das kriegsthema im werk von bernhard schlink - Západočeská ...

das kriegsthema im werk von bernhard schlink - Západočeská ... das kriegsthema im werk von bernhard schlink - Západočeská ...

ERKLÄRUNGIch erkläre hiermit, <strong>das</strong>s ich die Arbeit „Das Kriegsthema <strong>im</strong> Werk <strong>von</strong> Bernhard Schlink“selbständig erarbeitet habe und nur die angeführten Quellen und Materialen benutzt habe.Pilsen, ………. 2012…………………………………………..


DANKSAGUNGIch danke dem Betreuer meiner Bachelorarbeit, Herrn Mgr. Martin Šíp, für die wertvollenRatschläge und für die Hilfe bei der Auswahl der angegebenen Materialien. Weiter gehörtmein Dank allen, die mich während des Schreibens der Arbeit unterstützt haben.


Inhaltsverzeichnis1 Einleitung ............................................................................................................................... 62 Bernhard Schlink .................................................................................................................. 82.1 Leben ................................................................................................................................ 82.2 Werk ................................................................................................................................. 83 Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Literatur ............................................................ 114 Das Kriegsthema <strong>im</strong> Vorleser ............................................................................................ 144.1. Die Handlung ................................................................................................................. 144.2 Die Figur Michael Berg .................................................................................................. 144.3 Die Figur Hanna Schmitz ............................................................................................... 164.4 Die Liebesbeziehung <strong>von</strong> Michael und Hanna ............................................................... 194.5 Der Krieg <strong>im</strong> Vorleser .................................................................................................... 204.6 Kritische Rezeption ........................................................................................................ 234.7 Der Film .......................................................................................................................... 245 Die He<strong>im</strong>kehr und der Schatten der deutschen Kriegsschuld ......................................... 255.1 Die Handlung .................................................................................................................. 255.2 Das Motiv der He<strong>im</strong>kehr aus dem Krieg ........................................................................ 255.3 Peter Debauer und sein Vater ......................................................................................... 275.4 Die Figur <strong>von</strong> John de Baur ............................................................................................ 286 Liebesfluchten ...................................................................................................................... 306.1 Die Beschreibung ........................................................................................................... 306.2 Das Mädchen mit der Eidechse ...................................................................................... 306.2.1 Die Handlung ........................................................................................................... 306.2.2 Einfluss des Krieges ................................................................................................. 316.2.3 Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn .............................................................. 32


6.3 Die Beschneidung ........................................................................................................... 326.3.1 Die Handlung ............................................................................................................... 326.3.2 Der Deutsche und die Jüdin ..................................................................................... 337 Detektiv Selb ........................................................................................................................ 358 Zusammenfassung ............................................................................................................... 37Resumé .................................................................................................................................... 39Literatur- und Quellenverzeichnis ....................................................................................... 40Pr<strong>im</strong>ärliteratur ....................................................................................................................... 40Sekundärliteratur .................................................................................................................. 41Internetquelle ........................................................................................................................ 42Zeitung .................................................................................................................................. 42


1 EinleitungFür meine Bachelorarbeit habe ich <strong>das</strong> Thema Das Kriegsthema <strong>im</strong> Werk <strong>von</strong>Bernhard Schlink gewählt. Dieser Schriftsteller beschäftigt sich in seinen Werken mit demZweiten Weltkrieg, aber <strong>im</strong> Vergleich zu anderen Autoren bietet er dem Leser eine neue Sichtauf diese Problematik. Der Krieg ist nicht auf dem ersten Blick anwesend, sondern der Lesermuss die Geschichte entschlüsseln und damit den Einfluss des Krieges auf <strong>das</strong> Lebenentdecken. Das Hauptthema der Werke <strong>von</strong> Schlink ist meistens die Versöhnung derHauptperson mit ihrer Vergangenheit. Obwohl der Zweite Weltkrieg zur Vergangenheitgehört, sind die Kriegsfolgen noch in der heutigen Zeit spürbar.Der erste Impuls, warum ich gerade dieses Thema gewählt habe, war hauptsächlichder Film Der Vorleser. Ich habe diesen Film zum ersten Mal vor drei Jahren gesehen und erhat mich sofort mit seiner Thematik gefesselt. Ich kenne viele Filme wie Schindlers Liste oderDer Pianist, die sich mit dem Kriegsthema beschäftigen, aber dieser Film war etwas anderes.Die Handlung ist die ganze Zeit sehr düster und spannend und der Film hat die Fähigkeit inMenschen Gefühle auszulösen. Das ist nichts Ungewöhnliches bei dieser Problematik. Aberdie Überraschung für mich war, <strong>das</strong>s ich eher Mitleid mit Hanna Schmitz verspürte, die vieleLeben auf dem Gewissen hatte. Sie ist für mich ein seltsamer Opfertyp. Und <strong>das</strong> ist nicht dieeinzige Ausnahme des Themas.Nachdem ich den Film gesehen hatte, las ich noch <strong>das</strong> Buch und <strong>das</strong> Thema für dieBachelorarbeit war klar. Schlinks Bücher sind in einer einfachen und verständlichen Sprachegeschrieben und ihren größten Beitrag sehe ich darin, <strong>das</strong>s sie den Menschen zumNachdenken zwingen.Das Hauptthema dieser Bachelorarbeit ist es, die Kriegsmotive in den tragendenWerken des Autors zu finden und vor allem zu beschreiben, wie der Krieg die einzelnenLebensgeschichten und Verhältnisse beeinflusst. Das zeigt sich hauptsächlich in Der Vorleser,wo die Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem heranwachsenden Jungen <strong>im</strong>Mittelpunkt steht, und auch in Die He<strong>im</strong>kehr, wo man die Entwicklung des Verhältnisseszwischen Vater und Sohn sehen kann. Diese zwei Werke sind für die vorliegende Arbeittragend.Zu Beginn der Arbeit beschäftige ich mich mit dem Leben und Werk <strong>von</strong> BernhardSchlink und beschreibe die Entwicklung der deutschen Literatur nach 1945. Dann widme ichmich der Analyse der einzelnen Werke.6


In Der Vorleser werden die zwei Hauptfiguren und ihr Verhältnis beschrieben, einKapitel ist der Suche der Kriegsmotive in dem Roman und <strong>das</strong> nächste Kapitel einerkritischen Rezension gewidmet. Die Analyse <strong>von</strong> Der Vorleser endet mit dem Vergleich desBuches mit dem Film.Im nächsten Teil wird der Roman Die He<strong>im</strong>kehr analysiert, vor allem die Beziehungzwischen Vater und Sohn und die dunkle Vergangenheit des Vaters.Das nächste wichtige Werk ist die Sammlung <strong>von</strong> kurzen Geschichten mit dem TitelLiebesfluchten. Für meine Arbeit sind zwei Erzählungen bedeutend – Das Mädchen mit derEidechse und Die Beschneidung. Beide Geschichten weisen auf die Problematik derdeutschen Vergangenheit hin.In den Büchern vom Detektiv Selb erscheint der Krieg nur marginaler, trotzdem ist derEinfluss offensichtlich. Den Detektiv Selb holt seine Kriegsvergangenheit wieder ein.7


2 Bernhard Schlink2.1 LebenEiner der erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart,Bernhard Schlink, wurde am 6. Juli 1944 in Großdornberg bei Bielefeld als <strong>das</strong> jüngste <strong>von</strong>vier Kindern geboren. Beide Eltern Schlinks studierten Theologie und sein Vater Edmund warProfessor für Theologie in Heidelberg, aber infolge des Nazismus verlor er seine Arbeit undwurde Pastor. Schlink verbrachte seine Kindheit in Heidelberg, wo seine Familie kurz nachseiner Geburt hinzog. 1963 legte er <strong>das</strong> Abitur ab.Danach hätte er gerne Geschichte und Soziologie studiert, aber sein Vater st<strong>im</strong>mte demnicht zu und so widmete sich Schlink dem Jura-Studium an der Universität in Heidelberg undan der Freien Universität in Berlin. 1975 promovierte er in Heidelberg und 1981 habilitierte erin Freiburg <strong>im</strong> Breisgau. Von 1982 bis 1991 lehrte er als Professor für Öffentliches Recht ander Universität in Bonn. 1991 wurde er Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht undRechtsphilosophie an der Universität in Frankfurt am Main. Zudem war er seit 1988 alsVerfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen tätig. Schlink engagierte sich auch alsGastprofessor <strong>im</strong> Ausland. Seine erfolgreichen Bücher brachten ihm viele Auszeichnungenund Preise. Heute lebt er abwechselnd in New York und Berlin (nach M. Egbers 2009:3-6).2.2 WerkSeit seiner Kindheit interessierte sich der Autor für literarisches Schreiben. Im Alter<strong>von</strong> acht Jahren schrieb er ein Drama über einen Streit mit seinem Bruder. Mit demprofessionellen Schreiben begann Schlink <strong>im</strong> Jahr 1987. Sein erstes Buch schrieb ergemeinsam mit seinem Freund Walter Popp. Beide waren leidenschaftliche Leser <strong>von</strong>Kr<strong>im</strong>inalromanen und darum entschieden sie sich, selbst einen solchen zu schreiben. DasErstlings<strong>werk</strong> Selbs Justiz mit dem Detektiven Selb in der Titelrolle hatte großen Erfolg undso folgten die nächsten Bücher, die Schlink dann alleine verfasste. Für Die gordische Schleifeerhielt er 1989 den Friedrich-Glauser-Preis. In diesem Roman geht es um die illegaleBeschaffung <strong>von</strong> Konstruktionsplänen eines europäischen Kampfhubschraubers (nach M.Egbers 2009:4-6).8


