik (Ursprung und Stellung des Königtums in Israel),den lateinisch-dogmatischen Arbeitskreis (Confessio Helvetica posterior)und die homiletische Arbeitsgemeinschaft, in der ältere Semester mitden Pastoren Pitsch und Tibbe die Predigttexte der jeweils folgenden Sonntagebesprechen, leitete Inspektor Keller. Im Sommer 1963 bestanden zweihebräische Kulektüren [sc. kursorische Lektüren], in denen Genesis- undJeremiatexte gelesen wurden (Enno Smidt und Theo Schaefer); die neutestamentlicheKursorik unter Dieter Miege las Acta; der Kreis um ChristophBusch beschäftigte sich mit Werken von Schlier; Wolfgang Engels bemühtesich, den Kreis zusammenzutrommeln, der mit ihm neutestamentlicheBibelkunde treiben wollte; die Leitung der homiletischen Arbeitsgemeinschaft,die durch die Teilnahme der Pastoren einen besonderen Akzentbekommt und in solchem Ansehen steht, daß sie in den meisten Lebensläufenbei Examensmeldungen genannt wird, hatte wieder der Inspektor.Einer der Studenten stellt einen Plan für die Andachten auf, die dienstags,donnerstags und samstags nach dem Abendessen stattfinden, ein anderer ist fürdie Liste derer verantwortlich, die nach den Mahlzeiten abzutrocknen haben.Die Examenskandidaten haben wir von all diesen Belastungen freigehalten.Da in jedem Semester das Hausfest, das in den Räumen des Kindergartensgefeiert wird, Höhepunkt des »gesellschaftlichen Lebens« ist, trägt der Leiterdes Festausschusses eine besondere Last und Würde (im Wintersemester 1962/63: Wolfgang Engels, im Sommersemester 1963: Enno Smidt).So hat eigentlich jeder seinen Beitrag zum Funktionieren des Hausbetriebeszu leisten. Gewiß, Drückeberger gab es, wie überall, auch bei uns. Daß es abernicht nötig war, Gesetzlichkeit und Perfektionismus zu erstreben, liegt einfachdaran, daß auch bei nicht regulierbaren Aufgaben immer wieder gern geholfen


88 Chronik des Reformierten Studienhauseswurde (etwa beim Auftauen eingefrorener Rohre). Letztlich waren doch fast alledabei, wenn sie gefordert wurden, und was bei einigen an Einsatzbereitschaftfehlt, das machen in brüderlicher Weise andere, zum Beispiel Dieter Miege oder»Benjamin« Sengebusch, wieder wett.Kurzer RückblickNachdem der Überblick über die äußere Struktur zur Schilderung von Hausinternageführt hat, muß, so gut es anhand vornehmlich mündlicher Überlieferunggeht, ein Überblick über Personalia und Ereignisse nach dem Krieg gegebenwerden.Der letzte Chronist wußte schon von Fräulein Ruth Monsehr zu berichten,die aus der Geschichte des Hauses nicht mehr wegzudenken ist. Von 1947 biszum September 1962 war sie als Hausmutter bei uns. Sie wird besonders beiden Studenten unvergessen bleiben, die in der schweren Zeit nach dem Kriegihre Fürsorge erfahren haben. In den Zeiten, als man auch für Pferdefleisch dankbarwar, muß sie ihren »Phil-hippern« mit Würde »hippokryphes« Essen bereitethaben. Als sich die Zeiten wieder besserten, hat sie sich wohl schlecht vonder Vergangenheit lösen können. Das gilt im Blick auf ihre persönlichen undwohl auch gar zu engen Einstellungen, die die ostpreußische Gutsbesitzerstochterauf ihrem Lebensweg gewonnen hatte und die die Studenten nicht nachvollziehenkonnten, ebenso wie im Blick auf ihre »Küchenpolitik«. Zu der Unzufriedenheitder Studenten mit einem eintönigen und gar zu billigen Essen kamhinzu, daß die Studenten, die sich ihrer besonders angenommen hatten, dasHaus verließen. Außerdem war eine Zeitlang die Hausgemeinschaft durch theologischeFraktionskämpfe aufs ernsteste gefährdet oder gar zerstört. Die Auseinandersetzungzwischen Anhängern Barthscher und Bultmannscher Theologiegriff in persönliche Bereiche über und ließ es schließlich so weit kommen,daß Anhänger der einen Partei den Tagesraum verließen, wenn ein »Ketzer« Andachthielt. Andere Faktoren werden hinzugekommen sein. Es ist zumal für einenUnbeteiligten äußerst schwierig, Motive für Handlungen zu erhellen; jedenfallsverließ Fräulein Monsehr das Haus, ohne an ihrer langjährigen Wirkungsstättenoch das geringste Interesse zu bekunden.Die Inspektoren, die während der »Ära Monsehr« das Haus leiteten, sind meinesWissens:Theodor Immer, heute Pastor in Hinte über Emden und für die SchülerundJugendarbeit der Ev.-<strong>reformiert</strong>en Kirche in Nordwestdeutschland verantwortlich;Hans Jochen Pitsch aus Hannover, der viele Jahre, auch noch als Pastor inGöttingen, Inspektor war und auch heute noch an der Arbeit des Hauses lebhaftAnteil nimmt. Seit dem 1. August 1963 fungiert Pastor Pitsch als Vorsitzenderdes Kuratoriums;


