Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009Univerbierung. Verschmelzung von syntaktisch selbständigen, meist benachbarten Konstituenten zu einemWort. Ein Sonderfall der Univerbierung ist die Inkorporation: Univerbierung einer abhängigen Konstituente mitdem Kopf der Konstruktion, z.B. eines Komplements in das Verb (radfahren, kaltstellen) oder eines Attributs indas Nomen (Meeresrauschen, Schafskopf: „uneigentliche“ Komposita). Hinweis: Zusammenrückung ist eineBezeichnung für einen <strong>Wortbildung</strong>styp, und zwar für solche Wörter, die allein durch Univerbierung zustandekommen (s. unten).Aufgabe. Diskutieren Sie das Problem der Abgrenzung von Syntax und Morphologie an den folgenden Beispielen:ein tief erschütterndes Bild, mit tief bewegter Stimme – ein tiefschwarzes Kleid, ein tieftrauriges Kind, tiefgekühlteWare; Blut stillendes Medikament – blutstillendes Medikament; die Milch kalt stellen – den Gegner kaltstellen.Konversion. <strong>Wortbildung</strong>styp: Bildung eines neuen Worts aus einem anderen Wort mit Änderung derBasiskategorie (also mit Transposition) und ohne Affix . In der engeren Definition von Fleischer/Barz: ohneAffix und ohne Mutierung, also ohne formale Änderung des Stamms.6 Arten der <strong>Wortbildung</strong>Auf der Basis der allgemeinen Veränderungstypen (s. oben Abschnitt 3 Morphologische Mittel) werden für diedeutsche Gegenwartssprache folgende Arten der <strong>Wortbildung</strong> unterschieden:• Komposition = Modifikation durch einen Stamm oder mehrere univerbierte Stämme• Derivation (im weiteren Sinn!) = Erweiterung durch Affix (Suffigierung oder Modifikation durchPräfix)• Konversion = Transposition ohne weitere Veränderung (auch mit Univerbierung der Basis).• KürzungEs können auch mehrere Veränderungstypen zusammen auftreten. Es entstehen dann komplexe Mischtypen, diein der <strong>Wortbildung</strong>stheorie unterschiedlich behandelt und benannt werden (dazu unten s.v. Kombinatorische<strong>Wortbildung</strong>). Im folgenden Überblick sind diese zunächst nicht berücksichtigt.(a) Morphologische Erweiterung: Komposition und DerivationWortformStammFlexiveinfacher Stammerweiterter Stamm:erweitert mit1. grün, Grund2. steh-3. scheuß-, -flat, Him-4. Vino-, -thekWortstammKomposition1. blaugrün,Hundehütte,radfahren2. rot-grün, Vorschule3. Him-beere,Vino-thek4. Rhein-Main-Donau-KanalAffix (=Derivativ)Derivation1. ent-stehen, Un-flat2. grün-lich, scheuß-lich3. un-aussprech-lich4. drei-bein-ig(b) Morphologische Kürzung: KurzwortbildungUnterschiedliche Arten der Kürzung von Wörtern oder Wortgruppen: Auszubildende(r) > Azubi, Diskothek> Disko, Professor > Prof. Dazu im einzelnen unten s.v. Kürzung.(c) Kategoriale Veränderung: Konversion und Zusammenrückunggrün > (das) Grün, grün > grün(en), enstehen > das Entstehen, Rad fahren > das Radfahren.Seite | 8