Für die Fortsetzung des Romans über den Detektiven Selb Selbs Betrug wurde Schlinkmit dem Deutschen Kr<strong>im</strong>ipreis ausgezeichnet. Mit dem Buch Selbs Mord, in dem es um dieFinanzwelt und problematische Entwicklungen in den neuen Bundesländern geht, schloss erdie Trilogie um den Privatdetektiven Gerhard Selb ab.Ein internationaler Bestseller wurde Schlinks Roman Der Vorleser, der <strong>im</strong> Jahr 1995erschien. Dieser Roman wurde in 39 Sprachen übersetzt. In Amerika erreichte dieses BuchPlatz 1 der Bestsellerliste der New York T<strong>im</strong>es. Für den Roman erhielt der Schriftsteller vieleinternationale Preise. 2008 wurde Der Vorleser <strong>von</strong> dem britischen Filmregisseur StephenDaldry verfilmt. Der deutsche Jurist und Rechtshistoriker Michael Stolleis beschreibt <strong>das</strong>Buch so:„Ein idealistischer Entwicklungsroman, ein Prozeß der Bewußtwerdung und Reifung,ein Akzeptieren der Schuld durch den eigenen Tod? Diese unlösbaren Fragen werden in derSchwebe gehalten. Ihr Gewicht wird nur erträglich durch Schlinks einfühlsame undtransparente Sprache. Auch in den Andeutungen der Details ist sie <strong>von</strong> oft erstaunlicherPräzision. Der über sich und seinen Werdegang, über die Abgründe <strong>von</strong> Strafprozessen, überSchuld und Schuldgefühle kritisch und selbstkritisch reflektierende Jurist überdecktgelegentlich den genuinen Schriftsteller, der hier ans Licht kommt. “ 1In dem dreiteiligen Roman geht es um die erotische Beziehung eines fünfzehnjährigenJungen zu einer 21 Jahre älteren Frau, einer ehemaligen KZ 2 -Aufseherin. Auβer denErinnerungen des Ich-Erzählers an seine Liebe und allen damit zusammenhängendenErlebnissen widmet sich der Autor der Schuldfrage der Deutschen für die Verbrechen desZweiten Weltkrieg und bietet den Lesern einen neuen Blickwinkel.Dann folgten andere belletristische Werke und auch juristische Fachbücher. Im Jahr2000 verfasste Schlink den Kurzgeschichtenband Liebesfluchten, worin er verschiedeneFormen der Liebe und der Beziehung beschreibt.Sein nächster Roman mit dem Titel Die He<strong>im</strong>kehr erschien <strong>im</strong> Jahr 2006 undbeschreibt die Suche der Hauptfigur Peter Debauer nach dem Autoren eines unvollständigen1 HEIGENMOSER, Manfred. Erläuterungen und Dokumente. Bernhard Schlink, Der Vorleser. Stuttgart: PhilippReclam jun. GmbH & Co. KG, 2010. S. 1022 KZ - <strong>das</strong>Konzentrationslager9


Heftchenromans über einen He<strong>im</strong>kehrer aus Sibirien. Der Protagonist muss sich mit seinereigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen. Er muss die Beziehung mit seinerLebensgefährtin Barbara lösen, aber vor allem soll er sich mit der Begegnung mit seinemangeblich toten Vater abfinden.Schlinks Roman Das Wochenende aus dem Jahr 2008 beschreibt ein Wochenendeeines ehemaligen RAF 3 -Terroristen, der nach 20 Jahren Haft begnadigt wird. Er verbringtzwei Tage mit seiner Schwester und Freunden, die ihm bei der Rückkehr in die Realität helfenwollen. Auch in diesem Werk begegnen dem Leser Schuld und Verstrickung, Sühne undIllusionen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.3 RAF – Rote Armee Fraktion: war eine linksextremistische terroristische Vereinigung in der BundesrepublikDeutschland in den 60er Jahren.10


3 Der Zweite Weltkrieg in der deutschen LiteraturIn der ersten Nachkriegszeit war die literarische Situation <strong>von</strong> der Überwindung derKriegsfolgen beeinflusst. Nach (H.A. und E. Frenzel 1984:647-649) kehrten einigeSchriftsteller aus der Emigration zurück, manche blieben <strong>im</strong> Ausland, und andere, die <strong>im</strong>Lande geblieben waren, meldeten sich mehrmals mit Schwierigkeiten zu Wort. Die deutscheLiteratur war <strong>von</strong> den weltweiten Entwicklungen abgeschnitten.Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sprach man <strong>von</strong> einem literarischenNullpunkt. Mit dem Entstehen neuer deutscher Staaten entstanden verschiedene Bedingungenfür die Literatur. Das Hauptziel der Literatur der BRD war, sich mit dem Nazismus und mitden Kriegsfolgen auseinander zu setzen. Auβer Heinrich Böll sind hier noch die SchriftstellerGünter Grass oder Bertolt Brecht zu erwähnen. Für die DDR-Literatur war <strong>das</strong> Verhältnis zurVergangenheit und die Bemühung, den Zusammenhang mit der Bundesrepublik Deutschlandzu leugnen, <strong>das</strong> Hauptthema. Zu den bedeutendsten Autoren gehörten Christa Wolf, AnnaSeghers oder Bruno Apitz mit seinem Roman Nackt unter Wölfen, in dem er seine eigenenErlebnisse <strong>im</strong> KZ Buchenwald verarbeitete.Es gab unterschiedliche Meinungen über die Folgen des Dritten Reichs. Nach (Rösch1996: 469-479) interpretierte die Generation, die aus dem Krieg und der Gefangenschaft indie He<strong>im</strong>at zurückkam, <strong>das</strong> Dritte Reich begreiflicherweise meistens als ein für den totalenBruch mit der deutschen Kulturtradition verantwortliches System. Für manche bedeutete dieSituation einen neuen Anfang aber zugleich auch die Möglichkeit, an Vorbilder, die nicht mitden Kulturvorstellungen des NS-Propagandaministers Goebbels zusammenhingen,anzuknüpfen. Die Autoren wollten sich mit der Analyse der Ereignisse des Kriegesbeschäftigen und suchten nach tieferen Ursachen der Kriegskatastrophe. Nach zwölf Jahrenstrengster Zensur waren die Leute wie besessen <strong>von</strong> einer Sucht nach Informationen undbegannen, sich mit philosophischen und künstlerischen Fragen zu befassen.Im Jahr 1947 entstand eine Gruppe <strong>von</strong> Autoren, Die Gruppe 47, die antifaschistisch,ant<strong>im</strong>ilitaristisch und antirassistisch wirkte und die deutsche Literatur der ersten Jahrzehntenach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend beeinflusste. In dieser Gruppe war auch HeinrichBöll tätig, der zu den bedeutendsten Autoren der Nachkriegsliteratur gehört.Bölls Werke fanden schon früh internationale Bedeutung und Anerkennung. Er wurdedank seiner „engagierten Literatur“ bekannt, die den Blick auf Menschen am Rande derGesellschaft, auf Unterdrückte und Verstoβene lenkt. Nach (Rösch 1996: 503-544) warnte der11


Schriftsteller schon früher mit seinem satirischen Engagement vor restaurativen Tendenzen,die er in der sich etablierenden Wohlstandsgesellschaft zu entdecken glaubte. Böll bearbeitetin seinen Werken die Wirklichkeit des Krieges, deren Schrecklichkeit auch nach dem Endedes Dritten Reiches nicht <strong>im</strong>mer wahrgenommen wird. Der Autor ignoriert die Entwicklungenliterarischer Stile, so<strong>das</strong>s seine Texte, bezeichnet als „hausbacken“, oft auf Spott treffen. Aber<strong>das</strong> Werk dieses Autoren funktioniert wie eine begleitende Kommentierung desZeitgeschehens. Auβer den erlebten Schrecken des Zweiten Weltkrieges wird die Frage nachdem persönlichen Glück in einer desolaten Welt und nach der Gültigkeit moralischer undkirchlicher Positionen in der Gesellschaft gestellt.Für Böll war der Schutz der Individualität in einer unpersönlichen Weltbedeutungsvoll und er wurde zumindest <strong>von</strong> einem Teil der bundesrepublikanischenGesellschaft als eine Art „Gewissen der Nation“ angesehen. Die Medien verbreiteten BöllsMeinungen und Appelle in verschiedenen entscheidenden Situationen der deutschenGeschichte. Als Autor und als Repräsentant eines selbstkritischen Deutschlands berührte er<strong>von</strong> Anfang an viele Leser. Der Schriftsteller Günter Grass vertrat zum Beispiel die Meinung,<strong>das</strong>s die kritische Beobachtung der Politik und die rechtzeitige Warnung vorgesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu den Aufgaben des Schriftstellers gehören.Die deutsche Literatur hatte jahrzehntelang in verschiedener Weise mit der Frage zutun, wie die Gräuel der deutschen Geschichte <strong>im</strong> 20. Jahrhundert zu erklären seien. DieNachkriegsgeneration, die noch die Zeit des Dritten Reiches erlebte, hielt es für ihre Pflicht,durch Schuldzuweisungen <strong>das</strong> Geschehene zu erklären und dessen Wiederholung zuverhindern (nach H.A. und E. Frenzel 1984:649-651).Die zweite Nachkriegsgeneration erhob sich gegen die bürgerlichenOrdnungsvorstellungen der Eltern. Als höchster Wert galt der Heroismus des Wiederaufbaus,der Gewinn und Einkommen, Luxus und Bequemlichkeit propagierte. Das war eine Art undWeise, sich mit der deutschen Geschichte abfinden zu können. Im Fehlverhalten der Eltern, solehrten viele Werke der Zeit, liegen die Wurzeln für die deutsche Katastrophe. Die neueGeneration <strong>von</strong> Autoren behauptete, <strong>das</strong>s sich die deutsche Mentalität nicht geändert hatte(nach Rösch 1996: 503-540).Die dritte Generation, die Literatengeneration der 90er Jahre, wollte offenbar nichtfabulieren, nichts verbessern und nichts entdecken. Die Geschichten waren nur interessant,wenn sie die Zeit realistisch schilderten. In der Mitte der 90er Jahre best<strong>im</strong>mte die literarischeLust an der Erforschung der Ursachen historischen Fehlverhaltens nicht mehr die literarischen12