1962-1963 89Walter Schneider, der aus Westfalen stammt und heute <strong>reformiert</strong>er Pastorin Hannover ist; während seines Inspektorats wurden umfangreiche Renovierungendurchgeführt und Neuanschaffungen getätigt;Dr. theol. Ako Haarbeck aus Wuppertal, jetzt Pfarrer in Dierdorf im Westerwaldund Schwiegersohn »Ottos des Großen« 33 ;Wilhelm Buitkamp aus Osnabrück, der zwei Jahre lang bis zum Oktober1962 Inspektor war und sich der schwierigen theologischen Lage, von der schongesprochen wurde, gegenübersah. Er ist heute als Pastor in Eddigehausen tätigund dem Studienhaus nach wie vor freundschaftlich verbunden.Der neue »Äon«Mit dem Ende des Sommersemesters 1962 ergab sich für das Haus eine gefährlicheLage, da es plötzlich ohne Hausmutter, Inspektor und Küchen- und Putzhilfendastand. Es wurde erwogen, ob man das Studienhaus nicht vorläufig –bis zum Abbruch des alten und der Errichtung des neuen Gebäudes am gleichenOrt – als ein Wohnheim weiterführen sollte. Dann aber lösten sich diepersonellen Schwierigkeiten Schlag auf Schlag, und zwar (wie sich bald zeigensollte) zum Guten. An die Stelle von Fräulein Monsehr trat Fräulein ChristaSchmidt aus Hameln mit ihrem ansteckend fröhlichen Lachen und geschickterHand in Küche und Haus. Studieninspektor Wilhelm Buitkamp wurdedurch Manfred Keller, geb. 9.11.1937, wohnhaft in Ohl (Bez. Köln), abgelöst,der gerade sein erstes theologisches Examen in Düsseldorf abgelegt hatte. AlsKüchenhilfe kam ein Mädchen aus der <strong>reformiert</strong>en Gemeinde zu uns, BärbelRecke, ein fleißiges, sauberes und anhängliches Mädchen, das mit seiner naivoffenenArt viel Anlaß zur Heiterkeit gibt.Diese einschneidenden personellen Veränderungen müssen sich stark auf dasgemeinsame Leben ausgewirkt haben. Die Studenten sprachen gern im Scherzvom »alten« und vom »neuen Äon«. Doch wie sich das Leben der »heiligen Brüdervon St. Reform« gestaltet hat und was sich an fröhlichen und traurigen Episodenereignet hat, das soll ein neuer Chronist beschreiben.33 Ako Haarbeck ( 1932), später (1980-1996) Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche,ist der Schwiegersohn von Otto Weber, damals Inhaber des Lehrstuhls für Refor-*mierte Theologie an der Universität Göttingen und Ephorus des Reformierten Studienhauses.