(d) Phonologische Veränderung: „ implizite Derivation“Grund > gründ(en), Hu t> hüt(en), rot > röt(en), find(en) > Fund, zieh(en) > ZugFrage: Ist die implizite Ableitung heute noch produktiv?Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009In allen <strong>Wortbildung</strong>skonstruktionen kann statt eines Stamms auch eine Wortgruppe auftreten, also zumjeweiligen Veränderungstyp Univerbierung hinzukommen:• Kompositum: Einfamilienhaus aus ein(-) Familie + Haus,• Derivation: Gesetzgeber aus Gesetz geb(-) +-er,• Konversion: kaltstellen aus kalt stellen (sog. Zusammenrückung, Inkorporation)Hinweis: Die <strong>Wortbildung</strong> mit nichtnativen Stämmen (Fremdwörtern, Konfixen) zeigt verschiedeneBesonderheiten: die Stämme bilden im deutschen Lexikon ein eigenes Inventar mit mitphonologischen und morphologischen Besonderheiten: Akzentwechsel innerhalb einer Wortfamilie,Endbetonung, volle Endsilbenvokale, besondere Vokale wie Nasalvokale oder hohe Kurzvokale u.a.Die Inventare sind stärker getrennt als im Englischen (hard words) oder Französischen (mots savants),doch gibt es Übergänge und Mischungen (sog. hybride Bildungen). Zu Konfix, Konfigierung s.obenAbschnitt 2)7 Komposition7.1. DefinitionGrundlage ist die Unterscheidung frei-gebunden. Welche Definitionen sind brauchbar?• Wort+Wort• Konstruktion aus freien Morphemen• Konstruktion aus freien Morphemen oder Morphemkonstruktionen.Problemfall sind jeweils die Komposita mit verbalem Erstglied: Verbstämme. Deshalb besser:• Konstruktion aus Wörtern oder Wortstämmen. Stamm ist definiert als diejenige Form eines Wortes, dieder Flexion zugrunde liegt, also z.B. mit Flexiven verknüpft werden kann.Es bleiben dann noch immer als Problemfälle:− Unflektierbare unikale Morpheme : Him-, Brom-, -gall− Unflektierbare nichtunikale Stämme, sog. ”Konfixe” (z.B. Fleischer/Barz S.26):Stief-, Kosmo-, Bio-, Biblio-, Anglo-, Astro-, Info-, Disko-, Thermo-, -thek: weder Wörter, nochflektierbar; einige Stämme kommen allerdings als Kürzungen frei vor.• Sinnvoll deshalb als zusätzliches Kriterium: kategoriale Bedeutung, so auch Fleischer/B. ebd.,„Lexikalisch-semantische Bedeutung”: Astro-↔ Stern-, Kosmo- ↔ Welt-, -thek-↔ -platz.7.2. Das Determinativkompositum: Formale Eigenschaftena) Binäre Struktur. Dies gilt auch für Fälle wie Einfamilienhaus, Mehrzweckhalle, VollkornbrotKlarsichthülle und für Bindestrich-Komposita wie Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Rhein-Main-Donau-Kanal,Berg-und-Tal-Bahn. Das mehrgliedrige Determinans ist als Wortgruppen-Konstituente aufzufassen (dieallerdings nicht notwendig einer syntaktischen Konstruktion entspricht).Anders zu beurteilen ist in dieser Hinsicht die sog. Zusammenrückung, z.B. Vergißmeinnicht.b) Kopf ist die rechte Konstituente, deshalb „Grundwort”, Determinatum. Das Determinativkompositum isteine „rechtsköpfige” Konstruktion, die Benennung erfolgt nach der Kategorie des Kopfs:Nominalkompositum, Adjektivkompositum usf. Da das Grundwort als Kopf von derselben Kategorie istwie die Gesamtkonstruktion, ergibt sich als Test: das Kompositum als Ganzes kann durch sein Grundwortsubstituiert werden.c) Kategorien der Konstituenten. Es gibt kaum kategoriale Beschränkungen für die Konstituenten:Interjektion+N: Aha-Erlebnis, flektiertes Verb+N: Kann-Kind, Ist-Zustand, usf..d) Akzent: auf dem Bestimmungswort. Der Akzent ist das beste Kriterium zur Unterscheidung vomKopulativkompositum, s.unten. Problem: Diskothek, Allomorph, Thermometer u.dgl. Die Akzentuierungder zweiten Konstituente entspricht dem Akzentmuster der Derivation (!).Seite | 9