Neuigkeiten. Das Thema des Krieges war erschöpft und man sollte sich mit der Gegenwartbefassen.Man beschäftigte sich mit den Fakten und historischen Ereignissen und aus heutigerSicht ist ein moralisches Urteil über Schuld und Mitschuld oft schnell gefällt. Nach (M.Egbers 2009:1) fordert Schlink den Leser in seinen Werken zu einem moralischen Urteilheraus. Aber <strong>im</strong> Unterschied zu anderen Autoren bietet er eine neue Sichtweise an und erzwingt den Leser, selbst über Täter und Opfer nachzudenken. Denn:„Wir hätten doch mit den Tätern schon lange abgeschlossen, wenn es wirklich allesMonster wären, ganz fremd, ganz anders, mit denen wir nichts gemein haben.“ 44 EGBERS, Michaela. Interpretationen Deutsch. Bernhard Schlink, Der Vorleser. 1. Auflage: StarkVerlagsgesellschaft mbH& Co. KG, 2009. S. 113


4 Das Kriegsthema <strong>im</strong> Vorleser4.1. Die HandlungDer Roman ist in drei Teile gegliedert. Am Anfang beschreibt der fünfzehnjährigeMichael Berg seine Vorstellung <strong>von</strong> seiner späteren Beziehung mit der viel älteren HannaSchmitz. Zur den merkwürdigen Seiten <strong>von</strong> Frau Schmitz gehört, <strong>das</strong>s sie sich vor jedemLiebesakt vorlesen lässt. Diese Seltsamkeit wird <strong>im</strong> zweiten Teil des Buches erklärt. Sie war<strong>im</strong> 2. Weltkrieg eine KZ – Aufseherin und ist als Haupttäterin bei einem Prozess angeklagt.Michael durchschaut, <strong>das</strong>s sie unmöglich die Schuld haben kann, weil sie Analphabetin ist.Aber <strong>das</strong> bleibt verhe<strong>im</strong>licht. Sie wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Michael schickt ihrbesprochene Kassetten, mit deren Hilfe sie lesen und schreiben lernt. Nach Jahren soll sieentlassen werden und Michael will ihr helfen. Aber am Tag der Entlassung begeht sieSelbstmord.4.2 Die Figur Michael BergMichael Berg ist <strong>das</strong> dritte <strong>von</strong> vier Kindern. Er hat zwei Schwestern und einenBruder, zu dem er in einer Rivalitätsbeziehung steht. Die Auskünfte über seine Geschwistersind spärlich und <strong>im</strong> Vergleich zu dem Verhältnis zu seinem Vater weist er keine starkenemotionalen Bindungen zu ihnen auf. Während der NS-Zeit 5 hatte sein Vater seineDozentenstelle verloren, weil er in seiner Vorlesung über den jüdischen Philosophen Spinozasprach. Nach dem Krieg wurde er Professor für Philosophie. Die Beziehung zu seinenKindern ist leider nicht liebevoll, weil seine Arbeit <strong>im</strong> Vordergrund steht. Manchmal wünschtsich Michael, <strong>das</strong>s es umgekehrt wäre:5 NS-Zeit: Zeit des Nationalsozialismus14


„Manchmal hatte ich <strong>das</strong> Gefühl, wir, seine Familie, seien für ihn wie Haustiere. DerHund, mit dem man spazierengeht, und die Katze, mit der man spielt, auch die Katze, die sich<strong>im</strong> Schoβ kringelt und schnurrend streicheln läβt – <strong>das</strong> kann einem lieb sein, man kann es ingewisser Weise sogar brauchen, und trotzdem ist einem <strong>das</strong> Einkaufen des Futters, <strong>das</strong>Säubern des Katzenklos und der Gang zum Tierarzt eigentlich schon zu viel. Denn <strong>das</strong> Lebenist anderswo. Ich hätte gerne gehabt, <strong>das</strong>s wir, seine Familie, sein Leben gewesen wären.“ 6Michaels Mutter ist <strong>im</strong> Gegenteil dazu übertrieben besorgt. Sie pflegt ihn währendseiner Krankheit. In seiner Erinnerung hatte sie ihn, als er klein war, vor dem warmen Herdgewaschen und angekleidet. Dieser Eindruck spielt für <strong>das</strong> Ritual des Badens in seinerspäteren Beziehung zu Hanna eine wichtige Rolle.Insgesamt liebt der Protagonist seine Familie, aber <strong>das</strong> fehlende gegenseitigeVerständnis beeinflusst alle anderen Verhältnisse.Zu Beginn des Romans ist Michael fünfzehn Jahre alt und auf der Suche nach seinereigenen Identität. Obwohl er mit seinem Aussehen nicht zufrieden ist, trägt er die elegantenAnzüge seines Onkels und sein Haar ist trotz aller Anstrengungen ein zauser Mop. Er beginnt,sich für die eigene Sexualität zu interessieren. Durch die Begegnung mit Hanna gewinntMichael an Selbstständigkeit und kann seine Selbstzweifel beschränken. Das zeigt sich auchin der Schule. Er sieht plötzlich selbstbewusst und sicher aus.„Ich kannte die Frauen und konnte gelassen und kameradschaftlich sein. Das mochtendie Mädchen.“ 7Dank des neu gewonnenen Selbstbewusstseins bewältigt Michael <strong>das</strong> Abitur und auch<strong>das</strong> Studium problemlos und bei den Jungen sowie bei den Mädchen hat er Erfolg. Obwohl ermit seinen Freunden viel Zeit verbringt, verhe<strong>im</strong>licht er seine Beziehung zu Hanna. Wegendieses Verrats quält sich der Protagonist mit Schuldgefühlen und fühlt sich für HannasWeggang verantwortlich.6 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 317 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 6415


Während seines Jura - Studiums verhält er sich arrogant und distanziert, weil er <strong>von</strong>den Erinnerungen an Hanna noch nicht los kommt. Und zu jedem Ereignis n<strong>im</strong>mt er einegleichgültige Einstellung ein. Erst, als er Hanna be<strong>im</strong> Prozess vor Gericht wieder sieht,kommen seine Erinnerungen zurück. Nachdem er Hannas Analphabetismus entdeckt, muss ersich entscheiden, ob er ihr helfen soll. Mit der Bitte um Ratschläge geht er zu seinem Vater.Obwohl sie keine gute Beziehung haben, hofft Michael auf die Auflösung seines innerenKampfes. Dies ist eine der wenigen glücklichen Erinnerungen an den Vater:„Ich beschloβ, mit meinem Vater zu reden. Nicht weil wir uns so nahe gewesen wären.Mein Vater war verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle mitteilen noch etwasmit den Gefühlen anfangen, die wir ihm entgegenbrachten. Aber gerade wegen der Distanzzwischen uns suchte ich <strong>das</strong> Gespräch mit ihm. Ich suchte <strong>das</strong> Gespräch mit demPhilosophen.“ 8Das Verhältnis mit Hanna hat groβe Auswirkungen auf Michaels Beziehungsleben.Seine Ehe mit Gertrud wird geschieden und auch die anderen Liebschaften mit Frauen endenmeist schlecht. Keine der anderen Frauen kann es mit Hanna aufnehmen. Michael hat aucheine Tochter Julia, die <strong>im</strong> Internat ist. Die Angaben über sie sind nur sehr vage.4.3 Die Figur Hanna SchmitzHanna Schmitz gehört zur ersten Generation und zu den Tätern <strong>im</strong> Dritten Reich. Sieist am 21. Oktober 1922 in Siebenbürgen geboren. Informationen über ihre Familie bekommtder Leser nicht. Auf Michaels Frage nach ihrer Familie antwortet sie nur:„Was du alles wissen willst, Jungchen!“ 98 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 1349 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 4016


Als sie siebzehn ist, kommt sie nach Berlin und arbeitet bei Siemens. Wegen ihresAnalphabetismus lehnt sie <strong>im</strong> Jahr 1943 die Möglichkeit ab, Vorarbeiterin zu werden. Siemeldet sich bei der SS und arbeitet als Aufseherin in einem Konzentrationslager beiAuschwitz und danach in einem Lager bei Krakau. Ihr Name „Hanna“ ist jüdischenUrsprungs und bildet einen besonderen Kontrast zu ihrer Tätigkeit.Nach Kriegsende wechselt sie zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen und ab 1950wird sie Straβenbahnschaffnerin in Michaels He<strong>im</strong>atstadt. An diesem Beruf„...mochte sie die Uniform und die Bewegung, den Wechsel der Bilder und <strong>das</strong> Rollenunter den Füβen. Sonst mochte sie ihn nicht.“ 10Hanna spricht nie über ihre Vergangenheit. Sie lässt sie ruhen. Nur selten antwortet sieauf Michaels Fragen und erzählt darüber, als ob es nicht ihr Leben wäre, sondern <strong>das</strong> Lebeneines anderen, mit dem sie nichts zu tun haben will.Alles, was diese Frau macht, hat seinen eigenen Rhythmus. Er ist in ihrerKörperhaltung und in ihren Bewegungen zu sehen, zum Beispiel be<strong>im</strong> Bügeln. Hannaentspricht nicht dem typischen Schönheitsideal. Aber Michael findet sie schön:„Sie hatte ihr schulterlanges, aschblondes Haar <strong>im</strong> Nacken mit einer Spange gefaβt.Ihre nackten Arme waren blaβ. Hohe Stirn, hohe Backenknochen, blaβblaue Augen, volle,ohne Einbuchtung gleichmäβig geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein groβflächiges,herbes, frauliches Gesicht.“ 11Sie ist außerdem sehr reinlich. Vor jedem gemeinsamen Liebesakt wäscht sie sich undMichael, als ob sie sich <strong>von</strong> ihrer Schuld reinwaschen möchte. Es ist etwas Merkwürdiges anHanna: ihr Verhalten ist schroff und streng, doch gleichzeitig streichelt sie Michael und istsehr nett zu ihm, so <strong>das</strong>s es schwer ist, sich hinter diesem Benehmen die KZ-Aufseherinvorzustellen. Nur in einigen Situationen beschreibt Michael sie als kalt. Ihre gewalttätigeSeite zeigt sich, als sie zusammen einen Ausflug machen:10 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlichtals Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 4011 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlichtals Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 1417