Anhang 1Denkschrift von Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor undJohann Adam Heilmann vom 22. Juni 1914 1Gründe und Wünsche betr. Errichtung von theologischen Dozentenstellen für dieev.-<strong>reformiert</strong>e Kirche an der Universität in Göttingen.I.Seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr[hunderts] sind sämtliche 10 theologischenakademischen Bildungsanstalten der <strong>reformiert</strong>en Kirche in Deutschland aufgelöstworden.Dies hat zur Folge gehabt:1) eine Stagnation der wissenschaftlichen Tätigkeit für das Gebiet der theologischenForschung. Zahlreiche historische u[nd] systematische Fragen vonhoher Bedeutung, die die <strong>reformiert</strong>e Kirche angehen, finden keine Bearbeitung.Selbst das Calvinjahr, das zuerst einige beachtenswerte Publikationenhervorbrachte, hat nicht die erwarteten wissenschaftlichen Erfolge gezeitigt.Gegenstände der kirchlichen Praxis, in der die <strong>reformiert</strong>e Kirchein früheren Zeiten Hervorragendes geleistet hat, werden wissenschaftlichnicht behandelt. Früher erarbeitetes Gut der <strong>reformiert</strong>en Kirche bleibt ungenutztfür die heutige Praxis, obwohl es imstande wäre, noch jetzt in segensreicherWeise fortzuwirken. Es ist ein geradezu beschämendes Zurückbleibenhinter der lutherischen Theologie auf dem Gebiet der <strong>reformiert</strong>enKirche anzuerkennen!2) Die Vorbildung der Diener der ev.-ref. Kirche leidet unter dem Wegfallder akademisch theologischen Bildungsanstalten aufs Stärkste. Die Idealeu[nd] Ziele der <strong>reformiert</strong>en Kirche werden nicht gezeigt. In zahlreichenFällen sind die Studenten ihrer angestammten <strong>reformiert</strong>en Konfessiongeradezu entfremdet worden, u[nd] wenn sie dann in ihren Dienst eintreten,so tun sie es vielfach ohne innere Freudigkeit u[nd] wirken in <strong>reformiert</strong>enGemeinden oft zerstörend auf kirchliche Anschauungen u[nd]Sitten ein. Ein schreiender Mangel entstand insbesondere durch die Vernachlässigungder Katechetik auf <strong>reformiert</strong>er Seite. Die hier vorhandeneLiteratur genügt auch nicht den bescheidensten Ansprüchen.3) Die evangelische Gesamtkirche, die auf das Zusammenarbeiten alleraufbauenden Kräfte angewiesen ist, entbehrt der wissenschaftlichen u[nd]1 Teilnachlaß Heilmann, Plessearchiv Bovenden.


92 Chronik des Reformierten Studienhausespraktischen Mithilfe der <strong>reformiert</strong>en Kirche. Wieviel von <strong>reformiert</strong>er Seitedurch einen einzigen Professor geleistet worden ist, beweist das Wirken desProfessors Krafft in Erlangen, der nach dem Zeugnis der Professoren v. Hofmann,Stahl u[nd] Thomasius den Studenten seiner Zeit, auch den genannten,das Beste von dem gegeben hat, was sie besaßen u[nd] später zum Heilder Kirche weitergaben.II.Was geschehen sollte:1) An Stelle der der ref. Kirche genommenen 5 Universitäten u[nd] 5 Akademienerstreben wir die Anstellung theologischer Dozenten in Göttingen.2) In Göttingen deswegen, weil die <strong>reformiert</strong>e Kirche der Provinz Hannoverdie entsprechende Ausbildung ihrer Diener an der Landesuniversitätfür erwünscht hält, an die die Stipendien auch für Ostfriesland gebundensind, u[nd] zweitens, weil sie durch die Aufhebung der von den Oranierngegründeten Akademie zu Lingen, die früher von den ostfriesischen Studentenbesucht wurde, die aber gegen den Willen der Stifter in ein paritätisches,hauptsächlich von katholischen Schülern besuchtes Gymnasium verwandeltworden ist, eine geschichtliche Berechtigung für die Forderunghat. Der später übliche Gebrauch, Ersatz in Groningen u[nd] Utrecht zusuchen, ist durch sprachliche u[nd] nationale Schwierigkeiten völlig aufgehobenu[nd] unmöglich gemacht.3) Die in Göttingen anzustrebenden theologischen Dozenten müßten behandeln,wenn sie den Bedürfnissen der <strong>reformiert</strong>en Studenten entsprechensollten: historische, systematische u[nd] praktische Theologie. Sie sollen die wissenschaftlichenForschungen auf dem Gebiet der <strong>reformiert</strong>en Kirche anregenu[nd] den künftigen Dienern der Kirche eine zweckentsprechende Ausbildunggeben, die sie in den Stand setzt, den Anforderungen des Amtes in<strong>reformiert</strong>en Gemeinden gerecht zu werden. Die <strong>reformiert</strong>e Kirche im ganzennördlichen Deutschland blickt sehnsüchtig nach einer solchen akademischenBildungsstätte aus. In mehreren Jahrzehnten des vergangenen Jahrhundertsist diese Forderung erhoben u[nd] vertreten worden, gerade auchfür Göttingen. Man hat dann wieder jahrzehntelang im Stillen u[nd] zumTeil mit Bitterkeit die Beeinträchtigung u[nd] Zurücksetzung ertragen, aberdie Mißstände fordern zu laut eine Abhilfe, u[nd] die Forderung der Gerechtigkeitkann auf die Dauer nicht überhört werden.III.Die Bedenken, die gegen die geplante Einrichtung erhoben werden:1) Die konfessionelle Spaltung, die bedauerlicherweise die evangelische Kirchetrennt, könnte durch <strong>reformiert</strong>e Dozenten noch tiefer werden; Forderungunserer Zeit ist aber die Einigung aller Kräfte.