„Faβ mich nicht an“, sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie umihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippeplatzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holtenoch mal aus. Aber sie schlug nicht noch mal.“ 12Es ging um eine Krisensituation, die ihrer Hilflosigkeit entsprang. Hanna konzentriertsich ihr ganzes Leben mit aller Kraft darauf, ihren Analphabetismus zu verstecken. In diesemZusammenhang scheint sie <strong>das</strong> Opfer zu sein. Es ist schwer, mit dieser Schwäche zu leben.Die Beförderung wäre für jeden Menschen eine gute Nachricht, aber Hanna hätte es nurSchwierigkeiten gemacht. Michael hält Hannas Leben für einen einzigen Kampf, der vorGericht seinen Höhepunkt findet:„Sie verfolgte nicht ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihreGerechtigkeit. Es waren, weil sie sich <strong>im</strong>mer ein biβchen verstellen muβte, weil sie nie ganzoffen, nie ganz sie selbst sein konnte, eine klägliche Wahrheit und eine kläglicheGerechtigkeit, aber es waren ihre, und der Kampf darum war ihr Kampf.“ 13Während des Prozesses ist sie angespannt und sitzt wie festgefroren da. Es ist für siewichtig, alle Zusammenhänge richtig zu erklären, aber sie hat „kein Gefühl für den Kontext,für die Regeln, nach denen gespielt“ 14 wird. Hanna sieht hier eher wie ein Opfer aus.In der Verbindung mit Hannas Figur wird die Frage aufgeworfen, was für denMenschen die größere Schande ist: ein Analphabet zu sein oder für die Vernichtung vielerMenschen verantwortlich zu sein? Im Prozess zeigt sich, <strong>das</strong>s es für Hanna wichtiger ist, <strong>das</strong>sihr Analphabetismus ein Gehe<strong>im</strong>nis bleibt. Sie n<strong>im</strong>mt die Schuld auf sich und wird aufLebenszeit verurteilt.Im Gefängnis lernt sie mit Hilfe <strong>von</strong> Michaels Kassetten lesen und schreiben. Siebesorgt sich hier KZ-Literatur und durch diese Lektüre stellt sie sich ihrer Schuld und zieht12 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlichtals Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 5413 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlichtals Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 12814 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlichtals Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 10518


sich daraufhin noch weiter in sich zurück. Nach ( M. Egbers 2009: 30) hört sie später auf, sichzu waschen. Die Aufgabe ihres Waschzwangs kann als Einsicht in ihrer Schuld gesehenwerden.Nach der Bewilligung ihres Gnadengesuchs soll sie freigelassen werden, aber sieverzichtet auf <strong>das</strong> Leben in Freiheit und erhängt sich am Tag ihrer Haftentlassung. Ob sie ausAngst vor der Freiheit oder als endgültige Sühne ihrer Schuld so handelt, lässt der Romanoffen.4.4 Die Liebesbeziehung <strong>von</strong> Michael und HannaDas Verhältnis zwischen den Hauptpersonen ist <strong>von</strong> vielen Gesichtspunkten herungewöhnlich. Eine groβe Rolle spielt da der Altersunterschied. Auf einer Seite steht einTeenager, der noch alles vor sich hat, auf der anderen eine erfahrene Frau, die in ihre Weltniemanden einlassen will. Ihre Lebenswelten verbinden sie nur zufällig. Nach (M. Egbers2009: 30) wird <strong>im</strong> Vergleich der beiden Lebensläufe deutlich, <strong>das</strong>s sowohl Hanna als auchMichael Schwierigkeiten <strong>im</strong> Umgang mit anderen Menschen haben.In Hannas Fall können wir annehmen, <strong>das</strong>s die Erfahrung mit dem Krieg und ihrAnalphabetismus alle ihre Verhältnisse beeinflussen. Sie zeigt zwei unterschiedlicheVerhaltensweisen. Sie handelt grob und sicher in unterschiedlichen Situationen. Sie wirkt wieein Soldat, als ob sie <strong>im</strong>mer noch in der Rolle der Aufseherin wäre. Nur in vertraulichen oderentspannten Momenten bemüht sie sich, angenehm zu sein:„Sie richtete sich auf und sah, <strong>das</strong>s ich weinte. „Jungchen“, sagte sie verwundert,„Jungchen“. Sie nahm mich in die Arme. Ich war kaum gröβer als sie, spürte ihre Brüste anmeiner Brust, roch in der Enge der Umarmung meinen schlechten Atem und ihren frischenSchweiβ und wuβte nicht, was ich mit meinen Armen machen sollte.“ 15Diese Beziehung ist voll <strong>von</strong> Verdächtigungen und unbeantworteten Fragen. IhreNamen sagen sich die beiden zum Beispiel erst nach einer Woche Geschlechtsverkehr. WennMichael den Namen seiner Geliebten wissen will, wird sie misstrauisch. Der Schatten der15 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 619


Vergangenheit begleitet die ganze Liaison. Hannas ständige Bestrebung, ihr vergangenesLeben zu verbergen, vernichtet die unsichere Grundlage ihres Verhältnisses. Man kann dahereher <strong>von</strong> einem Ritual, als <strong>von</strong> einer Beziehung sprechen.Für jeden der Beiden bedeutet diese Handlung etwas anderes. Während er seine erstewahre Liebe zur Frau erlebt, dient es ihr eher als Flucht aus der Realität. Wenn dieAufdeckung des Gehe<strong>im</strong>nisses droht, läuft sie einfach weg. Ihre gröβte Aufgabe ist, sich mitder Vergangenheit abzufinden. Aber für Michael bedeutet die Beziehung mehr. Er ringt mitdem Verlust dieses geliebten Menschen nach Hannas Selbstmord sein ganzes Leben lang.Die Beziehung ändert sich mit der Zeit. Am Anfang geht es um die sexuelleFaszination und die Liebe mit allem, was dazu gehört. Im Verlauf der Handlung altern undentwickeln sich die Personen und der Altersunterschied wird <strong>im</strong>mer deutlicher. Am Ende desRomans ist Hanna eine alte Frau und Michael ein Mann <strong>im</strong> mittleren Alter. Er kümmert sichum sie, als ob sie seine Mutter wäre.4.5 Der Krieg <strong>im</strong> VorleserBernhard Schlink zeigt hier den Krieg nur indirekt durch die Lebensgeschichte derAufseherin. Das Thema des Krieges wird plötzlich in die Handlung eingeführt und zumzentralen Gegenstand des Romans. Dieses Motiv erscheint vornehmlich <strong>im</strong> zweiten Teil durchden Prozess gegen die angeklagten Aufseherinnen, es begleitet jedoch die ganze Geschichte.Der dargestellte Prozess ist durchaus typisch für den Umgang mit NS-Tätern. In den50er und 60er Jahren hat es viele solcher Prozesse gegeben. Nach (M. Egbers 2009:33-35) istder Fall <strong>von</strong> Hermine Ryan, bekannt als „Stute <strong>von</strong> Majdanek“, besonders prominent. Er weistÄhnlichkeiten zu Hannas Geschichte auf. Hermine arbeitete <strong>im</strong> polnischenKonzentrationslager Majdanek und sie war bekannt für ihren Eifer be<strong>im</strong> Misshandeln derHäftlinge. Sie benutzte eine Peitsche dazu. Es brachte ihr den Spitznamen „Stute“ ein. In DerVorleser wird explizit eine Verbindung zu diesem authentischen Fall aufgebaut, wenn MichaelHanna mit einem Pferd vergleicht und ihr einen entsprechenden Kosenamen aussucht.Während des Majdanek – Prozesses wurde über <strong>das</strong> Leiden des Richters unter diesemGerichtsverfahren und den zu behandelnden Grausamkeiten in der Zeitung geschrieben. ImRoman wird der Richter dagegen oberflächlicher dargestellt. Während des Prozesses verbirgt20


er sich hinter einer Maske der Irritation, um sich nicht mit einzelnen Äuβerungenauseinandersetzen zu müssen. Schlink kritisiert hier die Praxis der juristischen Aufarbeitung.Mit dieser Frage beschäftigten sich in den 60er Jahren auch die Studenten. Sie klagtenihre Eltern an, <strong>das</strong>s sie am Krieg teilnahmen und die Täter nach 1945 in ihrer Mitte duldeten.Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durchzieht den ganzen Roman. Durch ihreenge Verbindung zur ersten Generation ist auch die zweite Generation in denSchuldzusammenhang verwickelt. Michael fühlt sich wegen seiner Liebe zu Hannamitverantwortlich.Mit Der Vorleser bietet der Autor eine neue Perspektive an. Hier geht es nicht um dieGeschichte aus Opfersicht, sondern um die Motivation der Täter. Die Hauptfigur will dieBeweggründe der Täter vor allem darum verstehen, weil seine Geliebte in diesem Fall derTäter ist. Hannas Benehmen wird dadurch erklärt, <strong>das</strong>s sie zum eigenen Schutz und zumVerstecken ihrer Schwachstelle so handelt. Ihre Berufstätigkeit hält sie für ihre Pflicht undhandelt folglich danach. Der Schriftsteller bemüht sich zu zeigen, <strong>das</strong>s die Täter keineMonster, sondern Menschen sind, die aus egoistischen und manchmal banalen Motivengrausam handeln. Er betonte dies in einem Gespräch:„Wenn es nicht die menschliche Sicht auf die Täter gäbe, hätten wir kein Problem mitihnen. Erst die menschliche Nähe zu ihnen macht <strong>das</strong>, was sie getan haben, so furchtbar.“ 16Schlink geht es darum, die Handlungsmechanismen zu verstehen und so die eigenemoralische Bedrohung zu erkennen, damit sich solche Gräueltaten nie mehr wiederholenkönnen.Im Zusammenhang mit dem Krieg wird auch viel über die Schuldfrage gesprochen.Man unterscheidet zwischen individueller und Kollektivschuld, zwischen einer moralischenSchuld <strong>im</strong> Bereich der Ethik, einer strafrechtlichen Schuld vor dem Gesetz und einer Sündevor Gott in der Religion. Im Roman können wir alle Typen beobachten. Michael fühlt sichwegen seiner sexuellen Träume schuldig, weil diese <strong>im</strong> Widerspruch zu den Werten seiner16 EGBERS, Michaela. Interpretationen Deutsch. Bernhard Schlink, Der Vorleser. 1. Auflage: StarkVerlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2009. S. 3921