Anhang 93Ein solcher unerwünschter Erfolg kann nicht eintreten, sofern der GeistChristi in den Theologen auf beiden Seiten eine Macht ist. Keiner der beidenZweige der evangelischen Kirche sucht dem andern Abbruch zu tun.Der Besitzstand der lutherischen Kirche ist gesichert u[nd] kann durch einige<strong>reformiert</strong>e Dozenten nicht in Gefahr gebracht werden.Erfahrungsgemäß wird ferner durch persönliches Nahetreten u[nd] gemeinsamesArbeiten eine bessere Kenntnis der anderen Seite vermittelt u[nd]werden die verschiedenen Lagern angehörenden Persönlichkeiten einanderinnerlich näher gebracht. Das Beispiel der Fakultät zu Erlangen ist u.a.ein Beweis dafür.2) Über den Wünschen der Menschen stehen die Tatsachen als Dinge, dieden Vorrang haben. Tatsächlich gibt es nun evangelisch-<strong>reformiert</strong>e Landeskirchen,u[nd] sie können durch den Wunsch nach Einigung der evangelischenKirche nicht aus der Welt geschafft werden. Zwar besteht das Unrecht,das der <strong>reformiert</strong>en Kirche durch den Wegfall ihrer Bildungsstättenzugefügt worden ist, schon 100 Jahre. Dank der Treue ihrer Mitgliederlebt die <strong>reformiert</strong>e Kirche noch in manchen Gebieten, aber sie erhebtjetzt im Namen der Gerechtigkeit u[nd] um ihres Lebens willen die Forderung,daß man ihre künftigen Diener besser vorbilde, als dies bisher geschehenist. Rechtlich ist die <strong>reformiert</strong>e Kirche anerkannt, so kann manihr etwas nicht weigern, was in allen Kirchen, selbst in kleinen Sekten, alseine Grundforderung für den Bestand der Kirche angesehen wird: diezweckentsprechende Ausbildung ihrer Lehrer, ihrer Prediger.Von Herzen gönnen wir der lutherischen Schwesterkirche die reiche Möglichkeitmannigfaltiger Ausbildung für ihre Theologen, die sie besitzt. Inden neuen Provinzen hat Greifswald etwa im Jahre 1893 durch neue Satzungendie Errichtung theologischer Dozentenstellen nur für Lutheranermöglich gemacht. Außerdem stehen der lutherischen Kirche in Deutschlandnoch 2 Universitäten mit wohlausgestatteten theologischen Fakultätenzur Verfügung: Leipzig, Rostock. Demgegenüber erheben wir die bescheideneForderung der Bestellung einiger theologischer Dozenten an der Universitätder Provinz Hannover, in der die beiden evangelischen Konfessionengetrennt nebeneinander bestehen.Es ist ein Zustand, der schon allzu lange zum Schaden der Kirche getragenworden ist, u[nd] wir erkennen nicht, womit die <strong>reformiert</strong>e Kirche,die nach dem Urteil von Geschichtskundigen auch ihrerseits Deutschlandu[nd] dem preußischen Königshause viele Segnungen gebracht hat, dieseNichtachtung einer ihrer Lebensbedingungen verdient hätte. Kein Interesseder evangelischen Kirche od[er] des Staates wird durch die erbeteneneue Einrichtung verletzt, die lutherische Schwesterkirche soll in keinemihrer Rechte irgendwie gekränkt werden. Was wir wünschen ist allein dies,daß die <strong>reformiert</strong>e Kirche in den Stand gesetzt werde, ihre Diener wis-