familiären und religiösen Erziehung stehen. Mit dieser Schuld kämpft er sein ganzes Leben.Hauptsächlich geht es um <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s er Hanna durch sein Verhalten verriet.An Hannas Schuld besteht <strong>im</strong> Roman kein Zweifel, allerdings n<strong>im</strong>mt der Erzähler an,<strong>das</strong>s sie „nicht so schuldig war, wie es den Anschein hatte“ (nach B. Schlink 1997:132). Erstellt so <strong>das</strong> Ausmaß ihrer Schuld infrage. Die Ursache für ihr Eintreten in die SS war ihrAnalphabetismus. Als KZ- Aufseherin war sie für den Tod vieler Menschen verantwortlich,was strafrechtlich geahndet werden muss. Aber aufgrund ihrer Unfähigkeit zu schreiben kannsie nicht die Hauptakteurin sein, zu der sie die anderen Angeklagten machen. So befindet siesich – obwohl Täterin – durch ihre Schwäche in der Rolle eines Opfers. Ihre Schuld wird hierrelativiert und der Leser muss allein nach der Antwort suchen.Hanna versucht, sich mit der Vergangenheit <strong>im</strong> Gefängnis auseinanderzusetzen, indemsie Literatur über den Holocaust liest. Es ist unklar, ob Hannas Freitod als Schuldbekenntnisgewertet werden kann. Da der Roman aus der Sicht Michaels erzählt wird, erfährt der Lesernur dessen Wahrnehmung des Falles.Die Geschichte ist nicht nur als Einzelschicksal interessant. Vielmehr repräsentiert siedie Verwicklung einer ganzen Generation in den NS – Schuldzusammenhang.„ Wie sollte es ein Trost sein, <strong>das</strong>s mein Leiden an meiner Liebe zu Hanna in gewisserWeise <strong>das</strong> Schicksal meiner Generation, <strong>das</strong> deutsche Schicksal war, dem ich mich nurschlechter entziehen, <strong>das</strong> ich nur schlechter überspielen konnte als die anderen.“ 17Es geht um die Frage der Kollektivschuld. Nach (M. Egbers 2009:45) hielt die zweiteGeneration, zu der Michael gehört, der ersten die aktive Beihilfe <strong>im</strong> Nazi – Reg<strong>im</strong>e und dieDuldung der Gräueltaten vor. Der Vorwurf lautet weiter, <strong>das</strong>s sich die erste Generation ausSelbstschutz hinter einer Maske versteckt und nichts Kompromittierendes aus ihrerVergangenheit preisgibt.Und so wird der Schuldzusammenhang auch <strong>von</strong> Michael <strong>im</strong> Roman wahrgenommen:„Was <strong>im</strong>mer es mit Kollektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nichtauf sich haben mag – für meine Studentengeneration war sie eine erlebte Realität.“ 1817 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 16322


4.6 Kritische RezeptionDie fast nur positive Kritik des Romans war selbst für Bernhard Schlink eineÜberraschung, weil er sein Buch als „politisch inkorrekt“ bezeichnet und eher negativeKritiken erwartet hatte (nach M. Heigenmoser 2005: 98).Die deutschsprachige Kritik nahm den Roman nach seinem Erscheinen zunächstpositiv auf. Auch international wurde er durch die angloamerikanische und französischePresse überwiegend positiv bewertet. In Israel wurde auf die Darstellung der Opfer besonderssensibel reagiert und diese durchaus kontrovers diskutiert. Claus-Ulrich Bielefeld empfindetSchlinks Erzählweise als betulich und selbstgewiss:„Betulich und umständlich breitet er die Geschichte vor uns aus, penibel pinselt erFünfziger-Jahre Kolorit, und auch mit seinen Kommentaren hält er nicht hinter dem Berg.Hier gibt es weder Schrecken noch Angst, weder Tabus noch Tabuverletzungen. Mitenervierender Selbstgewiβheit, ohne je zu stocken, wird über alles hinwegerzählt. Dürftig sinddie Reflexionen, die über <strong>das</strong> Schicksal meiner Generation angestellt werden; sie zeugenzudem <strong>von</strong> erstaunlicher Selbstgerechtigkeit.“ 19Auch in Böhmen erschienen Rezensionen über <strong>das</strong> Werk, die sehr positiv waren.Viktor Šlajchrt schrieb für die Zeitschrift Respekt, <strong>das</strong>s der Roman in sehr klarer und kalterSprache geschrieben ist und seine Kraft in der feinen Abwägung zwischen vielfältigenElementen besteht, aus denen sich die Last der Vergangenheit zusammensetzt.„Pokud bychom Schlinkův příběh považovali za pokus o symbolické zobrazení avyhodnocení německé viny, museli bychom jej odmítnout jako nehoráznou relativizaci. Sílatextu však nespočívá v jasném zobrazení, ale v jemném a nekonečném vážení rozmanitýchsložek, z nichž se skládá tíha minulosti.“ 2018 SCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, Zürich: Diogenes Verlag AGZürich, 1997. S. 16119 HEIGENMOSER, Manfred. Erläuterungen und Dokumente. Bernhard Schlink, Der Vorleser. Stuttgart:Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, 2010. S. 10520 Šlajchrt, Viktor. Respekt. 1999, 10 (11), s. 1723


4.7 Der FilmDas Interesse der Öffentlichkeit bleibt jedoch ungebrochen, was sich auch daran zeigt,<strong>das</strong>s Der Vorleser verfilmt worden ist.Der Film wurde <strong>im</strong> Jahr 2008 nach dem gleichnamigen Roman <strong>von</strong> Bernhard Schlinkgedreht. Es ist notwendig zu sagen, <strong>das</strong>s der Film dem Buch nicht gerecht wird. Nach (I.Přivřelová, Lidové noviny 2009) wurde Kate Winslet, die die Titelrolle spielte, völlig zuRecht mit dem Oscar ausgezeichnet. Sie stellte die Hanna Schmitz genauso dar, wie Schlinkdie Figur <strong>im</strong> Buch beschreibt. Aber aus dem Roman wurde ein langer, trauriger und kalterFilm. Das Kriegsthema bringt <strong>im</strong>mer viele Emotionen, aber in dieser Bearbeitung findet derZuschauer die Gefühle nur schwer. Auch <strong>das</strong> Holocaustthema ist hier nur mäβig bearbeitetund man kann nichts Neues erfahren. Das einzige, was erhalten bleibt, ist, <strong>das</strong>s der Film vieleFragen auslöst und den Menschen zum Nachdenken zwingt.„Proměna Předčítače z knihy do filmu tak dokonalá bohužel není. Z románu se staldlouhý, úhledně smutný, chladný film, kterému stačí elegantně se klouzat po okraji těžkých ahlubokých ran. Pouze Winsletová je v roli Hanny přesně taková, jak ji Schlink napsal.“ 21Auch eine deutsche Rezension zeigt, <strong>das</strong>s der Film die Erwartungen nicht erfüllt. DemBuch kann mit dem Film keine Konkurrenz gemacht werden. Joach<strong>im</strong> Kurz bewertet dieVerfilmung als ziemlich positiv, aber der Roman wurde nicht übertroffen. Der Film kommtallerdings durchaus dem Zweck zugute, die Masse der Leute in die Kinos zu locken.„Auch wenn die Geschichte sich weitgehend <strong>werk</strong>getreu an Schlinks Buch hält, derdistanzierte und kühl berichtende Tonfall des Schriftstellers wird auf dem Altar des groβenGeschichtsmelodrams geopfert, was dem Film zwar eine gewisse Massenwirkung sicherndürfte, dem Roman aber nicht wirklich gerecht wird.“ 2221 Přivřelová, Iva: „Předčítač stojí víc za přečtení“ 22 Kurz, Joach<strong>im</strong>: „Berlinale 2009: Wettbewerb (Auβer Konkurenz)“ 24


5 Die He<strong>im</strong>kehr und der Schatten der deutschen Kriegsschuld5.1 Die HandlungDie Hauptfigur, der Lektor eines deutschen Verlages, Peter Debauer, sucht nach demAutoren eines unbeendeten Romans über die He<strong>im</strong>kehr eines deutschen Soldaten aus Sibirien,den er einst in seiner Kindheit las. Während seiner Forschungen begegnet er seinerLebenspartnerin Barbara und nur durch Zufall bekommt er überraschend Informationen überseinen angeblich toten Vater, der auch der Autor des Romans ist. Für Peter ist es jedoch einegroβe Enttäuschung, als er <strong>von</strong> seiner Mutter erfährt, <strong>das</strong>s ihn sein Vater als kleines Kindverließ. Die Suche wird zur Besessenheit, mit seinem Vater zusammen zu treffen. Peter gibtsich als ausländischer Student aus und besucht die Vorlesungen des Vaters. Aber dieVorstellung, die Peter sich <strong>von</strong> seinem Vater machte, entspricht nicht der Wirklichkeit. Erkommt, unerkannt vom Vater, nach Hause zurück.5.2 Das Motiv der He<strong>im</strong>kehr aus dem KriegDie He<strong>im</strong>kehr eines lange fern <strong>von</strong> der He<strong>im</strong>at und der Familie gewesenen Mannes isteine der spannenden Situationen, die sich <strong>im</strong>mer wieder ereignen und die Teilnahme derMiterlebenden auf sich lenken. Die zu manchen Berufen gehörige Wander- und Bildungszeit,der Drang, sein Glück in der Ferne zu suchen, vor allem aber Kriege und in ihrer FolgeVerletzung und Gefangenschaft verursachen oft eine so einschneidende Trennung <strong>von</strong> denDahe<strong>im</strong>gebliebenen, <strong>das</strong>s sich auf beiden Seiten Veränderungen vollziehen, welche dieersehnte He<strong>im</strong>kehr zur Enttäuschung werden lassen. Nahe Angehörige können gestorben seinoder ihre Gesinnung geändert haben, die Braut und Frau andere Bindungen geschlossenhaben. (Nach E. Frenzel 1999: 328)Der Roman ist <strong>von</strong> verschiedenen Rückkehrten geprägt. Das Motiv der He<strong>im</strong>kehrwiederholt sich <strong>im</strong>mer wieder, was zweifellos zum Kriegsmotiv gehört. Zuerst handelt es sichum die He<strong>im</strong>kehr eines Soldaten, dessen Geschichte Peter liest. Diese Erzählung vermitteltdem Leser einen Einblick, wie der Krieg <strong>das</strong> Schicksal des Menschen beeinflussen kann. Deraus der Gefangenschaft zurückkehrende Soldat Karl träumt <strong>von</strong> dem Wiedersehen mit seinerFrau, aber zuerst muss er verschiedene Hindernisse überwinden und auch dann ist <strong>das</strong>25