94 Chronik des Reformierten Studienhausessenschaftlich u[nd] praktisch für ihren Beruf zum Heile der Gemeinde JesuChristi auszubilden. Und dies ist eine Forderung, deren Berechtigung unseresErachtens nicht abgestritten werden kann.gez. Bleske-ViëtorHeilmann


Anhang 2Kirchliche Nachrichten aus dem Reformierten Bund vom Mai 1921In: Reformierte Kirchenzeitung 71 (1921), S. 130Ein für die reformirte Kirche Hannovers, ja des ganzen Nordwestdeutschlandswichtiges Ereignis bedeutet die Einweihung des reformirten Studienhauses in Göttingen,die am 7. Mai vor einer Anzahl geladener Gäste stattgefunden hat. Siewar zu gleicher Zeit eine Vorfeier für die Errichtung der reformirten Professur ander alten Georgia-Augusta. Hatte die reformirte Kirche Deutschlands bis zumBeginn des 19. Jahrhunderts 5 Fakultäten und daneben noch verschiedene Hochschulen,so war das alles verloren gegangen; erst in den letzten Jahren war hierund da den reformirten Theologiestudierenden Gelegenheit geboten, sich inGeschichte und Wesensart ihrer Kirche, der sie einst dienen sollten, einführenzu lassen. Es ist dem unermüdlichen Streben des jetzt im Ruhestand lebendenPfarrers der Göttinger Gemeinde, P. Heilmann, zu danken, daß allen Schwierigkeitenund Enttäuschungen zum Trotz jetzt das Ziel erreicht ist, das 1914 und1918 an den Verhältnissen kurz vor der Verwirklichung scheiterte. Unter Zustimmungvon Ministerium und Fakultät wird der neue Professor in Kürze berufenwerden. Ein fester Glaube und starkes, anhaltendes Gebet sind mit Segen gekrönt.Bedeutsame Worte der Begrüßung sprach der derzeitige Rektor der Universität,der bekannte Kirchengeschichtler D. Mirbt. Er begrüßte die Arbeit derreformirten Kirche als eine Bereicherung des Geisteslebens der Universität. DieOekumenität der reformirten Gemeinden sei für die lutherische Kirche einewertvolle Ergänzung. Eine andere Gnadengabe unserer Kirche wünschte SuperintendentMirow, der für die lutherischen Gemeinden Göttingens Grüße übermittelte,der Kirche Luthers: die Tatkraft des Glaubens, der in der Liebe tätigist. Die Hoffnung und das Bestreben, daß die Betonung unserer reformirtenArt nicht zur Störung der notwendigen Einheitsfront der gläubigen Evangelischenführen wird, sondern daß die beiden Schwesterkirchen im gegenseitigenNehmen und Geben zum Aufbau der Gottesherrschaft auf Erden beitragen wollen,hatte auch P. Heilmann in seiner Ansprache erklingen lassen.Das Haus ist ein lebendiges Denkmal der helfenden Bruderliebe. Das arm gewordeneDeutschland hat die hohen Kosten – es sind bis jetzt schon gegen 100.000Mark für Ankauf, Ausbau und Einrichtung des Hauses verwendet worden –nicht aufbringen können; fast alles ist durch die Glaubensbrüder in Hollandund Amerika gespendet worden. Besonderen Dank verdient Herr Dr. van Merlein Rotterdam.Es ist zu wünschen, daß recht viele Studenten die gebotene Gelegenheit, indem Studienhause für den Dienst an den Gemeinden wertvolle Förderung zu


96 Chronik des Reformierten Studienhausesfinden, benützen; die Glaubensbrüder aber werden gebeten, auch dieses Werkes,das aus dem Glauben geschaffen und durch die Liebe ermöglicht ist, inGlauben und Liebe sich annehmen zu wollen.Nießmann/Göttingen