glückliche Ende nicht sicher. In dem unabgeschlossenen Roman über den Soldaten kann mansehen, wie der Krieg den Menschen direkt berührt. Viele Menschen starben während desKrieges, andere überlebten, mussten aber nach der He<strong>im</strong>kehr feststellen, <strong>das</strong>s ihre Frauenschon mit einem anderen Mann zusammen lebten.Das nächste Motiv des Zurückkommens, <strong>das</strong> <strong>im</strong> Roman sehr oft erscheint, ist HomersOdysseus. Es ist <strong>das</strong> Thema des Wanderns, des Weges und des Suchens. Wie die HauptfigurPeter Debauer feststellt, war gerade Odysseus die Vorlage für den Roman über denRückkehrer:„Vermutlich hatte der Autor meines Romans daraus die anderen, auf den nichterhaltenen Seiten beschriebenen Abenteuer gestaltet. Aus der Begegnung mit Polyphem <strong>das</strong>Verschüttetwerden in einer Höhle, aus der Karl und seine Kameraden sich listig an denrussischen Rettungsmannschaften vorbeistehlen müssen? Aus Kirke eine sibirischeschamanische Zauberin? Aus den Sirenen Sängerinnen vom Chor des KGB? Der Autor hattenach Herzenslust variiert.“ 23Das dritte Zurückkehren betrifft die Hauptfigur Peter Debauer. Nachdem er seinenVater gefunden hat, entscheidet er sich, nach Hause zu seiner Partnerin Barbarazurückzukommen. In Peters Fall geht es um die Suche nach der eigenen Identität, nach seinerHerkunft, nach einem Gefühl <strong>von</strong> He<strong>im</strong>at. Er hat eine Vorstellung <strong>von</strong> seinem Vater. DieErwartung wird ihm leider nicht erfüllt und schlieβlich kommt er enttäuscht nach Hause.„Manchmal hab ich Sehnsucht nach dem Odysseus, der <strong>von</strong> Wenzel Strapinski dieListen und Lügen des Hochstaplers gelernt hat, ungeduldig ins Leben aufgebrochen ist,Abenteuer gesucht und bestanden hat, mit Charme meine Mutter gewonnen, mit Lust Romanezur Freude und zur guten Unterhaltung geschrieben. Aber ich weiβ, <strong>das</strong>s es nicht dieSehnsucht nach Johann Debauer oder nach John de Baur ist. Es ist nur die Sehnsucht nacheinem Bild, <strong>das</strong> ich mir <strong>von</strong> meinem Vater gemacht und an <strong>das</strong> ich mein Herz gehängthabe.“ 2423 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 9524 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 37526


Schlinks Darstellung <strong>von</strong> der He<strong>im</strong>kehr der Hauptfigur kann man auch als Suche nachHarmonie, Lebenssinn und Lebensglück verstehen.5.3 Peter Debauer und sein VaterPeter wurde <strong>von</strong> seiner Mutter und seinen Groβeltern erzogen. Über seinen Vater weiβer nur, <strong>das</strong>s er während des Krieges starb, und weil er keine Einzelheiten <strong>von</strong> ihm kennt, hater ein schiefes Bild <strong>von</strong> ihm. Die Mutter sprach nie über seinen Vater, aber die Groβelternwaren mitteilsamer:„Manchmal haben die Groβeltern meinen Vater erwähnt, so angelegentlich, soselbstverständlich, <strong>das</strong>s ich nicht <strong>das</strong> Gefühl hatte, sie wollten sich der Auskunft über ihnverweigern.“ 25Man kann sagen, <strong>das</strong>s es sich um einen unglaublichen Zufall handelt, der Peter zuseinem Vater bringt. Er führt ein normales Leben. Sein Verhältnis mit der Mutter ist nicht sowarm und auch in Liebesbeziehungen erlebt er Enttäuschungen. Sein Leben ist ausgefüllt <strong>von</strong>der Suche nach dem Autoren des unfertigen Romans. Erst Barbara, die er bei seiner Suchekennen lernt, will er heiraten. Und gerade unter diesen Umständen erfährt er, <strong>das</strong>s sein Vaterlebt und er entdeckt dessen wirklichen Charakter. Sein Vater ist nicht nur der Autor derGeschichte über den Soldaten, sondern auch der Autor Der eisernen Regel, die die Taten des2. Weltkriegs verteidigt.„Wo ich den Tod gewärtige, habe ich auch <strong>das</strong> Recht zu töten. Ich gewärtige den Tod,wo ich den Kampf auf Tod und Leben annehme, gleichgültig, ob er erklärt wird und wer ihnerklärt. Die Juden greifen uns nicht an? Sie wollen in Ruhe ihre Geschäfte machen, ihrenSchacher und Wucher treiben? Die Slawen wollen nur ihre kleinen Äcker bestellen, ihr Brotbacken und ihren Fusel brennen? Das kann sie nicht schützen. Deutschland hat den Kampfauf Leben und Tod mit ihnen angenommen.“ 2625 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 2926 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 16827


Die Figur <strong>von</strong> Peters Vater, die bisher <strong>im</strong>mer <strong>von</strong> Gehe<strong>im</strong>nissen umwittert war,bekommt ein neues Ausmaβ. Die Forschung nach einem unbekannten Schriftsteller ändertsich in die Suche nach der eigenen Identität. Peter ist besessen <strong>von</strong> dem Treffen mit seinemVater, aber er ahnt schon, <strong>das</strong>s eine groβe Enttäuschung auf ihn wartet, denn seine Vorstellungvom Vater entspricht nicht der Wirklichkeit. Im Vergleich zu Der Vorleser, wo am Ende desRomans <strong>das</strong> Verhältnis zwischen Mutter und Sohn gelöst wird, beschäftigt sich der Autor hiersehr eingehend mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn.5.4 Die Figur <strong>von</strong> John de BaurDer Einfluss des Zweiten Weltkriegs ist an dem Leben und den Meinungen <strong>von</strong> PetersVater ersichtlich. Der Krieg zeigt seine Auswirkungen in allen Bereichen seines Lebens.Zuerst ist es nur ein unschuldiger Roman über einen Soldaten, der aus dem Kriegzurückkommt.Die in dem Buch zitierten Ausschnitte seiner Eisernen Regel decken seine nazistischeVergangenheit auf. Er war als Kriegskorrespondent tätig. Der Leser kann die Verteidigung derKriegstaten beobachten.„Wir waren ein zerrissenes Volk, in dem Arm gegen Reich, der Fabrikarbeiter gegenden Fabrikherren, Land gegen Stadt, Bürger gegen Adel, Geld gegen Geist standen. In denletzten zwölf Jahren wurde, was uns getrennt hat, versöhnt. Wir sind Gemeinschaft geworden.Wir waren ein krankes Volk – die Kultur entartet, die Gesellschaft verjudet, <strong>das</strong> Erbgutverseucht. In den letzten zwölf Jahren haben wir, was unserem Geist und unserem Körpergeschadet hat, abgestoβen und ausgemerzt. In der Welt stehen wir erst an seinem Anfang, amAnfang eines tausendjährigen Kampfs.“ 27Die Figur hat aber nicht nur negative, sondern auch positive Eigenschaften. In demBuch wird seine rhetorische Begabung hervorhoben. Er hat die Gabe, einen Menschen <strong>von</strong>seiner Meinung zu überzeugen, alle seine Gedanken und Meinungen kann er überzeugend27 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 17728


erklären und verteidigen. Die Kunst der Argumentation ist die einzige Eigenschaft, die Peteran seinem Vater bewundert.De Bauers harte Natur wird in seinem exper<strong>im</strong>entellen Seminar offensichtlich, wo er<strong>das</strong> Verhalten der Beteiligten untersucht.„Exper<strong>im</strong>ent? Was sollte die Woche eigentlich zeigen, was de Baur nach all denSeminaren, die er hier veranstaltet hatte, noch nicht wusste? De Baur wollte uns nichterforschen, sondern formen.“ 28Peters Vater bemüht sich, mit seinen Theorien seine Vergangenheit zu rechtfertigen. Erschämt sich nicht für seine Meinungen, eher will er Erklärungen dafür abgeben.28 SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. S. 35429


6 Liebesfluchten6.1 Die BeschreibungVom zweideutigen Titel ausgehend handelt es sich entweder um die Flucht vor derLiebe, oder um die Liebe als Zufluchtsort. Die durchgehend männlichen Protagonistenmüssen sich mit diesem Thema auseinander setzen. Die meisten <strong>von</strong> ihnen sind schon älterund blicken auf ihr Leben zurück. Das ist ein Unterschied zu der Hauptfigur in Der Vorleser,die ein fünfzehnjähriger, unerfahrener Junge ist.Das Hauptthema der Geschichte ist meistens eine Liebe, die schon gescheitert ist oderunerfüllt bleibt. Die sieben Erzählungen sind Geschichten <strong>von</strong> Schicksalen verschiedenerMenschen, Geschichten <strong>von</strong> unerfüllten Träumen und Sehnsüchten. Für meine Arbeit sindzwei Geschichten tragend: Das Mädchen mit der Eidechse und Die Beschneidung, wo <strong>das</strong>Kriegsmotiv erscheint.6.2 Das Mädchen mit der Eidechse6.2.1 Die HandlungDie Geschichte handelt <strong>von</strong> dem gleichnamigen Gemälde des fiktiven MalersDalmann. Es werden zwei Themen angeschnitten. Zum einen die Lügen und <strong>das</strong>Verschweigen der Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel des Vaters des Protagonisten undzum anderen <strong>das</strong> Scheitern der Beziehungen aufgrund falscher Vorstellungen.Der Vater hat als Richter unter dem Druck der Nationalsozialisten dem MalerDalmann <strong>das</strong> Gemälde geraubt, aber er ließ seine Umgebung in der Vermutung, <strong>das</strong>s er es alsGeschenk für seine Hilfe bekam. In Wirklichkeit bereicherte er sich an dem Besitz derverurteilten Juden.Der Protagonist der Geschichte wird <strong>von</strong> dem Gemälde beeinflusst und er sehnt sichnach weiblicher Zärtlichkeit. Diese Sehnsucht entspringt dem Mangel an Liebe seitens derMutter. Sie hasst <strong>das</strong> Gemälde, weil es sie an die Vergangenheit erinnert. Zum Schlussbekommt er die Erklärung und trennt sich <strong>von</strong> dem Bild.30