Anhang 3Das reformirte Studienhaus zu GöttingenVon Pastor i.R. Johann Adam HeilmannIn: Reformierte Kirchenzeitung 72 (1921), S. 152f.Die Vergangenheit der reformirten Kirche läßt keinen, der sie kennt, schlafen.Sie weckt zur Tat. Aber viel ist zu tun, wenn die ein Jahrhundert hindurch vernachlässigteKirche wieder zu ihrer Bedeutung kommen soll, vor allem auf demGebiete des Unterrichts. Im Anfang des 19. Jahrhunderts sind ihr die fünf Universitätenund die fünf Akademien, die sie besaß, verloren gegangen. So waren auchdie im Jahre 1816 an das Königreich Hannover gefallenen reformirten Gebieteihrer bisherigen Universität (Lingen) beraubt. Es geschah nicht ohne Widerspruch.Schon von dem Jahre 1829 rühren die Bemühungen des Pastors derreformirten Gemeinde in Göttingen her, zum Ersatz für das Verlorene an derLandesuniversität Göttingen der reformirten Theologie eine Stätte zu bereiten.Seine Nachfolger haben dasselbe Ziel verfolgt: Konferenzen und Synoden habenbis in die neuste Zeit gebeten und gefordert. Ihre Eingaben verschwanden inden Akten. Erst persönliche Verhandlungen mit den Ministerien, die ich seitacht Jahren zusammen mit meinem Syzygos (Philipper 4,3) Pastor Bleske-Viëtorin Hinte geführt habe, haben das Ziel nahe gebracht. Es waren große Schwierigkeiten,die unserm Beginnen im Wege standen. Langwierige Unterhandlungenmit der Fakultät und den ministeriellen Stellen waren nötig. Mißtrauen mußteüberwunden, das nötige Geld beschafft werden. Wir erstreben die Errichtungeiner ordentlichen Professur für die systematischen Fächer und einen Lehrauftragan eine andere Persönlichkeit für die praktische Theologie, besonders die Katechetik.Daneben hatten wir den Wunsch, daß auch die Geschichte unserer Kircheihren künftigen Dienern bekannt gemacht würde. Wahrlich, keine unbescheidenenForderungen, für jedes selbständige Kirchengebilde einfache Notwendigkeiten.Im Juni 1914 hatten wir die Zusage des Kultusministers für unsere Wünscheerreicht. Der Krieg machte alles zu schanden. Im Juni 1918 wurde mit dem Ministerund seinem Dozenten verabredet, daß am 1. April 1919 nun die Sache insLeben treten solle. Da warf uns die Revolution wieder alles über den Haufen.Und unsere Wünsche hatten sich inzwischen erweitert. Mitglieder der Fakultätmeinten, daß die neue Einrichtung viel fester gegründet würde, wenn auchein Konvikt oder Studienhaus für die reformirten Theologen ermöglicht würde.Neue Schwierigkeiten der Geldbeschaffung für dies Werk [und] für das Gehaltdes Professors erhoben sich, doppelt drückend bei der herrschenden Geldentwertungund dem allgemeinen Mangel. Allerlei Bemühungen schlugen fehl. Aber