6.2.2 Einfluss des KriegesDer Autor beschäftigt sich nicht mit dem Krieg direkt, sondern zeigt lediglich dessenFolgen und Einfluss. Der Vater des Protagonisten war ein Kriegsrichter <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg.Während seiner Tätigkeit verurteilte er einen befreundeten Offizier, der Juden ohne Passgeholfen hatte, sich der Festnahme durch die Polizei zu entziehen. Es wurde ihmvorgeworfen, den Offizier aus eigennützigen Beweggründen zum Tode verurteilt zu haben.Der Vater kämpft <strong>das</strong> ganze Leben mit seiner Vergangenheit und versucht, sich mit derSchuld abzufinden. Aber es gelingt ihm nicht. Es verletzt die Familienverhältnisse und vorallem beeinflusst es <strong>das</strong> Verhalten der einzelnen Mitglieder der Familie. Er lebt ständig inAngst und ist seiner Umgebung gegenüber misstrauisch, als ob er wartet, <strong>das</strong>s jemand etwasüber seine Taten erfährt.„Was der Junge als Distanz zwischen seiner Familie und den anderen Menschenwahrnahm, war nicht diese Förmlichkeit und Distanziertheit, sondern etwas anderes. Es hattedamit zu tun, <strong>das</strong>s auch die Eltern etwas zurückzuhalten oder zu verbergen schienen. Siewaren auf der Hut.“ 29Der Vater bemüht sich, seine Handlung zu rechtfertigen. Er sammelt alleZeitungsartikel zu seinem Fall und schreibt sich Notizen zu seiner Verteidigung auf.„Vater hat alles richtig gemacht? Die anderen haben es nur falsch verstanden? Er hatParagraphen aus dem Strafgesetzbuch abgeschrieben. Er hat sie abgeschrieben, um zuzeigen, <strong>das</strong>s er nicht bestraft werden kann. Aber es liest sich entsetzlich. Es liest sich, alswürde er alles zugeben, aber darauf bestehen, er habe sich damit nicht strafbar gemacht.“ 30Seine Vorwürfe ertränkt er <strong>im</strong> Alkohol, der ihm zum Verhängnis wird.29 SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. S. 1130 SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. S. 45-4831


6.2.3 Die Beziehung zwischen Mutter und SohnDas Verhältnis einer Mutter zu ihrem Sohn ist meistens liebevoll und warm. Dies trifftaber nicht diesen Fall zu. Die Mutter in der Erzählung ist kalt und distanziert, was damitzusammenhängt, wie sie ihren Sohn empfangen hat.„Hat Vater dich, als du mich empfangen hast, vergewaltigt? War es, als er inStraβburg war und gemeine Sachen machte und was mit der Jüdin hatte? Kam er einesNachts, und du wuβtest <strong>von</strong> der anderen und wolltest nicht mit ihm schlafen, und er hat sichnicht darum geschert, was du wuβtest und wolltest, und hat dich vergewaltigt? So bin ich indie Welt gekommen?“ 31Mit der Zeit lernt sie, mit ihren seelischen Wunden zu leben, allerdings ist es ihr dahernicht möglich, sich auf ihren Sohn einzulassen. Sie schließt ihn in gewisser Weise aus ihremLeben aus, denn er trat gewaltsam in ihr Leben und stellt so eine schmerzliche Erinnerung andie Vergewaltigung dar und stört den Prozess der Verdrängung.Es ist ihr unmöglich, sich <strong>von</strong> ihrem Mann zu trennen, weil dieser zu ihremLebensinhalt geworden ist.6.3 Die Beschneidung6.3.1 Die HandlungEin deutscher Student namens Andi begegnet in New York der Frau seines Lebens, derJüdin Sarah. Konflikte sind vorbest<strong>im</strong>mt, da ihre Familie fest mit der jüdischen Tradition undKultur verbunden ist, während Andis Vater <strong>im</strong> 2. Weltkrieg auf Seiten der Deutschen diente.Andi zeigt Interesse an der fremdem Kultur, aber Sarahs Familie hält ihn für einen typischenDeutschen, was dazu führt, <strong>das</strong>s sich Andi permanent genötigt sieht, sich für seineNationalität und Meinungen zu rechtfertigen. Auch Sarah beginnt, ihm Schuldgefühle wegendes Holocausts zu machen. Dies mündet in Andis Entscheidung, zum Judentum zu31 SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. S. 5032


konvertieren. Er unterzieht sich der Beschneidung, aber Sarah erkennt den Grund dafür nichtund Andi weiß schon, <strong>das</strong>s seine Beziehung zerstört ist.6.3.2 Der Deutsche und die JüdinDie unüberwindbaren Glaubensunterschiede zwischen den Hauptprotagonisten führenzum Untergang ihrer Beziehung. Andi muss vor Sarahs Familie seine Gedanken <strong>im</strong>merverteidigen, aber sie sind voll <strong>von</strong> Vorurteilen und er hat keine Chance, in diesem Kampf zubestehen. Anfangs bemüht sich Sarah, die Unterschiede zu übersehen, aber <strong>im</strong> Laufe der Zeitnutzt sie jeden Vorwand, einen Streit auszulösen. Der Rahmen, in dem sich die Streitsbewegen, ist <strong>im</strong>mer der gleiche: zusammenfassend wirft Sarah Andi vor, Deutscher zu sein,woran er aber nichts ändern kann, da es Teil seiner Identität ist. Sarah kann den Umstand, <strong>das</strong>ser Deutscher ist, eigentlich nicht ertragen. Ihre Familie scheint nach außen hin freundlich,aber auch sie haben ein Problem mit seiner Nationalität.„Das Schl<strong>im</strong>mste wäre, wenn die Buben einmal eine Frau heiraten würden, die nichtJüdin ist. Wie soll mein Sohn glücklich sein, wenn er nicht mehr jüdisch ist? Die zweiteGeneration kehrt nicht wieder zum Judentum zurück. Sicher gibt es einzelne Fälle. Aberstatistisch ist, wer eine Mischehe eingeht, für <strong>das</strong> Judentum verloren.“ 32Da Andi seine Nationalität nicht zu ändern vermag und er sich für die Geschichteseines Landes bisher auch nicht schuldig fühlte, da sie seine Generation nicht direkt betrifft,versucht er sich zu rechtfertigen und damit zu entschuldigen, <strong>das</strong>s er nicht fähig ist, dieSchuld einer vergangenen Generation zu tragen.Die deutsche Vergangenheit wird mehr und mehr <strong>das</strong> Hauptthema der Konversationund bei einer gemeinsamen Deutschlandreise bemerkt Andi, <strong>das</strong>s Sarah jede Gelegenheit zuergreifen scheint, um über die deutsche Kultur zu spotten und ihn damit herauszufordern. Umdem fortlaufenden Neuaufgreifen ihres Streits aus dem Weg zu gehen, bemüht er sich um diebereits erwähnte Selbstzensur, indem er jedes Thema zu meiden versucht, was irgendwieeinen erneuten Konflikt herbeiführen könnte.32 SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. S. 210-21133


An der Gestalt <strong>von</strong> Sarah ist zu sehen, <strong>das</strong>s sie sich <strong>von</strong> der Vergangenheit nichtlosreißen kann. Sie verteidigt ihre Ansichten zu Lasten ihrer Beziehung.„Vielleicht ist es eine besondere Vergangenheit? Ja, für meine Verwandten haben dieDeutschen eine besondere Vergangenheit gemacht. Aber es ist nicht kompliziert. Das Richtigeist einfach.“ 33Andi ist ein Typ des Helden, der alles für die Liebe macht. Er ist bereit, auf seineAnsichten zu verzichten. Wegen der Rettung der Beziehung unterzieht er sich derBeschneidung und entscheidet sich, zum Judentum zu konvertieren, um Sarah seine Liebe zubeweisen und um ihr zu zeigen, <strong>das</strong>s seine Individualität und ihre Liebe ihre Geschichte undseine Nationalität zweitrangig sein lassen. Aber gegen Sarahs Vorurteile hat die Beziehungkeine Chance.33 SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. S. 226-22734


7 Detektiv SelbDetektiv Gerhard Selb ist die Hauptfigur der Kr<strong>im</strong>inalromane <strong>von</strong> Bernhard Schlink.Der 68jährige Privatdetektiv lebt und arbeitet in Mannhe<strong>im</strong>. Er studierte zur Zeit des NS-Reg<strong>im</strong>es Rechtwissenschaften und arbeitete vor seiner Detektivtätigkeit als Nazi-Staatsanwalt. Er hat ein eigenes Detektivbüro und löst verschiedene Kr<strong>im</strong>inalfälle. DieGeschichten sind in die Gegenwart eingebaut, aber Selb geht mit seinen Gedanken oft in dieeigene Vergangenheit zurück. Der Leser folgt der spannenden Handlungslinie, doch <strong>das</strong>eigentliche Thema dieses Buches ist die Frage nach der Verantwortung und der Aufarbeitungder braunen Vergangenheit Deutschlands und danach, ob man einem Menschen dessen Tateneinfach so vergeben kann.Der Krieg zeigt sich nicht in den Werken direkt, sondern nur mittels SelbsErinnerungen. Die Hauptfigur lebt ein einsames Leben, untersucht seine Fälle und erst in derHälfte des Romans Selbs Justiz erfährt der Leser etwas über seinen Beruf <strong>im</strong> ZweitenWeltkrieg.„Nach Kriegsende wollte man mich nicht mehr. Ich war überzeugter Nationalsozialistgewesen, aktives Parte<strong>im</strong>itglied und ein harter Staatsanwalt, der auch Todesstrafen gefordertund gekriegt hat. Es waren spektakuläre Prozesse dabei. Ich glaubte an die Sache undverstand mich als Soldat an der Rechtsfront, an der anderen Front konnte ich nach meinerVerwundung gleich zu Beginn des Krieges nicht mehr eingesetzt werden.“ 34In dem Roman trifft Selb auf einen Kr<strong>im</strong>inalfall, der ihm seine Erinnerungen wiederbringt. Er ist schon ein alter Mann und kümmerte sich bisher wenig um die Vergangenheit,aber bei der Lösung dieses Falls wird er mit seinen vergangenen Taten konfrontiert.„Ich hatte geplant, in Frieden mit meiner Vergangenheit zu leben. Schuld, Sühne,Enthusiasmus und Blindheit, Stolz und Zorn, Moral und Resignation – <strong>das</strong> alles hatte ich inein kunstvolles Gleichgewicht gebracht. Die Vergangenheit war darüber zur Abstraktiongeraten. Nun hatte die Realität mich eingeholt und gefährdete <strong>das</strong> Gleichgewicht.“ 3534 SCHLINK, Bernhard. SelbsJustiz. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 1987. S. 12035 SCHLINK, Bernhard. SelbsJustiz. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 1987. S. 21435


Am Ende des Romans wird bekannt, <strong>das</strong>s Selb unbewusst zwei Menschenleben aufdem Gewissen hat. Die Bemühung, die bösen Taten gutzumachen, spiegelt sich in der Sorgfaltwieder, mit der er alle seine Fälle untersucht.36


8 ZusammenfassungDas Ziel meiner Arbeit war es, die Kriegsmotive zu suchen, die einzelnen Schicksaleder Helden, die der Krieg in irgendeiner Weise betraf, zu entdecken und vor allem zubeschreiben, wie der Krieg, der schon zur Vergangenheit gehört, <strong>das</strong> Leben mancher Leutebeeinflussen kann.Der erste Teil der Arbeit war dem Autor Bernhard Schlink gewidmet. Ich beschriebsein Leben und Werk, und auch <strong>das</strong>, wie einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller derGegenwart zum Schreiben kam. In seinen Werken beschäftigt er sich mit der Relativierungder deutschen Schuld für die Taten des Zweiten Weltkriegs und als Jurist bringt er einenneuen Blick auf diese Problematik. Meistens wird dem Leser der Krieg direkt vermittelt, aberSchlink geht es anders an. Der Leser muss nachdenken und kann sich dann selbst eineMeinung bilden.Im nächsten Teil habe ich mich bemüht, die Entwicklung der deutschen Literatur nachdem Zweiten Weltkrieg anzudeuten. Die Literatur wurde durch die Kriegsfolgen beeinflusstund musste bei Null beginnen. Es entstanden neue Werke, in denen der Krieg und seinEinfluss dargestellt wurden. Ein wichtiger Vertreter der Nachkriegsliteratur war HeinrichBöll, der den Krieg in seinen Werken mit allen Gräueln schilderte.Ich bearbeitete in meiner Arbeit Schlinks Werke in denen ein Kriegsmotiv erscheint.Eine tragende Bedeutung für meine Arbeit hatte der Roman Der Vorleser. Ich unternahm eineAnalyse des Werks, der einzelnen Figuren und der gegenseitigen Beziehungen. Ich ermittelte,<strong>das</strong>s der Krieg <strong>im</strong>mer nur eine Person in dem Werk direkt berührt, und die anderenProtagonisten nur mittels der Beziehung zu der Person und ihrem Schicksal verbunden sind.In Der Vorleser ist es Hanna, die die direkte Erfahrung als Aufseherin hat, und derenKriegserfahrung dann die weiteren Ereignisse beeinflusst.Das wichtigste Motiv, <strong>das</strong> sich <strong>im</strong>mer in größerem oder kleinerem Maße in jedemWerk wiederholte, war <strong>das</strong> Motiv der Kollektivschuld. In den Augen mancher Leute bleibt diedeutsche Nation aus dem Prinzip der Kollektivschuld heraus ewig für die Taten des ZweitenWeltkriegs verantwortlich. Kollektivschuld bedeutet, <strong>das</strong>s die Schuld für eine Tat nicht demeinzelnen Täter angelastet wird, sondern einem Kollektiv, einer Nation. Viele Jahre nach demKrieg wird die neue Generation, die mit den Ereignissen der Vergangenheit nichts zu tun hat,beschuldigt. Dies ist hauptsächlich in der Erzählung Die Beschneidung zu sehen. Schlinkstellte zwei unterschiedliche Welten gegenüber. Einerseits ist da die Jüdin und andererseits37


der Deutsche. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs wären die beiden Opfer und Täter gewesen.Schlink erdenkt die Geschichte eines Verhältnisses, <strong>das</strong> <strong>im</strong> Voraus zum Scheitern verurteiltist. 50 Jahre nach dem Krieg sind die Vorurteile gegen Deutsche allgegenwärtig und Sarahmeint am besten zu wissen, wer <strong>im</strong> Recht ist.Der Autor findet diese Frage nicht so einfach. Es ist notwendig, sich an die Taten derVergangenheit zu erinnern, damit ähnliche Gräueltaten verhindert werden. Aber soll man dieheutige Generation für die Taten ihrer Väter strafen oder verdammen? Das ist nur schwer zubeurteilen. Schlink wirft die Frage auf, wer eigentlich <strong>das</strong> Opfer ist. Aus seinen Werken istoffensichtlich, <strong>das</strong>s er als Deutscher zu der deutschen Seite neigt, aber er entschuldigt dieKriegsereignisse nicht. Er bietet die Ansicht dar, <strong>das</strong>s man nicht alle Leute in einen Topfwerfen und <strong>das</strong>s man sich <strong>von</strong> seinen Vorurteilen befreien muss.38


ResuméThis thesis called “Image of war in the work of Bernhard Schlink” deals with adescription and evaluation of some of the author´s works, in which the motive of the war andguilt can be found.The first part is focused on the description and milestones within the author´s life andwork. As a source of information, I have chosen a German book dedicated to theinterpretation of his most famous work The Reader, as well as his life and work.Consequently, I try to summarize the development of the German literature after the WorldWar II.The main part deals with descriptions of the particular works, in which <strong>im</strong>ages of warcan be observed. My goal has been to find these war motives such as guilt or coping with theGerman past. The most significant work with the most intensive reflection of war is TheReader.To conclude, the summary of the thesis is included.39


Literatur- und QuellenverzeichnisPr<strong>im</strong>ärliteraturSCHLINK, Bernhard. Der Vorleser. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 1997. ISBN 3-257-22953-4SCHLINK, Bernhard. Předčítač. 5. vydání, Praha: PROSTOR, nakladatelství, s.r.o., 2009.ISBN 978-80-7260-210-0SCHLINK, Bernhard. Die He<strong>im</strong>kehr. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2006. ISBN 3-257-06510-8SCHLINK, Bernhard. Návrat. 1. vydání, Praha: PROSTOR, nakladatelství, s. r. o. , 2007.ISBN 978-80-7260-170-7SCHLINK, Bernhard. Liebesfluchten. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 2001. ISBN 978-3-257-23299-8SCHLINK, Bernhard. Útěky z lásky. Praha: PROSTOR, nakladatelství, s. r. o. , 2001. ISBN80-7260-058-3SCHLINK, Bernhard. Selbs Justiz. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 1987. ISBN 3-257-21543-6SCHLINK, Bernhard. Spravedlnost podle Selba. Praha: PROSTOR, nakladatelství, s. r. o.,2009. ISBN 978-80-7260-213-1SCHLINK, Bernhard. Selbs Betrug. Zürich: Diogenes Verlag AG Zürich, 1994. ISBN 3-257-22706 x40


SekundärliteraturHEIGENMOSER, Manfred. Erläuterungen und Dokumente. Bernhard Schlink, Der Vorleser.Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, 2010. ISBN 978-3-15-016050-3EGBERS, Michaela. Interpretationen Deutsch. Bernhard Schlink, Der Vorleser. 1. Auflage:Stark Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2009. ISBN 978-3-86668-132-3RÖSCH, Herbert; ZIRBS, Wieland; NUSSER, Bernd; RUCH, Hermann; PAWLU, Erich.Grundlagen, Stile, Gestalten der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung, ersteAuflage, Berlin: Cornelsen Verlag, 1996. ISBN 3-464-63801-4KOUŘIMSKÁ, Milada; FOŘTLOVÁ, Růžena; GÖRSCH, Horst; HOMOLKOVÁ, Božena;HOUSKA, Leoš. Zur Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Länder.1. Auflage,Praha: Vysokáškola ekonomická v Praze, 1991. ISBN 80-7079-062-8FRENZEL, Herbert A. und Elisabeth. Daten deutscher Dichtung, Chronologischer Abriβ derdeutschen Literaturgeschichte, Band 2:Vom Realismus bis zum Gegenwart. 21. Auflage,München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, 1984. ISBN 3-423-03004-6SCHNELL, Ralf. Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: J. B.Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, 1993. ISBN 3-476-00914-9FRENZEL, Elisabeth. Motive der Weltliteratur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1999. ISBN3-520-30105-941


InternetquelleKurz, Joach<strong>im</strong>: „Berlinale 2009: Wettbewerb (Auβer Konkurenz)“ (21.06.2012)Přivřelová, Iva: „Předčítač stojí víc za přečtení“ (21.06.2012)ZeitungŠLAJCHRT, Viktor. Respekt. 1999, 10 (11). ISSN 0862-6545KARFÍK, Vlad<strong>im</strong>ír. Literární noviny. 1998, 9 (19). ISSN 1210-002142

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!