98 Chronik des Reformierten Studienhausesmein Wahlspruch ist immer das Wort aus dem 18. Psalm gewesen: »belohai adalegschur: Mit meinem Gott will ich über die Mauer springen.«Ich unterstreiche dabei die Worte »mit meinem Gott«. Denn das Ganze solltesein und ist ein Werk des Glaubens an den Gott, der Gebete erhört. Er hat dieSchwierigkeiten aus dem Wege geräumt, und zwar waren seine Diener dabeiunsere Glaubensgenossen, hauptsächlich in Holland und Amerika.Vor zwanzig Jahren hatte in seiner Studienzeit ein holländischer Chemiker Dr.Cornelius van Marle in meinem Hause verkehrt, und nun erfuhr ich die Wahrheitdes Wortes Hebr. 13,2: »Gastfrei zu sein, vergesset nicht; denn durch dasselbehaben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.« Nach so langer Zeit kamer, um zu sehen, wie es mir nach diesem Kriege ginge. Diesem Freunde legteich unsere kirchlichen Anliegen vor. Er verstand unsere Not, und mit der Liebedes christlichen Glaubensbruders sammelte er nun in der »Gereformeerde Kerk«Mittel für uns. Im Juni schon hatte ich soviel Geld, daß ich mutig genug war,ein überaus passend gelegenes Gasthaus für 80.000 Mark zu kaufen, im Stillen darandenkend, daß einst auch A.H. Francke in Halle ein Wirtshaus für sein Liebeswerkgekauft hat. Auch nach Amerika, besonders an die holländischen Gemeinden,wandte sich der eifrige Freund, und von der reformirten Synode des Westensder Vereinigten Staaten erhielt ich durch den reformirten Bund auch etwa30.000 Mark, so daß mir für das Studienhaus bis jetzt 107.000 M[ark] anvertrautworden sind. Wir haben das Haus zum Teil herstellen und für unsere Zwekkeumbauen müssen – große Ausgaben in der jetzigen Zeit. Aber wir habenRaum gewonnen für die Studenten – und zwar sind es freundliche, auch mitBildern geschmückte, größere und kleinere Zimmer. Da Namen mehr sagenwie Zahlen, habe ich die Zimmer benannt, die unteren nach reformirten Ländern:Ostfriesland, Hessen, Niederlande, Lippe; die oberen nach Männern, diefür uns Bedeutung haben: Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin, Olevianus,Tersteegen. Solche Namen sind noch genug im Vorrat vorhanden, aber das Wohnungsamthat uns weitere Räume noch nicht zur Verfügung gestellt.Als das Haus am 7. Mai in schlichter Feier seinem Zweck übergeben wurde,wurden ihm herzliche Wünsche für sein Gedeihen ausgesprochen von dem Rektorder Universität, dem Dekan der Fakultät, dem Oberbürgermeister der Stadt,dem Vertreter des Konsistoriums zu Aurich, einem lutherischen Pastor und brieflichvon Dr. van Marle, und wir können nur bitten, daß das im Glauben begonneneWerk stets in rechtem Geiste fortgeführt werde.Geist und Zweck des Ganzen gehen aus seinen »Ordnungen« hervor, in denenes heißt: 1. Das reformirte Studienhaus mit seinen Bestrebungen und Arbeitenwird unter das Wort des Herrn gestellt: Joh. 15,5. 2. Der Zweck des Studienhausesist, tüchtige und brauchbare Diener der christlichen Gemeinde innerhalbder reformirten Kirche heranbilden zu helfen. Diesem Zweck dienen wissenschaftlicheUebungen und tägliche Andachten. 5. Von den Stiftsgenossen wirdgefordert, daß sie sich in jeder Beziehung bemühen, die Studienzeit zu einer


Anhang 99gesegneten Vorbereitung auf das Amt auszunutzen, und in religiös-sittlichem Ernstund wissenschaftlichem Eifer sich den Aufgaben hinzugeben. 8. Das Zusammenlebender Stiftsgenossen soll sich nach Röm. 14,19 gestalten. Selbstzucht undedle Sitte sollen von jedem Mitglied erstrebt und geübt werden. Die akademischeFreiheit bleibt den Stiftsgenossen gewahrt. Beitritt zu beliebigen Veranstaltungensteht ihnen frei.Gewährt wird den Stiftsgenossen vorläufig freie Wohnung, Feuerung und Licht,sofern die Kasse es leisten kann. Verpflegung haben wir noch nicht in diesemSommer geben können, da wir noch keine Vorräte hatten. Für das nächste Semesterist beabsichtigt, Mittag- und Abendessen zum Selbstkostenpreis zu gewähren.Noch fehlt manches an Ausstattungsgegenständen, und vor allem wünschen wireine reichere Bibliothek, deren Anfänge allerdings in etwa 150 Büchern von verschiedenenSeiten geschenkt sind. Reformirte Pastoren werden gebeten, ihrenBücherbestand daraufhin durchzusehen.Als juristische Form des Bestehens der Anstalt haben wir die der »milden Stiftung«gewählt und bei der Staatsbehörde den entsprechenden Antrag gestellt.Im vorläufigen Vorstand ist außer mir ein Vertreter des Presbyteriums der reformirtenGemeinde in Göttingen, ein Beauftragter der reformirten Kirche derProvinz Hannover, ein Schatzmeister und der zu berufende reformirte Professor.Das Maß unserer Freude wurde voll, als der Dekan die Zustimmung derFakultät kundgab. So Gott will, wird also der neue Professor mit dem Wintersemestersein Amt antreten.Alle, die mit uns getrauert, gestrebt und gesorgt haben, mögen jetzt auchmit uns danken und weiterhin bitten.


100 Chronik des Reformierten Studienhauses


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